1.08.2022. Führungsmacht Deutschland sollte sich schonen

Jahrzehntelang haben sich Frankreich und Deutschland als die natürlichen Führer der europäischen Integration betrachtet. Um diese Stellung zu behaupten, haben sie sich oft einer Politik bedient, die die Mitsprache und Mitwirkung der Vereinigten Staaten in europäischen Belangen in Frage stellte, und es wurden enge wirtschaftliche Allianzen mit Russland und China geschmiedet.

Nach dem Überfall Russlands auf die Ukraine ist der Glaubwürdigkeitsverlust der beiden Staaten zu einem wichtigen Bestandteil der europäischen Politik geworden. Sie haben, unbekümmert um die russsische Gefahr, nach 2008, also seit dem russischen Angriff auf Georgien, die EU-Sicherheits- und Energiepolitik geprägt. Die Folgen sind, wie wir es gerade erleben, katastrophal: für Europa und für die beiden Staaten selbst.

Wie wird das heute in Berlin wahrgenommen? Von echter Demut ist kaum eine Spur erkennbar. Man übt sich in Selbstmitleid, behauptet stets das Beste gewollt zu haben, gibt sich bemitleidenswert ahnungslos und hintergangen und flüchtet sich in liebgewonnene, aufgewärmte Wunschträume, will das Ruder nicht aus der Hand geben.

So Bundeskanzler Olaf Scholz in seinem kürzlich erschienenen Artikel in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“. Nach der bewährten deutschen „kohl-merkelschen“ Methode: Einsicht vortäuschen, im Kern hart bleiben, aussitzen und möglichst weitermachen wie bisher, tut Scholz so, als wäre nichts gewesen.

Er will die EU „festigen, effizienter machen“. Doch die Gedanken an eine strategische Souveränität der EU, an Sicherheitsgarantien aus Paris und Berlin oder der Vorschlag, die Einstimmigkeit in der europäischen Sicherheitspolitik durch Mehrheitsentscheidungen zu ersetzen und so das französisch-deutsche Entscheidungsmonopol zu stählen, klingen heute aus dem Munde eines deutschen Politikers wie ein schlechter Scherz. Niemand in Polen und in ganz Mittel- und Osteuropa sollte sich davon täuschen lassen.

Ohne Glaubwürdigkeit gibt es keine echte Führung. Und es dauert Jahre, bis die verlorene Glaubwürdigkeit wiederhergestellt ist.

Deutschland steht diesbezüglich heute ein langer Weg bevor. Mindestens drei Dinge sind dafür notwendig: Erstens eine ehrliche Analyse der eigenen Fehler, allen voran des Nord Stream-Projektes. Zweitens der Wiederaufbau der eigenen militärischen Fähigkeiten. Eine schlagfertige Bundeswehr muss ein fester Bestandteil der Verteidigung der Ostflanke der NATO sein und den Verdacht ausräumen, im Ernstfall den Russen lieber eine gemeinsame Therapie in „Konfliktmanagement und Deeskalation“ anzubieten. Drittens, eine echte Wende in der Energieabhängigkeit der deutschen Wirtschaft von Russland. Ohne diese Voraussetzungen kann man nicht von der Glaubwürdigkeit der deutschen Politik in Europa sprechen.

Ein vierter Punkt kommt inzwischen hinzu. Die Schwankungen der deutschen Politik im Ukraine-Krieg zwischen bombastischen Versprechungen („Zeitenwende“) und einer Wirklichkeit, die von mehr als schleppenden Waffenlieferungen, geplatzten „Ringtauschen“, Scholz-Putin Telefonaten und mit aller Konsequenz durchgesetzten Sanktionsaufweichungen zu Gunsten Russlands (Beispiel: Transit nach Kaliningrad) geprägt wird, untergraben diese Glaubwürdigkeit noch weiter.

Und leider kann man mit jedem weiteren, raren, Medienauftritt von Altkanzlerin Angela Merkel sehen, wie die Chancen deutscher Politiker, die Fehler in den Beziehungen zu Russland ehrlich aufzuarbeiten, schwinden.

Wir in Polen können das nur zur Kenntnis nehmen und versuchen daraus unsere Schlüsse zu ziehen. Der wichtigste ist: Es ist an der Zeit, das paternalistische Modell der EU, die französisch-deutsche Bevormundung, auch „Führung“ genannt, die, europäisch verpackt, vor allem der Pflege eigener Interessen dient, abzulegen. Sein Fortbestehen wäre fatal.

Der Niedergang dieser Art von Führung, den wir gerade erleben, wird unweigerlich zu einem neuen Kräftemessen zwischen den Mitgliedstaaten der EU führen. Eine demokratischere EU der Nationalstaaten sollte das Resultat sein.

RdP




14.04.2022. Fehl am Platze. Steinmeier in Kiew

Mit ausgesprochener Herzlichkeit begrüßte Wolodymyr Selenskyj die Staatspräsidenten Polens und der drei baltischen Staaten in Kiew. Lachende Gesichter, Umarmungen und fünf miteinander verflochtene Hände ergaben symbolträchtige Medienbilder mit einer eindeutigen Aussage. „Die Ukraine fühlt sich von euch stark und zuverlässig unterstützt. Mit Partnern wie euch werden wir siegen“, sagte Selenskyj.

Auch der deutsche Bundespräsident wollte mit von der Partie sein. Doch offensichtlich war er, nach Meinung des Gastgebers, in dieser Runde fehl am Platze und wurde ausgeladen. Dieser Affront empört viele Deutsche. Deutschland wurde brüskiert und gekränkt, heißt es in den Medien.

Bei so viel Verbitterung könnte der Versuch, sich in die Lage der Ukrainer zu versetzen, heilsam wirken. Seit Wochen bitten, betteln, schimpfen Selenskyj und sein Botschafter in Berlin, Melnyk, Deutschland möge seiner von Kanzler Scholz im Bundestag mit feierlicher Ergriffenheit verkündeten Zeitenwende endlich Taten folgen lassen: schwere Waffen liefern, Sanktionen gegen Russland verschärfen. Vergeblich.

Deswegen sollte dringend der deutsche Kanzler nach Kiew reisen, und zwar mit konkreten Zusagen. Herr Scholz telefoniert jedoch offensichtlich lieber mit Putin.

Fahren wollte Frank-Walter Steinmeier, der jedoch, erstens, nichts von dem mitbringen konnte, was die Ukraine gerade braucht, stattdessen sollte es einen warmen Händedruck geben, der vor allem ihn selbst gut aussehen ließe. Und der, zweitens, wie kaum ein anderer, als ehemaliger Chef des Bundeskanzleramtes und Außenminister, für die verfehlte deutsche Russlandpolitik der vergangenen Jahre steht.

Und hierin besteht der Affront aus ukrainischer Sicht. Nicht die Absage an Steinmeier belastet die ukrainischen Beziehungen mit Deutschland, sondern die über Jahre falsche und heute ungenügende Ukraine-Politik Deutschlands. Statt endlich seinen Solidaritätsversprechen gerecht zu werden, schickt Deutschland ausgerechnet den einstigen Lawrow-Vertrauten und Putin-Versteher Steinmeier, damit der seine symbolische Läuterung vor der Kulisse der Kiewer Kriegslandschaft und mit dem ukrainischen Präsidenten als Nebendarsteller inszenieren kann. Ein netter Händedruck der beiden hätte das falsche Signal gesendet, dass schon alles in Ordnung ist und sich gar nicht mehr so viel ändern muss. Dass Selenskyj dabei nicht mitmachen wollte, leuchtet ein. 

Noch mehr Deutsche werden jetzt der Meinung sein, dass sich die Ukrainer Deutschland gegenüber unverschämt benehmen. Dass sie allmählich auch einmal dankbar sein könnten. Dass ihr Botschafter zu heftig vom Leder zieht, ihr Präsident immer nur ermahnt und fordert. Dass das ganze Land lieber weiterkämpft und dafür Waffen haben will, statt endlich einzusehen, dass man Wladimir Putin einen gesichtswahrenden Ausweg bieten muss und es mit Waffen keinen Frieden geben kann.

Traurig stimmt die selbstgewisse Überheblichkeit, mit der nicht wenige in Deutschland, nach zwanzig Jahren verfehlter Russland- und Ukraine-Politik, den Ukrainern jetzt schon wieder erklären wollen, was für ihr Land das Beste ist. Diese verfehlte Politik beinhaltete auch die Nichtbeachtung der Sorgen und Ängste der Staaten Ostmitteleuropas, das Ignorieren der eigenen Nato-Verpflichtungen, die sträfliche Vernachlässigung der Bundeswehr.

Jetzt steht den Ukrainern das Wasser bis zum Hals. Es geht um alles, um Sein oder Nichtsein. Der Ertrinkende ruft nach Hilfe, aber er soll, bitte schön, auf die Befindlichkeiten der Deutschen Rücksicht nehmen, damit sie, wie kleine Kinder, bloß nicht bockig werden.

Steinmeier-Eklat? Entscheidend ist nicht, wer, wem, wo die Hände schüttelt, sondern ob es der Ukraine gelingt, ihre Freiheit zu bewahren. Die Zeit drängt. Praktische Solidarität mit den Opfern tut not. Sie ist tausendmal wichtiger als ein protokollarischer Affront, über den Deutschland einfach hinwegsehen sollte.

RdP




Das Wichtigste aus Polen 6. Februar bis 12. März 2022

Aleksandra Rybińska und Janusz Tycner diskutieren die wichtigsten Ereignisse der letzten Zeit in Polen ♦ Pausenlos aktiv: Polens Außenpolitik in Zeiten des Ukraine-Krieges ♦ „Wir schaffen das!“: Ukrainischen Kriegsflüchtlingen wird großzügig geholfen ♦ Wende in der deutschen Russlandpolitik: Fundament für eine neue polnisch-deutsche  Sicherheitspartnerschaft?




Das Wichtigste aus Polen 24.Oktober bis 18.Dezember 2021

Aleksandra Rybińska und Janusz Tycner diskutieren die wichtigsten Ereignisse der letzten Zeit in Polen ♦ Inflation bei knapp 8 Prozent. Die Regierung hält dagegen und behält die Oberhand ♦ Klimatismus, Ökologismus, Genderismus, Beseitigung der Nationalstaaten: Der deutsche Koalitionsvertrag verheißt  wenig Gutes für Polen  ♦ Erste Kontakte der neuen deutschen Regierung nach Polen: Der Lehrmeister sieht sich um.




Im Ernstfall. Deutschland will zusehen wenn Polen wird untergehen

Polnische Analyse für den Fall eines russischen Angriffs. 

Ob Besetzung der Krim, das russische Vorgehen im Donbas oder Lukaschenkos von Moskau abgesegnete „Migranten-Offensive“ auf die polnische Ostgrenze. Ein Angriff auf Polen und die baltischen Staaten kann nicht mehr als ganz und gar undenkbar betrachtet werden. Bei allen diesbezüglichen Denkspielen sollte man in Polen einen Aspekt unbedingt beherzigen: kannst Du zählen, zähle nicht auf Deutschland.

In der russischen Enklave Kaliningrad und in den russischen Gebieten, die unmittelbar an Lettland und Estland grenzen, befinden sich heute die gröβten Truppenansammlungen innerhalb Europas. Die militärische Schwäche der Nato in dieser Region und eine enorme bewaffnete Überlegenheit Russlands, laden Moskau regelrecht zu einem Vorstoβ ein.

Die russische Übermacht äuβert sich vor allem in der Fähigkeit, aus dem Stand, zeitlich und räumlich begrenzte, unvermutete Blitzangriffe vornehmen zu können. Ein solcher Überfall auf Nato-Gebiet würde wahrscheinlich nicht unbeantwortet bleiben. Der Kreml kann jedoch dabei davon ausgehen, dass eine Erwiderung der Nato so viel Zeit in Anspruch nehmen wird, dass Westeuropa, allen voran Deutschland, vor vollendete Tatsachen gestellt, die russischen Eroberungen hinnimmt und den „Triumph der Vernunft“ verkündet.

So könnte der Ernstfall aussehen

Durchaus vorstellbar wäre, dass die Russen innerhalb von 72 Stunden zwei oder gleich alle drei baltische Staaten überrollen, und dann der Nato mit dem Einsatz von Atomwaffen drohen würde, sollte das Bündnis den Versuch wagen die besetzten Gebiete zurückzuerobern.

Die Nato-Ostflanke.

Bei einem Überraschungsangriff würden sich die Russen zudem größte Mühe geben, die symbolischen Nato-Truppenkontingente im Baltikum (insgesamt ca. 2.500 Soldaten an drei Standorten) friedlich und ohne Opfer außer Gefecht zu setzen. Die entwaffneten Mannschaften würden umgehend wieder im Westen landen. Solch eine „Geste des guten Willens“ würde ihre mildernde Wirkung ganz bestimmt nicht verfehlen.

Friedensbewegte Massenproteste in Westeuropa, vor allem in Deutschland, lautstarke Appelle „vernünftiger“ Politiker und Medien „mit Russland zu reden“ und „Russland zu verstehen“ könnten derweil das Schicksal des wieder einmal von Russland besetzten Baltikums schnell besiegeln.

Seine geographische Lage dürfte es Polen kaum erlauben, den drei baltischen Staaten zur Hilfe zu kommen. Wie eine geballte Faust schwebt die russische Enklave Kaliningrad über dem Land, und im Osten erstreckt sich das mit Russland militärisch eng verwobene Weiβrussland. Polen hätte groβe Mühe das eigene Territorium zu verteidigen.

Warschau liegt nur knapp 300 Kilometer von den Ausgangsstellungen des potentiellen Angreifers entfernt und wäre schnell Ziel eines starken russischen Zangenangriffs von Norden (Kaliningrad) und Osten (Weiβrussland), der die polnischen Streitkräfte im Raum der sog. Suwalki-Lücke umgehend von der polnisch-litauischen Grenze abschneiden würde.

Teile Polens, vielleicht sogar mit Warschau, würden den Russen in die Hände fallen. Von Moskau mit einem atomaren Angriff erpresst, könnte der Westen, auch das Biden-Amerika, ebenfalls im Falle Polens schnell „Ruhe geben“ und sich mit der durch die russische Aggression geschaffenen Tatsachen „realistisch“ abfinden.

