Reparationen für Polen. Ein Deutscher spricht Klartext

Deutschland hat sich fast umsonst von der Vernichtung Polens freigekauft.

„Polen sollte eine europäische Initiative zur Wiedergutmachung starten. Die deutsche Heuchelei muss aufgedeckt werden“, sagt Dr. Karl Heinz Roth, Jahrgang 1942, deutscher Historiker und Arzt, Experte der Stiftung für Sozialgeschichte des 20. Jahrhunderts (SfS) in Bremen, Autor des Buches „Verdrängt, aufgeschoben, abgelehnt. Die deutschen Reparationsschulden gegenüber Polen und Europa“.

Nachfolgend ein Gespräch mit ihm.

Einerseits sagen die Deutschen, dass sie ein tiefes Schuldgefühl für die Verbrechen des Dritten Reiches empfinden, dass sie ihre Vergangenheit aufgearbeitet haben und nichts leugnen. Andererseits lehnen sie nicht nur die Möglichkeit ab, Reparationen an Polen zu zahlen, sondern sogar die Diskussion darüber. Für sie ist der Fall abgeschlossen. Wenn Schuld vorliegt, sollte es eine Wiedergutmachung geben oder nicht?

Karl Heinz Roth.

Auf jeden Fall. Dass dies nicht der Fall ist, liegt am Zynismus der deutschen Machtpolitik. Dieser Zynismus führt dazu, dass die berechtigten Forderungen der Entschädigungsberechtigten als Betteln um Almosen dargestellt werden. Opfern wird das Recht verweigert, das einzufordern, was ihnen zusteht. Dadurch entsteht eine Art Missverhältnis: Ein mächtiger Schuldner entscheidet, wie er die Forderungen derjenigen behandelt, denen er Unrecht getan hat.  Das ist verwerflich und nicht annehmbar.  Deutschland behandelt Polen wie eine schwache, lästige Peripherie.

Sie kommen, zumeist zu bedeutenden historischen Jahrestagen, leisten Abbitte. 

Ja, denn dieses Schuldgefühl wird durch eine sehr wirkungsvolle, gut funktionierende Erinnerungskultur bedient. Aber es gibt keine Bereitschaft, die materielle Seite dieser Erinnerungskultur anzunehmen. Die Opfer und ihre Nachkommen, denen so viel Unrecht widerfahren ist, mussten irgendwie weiterleben. Sie müssen weiterleben. Indem ihnen das Recht auf materielle Entschädigung verweigert wird, wird ihnen erneut Schaden zugefügt. Sie werden auf die Rolle von Bettlern reduziert. Solange auf deutscher Seite keine Bereitschaft besteht, mit Polen unvoreingenommen über Reparationen zu sprechen, ist das ganze Gerede von Schuld nichts weiter als Heuchelei.

Warschau 1946.

Westdeutschland leistete in den 1950er und 1960er Jahren Reparationszahlungen an Israel und den Jüdischen Weltkongress, weil es nach dem Krieg in die internationale Gemeinschaft zurückkehren wollte, und Israel blockierte diese Bemühungen mit Erfolg. Man könnte also sagen, dass die Juden, wenn es um Deutschland ging, eine wirksame Methode gefunden hatten. Was kann Polen tun?

Polen verfügt nicht über ein solches Druckmittel, was unter anderem auf die Ereignisse der letzten Jahrzehnte zurückzuführen ist. Die Regierung in Warschau hat jedoch die Möglichkeit, auf verschiedenen Ebenen Druck auf Deutschland auszuüben.

Die erste Möglichkeit besteht darin, das Thema zu internationalisieren, damit Polen nicht allein handeln muss. Ein möglicher Ort für ein völkerrechtliches Vorgehen wäre, meines Erachtens, die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE), wo ein Schiedsverfahren angestrebt werden könnte, und auch der Internationale Gerichtshof. Das Thema sollte ebenfalls vor das Europäische Parlament gebracht werden und die Europäische Kommission sollte aktiviert werden. Kurzum, Polen sollte eine europäische Initiative zur Wiedergutmachung starten.

Zugleich sollten wir eine internationale Konferenz zu diesem Thema veranstalten. Damit dies gelingt, ist die Veröffentlichung des Berichts der Parlamentarischen Gruppe des Sejms für Wiedergutmachung über die Kriegsverluste Polens unabdingbar.

