12.09.2023. Familie Ulma. Seligsprechung mit vielen Deutungen

Von deutschen Medien einhellig schweigend übergangen, fanden am 10. September 2023 in Markowa, im Südosten Polens, zum ersten Mal in der zweitausendjährigen Geschichte der katholischen Kirche zwei Ereignisse gleichzeitig statt. Die Seligsprechung einer ganzen Familie sowie die Verkündigung der Erhebung eines ungeborenen Kindes zu den Altären. Etwa 40.000 Menschen waren zugegen, darunter Polens Staatspräsident Andrzej Duda und Regierungschef Mateusz Morawiecki.

Die Seligsprechung war ein hochsymbolischer Akt in Zeiten, in denen die natürliche Familie, bestehend aus Mann, Frau und den von ihnen gezeugten Kindern, zunehmend infrage gestellt und das Recht auf Leben ungeborener Kinder weltweit zugunsten des angeblichen „Menschenrechts” auf ihre Abtötung abgeschafft wird.

Deutsche Gendarmen ermordeten am 24. März 1944 Józef Ulma, seine hochschwangere Ehefrau Wiktoria und ihre sechs Kleinkinder, weil sie in ihrem Haus acht Juden versteckt hielten, die auch alle umgebracht wurden. Heute gibt es in Markowa eine Gedenkstätte und ein den polnischen Judenrettern gewidmetes Museum.

Die Mörder der Ulmas handelten nicht unrechtmäßig. Sie töteten in Übereinstimmung mit dem von den deutschen Behörden erlassenen und im Generalgouvernement geltenden Gesetz. Nach diesem Gesetz waren die Verteidiger des Lebens, die Juden Unterschlupf gewährten, die Verbrecher. Die Mörder, Hauptmann Eilert Dieken, sein Stellvertreter  Joseph Kokott und deren Kumpane waren lediglich die Vollstrecker dieses Gesetzes. Sie empfanden Genugtuung und fühlten keine moralische Schuld. Schließlich handelten sie im Einklang mit geltendem Recht.

Die Mörder kannten diese Begriffe wahrscheinlich nicht, aber sie vertraten eine Position namens Normativismus und Rechtspositivismus. Letzterer fußt auf der Idee, dass nur von Menschen gemachte Gesetze zählen und dass alle Geschichten über das Naturrecht oder das moralische Recht in den Papierkorb geworfen werden sollten.

Wenn also gesetzlich festgelegt wird, dass Menschen aufgrund ihrer Herkunft oder Rasse (oder diejenigen, die ihnen helfen) kein Recht auf Leben haben, dann muss das so sein und es gibt keine Diskussion. Nach dem gleichen Prinzip kann Menschen aufgrund ihres Alters (z.B. im vorgeburtlichen Entwicklungsstadium) der rechtliche Schutz des Lebens entzogen werden, und keine moralischen oder natürlichen Normen können das verhindern. Wenn alles im Rahmen der bestehenden Gesetze geschieht, sind moralische Skrupel fehl am Platze.

Einer der Hauptvertreter dieser Strömung in der Zwischenkriegszeit war der österreichische Professor Hans Kelsen, der die Trennung von Recht, Wahrheit und Moral predigte. Er analysierte den Prozess gegen Jesus von Nazareth im Lichte des damals geltenden Rechts und kam zu dem Schluss, dass die  qualvolle Todesstrafe vollkommen legitim und gerecht war. Es ist also möglich, einen Unschuldigen im Glauben an die Majestät des Gesetzes umzubringen mit voller Überzeugung, dass man gerecht und korrekt gehandelt hat.

Es mag hart klingen, aber das ist es, was Christus, die Familie Ulma, die ermordeten Juden und die getöteten ungeborenen Kinder gemeinsam haben. Auch daran erinnert die Seligsprechung von Markowa.

Lesenswert auch: „Das Schicksal der Familie Ulma“,

„Familie Ulma? Falscher Mythos. Schämt euch, ihr Polen!“

RdP




25.08.2023. Referendum. Was Polen dürfen, dürfen Deutsche nicht

Mit wachsendem Erstaunen liest man die deutschen Kommentare zu dem Referendum, das zusammen mit den polnischen Parlamentswahlen am 15. Oktober 2023 abgehalten werden soll. Dass die deutschen Medien ungefähr zweimal pro Woche das Ende der Demokratie in Polen ausrufen, daran hat man sich gewöhnt. Seit dem ersten, 2019 wiederholten,  Wahlsieg der Nationalkonservativen im Herbst 2015 sind schließlich acht Jahre vergangen.

Dass die deutsche mediale Einheitsfront, ob ARD, ZDF, FAZ oder TAZ, ausschließlich das weitergibt, was ihr Polens totale Opposition, wie sie sich selbst bezeichnet, in die Notizblöcke diktiert, ist auch nichts Neues. Doch die Idee, dass eine Volksbefragung sich gegen die Demokratie richtet und ein Boykott die Demokratie stärkt, bleibt für das Erste sehr  gewöhnungsbedürftig.