Ob Moskau dieses düstere Szenario umsetzten könnte, würde vor allem von Deutschland abhängen. Ohne das Engagement des Schlüsselstaates der Nato in Mitteleuropa mit seinen ausgebauten US-Militäreinrichtungen, wäre ein Zurhilfekommen nicht denkbar. Aber hat Deutschland, etwas salopp ausgedrückt, Lust und Kraft, diese Aufgabe wahrzunehmen? Aus heutiger Sicht weder noch.

Deutsche würden östliche Nato-Partner bei Angriff alleinlassen

Meinungsumfragen lassen keinen Zweifel daran. Mehr als jeder zweite Deutsche ist dagegen, östlichen Bündnismitgliedern wie Estland, Polen oder Lettland militärisch beizustehen, wenn sie von Russland angegriffen werden. So die Antwort von 53 Prozent der Befragten bei einer entsprechenden Umfrage des renommierten Washingtoner Pew Research Center im Mai 2017.

Deutscher Antiamerikanismus.

In keinem europäischen Land, das für die Befragung untersucht wurde, ist die Ablehnung der sogenannten Beistandspflicht nach Artikel 5 – der das Herz der Nato bildet – so groß. Zum Vergleich: In den Niederlanden (23 Prozent), Polen (26 Prozent), in Kanada und den Vereinigten Staaten (beide 31 Prozent) sind die Gegner der Beistandspflicht klar in der Minderheit. In Frankreich und Großbritannien liegt die Ablehnungsrate bei jeweils 43 Prozent und in Spanien bei 46 Prozent.

In Deutschland sind vor allem Frauen dagegen, den östlichen Verbündeten im Falle eines russischen Angriffs zu helfen (62 Prozent). In Ostdeutschland unterstützen nur 29 Prozent der Befragten die Beistandspflicht, im Westen sind es immerhin 43 Prozent. Insgesamt sind nur vier von zehn Deutschen dafür, ein anderes Nato-Mitglied im Falle eines russischen Angriffs zu verteidigen.

Deutsche Zustimmung für Russland.

Spätere, wenn auch weniger repräsentative Umfragen, belegen diese Einstellung, die sich eher noch  verfestigt. Aber auch nur ein Blick in die deutschen Medien und in die Leserkommentare genügt, um sich das enorme Ausmaß der gesellschaftlichen Zustimmung für Russland und die gleichzeitige Ablehnung der Nato, der militärischen US-Präsenz in Deutschland und der Bundeswehr zu vergegenwärtigen. Diese weit verbreitete Haltung bleibt nicht ohne Einfluss auf den fortschreitenden Verfall der Bundeswehr.

Auch die deutsche Politik hält wenig von der Beistandspflicht

Daniel Kochis gilt als ein renommierter Analyst der konservativen Denkfabrik Heritage Foundation. In seinem auf dem Fachportal RealClear Defence veröffentlichten Artikel fordert er die neue deutsche Ampel-Regierung auf, Versprechen einzuhalten, die Berlin der Nato seinerzeit gegeben hat.

Es geht vor allem darum, die deutschen Verteidigungsausgaben auf 2 Prozent des BIP zu erhöhen. Leider muss man davon ausgehen, dass solche Appelle in Berlin weiterhin auf taube Ohren stoßen werden. Äußerungen der noch amtierenden CDU-Verteidigungsministerin und Erklärungen derjenigen, die Deutschland die nächsten vier Jahre lang regieren sollen, lassen keine andere Deutung zu.

Die neue Regierung dürfte in dieser Hinsicht noch unnachgiebiger sein. Das zeigt ein kürzlich veröffentlichtes zwölfseitiges Papier der angehenden Regierungskoalition, in dem Sicherheitsfragen nur in den letzten zehn Absätzen äußerst kurzsilbig behandelt werden.

Die Verhandlungsführer der Ampel-Koalitionsparteien betonen in dem Dokument, dass „die Nato das Fundament der Sicherheit ist“ und schreiben im nächsten Satz über den Willen, die Ausrüstung der deutschen Streitkräfte zu modernisieren. Daraus lässt sich schließen, dass Berlin immerhin neue Flugzeuge kaufen will, damit Deutschland weiterhin am Programm der nuklearen Teilhabe teilnehmen kann, aber nicht viel mehr.

Kochis erinnert daran, dass die Nato bereits 2006 die Notwendigkeit erörterte, die Verteidigungsausgaben auf 2 Prozent zu erhöhen, wovon mindestens 20 Prozent für „große“ Projekte zur Modernisierung der Ausrüstung aufgewendet werden sollten. Entsprechende Vereinbarungen wurden beim Nato-Gipfeltreffen in Newport/Wales, im September 2014 getroffen. Die Nato-Staaten wollten damals diese Verpflichtungen bis 2024 umsetzen.

Die Linke-Plakat.

Im Falle Deutschlands jedoch ist dies völlig abwegig. Berlin erklärte nämlich  schon vor der Pandemie, im Jahr 2019, als Deutschland, wohlgemerkt, noch einen Haushaltsüberschuss hatte, dass es das Zwei-Prozent-Ziel erst im Jahr 2031 erreichen könne. Das wäre ein Vierteljahrhundert nachdem es zum ersten Mal von den Verbündeten angepeilt wurde.

Gewiss, auch Berlin hat seine Militärausgaben erhöht. Heute gibt Deutschland 25 Milliarden Dollar mehr für die Verteidigung aus als 2015, aber das sind immer noch lediglich 1,53 Prozent des deutschen BIP.

Der zitierte Analyst der Heritage Foundation schreibt, dass selbst die Perspektive 2031, wenn Deutschland nach den jüngsten Erklärungen seinen Verpflichtungen endlich nachkommen will, ernsthaft gefährdet ist.

Erstens, weil die neue Regierungskoalition die Sozialausgaben deutlich erhöhen möchte, was sie höchstwahrscheinlich veranlassen wird, Einsparungen im Militärhaushalt vorzunehmen. Zweitens wächst in Berlin die Überzeugung, dass mit der Machtübernahme durch die Biden-Administration, die von Trump stark betonte „Zwei-Prozent-Frage“ nicht mehr so wichtig ist und man sie getrost zu den Akten legen kann.

Zwei-Prozent-Fetisch. Karikatur von Harm Bengen.

Sollten sich diese Vorhersagen bestätigen, so Kochis, „würde ein solches Signal in Moskau als Schwäche und in Osteuropa als Unbekümmertheit ausgelegt werden. In den USA würde es die Überzeugung festigen, dass die niedrigen europäischen Verteidigungsausgaben ein guter Grund für die USA sein sollten, Europa zu verlassen.“ Eine bessere Einladung an Moskau, wie die aus Berlin, militärisch im Baltikum und in Polen tätig zu werden, könnte es nicht geben.

Viel Geld für eine schlechte Bundeswehr

An dieser Stelle drängt sich die Frage auf: Wie ist der tatsächliche Zustand der deutschen Streitkräfte? Man könnte denken, dass ein Land wie Deutschland, das im Jahr 2020 58,9 Milliarden Dollar für die Verteidigung ausgegeben hat (berechnet nach der NATO-Methode und somit ohne Ausgaben für militärische Renten) über erhebliche Verteidigungsfähigkeiten verfügen muss. Polen gibt, nach derselben Berechnungsmethode, 7,8 Milliarden Dollar für seine Armee aus.

Auf dem Papier ist die Stärke der deutschen Landstreitkräfte, nach Angaben der britischen Denkfabrik IISS, die jedes Jahr den „Military Balance“-Bericht veröffentlicht, in dem der Zustand der Armeen aller Länder der Welt beschrieben wird, nicht viel größer als die Polens.

Die Deutschen haben 62.150 Soldaten und Offiziere, die Polen 58.500. In der deutschen Luftwaffe dienen 16.600, in der polnischen 14.300 Mann. Deutschland besitzt eine viel größere Kriegsmarine, während Polen über deutlich stärkere Spezialkräfte verfügt.

Wenn sich die „Auf-dem-Papier-Bestände“ der deutschen Streitkräfte nicht wesentlich von den polnischen unterscheiden, dann sind sie vielleicht in Bezug auf Ausrüstung, Ausbildung und Einsatzbereitschaft überlegen? Zur Beantwortung dieser Frage sei auf den soeben von der Heritage Foundation veröffentlichten Bericht „Index of Military Strength“ verwiesen, der unter anderem eine Analyse der Fähigkeiten der wichtigsten amerikanischen Verbündeten in der Welt enthält. Auch dem militärischen Potenzial Deutschlands wurde in dieser Studie einige Aufmerksamkeit geschenkt.

Nach Meinung der amerikanischen Fachleute „sind die deutschen Streitkräfte nach wie vor unterfinanziert und schlecht ausgerüstet“. Die Autoren der Studie zitieren einen anonymen deutschen Diplomaten, der von der „Financial Times“ mit den Worten zitiert wird, dass „Deutschland seinen Verteidigungshaushalt auf 3,0 bis 3,5 Prozent des BIP verdoppeln sollte, da es sonst Gefahr läuft, völlig taub, blind und wehrlos zu sein“.

Die deutschen Streitkräfte, die nicht nur in Litauen oder im Kosovo präsent sind, sondern auch Expeditionsaufgaben übernehmen, befinden sich, nach Meinung der amerikanischen Fachleute, immer noch auf einem niedrigen Niveau der Gefechtsbereitschaft, die heute bei 74 Prozent liegt.

Nach Ansicht der Experten der Heritage Foundation, sind die Anwesenheit der Bundeswehr bis vor kurzem in Afghanistan sowie weiterhin in Mali, aber auch z.B. die Teilnahme an der Überwachung des Luftraums der baltischen Staaten, nur möglich, weil deutsche Einsatzkräfte für die Durchführung dieser Missionen ihrer Ausrüstung in der Heimat „beraubt“ werden. Das wirkt sich nachteilig auf ihre Wirksamkeit und Ausbildung für die Heimatverteidigung aus.

Gängige Bundeswehr-Berichterstattung in Deutschland.

Das Ausmaß der Probleme wurde auch im Bundestagsbericht von 2021 noch einmal deutlich, in dem u.a. festgestellt wurde, dass nur 13 Leopard-2 Panzer einsatzbereit waren, statt der für die Ausbildung erforderlichen 35.

Auch die Personalprobleme sind nicht gelöst. Die Unzulänglichkeiten betreffen im Übrigen nicht nur die Bodentruppen, denn: „Fast die Hälfte der Piloten der Luftwaffe erfüllten die Anforderungen der NATO-Ausbildung nicht, da aufgrund des Mangels an verfügbaren Flugzeugen die Kriterien hinsichtlich der Flugstunden nicht erfüllt werden können.“

Auch fehlen Piloten, denn von den 220 Stellen für Kampfflugzeugpiloten sind nur 106 besetzt; bei den Hubschraubern ist das Verhältnis ähnlich: von 84 benötigten Piloten sind 44 im Dienst. Bei der deutschen Marine sieht es nicht besser aus, nicht nur wegen des Personalmangels, sondern auch, weil Einheiten aus dem Dienst genommen werden.

Wie im März 2021 bekannt wurde, verwenden mehr als 100 deutsche Schiffe, darunter auch U-Boote, russische Navigationssysteme, die nicht den NATO-Standards entsprechen. Es besteht die Möglichkeit, dass sie „gehackt“ werden, was den größten Teil der deutschen Marine die Einsatzfähigkeit kosten könnte.

Deutschland möchte seine Streitkräfte, vor allem die Reservekomponente, vergrößern. Nach Ansicht von Experten der Heritage Foundation werden diese Pläne, obwohl sie als sinnvoll erachtet werden sollten, nur schwer umsetzbar sein. Im Jahr 2020 ist die Zahl der Freiwilligen, die sich zur Teilnahme an der Ausbildung bereit erklärt haben, um 19 Prozent gesunken, und es gibt immer noch 20.200 offene Stellen bei der Bundeswehr. Das Durchschnittsalter der Soldaten ist seit 2012 um drei Jahre gestiegen und liegt heute bei 33,4 Jahren.

Im März 2021 hat der Bundestag die Beteiligung Deutschlands an einem gemeinsamen europäischen Drohnenbauprogramm (an dem auch Frankreich, Italien und Spanien beteiligt sind) gebilligt. Die Bundeswehr darf aber weiterhin keine Kampfdrohnen besitzen und Soldaten, die Beobachtungsdrohnen bedienen ist es nicht erlaubt den Einsatz von Drohnen als „taktische Waffen“ zu üben. Angesichts der stürmischen Entwicklung der Kampfdrohneneinsätze auf den modernen Schlachtfeldern sind die deutschen Streitkräfte auch in diesem Bereich ins Hintertreffen geraten.

Wenn die Russen bis 2031 warten, werden die Deutschen innerhalb von drei Monaten antreten

Im September veröffentlichte ebenfalls die schwedische militärische Denkfabrik FOI einen Sonderbericht über die Fähigkeiten der Bundeswehr. Ihre Erkenntnisse decken sich größtenteils mit dem, was die amerikanischen Fachleute geschrieben haben.

Es sei jedoch darauf hingewiesen, dass die Deutschen, nach Ansicht der Autoren der schwedischen Studie, im Kriegsfall in der Lage wären, innerhalb einer Woche vom Beginn der Kampfhandlungen an, nur 3 bis 4 mechanisierte Bataillone aufzubieten, und dies nur an ihren festen Standorten. Hinzu kämen 2, vielleicht 3 leicht bewaffnete Bataillone der Infanterie, die auf dem Luftweg ins Kampfgebiet gebracht werden könnten.

Auf die Antwort auf die von der Bild-Zeitung gestellte Frage ist man auch in Polen gespannt.

Das ist, angesichts der jährlichen Verteidigungsausgaben von knapp 59 Milliarden Dollar, kein beeindruckendes Potenzial, und schon gar nicht eines, das Moskau erschrecken und die russische Elite dazu bringen würde, auf mögliche aggressive Schritte zu verzichten. Das Ziel des deutschen Verteidigungsministeriums ist es, und das erst im Jahr 2031, innerhalb von drei Monaten nach Kriegsbeginn drei volle Divisionen an Bodentruppen „in die Schlacht zu werfen“.