Im Fall von Griechenland hat sich die Situation dadurch völlig verändert. Die griechische Regierung hat der deutschen Regierung eine offizielle Note zu diesem Thema übermittelt. Heute fordern die deutschen Grünen, dass Berlin auf die Forderungen Griechenlands mit Respekt reagiert und sie berücksichtigt, anstatt sie einfach beiseite zu schieben.

Warschau im September 1945.

Die Grünen werden wahrscheinlich die neue Regierung in Deutschland mitbegründen. Wenn Polen seine Verluste bewertet und offiziell Reparationen fordert, kann die deutsche Seite dies nicht einfach ignorieren, wie sie es bisher getan hat. Sie wird diese Doppelmoral nicht länger aufrechterhalten können. Diese deutsche Haltung muss entlarvt werden. Zeigen Sie allen diese Heuchelei.

Die Deutschen behaupten jedoch, dass die kommunistische Regierung 1953 auf Reparationen verzichtet und dass das 2+4-Abkommen vom September 1990 die Frage endgültig abgeschlossen habe.

Das ist Unsinn. Für Reparationen gibt es keine Verjährungsfrist. Die Erklärung von 1953, in der die Volksrepublik Polen auf ihre Ansprüche gegenüber Deutschland verzichtete, ist aus völkerrechtlicher Sicht ungültig. Polen war damals kein souveräner Staat und hat diesen Schritt nicht freiwillig, sondern auf Druck der Sowjets, im Interesse ihrer damaligen Deutschlandpolitik getan. Es ging darum den Abschluss eines Friedensvertrags zu erleichtern und die deutsche Vereinigung unter sowjetischen Vorzeichen zu unterstützen, die letztendlich nicht zustande kam. Dieses Dokument ist daher nicht rechtskräftig.

Der 2+4-Vertrag, das Abkommen Deutschlands mit den vier Mächten, ist de facto ein Friedensvertrag, wird aber nicht als solcher bezeichnet, weil Deutschland nicht wollte, dass Reparationen in den Vertrag aufgenommen werden. Bis zur Unterzeichnung dieses Vertrages lehnte die deutsche Regierung jedes Gespräch über Reparationen ab, da sie behauptete, dies könne nur in einem Friedensvertrag besprochen werden.

Warschau im Oktober 1945.

Deshalb ist diese Frage noch immer nicht geklärt, und die Länder, die dieses Dokument nicht unterzeichnet haben, wie z. B. Polen, sind nicht daran gebunden. Deutschland hat Millionen von Menschen ermordet, deren Lebensgrundlagen zerstört und ihre Kultur geplündert. Es hat sich relativ billig aus der Misere herausgekauft. Das ist inakzeptabel.

Sehen Sie sich an, was mit den Reparationen für den deutschen Völkermord während der Kolonialzeit in Namibia geschehen ist. Ich kenne einen Historiker, der als Berater an den Verhandlungen teilgenommen hat. Er hielt mich über den Verlauf der Gespräche auf dem Laufenden. Dort war es dasselbe: Man versuchte, das Wort „Reparationen“ nicht zu verwenden, sondern sprach von freiwilliger Entwicklungshilfe für Namibia. Ein weiteres Almosen anstelle von Reparationen.

Ich habe mehrfach an Debatten über deutsche Kolonialverbrechen teilgenommen. Jedes Mal warnten mich fortschrittliche Kollegen davor, die Frage der Reparationen an Namibia zu richten, weil dann andere ehemalige Kolonien wie Kamerun oder Togo auf den Plan treten würden. Dies war auch 1975 der Fall, als Deutschland Polen ein Darlehen von 1 Milliarde Mark gewährte, das als „humanitäre Hilfe“ dargestellt wurde.

Peter Oliver Loew, Direktor des Deutschen Polen-Instituts in Darmstadt, sagte in einem Interview, dass die Deutschen Polen nicht mehr mit dem Krieg in Verbindung brächten und nicht sagen könnten, welche Nation am meisten unter dem Krieg gelitten habe. Und die rituellen Gesten, die anlässlich verschiedener Jahrestage gemacht werden, sind leer geworden. Wie wirkt sich dies auf die Reparationsdebatte aus?

Warschau im Juli 1945.