Aus polnischer Sicht ist die Botschaft klar. Selbst wenn Berlin seine Pläne weiterverfolgt und endlich die 2014 eingegangenen Verpflichtungen 2031 erfüllt, könnte der deutsche „Entsatz“ erst drei Monate nach Kriegsbeginn an der Ostflanke eintreffen.

Natürlich nur wenn diese „ehrgeizigen“ Absichten nicht von der neuen Koalition blockiert werden, und wenn in Berlin die Entscheidung fallen würde gegen den russischen Aggressor zu kämpfen, was aus heutiger Sicht wenig wahrscheinlich erscheint.

Der Bericht erschien im Internetportal „wPolityce.pl“ („inderPolitik.pl“) am 5. November 2021

RdP




Reparationen für Polen. Ein Deutscher spricht Klartext

Deutschland hat sich fast umsonst von der Vernichtung Polens freigekauft.

„Polen sollte eine europäische Initiative zur Wiedergutmachung starten. Die deutsche Heuchelei muss aufgedeckt werden“, sagt Dr. Karl Heinz Roth, Jahrgang 1942, deutscher Historiker und Arzt, Experte der Stiftung für Sozialgeschichte des 20. Jahrhunderts (SfS) in Bremen, Autor des Buches „Verdrängt, aufgeschoben, abgelehnt. Die deutschen Reparationsschulden gegenüber Polen und Europa“.

Nachfolgend ein Gespräch mit ihm.

Einerseits sagen die Deutschen, dass sie ein tiefes Schuldgefühl für die Verbrechen des Dritten Reiches empfinden, dass sie ihre Vergangenheit aufgearbeitet haben und nichts leugnen. Andererseits lehnen sie nicht nur die Möglichkeit ab, Reparationen an Polen zu zahlen, sondern sogar die Diskussion darüber. Für sie ist der Fall abgeschlossen. Wenn Schuld vorliegt, sollte es eine Wiedergutmachung geben oder nicht?

Karl Heinz Roth.

Auf jeden Fall. Dass dies nicht der Fall ist, liegt am Zynismus der deutschen Machtpolitik. Dieser Zynismus führt dazu, dass die berechtigten Forderungen der Entschädigungsberechtigten als Betteln um Almosen dargestellt werden. Opfern wird das Recht verweigert, das einzufordern, was ihnen zusteht. Dadurch entsteht eine Art Missverhältnis: Ein mächtiger Schuldner entscheidet, wie er die Forderungen derjenigen behandelt, denen er Unrecht getan hat.  Das ist verwerflich und nicht annehmbar.  Deutschland behandelt Polen wie eine schwache, lästige Peripherie.

Sie kommen, zumeist zu bedeutenden historischen Jahrestagen, leisten Abbitte. 

Ja, denn dieses Schuldgefühl wird durch eine sehr wirkungsvolle, gut funktionierende Erinnerungskultur bedient. Aber es gibt keine Bereitschaft, die materielle Seite dieser Erinnerungskultur anzunehmen. Die Opfer und ihre Nachkommen, denen so viel Unrecht widerfahren ist, mussten irgendwie weiterleben. Sie müssen weiterleben. Indem ihnen das Recht auf materielle Entschädigung verweigert wird, wird ihnen erneut Schaden zugefügt. Sie werden auf die Rolle von Bettlern reduziert. Solange auf deutscher Seite keine Bereitschaft besteht, mit Polen unvoreingenommen über Reparationen zu sprechen, ist das ganze Gerede von Schuld nichts weiter als Heuchelei.

Warschau 1946.

Westdeutschland leistete in den 1950er und 1960er Jahren Reparationszahlungen an Israel und den Jüdischen Weltkongress, weil es nach dem Krieg in die internationale Gemeinschaft zurückkehren wollte, und Israel blockierte diese Bemühungen mit Erfolg. Man könnte also sagen, dass die Juden, wenn es um Deutschland ging, eine wirksame Methode gefunden hatten. Was kann Polen tun?

Polen verfügt nicht über ein solches Druckmittel, was unter anderem auf die Ereignisse der letzten Jahrzehnte zurückzuführen ist. Die Regierung in Warschau hat jedoch die Möglichkeit, auf verschiedenen Ebenen Druck auf Deutschland auszuüben.

Die erste Möglichkeit besteht darin, das Thema zu internationalisieren, damit Polen nicht allein handeln muss. Ein möglicher Ort für ein völkerrechtliches Vorgehen wäre, meines Erachtens, die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE), wo ein Schiedsverfahren angestrebt werden könnte, und auch der Internationale Gerichtshof. Das Thema sollte ebenfalls vor das Europäische Parlament gebracht werden und die Europäische Kommission sollte aktiviert werden. Kurzum, Polen sollte eine europäische Initiative zur Wiedergutmachung starten.

Zugleich sollten wir eine internationale Konferenz zu diesem Thema veranstalten. Damit dies gelingt, ist die Veröffentlichung des Berichts der Parlamentarischen Gruppe des Sejms für Wiedergutmachung über die Kriegsverluste Polens unabdingbar.

Im Fall von Griechenland hat sich die Situation dadurch völlig verändert. Die griechische Regierung hat der deutschen Regierung eine offizielle Note zu diesem Thema übermittelt. Heute fordern die deutschen Grünen, dass Berlin auf die Forderungen Griechenlands mit Respekt reagiert und sie berücksichtigt, anstatt sie einfach beiseite zu schieben.

Warschau im September 1945.

Die Grünen werden wahrscheinlich die neue Regierung in Deutschland mitbegründen. Wenn Polen seine Verluste bewertet und offiziell Reparationen fordert, kann die deutsche Seite dies nicht einfach ignorieren, wie sie es bisher getan hat. Sie wird diese Doppelmoral nicht länger aufrechterhalten können. Diese deutsche Haltung muss entlarvt werden. Zeigen Sie allen diese Heuchelei.

Die Deutschen behaupten jedoch, dass die kommunistische Regierung 1953 auf Reparationen verzichtet und dass das 2+4-Abkommen vom September 1990 die Frage endgültig abgeschlossen habe.

Das ist Unsinn. Für Reparationen gibt es keine Verjährungsfrist. Die Erklärung von 1953, in der die Volksrepublik Polen auf ihre Ansprüche gegenüber Deutschland verzichtete, ist aus völkerrechtlicher Sicht ungültig. Polen war damals kein souveräner Staat und hat diesen Schritt nicht freiwillig, sondern auf Druck der Sowjets, im Interesse ihrer damaligen Deutschlandpolitik getan. Es ging darum den Abschluss eines Friedensvertrags zu erleichtern und die deutsche Vereinigung unter sowjetischen Vorzeichen zu unterstützen, die letztendlich nicht zustande kam. Dieses Dokument ist daher nicht rechtskräftig.

Der 2+4-Vertrag, das Abkommen Deutschlands mit den vier Mächten, ist de facto ein Friedensvertrag, wird aber nicht als solcher bezeichnet, weil Deutschland nicht wollte, dass Reparationen in den Vertrag aufgenommen werden. Bis zur Unterzeichnung dieses Vertrages lehnte die deutsche Regierung jedes Gespräch über Reparationen ab, da sie behauptete, dies könne nur in einem Friedensvertrag besprochen werden.

Warschau im Oktober 1945.

Deshalb ist diese Frage noch immer nicht geklärt, und die Länder, die dieses Dokument nicht unterzeichnet haben, wie z. B. Polen, sind nicht daran gebunden. Deutschland hat Millionen von Menschen ermordet, deren Lebensgrundlagen zerstört und ihre Kultur geplündert. Es hat sich relativ billig aus der Misere herausgekauft. Das ist inakzeptabel.

Sehen Sie sich an, was mit den Reparationen für den deutschen Völkermord während der Kolonialzeit in Namibia geschehen ist. Ich kenne einen Historiker, der als Berater an den Verhandlungen teilgenommen hat. Er hielt mich über den Verlauf der Gespräche auf dem Laufenden. Dort war es dasselbe: Man versuchte, das Wort „Reparationen“ nicht zu verwenden, sondern sprach von freiwilliger Entwicklungshilfe für Namibia. Ein weiteres Almosen anstelle von Reparationen.

Ich habe mehrfach an Debatten über deutsche Kolonialverbrechen teilgenommen. Jedes Mal warnten mich fortschrittliche Kollegen davor, die Frage der Reparationen an Namibia zu richten, weil dann andere ehemalige Kolonien wie Kamerun oder Togo auf den Plan treten würden. Dies war auch 1975 der Fall, als Deutschland Polen ein Darlehen von 1 Milliarde Mark gewährte, das als „humanitäre Hilfe“ dargestellt wurde.

Peter Oliver Loew, Direktor des Deutschen Polen-Instituts in Darmstadt, sagte in einem Interview, dass die Deutschen Polen nicht mehr mit dem Krieg in Verbindung brächten und nicht sagen könnten, welche Nation am meisten unter dem Krieg gelitten habe. Und die rituellen Gesten, die anlässlich verschiedener Jahrestage gemacht werden, sind leer geworden. Wie wirkt sich dies auf die Reparationsdebatte aus?

Warschau im Juli 1945.

Es handelt sich in der Tat um ein bestimmtes Phänomen, das vor allem bei der jüngeren Generation der Deutschen zu beobachten ist. Bis heute ist es nicht gelungen, bei den Deutschen ein Bewusstsein für die Ungeheuerlichkeit der Verbrechen zu schaffen, die sich aus der deutschen Besatzungspolitik in Europa ergeben. Jedes Mal, wenn ich versuchte, die Frage der Reparationen für Polen mit Politikern der Grünen zu diskutieren, wollten sie nicht darüber sprechen. Junge Menschen. Dies ist ein großes Problem, dem wir uns stellen müssen. Wir müssen nach Möglichkeiten suchen, diese Blockade zu durchbrechen.

Ich war daran beteiligt, all diese griechisch-deutschen Initiativen auf den Weg zu bringen, die wahrscheinlich zu einem Kompromiss über Reparationen für Athen führen werden. Im Jahr 2013 schrieb ich über diese Reparationsschulden Deutschlands gegenüber Griechenland. Dadurch wurde mir klar, dass meine Sichtweise zu eng war, und ich habe sie erweitert. In den Jahren 2015 und 2016 fanden große Konferenzen mit deutschen und griechischen Historikern statt, die der Debatte neuen Schwung verliehen.

Ich denke, dass auch im Falle Polens solche zweiseitigen Initiativen notwendig und wirksam wären. Es muss Druck auf die deutsche Regierung ausgeübt werden, insbesondere von deutscher Seite. Die griechische Lobby in Deutschland spielte dabei eine wichtige Rolle. Auf polnischer Seite gibt es keine solche Lobby, und die Abneigung in Deutschland gegen Polen ist enorm und wächst.

Der Bundestag hat sich vorerst darauf geeinigt, in Berlin ein Denkmal für die polnischen Opfer des Krieges zu errichten, verbunden mit einem Begegnungszentrum. Ist das ein Trostpreis?

Warschau im Oktober 1945.

Dieses Denkmal ist ein weiteres Zugeständnis an die Erinnerungskultur. Ein kleiner Apfel, um uns vor der Ernte, d.h. vor den Reparationen zu schützen. Ein kleiner Schritt, um die Reparationsdebatte in Polen zu neutralisieren. Eine solche Gedenkstätte kostet wenig. Da sind wir also wieder beim deutschen Zynismus. Polen sollte sich mit einem Museum und einem Denkmal begnügen. Es bleibt die Frage, wann all diese Tricks aufhören werden.

Deutschland versteht sich heute als modernes, fortschrittliches, weltoffenes und tolerantes Land. Ein Land, auf das dieser düstere Abschnitt der Geschichte nicht mehr passt. Vielleicht ist das der Grund für die Zurückhaltung bei der Diskussion über Reparationen? Die Stiftungen deutscher Unternehmen, die früher von der Zwangsarbeit profitiert haben, wollen nicht mehr Geld für die Entschädigung der Opfer spenden, sondern Workshops für junge Menschen über Demokratie und die Notwendigkeit des Kampfes gegen den Faschismus organisieren.

Genau das ist der Fall, und ich habe es am eigenen Leib erfahren. Ich habe einmal in Köln einen Vortrag in einer Gedenkstätte gehalten. Der Vortrag wurde aufgezeichnet und von der Henkel-Stiftung übernommen. Er löste eine heftige interne Diskussion aus. Oder besser gesagt: einen Streit. „Hier muss man nach vorne schauen, in die Zukunft, während er sich mit der Vergangenheit beschäftigt.“

Deshalb muss der Druck auf Deutschland global sein, die USA und die jüdische Diaspora sollten Druck auf Deutschland ausüben. Ich habe mir das Abkommen zwischen Israel und Westdeutschland aus dem Jahr 1952 genau angesehen, und es ist ein klassisches Reparationsabkommen. Es finanzierte den Aufbau des Staates Israel. Die deutsche Bürokratie wird sich sicherlich dem Druck der Amerikaner und der jüdischen Lobby in den USA beugen. Bald wird mein Buch in Übersee erscheinen, und ich erwarte eine Diskussion, die auch die jüdische Welt mit einbeziehen wird.

Warschau im Februar 1946.

Ich möchte Sie nicht beunruhigen, aber die jüdische Welt zieht es vor, über die angebliche Mitschuld Polens am Holocaust zu debattieren und Forderungen an den polnischen Staat zu stellen.

Ich weiß, und auch hier ist eher eine offensive als eine defensive Haltung gefragt. Polen darf in diesem Kampf nicht alleinstehen, sonst verliert es seine Glaubwürdigkeit.

In der deutschen Debatte um die Reparationen wird immer wieder das Argument vorgebracht, dass Deutschland die von Polen geforderte Summe von fast 1 Billion Euro nicht aufbringen kann, dass andere Länder hinter Polen in die Schlange anstellen und die Zahlungen kein Ende nehmen werden.

Das deutsche Wirtschaftspotenzial ist so groß, dass das Land die Reparationen problemlos tragen kann. Deutschland hat über zwanzig Jahre hinweg 1,2 Billionen Euro für die Eingliederung der ehemaligen DDR ausgegeben. Das war überhaupt kein Problem. Die strukturellen Defizite der neuen Bundesländer, die sich sonst negativ auf das Wirtschaftswachstum des wiedervereinigten Deutschlands ausgewirkt hätten, wurden so beseitigt.

Warschau im Herbst 1945.

Die Zahlungen an die europäischen Länder, die am meisten unter der deutschen Besatzung gelitten haben, insbesondere an die sogenannten „kleinen Alliierten“, sollten daher kein Problem darstellen. Sie würden keine Krise in Deutschland auslösen.

Natürlich muss die Wiedergutmachung nicht ausschließlich finanzieller Art sein. Man kann sich Unterstützung für die von Deutschland zerstörten Städte vorstellen, Technologietransfer, Kapitalbeteiligung. Viele Opfer des Dritten Reiches leben heute in Armut. Der deutsche Staat sollte ihnen Renten zahlen.

Aber wir werden nur darüber reden können, wenn es uns gelingt, im Rahmen einer größeren europäischen oder internationalen Initiative Druck auf Berlin auszuüben. Polen braucht in diesem Kampf Verbündete. Andernfalls wird nichts geschehen.

Ein weiteres Problem besteht darin, dass die derzeitige polnische Regierung, nach Ansicht der liberalen Elite, einschließlich der in Washington, die falsche ist. Die Polen fordern Reparationen, weil sie die Deutschen nicht mögen oder weil sie eine antideutsche Stimmung auslösen wollen, um in der Innenpolitik Land gut zu machen. Wie kann das überwunden werden?

Das ist es, was mir die Masse der deutschen und anderen Historiker vorwirft. Dass ich die polnischen Rechtspopulisten und ihre bösen Absichten unterstütze. Wenn man keine anderen Argumente hat, greift man zum politischen Knüppel. Und ich bin ein alter Linker. Das ist natürlich nur ein Vorwand, um den gerechten Forderungen Polens nicht nachgeben zu müssen. Ziemlich erbärmlich, um genau zu sein.

Warschau im Herbst 1945.

Gibt es ein Land, das Reparationen von Deutschland fordert und jetzt eine Chance, diese zu erhalten, wenn auch nur teilweise?

Griechenland. Die so genannte Zwangsanleihe, die Griechenland während des Krieges dem Dritten Reich gewähren musste, wird wahrscheinlich zurückgezahlt werden. Ich hoffe, das wird vom neuen Bundestag verabschiedet, weil die griechische Lobby bei den Grünen stark vertreten ist. Wahrscheinlich werden die Grünen versuchen, das auch in den Koalitionsvertrag zu bringen.

Das könnte die Frage der polnischen Ansprüche positiv beeinflussen, allerdings nur, wenn der Bericht über die polnischen Kriegsverluste veröffentlicht wird. Das Fenster ist schmal und kann sich ebenso schnell wieder schließen, wie es sich öffnet. Diese Gelegenheit darf nicht verpasst werden.

Das Interview erschien im Wochenmagazin „Sieci“ („Netzwerk“) vom 18.Oktober 2021.

Lesen Sie dazu auch:

„Deutsche Reparationen – polnische Positionen“ Teil 1. Beweggründe, Argumente, Pläne.

„Deutsche Reparationen – polnische Positionen“ Teil 2. Akten, Aufstellungen, Analysen. Was hat Polen in der Hand.

„Deutsche Reparationen an Polen. Wie viel und wofür?

RdP




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Deutsche Reparationen an Polen. Wie viel und wofür?

Die erste vollständige polnische Verlustbilanz ist fertig.

Das polnische Regierungslager wird nicht müde, die Kriegsreparationsfrage zu beleben. Nun liegen die polnischen Forderungen auf dem Tisch. Welches Denken und Handeln verbirgt sich dahinter?

Arkadiusz Mularczyk

Arkadiusz Mularczyk wurde 1971 in Racibórz/Ratibor geboren. Er ist von Beruf Rechtsanwalt, seit 2005 Sejm-Abgeordneter der Partei Recht und Gerechtigkeit. Seit September 2017 bekleidet er den Vorsitz eines fünfzehnköpfigen Gremiums, der Parlamentarischen Arbeitsgruppe zur Schätzung der Polen von Deutschland zustehenden Reparationen. Das Interview mit Arkadiusz Mularczyk erschien im Wochenmagazin „wSieci“ („imNetzwerk“) am 19. Mai 2019.

Frage: Die laufende Legislaturperiode des polnischen Parlaments geht im Oktober 2019 zu Ende. Sie leiten im Sejm ein Expertengremium, das sich mit dem Thema deutsche Reparationen beschäftigt. Wie weit sind Sie? Wird Polen seine Zerstörung während des  Zweiten Weltkrieges in Rechnung stellen?

Arkadiusz Mularczyk: Daran arbeiten wir seit September 2017. Damals entstand, auf Anregung von Jarosław Kaczyński, die „Parlamentarische Gruppe zur Bezifferung der Höhe der Polen zustehenden deutschen Reparationen für Schäden, die dem Land während des Zweiten Weltkrieges zugefügt wurden“. Der vollständige Name unseres Gremiums klingt zugegebenermaßen etwas umständlich, er umschreibt aber genau seine Aufgaben.

Es ging darum, einen Bericht über die Kriegsverluste zu erstellen und dadurch unser Wissen darüber zu vertiefen. Nach eineinhalb Jahren

Sechzig Jahre seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges. Polnische Briefmarke von 2005.

kann ich reinen Gewissens sagen, dass wir diese Aufgabe erfüllt haben.

Wann werden wir den Bericht lesen können?

Der Bericht ist fertig. Mitgewirkt an ihm haben sehr angesehene Wissenschaftler. Entstanden ist ein umfangreiches Papier, das die Berechnungen polnischer Kriegsverluste ausführlich darstellt,  oft  geht es um unterschiedliche Bereiche, die keine Berührungspunkte aufweisen.

Am Anfang steht ein historischer Abriss, den eine Historikergruppe vom Institut des Nationalen Gedenkens (entspricht in etwa der deutschen Gauck-Behörde – Anm. RdP) unter Leitung von Prof. Włodzimierz Suleja erstellt hat. Dann folgt ein Rechtsgutachten. Dr. habil. Robert Jastrzębski (fonetisch Jastschembski) und Dr. Przemysław Sobolewski vom Juristischen Dienst des Sejm beschreiben die Rechtsgrundlagen unserer Reparationsansprüche an Deutschland. Es geht weiter mit einem Kapitel, das die Geschichte der Reparationsfrage seit Kriegsende in den polnisch-deutschen Beziehungen behandelt. Dann folgt die Aufstellung der Schäden und ihrer Kosten. Entstanden ist ein vielschichtiger Bericht, ein guter Ausgangspunkt für unsere weiteren Bemühungen um Reparationen und weitere Forschungen.

Siebzig Jahre seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges. Polnischer Briefmarkenblock von 2015.

Wann wird der Bericht veröffentlicht?

Zuerst bekommen ihn die wichtigsten Personen im Staat: der Staatspräsident, der Premierminister, auch der Vorsitzende der Regierungspartei Jarosław Kaczyński. Sie werden entscheiden, wie weiter verfahren wird. Ich bin mir sicher, sie werden ihn nicht lange der Allgemeinheit vorenthalten. Keine schlechte Idee wäre es, den Bericht am 1. September 2019, zum achtzigsten Jahrestag des deutschen Überfalls auf Polen, zu veröffentlichen.

Gedenkstätte Auschwitz. Polnische Briefmarke von 1967.

Auf wie hoch beziffern Sie die gesamten polnischen Verluste?

Der Bericht des Büros für Kriegsentschädigungen von 1947 schätzte die polnischen Verluste auf 48 Milliarden US-Dollar. Heute entspricht das einer Summe von mehr als 850 Milliarden US-Dollar. Ich möchte jetzt den Betrag, auf den wir gekommen sind, nicht nennen. Zuerst sollen ihn die erwähnten Führungspersonen erfahren. Ich kann jedoch sagen, dass unsere Schätzungen diesen Betrag deutlich übersteigen.

Dreiβig Jahre nach der Befreiung von Auschwitz. Polnische Briefmarke von 1975.

Ist das mehr als eine Billion US-Dollar?

Sie sind nahe dran.

Was verbirgt sich hinter dieser Summe?

Vor allem Schäden, die durch Bevölkerungsverluste entstanden sind . Zwei Wissenschaftler von der Universität Łódź (Lodsch – Anm. RdP), Prof. Jan Sztaudynger und Dr. habil. Paweł Baranowski, untersuchten den Verlust an Bruttoinlandsprodukt (BIP) durch die  verlorenen Gehälter der Getöteten.

Wir haben einen präzisen Ausgangspunkt genommen: Wie war die durchschnittliche Lebenserwartung im Vorkriegspolen, wie lang die durchschnittliche Lebensarbeitszeit und wie hoch waren damals die durchschnittlichen Löhne und Gehälter. Hinzugerechnet haben wir die Verluste, die aufgrund der kriegsbedingten Invalidität entstanden sind. Weiter hinzu kamen die Verluste, die Polen erlitten hat, weil gut zwei Millionen seiner Bürger Zwangsarbeiter waren. Dann die 200.000 geraubten und germanisierten polnischen Kinder, von denen nach dem Krieg gerade mal 30.000 wiedergefunden wurden.

Das alles hatte einen Einfluss auf die Produktivität unserer Gesellschaft sowie das BIP.  Zuvor mussten natürlich die Bevölkerungsverluste berechnet werden.

Polnische Briefmarke von 2018. Auschwitz-Birkenau ca. 1,1 Millionen Opfer.

Wer hat das gemacht?

Prof. Konrad Wnęk (fonetisch Wnenck) von der Jagiellonen Universität in Kraków. Aus seinen Berechnungen geht hervor, dass die Deutschen im Zweiten Weltkrieg 5,2 Millionen polnische Bürger ermordet haben.

Bisher war immer von sechs Millionen die Rede.

Diese Zahl kursiert seit kurz nach Kriegsende. Damals, im kommunistischen Polen, hat man aus politischen Gründen die Opfer sowjetischer Verbrechen den Deutschen angerechnet. Die von Prof. Wnęk ermittelte Zahl von 5,2 Millionen, das sind polnische Staatsbürger, die Deutsche ermordet haben. Von ihnen waren 150.000 Soldaten, der Rest Zivilisten.

Gedenkstätte Vernichtungslager Auschwitz.-Monowitz. Ungefähr 25.000 Opfer. Polnische Briefmarke von 1967.

Die Zahl von 5,2 Millionen Menschen umfasst nicht die ukrainischen Wolhynien-Morde an etwa 100.000 Polen von 1943-1944, obwohl sie ebenfalls den Deutschen zugerechnet werden könnten. Schlieβlich passierte dieser Völkermord in Gebieten, die das Dritte Reich als Besatzungsmacht verwaltete.

Darunter befinden sich auch nicht, die polnischen Opfer sowjetischer Massendeportationen zwischen 1939 und 1941 im sowjetisch besetzten Ostpolen, die irgendwo in Sibirien, Kasachstan usw. ermordet wurden oder diejenigen, die aufgrund der schrecklichen Lebensbedingungen gestorben sind. Ebenso wenig das für die etwa 22.000 in Katyn, Charkiw, Twer, Kiew und Minsk von den Sowjets ermordeten polnischen Offiziere und polnischen Opfer anderer sowjetischer Verbrechen.

Vernichtungslager Majdanek. Polnische Briefmarke von 1946.

Wie groβ waren die polnischen Bevölkerungsverluste im Zweiten Weltkrieg insgesamt?

Bei Ausbruch des Krieges zählte Polen 35,3 Millionen Einwohner. Im Jahr 1946 waren es nur noch 23,9 Millionen. Die Einwohnerzahl hatte sich also um 11,4 Millionen verringert, von denen ein Teil in Ostpolen verblieben war. Dieses Gebiet wurde von der Sowjetunion am 17. September 1939 besetzt und 1944-1945 endgültig von ihr annektiert. Heute ist es Teil von Litauen, Weiβrussland und der Ukraine.

Verstehen wir das richtig? Es geht um die Gesamtbevölkerung Polens, ohne Berücksichtigung der nationalen Herkunft.

Gedenkstätte Vernichtungslager Majdanek. Ungefähr 80.000 Opfer. Polnische Briefmarke von 1962.

Selbstverständlich. Ob Polen, Juden, Weiβrussen, Ukrainer, Armenier, sie alle waren polnische Staatsbürger. Während des Zweiten Weltkrieges verloren in Polen jeden Tag durchschnittlich etwa dreitausend dieser Menschen das Leben.

Gedenkstätte Vernichtungslager Majdanek. Polnische Briefmarke von 1968.

Bezogen auf die Bevölkerungsverluste haben sie sich auf den dadurch hervorgerufenen  Verlust an Bruttoinlandsprodukt konzentriert. Gibt es in ihren Berechnungen keinen festen Wiedergutmachungsbetrag für genommenes Leben?

Nein. Es gibt auch keinen Betrag für den Verlust nachfolgender Generationen, der Kinder und Enkelkinder der Ermordeten. Unser Ausgangspunkt war, möglichst präzise, wissenschaftliche Kriterien anzuwenden, auch wenn diese uns in Anbetracht der menschlichen Tragödien schrecklich technisch vorkommen müssen.

Gedenkstätte Vernichtungslager Treblinka. Ungefähr 800.000 Opfer. Polnische Briefmarke von 1964.

Die Verluste an entgangenem Einkommen der Ermordeten und Verwundeten machen etwa Dreiviertel der Gesamtsumme der polnischen Forderungen aus. Das ist eine andere Gewichtung als in dem Bericht des Büros für Kriegsentschädigungen von 1947, in dem diese Verluste nur 25 Prozent der Forderungen ausgemacht haben.

Woher kommt dieser Unterschied?

Heute können wir viel genauer messen, wie sich der Tod eines Einzelnen auf die Minderung des BIP ausgewirkt hat. Es gibt da inzwischen eine ziemlich präzise, leicht nachprüfbare wissenschaftliche Methode.

Haben sie Fachleute aus dem Versicherungswesen hinzugezogen?