Es handelt sich in der Tat um ein bestimmtes Phänomen, das vor allem bei der jüngeren Generation der Deutschen zu beobachten ist. Bis heute ist es nicht gelungen, bei den Deutschen ein Bewusstsein für die Ungeheuerlichkeit der Verbrechen zu schaffen, die sich aus der deutschen Besatzungspolitik in Europa ergeben. Jedes Mal, wenn ich versuchte, die Frage der Reparationen für Polen mit Politikern der Grünen zu diskutieren, wollten sie nicht darüber sprechen. Junge Menschen. Dies ist ein großes Problem, dem wir uns stellen müssen. Wir müssen nach Möglichkeiten suchen, diese Blockade zu durchbrechen.

Ich war daran beteiligt, all diese griechisch-deutschen Initiativen auf den Weg zu bringen, die wahrscheinlich zu einem Kompromiss über Reparationen für Athen führen werden. Im Jahr 2013 schrieb ich über diese Reparationsschulden Deutschlands gegenüber Griechenland. Dadurch wurde mir klar, dass meine Sichtweise zu eng war, und ich habe sie erweitert. In den Jahren 2015 und 2016 fanden große Konferenzen mit deutschen und griechischen Historikern statt, die der Debatte neuen Schwung verliehen.

Ich denke, dass auch im Falle Polens solche zweiseitigen Initiativen notwendig und wirksam wären. Es muss Druck auf die deutsche Regierung ausgeübt werden, insbesondere von deutscher Seite. Die griechische Lobby in Deutschland spielte dabei eine wichtige Rolle. Auf polnischer Seite gibt es keine solche Lobby, und die Abneigung in Deutschland gegen Polen ist enorm und wächst.

Der Bundestag hat sich vorerst darauf geeinigt, in Berlin ein Denkmal für die polnischen Opfer des Krieges zu errichten, verbunden mit einem Begegnungszentrum. Ist das ein Trostpreis?

Warschau im Oktober 1945.

Dieses Denkmal ist ein weiteres Zugeständnis an die Erinnerungskultur. Ein kleiner Apfel, um uns vor der Ernte, d.h. vor den Reparationen zu schützen. Ein kleiner Schritt, um die Reparationsdebatte in Polen zu neutralisieren. Eine solche Gedenkstätte kostet wenig. Da sind wir also wieder beim deutschen Zynismus. Polen sollte sich mit einem Museum und einem Denkmal begnügen. Es bleibt die Frage, wann all diese Tricks aufhören werden.

Deutschland versteht sich heute als modernes, fortschrittliches, weltoffenes und tolerantes Land. Ein Land, auf das dieser düstere Abschnitt der Geschichte nicht mehr passt. Vielleicht ist das der Grund für die Zurückhaltung bei der Diskussion über Reparationen? Die Stiftungen deutscher Unternehmen, die früher von der Zwangsarbeit profitiert haben, wollen nicht mehr Geld für die Entschädigung der Opfer spenden, sondern Workshops für junge Menschen über Demokratie und die Notwendigkeit des Kampfes gegen den Faschismus organisieren.

Genau das ist der Fall, und ich habe es am eigenen Leib erfahren. Ich habe einmal in Köln einen Vortrag in einer Gedenkstätte gehalten. Der Vortrag wurde aufgezeichnet und von der Henkel-Stiftung übernommen. Er löste eine heftige interne Diskussion aus. Oder besser gesagt: einen Streit. „Hier muss man nach vorne schauen, in die Zukunft, während er sich mit der Vergangenheit beschäftigt.“

Deshalb muss der Druck auf Deutschland global sein, die USA und die jüdische Diaspora sollten Druck auf Deutschland ausüben. Ich habe mir das Abkommen zwischen Israel und Westdeutschland aus dem Jahr 1952 genau angesehen, und es ist ein klassisches Reparationsabkommen. Es finanzierte den Aufbau des Staates Israel. Die deutsche Bürokratie wird sich sicherlich dem Druck der Amerikaner und der jüdischen Lobby in den USA beugen. Bald wird mein Buch in Übersee erscheinen, und ich erwarte eine Diskussion, die auch die jüdische Welt mit einbeziehen wird.

Warschau im Februar 1946.