Das wurde erwogen, aber letztendlich haben wir uns für die Berechnung entgangener Einkommen entschieden. Den objektiven Wert eines Menschenlebens kann man kaum anhand von, zum Beispiel, einer hypothetischen Versicherungspolice ermitteln, weil Versicherungspolicen in unterschiedlicher Höhe abgeschlossen werden, abhängig vom Vermögen, dem sozialen Status, dem Gesundheitszustand, dem Alter des Versicherten usw.

Soll das heiβen, dass sie selbständig eine neue Vorgehensweise entwickelt haben?

Das war eine Pionierarbeit, die auf der Analyse einer riesigen Zahl statistischer Angaben beruhte: der Lebenserwartung, der durchschnittlichen Einkommen, der damals erwarteten Wachstumsdynamik der polnischen Wirtschaft und der Einkommen. In unseren Annahmen, das möchte ich ganz stark unterstreichen, waren wir sehr zurückhaltend.

Zum Beispiel wuchs Polens Wirtschaft in den letzten Vorkriegsjahren um bis zu zehn Prozent pro Jahr. Vorher jedoch war das Wachstum deutlich niedriger. Wir haben den Mittelwert für 1919-1938 genommen, obwohl man davon ausgehen kann, dass die gute Konjunktur noch eine Zeitlang angehalten hätte. Auch haben wir zu diesem Thema Gegengutachten angefordert.

Gedenkstätte Vernichtungslager Chełmno/Kulmhof bei Łodź/Lodsch. Ungefähr 200.000 Opfer. Polnische Briefmarke von 1965.

Und die materiellen Verluste? Das zerstörte Warschau, Dutzende andere Städte schwer beschädigt, Hunderte niedergebrannte Dörfer.

Damit beschäftigte sich die gröβte Fachgruppe unter der Leitung von Prof. Mieczysław Prystupa von der Warschauer Technischen Hochschule. Ihr fiel die wohl schwierigste Aufgabe zu. Sie musste die Zerstörungen von und an Wohngebäuden, gewerblich genutzten Bauten, Architekturdenkmälern, Kirchen, ingenieurtechnischen Bauten schätzen. Hinzu kamen die Verluste im Energieversorgungswesen, in der Industrie und im Handwerk.

Wiederaufbau Warschaus. Polnische Briefmarke von 1950.

Ein weiterer Gegenstand waren vernichtete Agrarflächen, kriegsbedingtes Nichtbewirtschaften von Agrarland, Ernteeinbuβen, die Enteignung und Beschlagnahmung von Höfen und lebendem Inventar. Die erzwungene regelmäβige, unentgeltliche Ablieferung von Getreide, Fleisch und Milchkontingenten durch polnische Bauern. Aus dem Generalgouvernement wurden allein 1942 und 1943 auf diese Weise 663.000 Tonnen Getreide, 27.500 Tonnen Zucker usw. ins Reich geschafft. In dieser Kategorie haben wir auch die massenweisen Raubrodungen von polnischen Wäldern erfasst.

Berechnet wurden ebenso entfallene Einkommen (Mieten, Pachten) aus zerstörten Gebäuden. Wir haben auch versucht, die Verluste an Vermögen der polnischen Armee, der Eisenbahn, Post, der staatlichen Verwaltung, der Forstverwaltung, des Flugwesens usw. zu ermitteln. Es sind riesige Summen und dennoch machen sie am Ende weniger als zwanzig Prozent aller polnischen Verluste aus.

Gedenkstätte Gefängnis und Durchgangslager Łódź/Lodsch-Radogoszcz/Radegast. Ungefähr 3.500 Opfer. Polnische Briefmarke von 1967.

Weniger als zwanzig Prozent?

Wir haben alle Wertermittlungen sowohl aus dem Bericht von 1947 als auch aus anderen Quellen zusammengetragen. Auch wir waren erstaunt, dass die materiellen Verluste weniger als zwanzig Prozent der polnischen Kriegsschäden ausmachen, aber das ergibt sich aus objektiven Berechnungen. Einen viel höheren Wert hat das verlorengegangene menschliche Kapital.

Beinhaltet die Berechnung von weniger als zwanzig Prozent der materiellen Verluste zum Beispiel auch das Königsschloss in Warschau?

Selbstverständlich. Die Verluste von Kulturgütern sind in einem separaten Kapitel aufgeführt. Wir unterstreichen darin, dass die Deutschen mit aller Rücksichtslosigkeit planmäβig die Vernichtung des gesamten polnischen Kulturwesens durchgeführt haben. Sie zerstörten alles: das Bildungswesen, Museen, Archive, Bibliotheken, Kulturdenkmäler, Theater, das Musikwesen, die bildenden Künste.

Es genügt nur zu erwähnen, dass die deutschen Brand- und Sprengkommandos, nach der Kapitulation des Warschauer Aufstandes Anfang Oktober 1944, das menschenleere Warschau  bis Anfang Januar 1945 planmäβig ausraubten und zerstörten. Noch am 14. Januar 1945 hatten sie die Zeit gefunden die Warschauer Stadtbibliothek mit Flammenwerfern in Brand zu stecken. Das Königsschloss, das Nationalmuseum und fast alle anderen Kulturdenkmäler Warschaus waren bereits vernichtet. Zwei Tage später marschierten die Russen ein.

Alles in allem handelte es sich um eine systematische Aktion der Kulturvernichtung, die gegen alle Bestimmungen des Völkerrechts verstieβ. Diese Verluste zu schätzen war nicht einfach.

Welche Methode haben sie gewählt?

Wir gingen davon aus, dass Meisterwerke eigentlich unschätzbar sind. Alles andere lässt sich beziffern, und das haben wir getan.

„Westverschiebung“ Polens 1945.

Polen wurde 1945 nach Westen „verschoben“. Welche Gebiete werden eigentlich in ihrem Bericht berücksichtigt?

Ausschließlich das heutige polnische Kernland, also weder die an die Sowjets verlorenen polnischen Ostgebiete noch die ehemaligen deutschen Ostprovinzen, die heute zu Polen gehören.

Menschliche Verluste, materielle Verluste, Kulturgüter. Was noch haben sie in ihrem Bericht erfasst?

Die Verluste im Banken- und Versicherungswesen, welche Prof. Mirosław Kłusek von der Universität Łódź berechnet hat. Wir hatten vor dem Krieg in Polen einige gut aufgestellte Banken, ein entwickeltes Versicherungswesen und ein weitverzweigtes Sparkassennetz. Alle ihre Bestände wurden geraubt: Einlagen, Reserven, Obligationen, Gold, Devisen, sie gelangten in den deutschen Wirtschaftskreislauf.

Gedenkstätte Gefängnis und Durchgangslager in der Rotunde von Zamość. Ungefähr 10.000 Opfer. Polnische Briefmarke von 1968.

Und kreisen dort bis heute.

Ein Teil davon ganz sicher. Diese Verluste wurden im Bericht von 1947 nicht erwähnt. Wir haben das nachgeholt. In unserem Bericht beschreiben wir auch den Mechanismus der wirtschaftlichen Ausbeutung Polens unter deutscher Besatzung. Er bestand darin, dass die gesamten Besatzungs- und Ausbeutungskosten durch Steuern, Kontingente, Zwangsarbeit, Raub usw. auf die polnische Bevölkerung abgewälzt wurden.

Wir haben zudem eine ganze Reihe von neuen Unterlagen ans Licht gebracht. Hier sind weitere Untersuchungen notwendig.

Wer soll sie durchführen?

Der polnische Staat sollte dazu eine Forschungseinrichtung ins Leben rufen, z. B. ein Büro für Kriegsentschädigungen, das sich der Sache systematisch und professionell annimmt. Jedes Mal, wenn wir eine neue Tür geöffnet haben, sahen wir dahinter einige weitere.

Man könnte viele interessante Forschungsmethoden anwenden, Vergleiche anstellen. Man kann, das haben wir in unserem Bericht getan, z. B. Polen und Spanien nebeneinander stellen. Beide Länder hatten 1938 eine vergleichbare Bevölkerungszahl, eine vergleichbare territoriale Gröβe und befanden sich auf demselben Niveau der Wirtschaftsentwicklung. Spanien war weder vom Zweiten Weltkrieg noch vom Kommunismus unmittelbar betroffen. Die spanische Wirtschaft belegt heute den zwölften Platz auf der Weltrangliste, die polnische den dreiundzwanzigsten. Wir entwickeln uns schnell, aber unser Nachholbedarf ist immer noch enorm. Das ist auch eine Folge des Zweiten Weltkrieges.

Gedenkstätte Vernichtungslager Stutthof. Ungefähr 65.000 Opfer. Polnische Briefmarke von 1967.

Haben sie in ihrem Bericht anhand konkreter Beispiele das Ausmaβ der Verwüstungen verdeutlicht?

Ja, er enthält einige Fallstudien. Da ist zum einen Warschau, dessen Verluste Ingenieur Józef Menes dargestellt hat. Seine Arbeit ist nicht zu unterschätzen.

Wir haben auch den Fall Wieluń dargestellt (Am frühen Morgen des 1. September 1939 hat die deutsche Luftwaffe die militärisch unbedeutende Kleinstadt gröβtenteils zerstört. 1.200 Menschen kamen ums Leben – Anm. RdP).

Auβerdem erwähnen wir die südostpolnische Kleinstadt Nowy Wiśnicz, wo deutsche Besatzer die Karmeliterkirche dem Erdboden gleichgemacht haben. Im benachbarten Nowy Sącz (Neu Sandez) haben deutsche Truppen das gesamte prächtige Schloss der polnischen Könige in die Luft gesprengt.

Wir erwähnen auch die Gegend um die Stadt Zamość, hinter Lublin, in Ostpolen, von wo etwa 110.000 Polen vertrieben wurden, um deutschen Kolonisten aus Bessarabien, Bosnien, Serbien Platz zu machen. Allein dort haben die Besatzer an die dreiβigtausend Kinder ihren Eltern entrissen und zur Germanisierung nach Deutschland gebracht. Etwa ein Sechstel der von dort vertriebenen Polen gelangte nach Auschwitz. Die meisten überlebten nicht. Wir verdeutlichen diese Tragödie am Beispiel des Dorfes Sochy.

Nehmen sie in dem Bericht Stellung zu dem polnischen Verzicht auf deutsche Reparationen vom 19. August 1953, auf den sich Deutschland immer wieder beruft?

Wir führen sehr ernst zu nehmende Argumente an, die belegen, dass dieser von den Sowjets erzwungene Verzicht nicht bindend sein kann. Sowohl der Inhalt des Sitzungsprotokolls des Ministerrates, der eiligst an einem Sonntagabend einberufen wurde, als auch die
offizielle Verlautbarung, die am 23. August 1953 in den Medien erschien, berufen sich in einem fort auf die Sowjetunion: „Die Regierung der UdSSR schlägt vor“, „Die Regierung der UdSSR beabsichtigt“, „Die Regierung der Volksrepublik Polen schlieβt sich voll und ganz der Meinung der Regierung der UdSSR an“ usw., usf. Das damalige Polen mit seinem kolonialen Status musste das tun, was die Kolonialmacht Sowjetunion wollte.

Bolesław Bierut. Sowjetischer Statthalter in Polen. Polnische Briefmarke von 1952.

Zudem ist die Art, wie der Beschluss des Ministerrates zustande kam, geradezu kurios. Unterschrieben hat ihn nur Bolesław Bierut, Stalins Statthalter in Polen, ein NKWD-Agent, der damals an der Spitze der Regierung stand. Der Beschluss wurde weder im Gesetzblatt der Volksrepublik Polen noch im Amtsblatt der Regierung veröffentlicht und auch nicht in der UNO registriert.

Der deutsche Historiker Karl Heinz Roth, der unsere Position für richtig hält, hat uns darauf hingewiesen, dass ein polnischer Verzicht auf deutsche Reparationen eines Vertrages mit den vier Siegermächten bedurft hätte. Sie haben Polen im Juli-August 1945 deutsche Reparationen während ihrer Konferenz in Potsdam  zuerkannt.

Die deutsche Seite behauptet, sie habe Polen längst entschädigt.

In dieser Hinsicht hat die Bundesrepublik jahrzehntelang sehr erfolgreich eine Hinhalte- und Ausweichpolitik betrieben. Lange Jahre hieβ es in Bonn, man könne nichts tun, weil es keine diplomatischen Beziehungen mit Polen gebe. Zudem haben westdeutsche Gerichte Entschädigungsklagen von Polen bis in die Siebzigerjahre des 20. Jahrhunderts stets abgewiesen, mit dem Hinweis, dass der künftige Friedensvertrag alle Entschädigungsfragen regeln werde.

Nach der Unterzeichnung des Warschauer Vertrages im Dezember 1970, in dem die Bundesrepublik die Oder-Neiβe-Grenze anerkannt hatte, und nach der Aufnahme von diplomatischen Beziehungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Volksrepublik Polen 1973 hieβ es, die Entschädigungsforderungen seien verjährt.

Gedenkstätte Konzentrationslager Łambinowice/Lamsdorf. Ungefähr 45.000 Opfer. Polnische Briefmarke von 1967.

Dann folgte der Zwei-plus-Vier-Vertrag vom September 1990, der faktisch einen Friedensvertrag mit Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg ersetzt hat?

Er wurde von der Bundesrepublik Deutschland und der DDR mit den USA, Russland, Frankreich und Groβbritannien abgeschlossen. Die deutsche Bundesregierung beeilte sich im Nachhinein zu erklären, sie habe „diesen Vertrag in dem Verständnis abgeschlossen, dass damit auch die Reparationsfrage endgültig erledigt“ sei.

Nur, Polen war an diesem Vertrag nicht beteiligt. Der Verzicht Polens auf, genau genommen, Kriegsreparationen aus der DDR, wurde 1953 von den Sowjets erzwungen und ist damit nicht bindend.

Was besonders empört: Nur die Polen wurden so behandelt.
Kurz nach Kriegsende hat Westdeutschland, in Folge des Pariser Reparationsabkommens von 1946 (an sechzehn Staaten), des Luxemburger Abkommens von 1952 (an Israel) und des Londoner Schuldenabkommens von 1953 (an siebzig Staaten), Reparationen gezahlt. Polen war nicht dabei. Darüber hinaus gab es auch zahlreiche bilaterale Abkommen der Bundesrepublik mit weiteren betroffenen Staaten.

Seit Kriegsende hat die Bundesrepublik den Opfern des Dritten Reiches insgesamt 75,5 Milliarden Euro gezahlt, wovon Polen nicht ganze zwei Prozent (1,41 Milliarden Euro) bekam. Das meiste bekam Israel, und zwar 35 Milliarden Euro.

Und polnische Gerichte?

Dort hieβ es, der deutsche Staat sei durch die staatliche Immunität geschützt. Diese verbiete es Bürgern anderer Staaten ihn vor ausländischen Gerichten zu verklagen. Tatsächlich gibt es ein solches Prinzip, aber es gilt nicht uneingeschränkt.

Welche Ausnahmen gibt es?

Das italienische Verfassungsgericht hat zum Beispiel in einem Urteil seinen Bürgern das Recht zugestanden, den deutschen Staat vor italienischen Gerichten wegen Kriegsverbrechen zu verklagen. Solche Verfahren gab und gibt es in Italien.

Gedenkstätte Kriegsgefangenenlager Żagań/Sagan. Polnische Briefmarke von 1967.

Kann Polen diesen Weg beschreiten?

Ja. Am 26. Oktober 2017 habe ich einen Antrag beim polnischen Verfassungsgericht (VG) gestellt, unterschrieben von einhundert Sejm-Abgeordneten der Partei Recht und Gerechtigkeit. Demnach soll die Anwendung der Staatsimmunität zum Schutz anderer Staaten verfassungswidrig sein, wenn polnische Bürger oder Behörden andere Staaten auf Entschädigung wegen Kriegsverbrechen, Völkermord und Verbrechen gegen die Menschlichkeit, die auf polnischem Staatsgebiet verübt wurden, verklagen. Ein solches VG-Urteil würde polnischen Bürgern den Gerichtsweg in Polen für deutsche Kriegsentschädigungen öffnen.

Wird Deutschland die Entschädigungsurteile polnischer Gerichte respektieren und umsetzen?

Auf Anhieb eher nicht, aber solche Urteile schaffen nach und nach eine Wirklichkeit, gegen die man sich in der heutigen Welt auf Dauer nicht so ohne Weiteres blind und taub stellen kann.

Der Bericht ist fertig. Wird sich ihre parlamentarische Gruppe jetzt auflösen?

Nein. Es gibt weiterhin viel zu tun und so lange es, wie bereits gesagt, keine ständige Forschungseinrichtung gibt, die das Thema weiterverfolgt, müssen wir weitermachen.

Sowohl in Polen als auch in Deutschland erheben sich viele Stimmen, dass ihre Reparationsinitiative die polnisch-deutschen Beziehungen belasten wird.

Als 1962 de Gaulle und Adenauer in der Kathedrale von Reims die französisch-deutsche Aussöhnung gefeiert und ein halbes Jahr später den Élysée-Vertrag unterschrieben haben, zahlte die Bundesrepublik an Frankreich Reparationen für den Ersten und für den Zweiten Weltkrieg. Niemand kam damals auf die Idee, sie als eine Belastung für Aussöhnung und Zusammenarbeit zu bezeichnen.

Die deutsche Politik behauptet immer wieder, sie möchte das Verhältnis zu Polen genauso gestalten wie die Beziehungen zu Frankreich. Ich denke, dem steht in diesem Fall nichts im Wege.

Wird der Bericht Deutschland offiziell vorgelegt?

Ich hoffe, die deutsche Seite wird ihn als eine gut gemeinte Einladung zum Dialog auffassen. Wir sind offen für Gespräche,  fachliche Diskussionen, für Anmerkungen und Vorschläge.

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© RdP




Deutsche Jugendämter, polnisches Leid

Rabiate Kindeswegnahmen, Sprechverbote, Sorgerechtsentzug. Ein Bericht und eine Expertenmeinung.

Die Vorgehensweise der deutschen Jugendämter sorgt in Polen seit Jahren für helle Aufregung und ruft oft aufs Neue die bösesten Erinnerungen an die preuβische und gar nationalsozialistische Germanisierungspolitik hervor. Der Vorwurf der Germanisierung wird immer wieder erhoben.

Die uneinsichtige Haltung deutscher Behörden, die trotz zahlreicher Verurteilungen der Bundesrepublik durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte, trotz sehr kritischer Anhörungen im Petitionsausschuss des Europäischen Parlaments, trotz vieler Proteste aus dem Ausland weiterhin keinen Anlass sehen, die Vorgehensweise der Jugendämter zu ändern, stöβt in Polen auf Unverständnis.

Deutsche Jugendämter machen seit Jahren von sich reden

Wie sehr emotional die polnische Sichtweise der Dinge ist, verdeutlicht eine Reportage, die Polens gröβtes Wochenmagazin, das katholische „Gość Niedzielny“ („Sonntagsgast“) am 10. Juni 2018 veröffentlicht hat. Wir bringen sie in einer geringfügig gekürzten, deutschen Fassung.

„Wenn ich mich mit seinen Schuhen in der Hand meinem Alanek nähere, fängt er an sich mit dem Rücken gegen die Wand zu stoβen. Er will nicht nach drauβen“, erzählt Beata Bladzikowska. Zweimal in der Woche besucht sie unter Aufsicht einer deutschen Erzieherin ihren kleinen Sohn, den ihr das Jugendamt weggenommen hat.

Die Wohnung von Wojciech Pomorski ist seit fünfzehn Jahren unverändert geblieben. Seit dem Tag als seine Töchterchen verschwanden. An der Tür hängen ihre Zeichnungen, auf den Betten liegen Teddybären, so als wäre die Zeit stehengeblieben.

Wir haben in Hamburg zwei polnische Elternteile ausfindig gemacht, denen das Jugendamt ihre Kinder weggenommen hat. Ungeachtet aller Bemühungen um die Rückkehr, werden die Töchter und der Sohn unserer Gesprächspartner weiterhin der Germanisierung unterzogen.

Die deutschen Jugendämter machen seit Jahren von sich reden. Es heiβt, sie missbrauchen ihre Befugnisse, vor allem im Umgang mit den in Deutschland lebenden Ausländern. Die Ämter nehmen ihnen die Kinder weg. Sie erschweren den Kontakt mit ihnen. Sie erlauben den Eltern nicht, sich bei Besuchsterminen mit den Kindern in ihrer Muttersprache zu unterhalten.

Anwältin Patricia Jurewicz-Behrens

Begründet wird das mit der vermeintlichen Gefährdung des Kindes. Ob es tatsächlich eine Gefährdung gab, das zeigt sich erst im Nachhinein. Bis dahin bleiben die Kinder bei deutschen Pflegefamilien, verlieren den Kontakt zu den Eltern und zu der Sprache, die sie bisher zuhause gesprochen haben.
„In fünfzig bis sechzig Prozent der Fälle, die ich kenne, kehren die Kinder zu ihren Eltern zurück“, berichtet Anwältin Patricia Jurewicz-Behrens, die in einer Hamburger Sozietät arbeitet. Damit bestätigt sie die hohe Zahl der offensichtlich ungerechtfertigten Inobhutnahmen durch das Jugendamt.

In Hamburg gibt es zehn Sozietäten mit polnischsprachigen Anwälten, die sich solcher Fälle annehmen. Patricia Jurewicz-Behrens hat so viel zu tun, dass sie die meisten Eltern, die zu ihr kommen an ihre Kollegen verweisen muss.

Ohne Anwalt geht es nicht, denn es sind Familiengerichte, die über die Rückkehr der Kinder zu ihren Eltern entscheiden. „Die Jugendämter wollen, dass sich die Eltern wegen ihrer angeblichen Schuld so lange wie möglich rechtfertigen müssen, und in dieser Zeit schreitet die Germanisierung der Kinder voran“, sagt Wojciech Pomorski.

In der Nacht den Eltern weggenommen

Die Jugendämter haben uneingeschränkte Möglichkeiten sich in das Familienleben einzumischen, um, wie es in ihren Broschüren heiβt, Kinder zu schützen. Oft werden sie aus der Familie genommen, weil Mutter, Vater oder ein Nachbar dem Amt gemeldet haben, dass etwas Beunruhigendes passiert sei. Das kann z.B. eine mehrtägige Abwesenheit des Kindes in der Schule sein, sein schlechtes Benehmen oder gar seine länger anhaltende schlechte Stimmung, die den Schluss nahelegen, dass das Kind Probleme habe.

„Das Jugendamt darf die Kinder aus den Familien nehmen, wenn es von der Bedrohung seines leiblichen oder seelischen Wohles erfährt“, sagt Frau Jurewicz-Behrens. „Oft passiert es, dass Kinder von einem Elternteil misshandelt werden und blaue Flecke haben. In Notfällen übernimmt das Amt die Fürsorge ohne Gerichtsbeschluss.“

„Über den Eltern steht in Deutschland das Jugendamt“, behauptet Wojciech Pomorski, der am 18. Februar 2007 den „Polnischen Verband Eltern gegen Diskriminierung der Kinder in Deutschland e.V.“ gegründet hat (www.dyskryminacja.de). Der Verband hilft Eltern und Kindern, die vom Jugendamt und der deutschen oder österreichischen Justiz geschädigt wurden.

Wojciech Pomorski mit seinen Töchtern Iwona-Polonia und Justyna

Die letzten fünfzehn Jahre seines Lebens widmete Pomorski dem Kampf um das Recht, seine Kinder in ihrer eigenen Kultur und Sprache erziehen zu dürfen. „Kinder werden aufgrund des § 1666 des Bürgerlichen Gesetzbuches entzogen, ohne dass die Schuld der Eltern bewiesen und die Maβnahme schriftlich begründet worden wäre. Das ist eine Satanszahl und dementsprechend teuflisch sind die Methoden. Das Prozedere verläuft oft dramatisch und übersteigt alle Vorstellungen. Es kommt vor, dass die Mitarbeiter der Jugendamtes und Polizisten mitten in der Nacht das Kind abholen. Nicht selten reiβen sie den Müttern Babys aus den Armen, durchsuchen die Wohnung“, so Pomorski.

Es kommt vor, dass Mitarbeiter der Jugendamtes und Polizisten mitten in der Nacht das Kind abholen. Nicht selten reiβen sie den Müttern Babys aus den Armen, durchsuchen die Wohnung

„Die Jugendämter nehmen auch deutschen Eltern ihre Kinder weg. Die Deutschen wissen jedoch, dass eine Meldung an diese Behörde oft mit dem Entzug des Kindes endet und sind daher viel zurückhaltender, wenn es darum geht Hilfe für ein deutsches Kind dort anzufordern. Anders ist es, wenn es um ausländische Familien geht“, sagt Anwältin Jurewicz-Behrens.

Danach gefragt, ob es sich bei der Herausnahme des Kindes aus der Familie um ein von vorneherein geplantes Vorgehen handele oder ob dies eher aus der jeweiligen Situation heraus geschähe, tippt die Anwältin eindeutig auf das Letztere. Das Jugendamt schreitet ein, wenn es benachrichtigt wird. Sie weist darauf hin, dass, wenn die Kinder erst einmal von der Familie getrennt wurden, der Kontakt der Eltern mit ihnen erschwert ist.

„Am Anfang dürfen die Eltern sie einmal in der Woche besuchen oder noch seltener. Wenn die Kinder in einer Ersatzfamilie untergebracht sind, ist das sogar nur einmal im Monat möglich. Oft wird den Eltern verboten, sich mit ihnen auf Polnisch zu unterhalten, damit das, was gesagt wird kontrolliert werden kann. Es gibt ausschließlich deutsche Pflegefamilien“, berichtet die Anwältin.

Sechzehn Stunden lang unter Aufsicht

Beata Bladzikowska ist alleinerziehende Mutter von drei Söhnen. Den vierten hat ihr das Jugendamt weggenommen. Ihre Vorgesetzten und diejenigen, die sie im Altersheim betreut sind voll des Lobes für sie.

Beata Bladzikowska

„Junge Ehefrauen sollten lieber nicht nach Deutschland kommen, denn es kann passieren, dass sie ohne Kinder nach Hause zurückkehren müssen“, sagt Bladzikowska.

Am 21. Dezember 2014 hat ihr das Jugendamt den jüngsten Sohn weggenommen, den damals siebenmonatigen Alan. „Ich habe mich schlafen gelegt. Mitten in der Nacht hat es an der Tür geklingelt. Unbekannte in Polizeibegleitung kamen in die Wohnung. Sie begannen mit der Durchsuchung, als ob ich jemanden umgebracht hätte. Sie öffneten den Kühlschrank, die Mikrowelle, gingen auf den Balkon. Mein Sohn Aleks hielt den Kleinen auf dem Arm und sie sagten, dass sie ihn mitnehmen. Ohne irgendwelche Papiere, ohne irgendeinen Schuldspruch“, berichtet Bladzikowska.

Jetzt sieht sie ihren jüngsten Sohn einmal pro Woche und darf nur Deutsch mit ihm sprechen. Nachts weint sie oft und weiβ nicht warum sie ausgerechnet für den jüngsten von ihren vier Söhnen eine Bedrohung sein soll.

Wojciech Pomorski wurden durch das Jugendamt vor fünfzehn Jahren zwei kleine Töchter abgenommen, die dreieinhalbjährige Iwona-Polonia und die sechsjährige Justyna, der Kontakt zu den beiden Mädchen wurde ihm unmöglich gemacht. Bis heute hat er noch das Bild im Kopf, als die damals sechzehnjährige Tanja, eine Kollegin aus dem Pflegelehrgang, sie war ihm ins Auge gefallen, ihn in gebrochenem Polnisch fragte: „Bleibst Du für länger hier?“

Er ist geblieben, weil er sich verliebte, und sie haben geheiratet. „Von Anfang an haben ihre Eltern alles unternommen, um unsere Ehe zu torpedieren und meine Frau gegen mich aufzubringen.“

Als er am 9. Juli 2003 nach Hause kam, mit zwei Katzen- und Hundefigürchen für die Töchter, war die Wohnung leer. Seine Frau hatte ihn mit den Töchtern verlassen und die Kinder dem Vater entzogen. Mit Hilfe des Jugendamtes hatte die Mutter die gemeinsamen Töchter nach Wien gebracht, da der Vater sie angeblich entführen wollte. Als er beim ersten Besuchstermin protestierte, weil man ihm verboten hatte mit den Töchtern Polnisch zu sprechen, wurde jeglicher Kontakt unterbunden.