Ich möchte Sie nicht beunruhigen, aber die jüdische Welt zieht es vor, über die angebliche Mitschuld Polens am Holocaust zu debattieren und Forderungen an den polnischen Staat zu stellen.

Ich weiß, und auch hier ist eher eine offensive als eine defensive Haltung gefragt. Polen darf in diesem Kampf nicht alleinstehen, sonst verliert es seine Glaubwürdigkeit.

In der deutschen Debatte um die Reparationen wird immer wieder das Argument vorgebracht, dass Deutschland die von Polen geforderte Summe von fast 1 Billion Euro nicht aufbringen kann, dass andere Länder hinter Polen in die Schlange anstellen und die Zahlungen kein Ende nehmen werden.

Das deutsche Wirtschaftspotenzial ist so groß, dass das Land die Reparationen problemlos tragen kann. Deutschland hat über zwanzig Jahre hinweg 1,2 Billionen Euro für die Eingliederung der ehemaligen DDR ausgegeben. Das war überhaupt kein Problem. Die strukturellen Defizite der neuen Bundesländer, die sich sonst negativ auf das Wirtschaftswachstum des wiedervereinigten Deutschlands ausgewirkt hätten, wurden so beseitigt.

Warschau im Herbst 1945.

Die Zahlungen an die europäischen Länder, die am meisten unter der deutschen Besatzung gelitten haben, insbesondere an die sogenannten „kleinen Alliierten“, sollten daher kein Problem darstellen. Sie würden keine Krise in Deutschland auslösen.

Natürlich muss die Wiedergutmachung nicht ausschließlich finanzieller Art sein. Man kann sich Unterstützung für die von Deutschland zerstörten Städte vorstellen, Technologietransfer, Kapitalbeteiligung. Viele Opfer des Dritten Reiches leben heute in Armut. Der deutsche Staat sollte ihnen Renten zahlen.

Aber wir werden nur darüber reden können, wenn es uns gelingt, im Rahmen einer größeren europäischen oder internationalen Initiative Druck auf Berlin auszuüben. Polen braucht in diesem Kampf Verbündete. Andernfalls wird nichts geschehen.

Ein weiteres Problem besteht darin, dass die derzeitige polnische Regierung, nach Ansicht der liberalen Elite, einschließlich der in Washington, die falsche ist. Die Polen fordern Reparationen, weil sie die Deutschen nicht mögen oder weil sie eine antideutsche Stimmung auslösen wollen, um in der Innenpolitik Land gut zu machen. Wie kann das überwunden werden?

Das ist es, was mir die Masse der deutschen und anderen Historiker vorwirft. Dass ich die polnischen Rechtspopulisten und ihre bösen Absichten unterstütze. Wenn man keine anderen Argumente hat, greift man zum politischen Knüppel. Und ich bin ein alter Linker. Das ist natürlich nur ein Vorwand, um den gerechten Forderungen Polens nicht nachgeben zu müssen. Ziemlich erbärmlich, um genau zu sein.

Warschau im Herbst 1945.

Gibt es ein Land, das Reparationen von Deutschland fordert und jetzt eine Chance, diese zu erhalten, wenn auch nur teilweise?

Griechenland. Die so genannte Zwangsanleihe, die Griechenland während des Krieges dem Dritten Reich gewähren musste, wird wahrscheinlich zurückgezahlt werden. Ich hoffe, das wird vom neuen Bundestag verabschiedet, weil die griechische Lobby bei den Grünen stark vertreten ist. Wahrscheinlich werden die Grünen versuchen, das auch in den Koalitionsvertrag zu bringen.

Das könnte die Frage der polnischen Ansprüche positiv beeinflussen, allerdings nur, wenn der Bericht über die polnischen Kriegsverluste veröffentlicht wird. Das Fenster ist schmal und kann sich ebenso schnell wieder schließen, wie es sich öffnet. Diese Gelegenheit darf nicht verpasst werden.

Das Interview erschien im Wochenmagazin „Sieci“ („Netzwerk“) vom 18.Oktober 2021.

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„Deutsche Reparationen – polnische Positionen“ Teil 1. Beweggründe, Argumente, Pläne.

„Deutsche Reparationen – polnische Positionen“ Teil 2. Akten, Aufstellungen, Analysen. Was hat Polen in der Hand.

„Deutsche Reparationen an Polen. Wie viel und wofür?

RdP