Insgesamt sah er sie in den fünfzehn Jahren dreimal: zwei Jahre nach der Trennung, dann ein Jahr später und anschlieβend nach fünf Jahren. Insgesamt sechzehn Stunden lang unter Aufsicht der Jugendamtsmitarbeiter. Pro Stunde des Zusammenseins mit den Töchtern musste er in Österreich achtzig Euro bezahlen (in Deutschland existiert eine solche Gebühr nicht).

Jugendamt-Protestplakat. Oft wird polnischen Eltern verboten, sich mit ihren Kindern auf Polnisch zu unterhalten, damit das, was gesagt wird kontrolliert werden kann. Es gibt ausschließlich deutsche Pflegefamilien

„Der fehlende Kontakt mit mir führte zur gänzlichen »Entpolonisierung« meiner Töchter, zur Vertreibung der polnischen Kultur aus ihrem Leben, des polnischen Teils ihrer Familie und zum völligen Verschwinden der Bindung zu mir, obwohl auch ich das Sorgerecht habe“, erzählt Pomorski.

Anwältin Jurewicz-Behrens sagt, dass man nicht behaupten kann, die Polen werden absichtlich diskriminiert wenn es um den Entzug der leiblichen Kinder geht. Die Deutschen befolgen in solchen Fällen meistens die Anweisungen des Jugendamtes sehr genau und die Mütter sind bereit vorläufig in ein Mütterheim zu ziehen, damit ihre Kinder nicht in eine Ersatzfamilie gegeben werden.

„Weil sie schlecht oder kaum Deutsch sprechen, sind viele Polen nicht fähig sich mit dem Jugendamt korrekt zu verständigen und sind hilflos. Viele Mütter wollen nicht ins Mütterheim gehen, sondern stellen die Forderung, dass man ihnen ihr Kind sofort zurückgibt“, so Jurewicz-Behrens.

Beata Bladzikowska wollte mit Alan ins Mütterheim, aber sie wurde abgewiesen. Es hieβ, sie sei zu alt.

Ein Prozent

Bladzikowska kam 1998 nach Hamburg mit ihrem, heute bereits, ehemaligen Ehemann, den sie, wie sie sagt, geliebt hat. Nacheinander kamen Maks (im Dezember 2018 wird er zwanzig), Nicolas und Aleks auf die Welt. „Wir haben uns 2012 scheiden lassen, weil mein Mann mich und die Kinder miβhandelt hat. Damals half mir das Jugendamt. Ich bin mit den Söhnen im Frauenhaus untergekommen. Später habe ich selbst eine Wohnung gefunden.“

Wir treffen sie in dieser Wohnung. Die Fuβböden, die Fenster strahlen vor Sauberkeit, das Kinderzimmer sieht wie ein Lunapark aus.

„Nach einiger Zeit habe ich dann Alans Vater kennengelernt. Ein Jahr später wurde ich schwanger, obwohl ich es in meinem Alter eigentlich nicht mehr erwartet hatte. Ich habe das Kind ausgetragen. Ein Kind ist doch ein Geschenk. Nach der Geburt ist Alans Vater nach Polen zurückgekehrt. Er hat es hier nicht mehr ausgehalten, sprach kein Deutsch.

Ich bat das Jugendamt mir zu helfen eine Arbeit zu finden, aber sie haben abgelehnt. Vier Treppenaufgänge weiter wohnte eine vorwitzige deutsche Nachbarin. Ihre Kinder haben uns oft besucht. Sie hat dem Jugendamt zugetragen, dass ich angeblich viel trinke. Als ich sie im Nachhinein darauf angesprochen habe, sagte sie: »Ich kann die Pflegemutter für Alan sein. Du musst nur mit mir zum Jugendamt gehen und darum bitten.« Ich habe ihr darauf geantwortet: »Alan hat eine Mutter und ein Zuhause wohin er zurückkehren wird.«

Ich habe beim Jugendamt anfragt, wie stehen die Chancen, dass er zurückkommt. Sie sagten: ein Prozent. Ich habe darum gebeten, dass sie mir Blut abnehmen, die Haare oder die Leber untersuchen lassen sollen, wenn sie meinen, dass ich Alkoholikerin sei, aber sie haben es nicht gemacht“, berichtet Beata Bladzikowska.

Jetzt darf sie den Sohn zweimal in der Woche sehen. Seit drei Jahren muss sie mit ihm Deutsch sprechen, sodass Alan nach und nach die polnische Sprache verlernt.

„Wenn ich ihm sage, dass ich ihn liebe, dass ich Sehnsucht nach ihm habe, dass er nach Hause zurückkehren wird, unterbricht die deutsche Betreuerin den Besuchstermin“

„Deutsche nehmen Polen Kinder weg“. Jugendamt-Berichterstattung. Titelseite „Gazeta Polska Codziennie“ („Polnische Zeitung Täglich“) vom 19. August 2016

Beata weiβ, dass der Sohn bei einer fünfköpfigen deutschen Pflegefamilie wohnt. Er trägt immer noch eine Windel, obwohl er im Juni 2018 vier Jahre alt geworden ist. Er hat schmutzige Ohren und Fingernägel, wurde ohne ihr Einverständnis operiert.

Sie kämpft vor Gericht um ihren Sohn. Vor unserer Verabredung ging sie zum Jugendamt, um die Akte einzusehen. Erschrocken musste sie feststellen, dass der Sohn die deutsche Staatsangehörigkeit hat. „Warum? Vater und Mutter haben doch die polnische Staatangehörigkeit, und Alan hatte sie als unser Kind auch. So steht es in seiner Geburtsurkunde.“ Sie bekam keine Antwort.

Unterbrochene Vaterschaft

Es vergeht kein Tag ohne dass Wojciech Pomorski an seine Töchter denkt. Bis heute geht er zu den Orten, wo sie gespielt, mit Kreide auf den Asphalt gemalt haben.

„Jetzt ist die Kreide schon abgewaschen/ normaler schwarzer Asphalt für jedermann in Hamburg/ nur für den Vater nicht,/ der hier neun Jahre später vorbeifährt/ und sich die Tränen abwischt … Man hat uns vor sieben Jahren einander gestohlen“, hat er in seinem Gedicht „Asphalt“ geschrieben.

Normalerweise schreibt er eher keine Gedichte, stattdessen Eingaben an das Gericht. Er hat Abschlüsse in Germanistik und Politikwissenschaften, also kennt er sich aus. Sein Prozess um die Rückgabe der Töchter begann im Juni 2005.

„Das Verfahren wurde unterbrochen, weil das Jugendamt Hamburg Bergedorf, das mir das Sprechen auf Polnisch mit meinen Töchtern verboten hat, mir die Akteneinsicht verweigerte“, erläutert Pomorski.

„Bis zu jenem Tag schwirrten die Töchter in der ganzen Wohnung umher und plötzlich war Ruhe. Nach fünf Wochen bin ich auf den Balkon gegangen und musste mich ganz fest zusammenreiβen, um nicht herunterzuspringen.

Später habe ich gehört, dass, nachdem ihm sein Kind weggenommen wurde, sich der 38-jährige Andrzej Luc aus Suwałki im Jugendamt in Berlin das Leben mit einem Kopfschuss nahm. Eine Mutter ist mit dem Schild „Jugendamt“ vom Balkon gesprungen. Sachverständige haben festgestellt, dass sie psychische Störungen hatte. Ja, was denn? Sollten sie ihre Kinder mit einem Lächeln auf den Lippen an fremde Leute abgeben? Wäre da nicht der Herrgott, hätte auch ich es nicht ausgehalten“, berichtet Pomorski.

Pomorski forderte, mit seinen Töchtern bei den Besuchsterminen Polnisch sprechen zu dürfen. Er berief sich auf ihre polnische Staatsangehörigkeit und auf die Bestimmungen des deutsch-polnischen Vertrages über gute Nachbarschaft und freundschaftliche Zusammenarbeit vom 17. Juni 1991 (Art. 20, Abschnitt 1 bis 3 und Art. 21, Abschnitt 1 und 2), die unter anderem besagen, dass die Deutschen in Polen und die Polen in Deutschland „sich privat und in der Öffentlichkeit ihrer Muttersprache frei bedienen dürfen.“

„Ich war der Erste, der »nein« gesagt hat“, sagt Pomorski. Vom Jugendamt bekam er leider eine Absage: „Aus pädagogisch-fachlicher Sicht ist anzumerken, dass es im Interesse der Kinder nicht nachvollziehbar ist, dass die Zeit des begleiteten Umganges in polnischer Sprache erfolgen soll. Für die Kinder kann die Förderung der deutschen Sprache nur vorteilhaft sein, da diese in diesem Land aufwachsen und hier die Schule besuchen.“

Jugendamt-Protestplakat. „Jahrzehnte Erfahrung im Klauen polnischer Kinder. Die Zeit vergeht, die deutschen Ziele bleiben unverändert“

Für Wojciech Pomorski war klar, dass eine solche Entscheidung grünes Licht bedeutet für diskriminierende Praktiken im Familienleben der Angehörigen einer Minderheit. Deswegen ging er in Hamburg vor ein Verwaltungsgericht, um Einsicht in interne Akten des Jugendamtes zu bekommen. Es gab eine Zeit, wo er gleichzeitig achtzehn Prozesse führte, für die er gut sechzigtausend Euro an Anwaltshonoraren zahlte.

Er gewann den Prozess nach drei Jahren, als die angeblich verloren gegangenen internen Akten wieder auffindbar waren. „Vor deutschen und österreichischen Gerichten bin ich mehrere Male durch alle Instanzen gegangen“, sagt Pomorski.

Gila Schindler

Er erfuhr Genugtuung als Gila Schindler, Vertreterin der deutschen Regierung,  ihn am 7. Juni 2007 in Brüssel bei der Anhörung des Petitionsausschusses im Europäischen Parlament zu den Praktiken der deutschen Jugendämter für die Diskriminierung , die seiner Familie widerfahren war um Entschuldigung bat. Bei etwa dreihundert weiteren Eltern, die zusammen mit seiner Petition ebenfalls ihre eigenen Petitionen eingereicht hatten, hat sich niemand entschuldigt.

„Herrn Pomorski ist Unrecht widerfahren, denn die Haltung des Jugendamtes war weder richtig noch rechtens. Es tut mir leid, dass das passiert ist“, sagte Gila Schindler. „Jugendämter haben kaum Befugnisse, die ihnen Eingriffe in Elternrechte gestatten“, fügte sie hinzu.

Einen aufschlussreichen und zugleich bedrückenden Bericht zu dieser Anhörung finden Sie hier – Anm. RdP

Ausführliche Informationen zum Thema gibt es hier – Anm. RdP

Viele Medien waren damals im Europäischen Parlament vor Ort und haben über die zweistündige Anhörung berichtet. Wojciech Pomorski schilderte damals ausführlich die Germanisierung seiner Kinder. An seiner Situation und der Vorgehensweise der Jugendämter hat sich seitdem nichts geändert

(…)

Das polnische Auβenministerium räumt ein, dass es von Wojciech Pomorskis „Polnischen Verband Eltern gegen Diskriminierung der Kinder in Deutschland e.V.“ einen Teil der Hinweise auf Unregelmäßigkeiten in der Vorgehensweise der Jugendämter bekommt. „Stets leiten wir in solchen Fällen Schritte ein. Wir nehmen Verbindungen auf zu den Eltern, zu den polnischen Konsulaten, zu deutschen Behörden. Wir fordern Stellungnahmen ein bezüglich der vermeintlichen Verletzungen der Rechte polnischer Staatsbürger. Wir sind behilflich bei den Eingaben und arbeiten mit Anwälten in bereits laufenden Verfahren zusammen.“

Ein Erfolg des Auβenministeriums war unlängst die Rückkehr von drei Kindern zu ihrer polnischen Mutter. Die Bemühungen dauerten über ein Jahr lang. Die Söhne waren ihr in Deutschland weggenommen worden. Zudem hatte man die Zwillinge woanders untergebracht als ihren Bruder. Die Mutter durfte bei Besuchsterminen mit den Kindern nicht Polnisch sprechen.

Wojciech Pomorskis „Polnischer Verband Eltern gegen Diskriminierung der Kinder in Deutschland e.V.“ Menschliche Tragödien sind tägliches Brot

„Fünfzehn Jahre lang habe ich wie in einem Amokzustand gekämpft“, berichtet Wojciech Pomorski. „Die Arbeit meines Verbandes hat keinem Amt gepasst. Es liegt ja auf der Hand: wenn ich und der Verband aktiv sein müssen, dann heiβt es, dass auch andere Eltern mit dem Problem nicht fertig geworden sind. Dank uns, sind knapp eintausend durch Jugendämter aus ihren Familien genommene Kinder nach Polen zurückgekehrt“, sagt Pomorski.

Ein kleines goldenes Herz von Swarovski

Wojciech Pomorski hat inzwischen seine Verbitterung verarbeitet und daraus bedachtes Handeln gemacht, überzeugt davon, dass Niederlagen stärken können. Ähnlich verfährt Beata Bladzikowska. Sie behält die Nerven, wenn ihr Sohn zum Abschied weint. „Polen sind meistens sehr gefasst, innerlich stark. Würde ich jetzt aufbegehren, man würde mir die Besuchstermine streichen.“

„Ich will nicht als Verlierer in die Heimat zurückkehren“, sagt Wojciech Pomorski. „Ich muss zeigen, wie die Wahrheit aussieht. Wovor soll ich denn Angst haben, wenn man mir bereits das Schlimmste angetan hat: meine Kinder wurden mir weggenommen. In diesem pseudoliberalen Land haben Schwule, haben Transsexuelle, haben Menschen mit Pathologien ihre Rechte, und gleichzeitig darf man sich mit dem eigenen Kind nicht in seiner Muttersprache unterhalten. Versuchen wir mal in Polen den bei uns lebenden Deutschen zu verbieten Deutsch zu sprechen. Die Protestwelle wäre riesig“, daran hegt Pomorski keinen Zweifel.

Um zu zeigen woher er stammt, trägt er einen kleinen polnischen Adler um den Hals. Menschliche Tragödien sind sein tägliches Brot. Manchmal bekommt er einige Anrufe pro Tag mit der Bitte zu helfen. Er steht den verzweifelten Eltern Tag und Nacht zur Verfügung, die, wie er zuvor selbst, durch diese Hölle gehen.

„Kinder werden aus ihren Familien genommen, wegen der Annahme, die Eltern seien Alkoholiker, drogenabhängig, psychisch krank, gewalttätig“, zählt Pomorski auf. Manche Mütter oder Väter schämen sich den Grund anzugeben. Er hat gelernt nachsichtig zu sein, weil er meistens sowieso nicht erfahren wird, was sich in den vier Wänden der Leute abgespielt hat, die bei ihm Hilfe suchen. Er sieht und unterstützt die riesige Entschlossenheit der Eltern, die bereit sind alles zu tun, damit die Kinder zu ihnen zurückkehren.

„Tatsache ist, dass die Deutschen aussterben. Die Herausnahme der Kinder aus polnischen Familien liefert ihnen hervorragenden »Nachwuchs«“, davon ist Pomorski überzeugt.

Sein Stellvertreter im Verein ist Klaus-Uwe Kirchhoff, ein Deutscher, der zwölf Jahre lang im Jugendamt gearbeitet hat und aus ethischen Gründen gegangen ist. Er kennt sich bestens aus.

Klaus-Uwe Kirchhoff

„Die Inobhutnahme der Kinder ist für das Jugendamt ein einträgliches Geschäft. Die Lebenshaltungskosten eines Kindes steigen dadurch um das Dreiβigfache. Die Eltern bekommen 190 Euro Kindergeld pro Monat. Das Jugendamt bekommt diese Summe pro Tag. Das sind etwa sechstausend Euro monatlich. Für ein behindertes Kind sind es gar fünfundzwanzigtausend Euro im Monat“, erläutert Kirchhoff.

Es erschreckt ihn, wenn er in vielen deutschen Gerichtsakten zu Minderjährigen die Frage nach der „Erziehungsfähigkeit“ der Eltern liest. „Sie erinnert“, seiner Meinung nach, „beunruhigend daran, dass es weiterhin eine Selektion gibt. Das Bundesverfassungsgericht verlangt nicht, dass Eltern ihre “Erziehungsfähigkeit“ unter Beweis stellen müssen. Dennoch ist davon bei Verhandlungen vor Familiengerichten immer wieder die Rede, und das betrifft überwiegend Ausländer, darunter auch polnische Eltern“, berichtet Kirchhoff.

Wojciech Pomorski traf 2017 seine ältere Tochter in Wien. Sie fand ihn vor drei Jahren auf Facebook. „Vor mir saβ mein Töchterchen, dem Unrecht angetan wurde, mein polnisches Mädchen, und ich musste mit ihr Deutsch sprechen.“

Sie hat ihn sehr kühl behandelt und vom Gesicht des Vaters flossen die Tränen auf den Blumenstrauβ, den er ihr mitgebracht hatte. Am nächsten Tag bat sie ihn um ein weiteres Treffen. Sie lief ihm schon von Weitem entgegen mit ausgestreckten Armen, umarmte ihn, so wie er sich das erträumt hatte.

Er kaufte ihr ein goldenes Herzchen von Swarovski, damit sie nicht vergisst, dass er sie immer lieben wird. Er überredete sie in den Stephansdom zu gehen. Sie kniete nicht nieder, wie er, aber er hat dem Herrn auch in ihrem Namen gedankt“, beendet seinen Bericht das Wochenblatt „Gość Niedzielny“.

Kinderschutz oder Kinderraub?

Am 25. November 2018 erschien im Wochenmagazin „Sieci“ („Netzwerk“) ein Interview mit Rechtsanwalt Jerzy Kwaśniewski (Jahrgang 1984), dem Vorsitzenden des konservativen Rechtshilfevereins Ordo Iuris. Der Verein gewährt u. a. immer wieder Polen Rechtsbeistand, denen deutsche und norwegische Behörden das Sorgerecht entziehen.

Jerzy Kwaśniewski

Frage: Der Fall Silje Garmo hat der polnischen Öffentlichkeit zum ersten Mal ganz konkret die Tätigkeit der norwegischen staatlichen Agentur für das Wohlergehen von Kindern, Barnevernet, vor Augen geführt. Groß ist bereits seit langem die Empörung über die deutschen Jugendämter. Die Rechtshilfeorganisation Ordo Iuris („Rechtsordnung“), der Sie vorstehen hat gegen die Willkür beider Behörden oft interveniert.

Ordo-Iuris-Emblem

Jerzy Kwaśniewski: Es gibt in Europa zwei Modelle zum Schutz des Kindeswohls. Das eine entstand in Skandinavien, und seine extremste Ausprägung erleben wir in Norwegen mit dem Barnevernet. Es wurde voll und ganz von Deutschland übernommen. Seine Einflüsse sind auch in den Niederlanden, Belgien, Österreich und Wales zu beobachten.

Die staatlichen Behörden dieser Länder nehmen sich das Recht, den Eltern vorzugeben wie sie ihre Kinder zu erziehen haben. Dementsprechend behält sich der Staat vor zu beurteilen, ob das Wohl des Kindes gewahrt wird und um das zu gewährleisten, notfalls die Elternrechte von Amtswegen auβer Kraft zu setzten. Hier wird der Begriff „elterliche Gewalt“ durch „elterliche Verantwortung“ ersetzt, verstanden als die Verantwortung der Eltern gegenüber dem Staat, einzig und allein nach dessen Vorschriften und Vorstellungen für den Nachwuchs zu sorgen.

Und das zweite Modell?

Das gilt in Polen, Italien, Spanien und einigen weiteren Ländern. Hier steht die Familie im Vordergrund. Der Staat unterstützt die Familie nur dort, wo sie wirklich versagt. Es gibt eine klare Grenze zwischen der Familiensphäre und der Sphäre der öffentlichen Verwaltung. In diesen Ländern ist es nicht möglich ohne Gerichtsbeschluss, beziehungsweise Gerichtsurteil, das Sorgerecht zu entziehen.

Kann man sagen, dass in Norwegen und Deutschland Beamte, die von Beamten kontrolliert werden, das Sorgerecht entziehen und man anschlieβend dagegen kaum noch etwas ausrichten kann?

Vor Gericht kann man in diesen Ländern, im Falle der Inobhutnahme eines Kindes durch die Jugendfürsorge, erst in einer späten Phase gehen. Dadurch entstehen solche Situationen, wie sie in Verfahren gegen Norwegen vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) widergespiegelt werden. Die Kinder, um die es da geht, sind oft schon so lange fern von der eigenen Familie, dass das Gericht die staatliche Inobhutnahme, die dazu geführt hat zwar im Nachhinein für nicht rechtens befindet, aber ihre Rückkehr zu den leiblichen Eltern als ein Zufügen von Leid bewertet, da diese Kinder sich inzwischen in der Pflegefamilie eingelebt haben.

Die Parlamentarische Versammlung des Europarates hat kürzlich eine Entschlieβung zum norwegischen Barnevernet gefasst. Ausgangspunkt war das dramatische Schicksal der rumänischen Familie Bodnariu.

Valeriu Ghiletchi

Der moldauische Europaratsabgeordnete Valeriu Ghiletchi verfasste einen Bericht über das norwegische Barnevernet-System. Der Einwandererfamilie Bodnariu hatte Barnevernet fünf Kinder weggenommen, darunter eins, das noch gestillt wurde. Erst eine heftige Protestwelle in der ganzen Welt zwang die norwegischen Behörden dazu einzuräumen, dass die Inobhutnahme der Kinder durch den Staat nicht rechtens war und die Kinder in ihre Familie zurückzuführen sind. Die Bodnarius sind unmittelbar danach aus Norwegen geflüchtet.

Familie Bodnariu

Die breite Öffentlichkeit konnte aus diesem Bericht ebenfalls ersehen, dass nicht nur Ausländer sondern die Norweger selbst dieser Willkür ausgesetzt sind. In den letzten Jahren hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte zehn Verfahren gegen Norwegen in Sachen Barnevernet geführt.

Der Abgeordnete Valeriu Ghiletchi hat in seinem Bericht ebenfalls dargelegt, wie das System aussehen und funktionieren sollte, um tatsächlich dem Kindeswohl zu dienen.

Wie lauten die wichtigsten Feststellungen des Berichts?

Zum einen steht über allem die leibliche Verbindung zwischen dem Kind und seinen Eltern. Die Behörden können ab jetzt nicht mehr behaupten, dass die biologische Bindung, die Verwandtschaft für das Kindeswohl ohne Bedeutung seien.

Es gab nämlich sehr viele Fälle in Norwegen, in denen die Behörden behaupteten, dass für das Kind das „optimale Entwicklungsmilieu“ am wichtigsten sei. Das heiβt, wir, die Behörden, können den leiblichen Eltern das Kind wegnehmen, weil wir festgestellt haben, dass das Kind in einem anderen Milieu, vielleicht einer reicheren, einer „mehr norwegischen“ Umgebung bessere Lebensbedingungen haben wird.

Barnevernet. Tschechisches Protestplakat

So zum Beispiel teilte Barnevernet 2016 einem norwegischen Vater und der tschechischen Mutter eines neunmonatigen Mädchens mit einem genetisch bedingten Nierenleiden mit, dass sie die Möglichkeit hätten, das Kind von sich aus für eine Pflegefamilie freizugeben. Andernfalls hätten sie mit einem Verfahren seitens Barnevernet zu rechnen. Aus dem Krankenhaus, wo sich das Mädchen in Behandlung befand, seien Hinweise darauf eingegangen, dass es zu seinen Eltern eine ungenügende Bindung entwickelt habe. Kurz darauf nahm Barnevernet den Eltern tatsächlich das Kind weg und vertraute es einer Pflegefamilie an.

Zum zweiten stellt der Bericht fest, dass das Sorgerecht dazu da sei, das Kind in die Familie wieder einzugliedern. Das Sorgerecht sei nicht dazu da darauf hinzuarbeiten, dass die emotionale Bindung an die Eltern erlischt, damit man das Kind für die Adoption freigeben oder dauerhaft in der Pflegefamilie belassen kann. Es gehe darum alles daran zu setzen, um die Krisensituation in der Familie zu bewältigen und die emotionale Bindung an die Eltern zu erhalten.

Für Norweger und Deutsche ist das neu. Bei ihnen war die Kindesentnahme meistens mit der Zerstörung der ursprünglichen Familie verbunden. In Norwegen durften Eltern ihre weggenommen Kinder viermal im Jahr eine Stunde lang sehen. Oft war nicht mal das gestattet. Die biologischen Eltern sollten möglichst schnell in Vergessenheit geraten.

Worin besteht die Macht von Barnevernet und der Jugendämter? Die öffentliche Meinung scheint in ihrem Fall keine Bedeutung zu haben.

Die Norweger sagen, dass die spezifische skandinavische Mentalität das Kritisieren von Behörden verbiete. Die Loyalität dem „Volksheim“ Staat gegenüber sei wichtiger. Dass Barnevernet jetzt am Pranger der dortigen Öffentlichkeit steht, verdanken sie den Migranten. In dem etwa Fünfmillionen-Land leben inzwischen eine halbe Million Ausländer, davon zweihunderttausend Polen. Die Migranten haben die Einheimischen auf das Böse im System Barnevernet aufmerksam gemacht.

Anti-Barnevernet-Demonstration

Dieses System ist ein halbprivates Vorhaben. Die Pflegefamilien funktionieren wie Unternehmen, die allein schon für die Bereitschaft Kinder aufzunehmen umgerechnet etwa sechzigtausend Euro im Jahr bekommen. Doppelst so viel erhalten sie für die Aufnahme von zwei Kindern, wobei der Staat alle Lebenshaltungskosten der Kinder übernimmt.
In Norwegen, das sagen viele Beobachter, sei durch die relativ häufigen Sorgerechtsentzüge eine regelrechte Pflegeeltern-Industrie entstanden, die Teil eines Barnevernet-Filzes geworden sei.

Es scheint ein gutes Geschäft zu sein.

Tausende Norweger leben fast oder ausschlieβlich davon. Überwacht wird das Ganze von privaten Firmen. Bei denen zählt nur noch der Gewinn. Sie tun alles, um das Barnevernet-System so zu lassen wie es ist. Je mehr Kinder ihren Eltern weggenommen werden, umso besser.

Silje Garmo mit Tochter Eira

Silje Garmo hat Barnevernet bereits während der Schwangerschaft angekündigt das Neugeborene wegzunehmen. Es hieβ, sie sei medikamentensüchtig, pflege einen „chaotischen Lebenswandel“. Keine der Blutuntersuchungen, denen sie sich unterziehen musste ergab eine Medikamentenabhängigkeit. Dennoch musste sie ihre erste Tochter abgeben. Silje Garmo ist aus Norwegen geflohen und hat in Polen, zusammen mit ihrer einige Monate alten zweiten Tochter Eira, Asyl beantragt.

Die Ausländerbehörde hat ihrem Antrag stattgegeben, doch das Auβenministerium als übergeordnete Behörde lehnte den Antrag ab. Die Begründung war nicht akzeptabel. Es hieβ, die Zusammenarbeit mit norwegischen Staatsfirmen- und Behörden beim Bau der Baltic-Pipe-Erdölleitung von Norwegen über Dänemark nach Polen könnte darunter leiden. Ordo Iuris hat dagegen Berufung eingelegt. Leider wird auch dieser Einspruch, aufgrund der Spezifik des Verwaltungsrechtsverfahrens, zuerst vom Auβenministerium geprüft und erst dann kann er, falls erforderlich, vor Gericht gehen.

Ergänzung RdP:  Am 12. Dezember 2018 hat der polnische Außenminister den Einspruch positiv beschieden. Silje Garmo und ihrer Tochter wurde in Polen Asyl gewährt.

RdP