Schließlich gibt es kaum eine demokratischere Form der Willensbekundung durch den Souverän. Alle Bürger können über wichtige Fragen zur Zukunft des Landes und des politischen Systems bestimmen. Haben am Referendum mehr als fünfzig Prozent der Wahlberechtigten teilgenommen, so die polnische Verfassung, ist das Ergebnis für die amtierenden und künftigen Regierungen und Parlamente bindend.

Die Fragen lauten:

1. Unterstützen Sie den Ausverkauf von Staatsvermögen an ausländische Unternehmen, der zu einem Verlust der Kontrolle der Polinnen und Polen über strategische Wirtschaftsbereiche führt?

2. Unterstützen Sie eine Anhebung des Rentenalters, einschließlich der Wiedereinführung eines höheren Renteneintrittsalters von 67 Jahren für Frauen und Männer?

3. Unterstützen Sie die Beseitigung der Barriere an der Grenze zwischen der Republik Polen und der Republik Weißrussland?

4. Unterstützen Sie die Aufnahme von Tausenden illegaler Einwanderer aus dem Nahen Osten und Afrika gemäß dem von der europäischen Bürokratie auferlegten Zwangsumsiedlungsmechanismus?

Alle diese hochbrisanten Themen bilden die Hauptachse, um die sich die politische Auseinandersetzung in Polen dreht. Die Bürger sind aufgerufen zu entscheiden, wie sie es haben wollen.

Privatisierung. In den acht Jahren der Tusk-Regierung zwischen 2007 und 2015 wurden etwa 1.200 Staatsbetriebe und Banken verkauft, viele unter dubiosen Umständen. Der Gesamterlös von 57 Milliarden Zloty (ca. 13 Milliarden Euro) verflüchtigte sich in den laufenden Staatsausgaben. Die verbliebenen Staatsunternehmen, wie die Fluglinie LOT, der Kupfergigant KGHM, der Energiekonzern Orlen, die einzige noch bestehende größere polnische Bank PKO BP u. e. m. dümpelten vor sich hin und harrten der Privatisierung.

Heute erwirtschaften sie für den Staatshaushalt satte Gewinne (Orlen 2022 nach Steuern knapp 4,5 Milliarden Euro, KGHM gut 1 Milliarde Euro, PKO BP 750 Millionen Euro), expandieren im In- und Ausland, waren und sind in Zeiten der Corona-Pandemie und des Ukraine-Krieges wichtige Instrumente des Staates zur Abmilderung der wirtschaftlichen Folgen dieser beiden Heimsuchungen.

Die Donald-Tusk-Partei Bürgerplattform (BP) hat kein Programm für Polen vorgelegt und will es auch nicht tun. Sie setzt ausschließlich auf das Hochkochen von Emotionen: „Kaczyński hat Polen in eine Hölle auf Erden verwandelt! Kaczyński muss weg! Er gehört eingesperrt! Auch Ministerpräsident Morawiecki, seine Vorgängerin Frau Szydło, Staatspräsident Duda, Justizminister Ziobro und viele andere sollen sich auf Jahre hinter Gittern gefasst machen!” Und ansonsten? Nach dem Wahlsieg sehen wir weiter. Das muss als Programm genügen.

Offiziell hütet sich Tusk, zu eventuellen Privatisierungen etwas zu sagen, doch die Stimmen aus seinem Umfeld lassen keinen Zweifel daran aufkommen: Die großen Staatsunternehmen, aber auch alle Häfen, Flughäfen, die Eisenbahn muss man „dringend” „verkaufen”, „zerschlagen”, „privatisieren”.

Renten. Tusk verspricht, das Renteneintrittsalter, das die jetzt Regierenden wieder auf das alte Niveau von 60 Jahren für Frauen und 65 Jahren für Männer gebracht haben, nicht zu erhöhen. Doch das hat er auch im Wahlkampf 2007 hoch und heilig versprochen. Nach seinem damaligen Wahlsieg erhöhte er es schlagartig auf 67 Jahre für beide Geschlechter. Für die Frauen war es ein Anstieg um sieben Jahre. Wird er es wieder tun?

Grenzbarriere. Als der weißrussische Diktator Lukaschenka ab Juli 2021 massenweise gut zahlende Migranten aus dem Mittleren Osten und Afrika in sein Land holte, um sie über die Grenze nach Polen zu treiben und das Land so zu destabilisieren, stimmte die Tusk-Partei im Sejm gegen den Bau des fünf Meter hohen elektronikgestützten Metallzauns entlang der Grenze. BP-Politiker, auch Tusk selbst, sprachen sich vehement gegen die Anlage aus, forderten ihren Abriss.

Zwangsverteilung von Migranten. Im Herbst 2015, während der großen „Wir schaffen das”-Migrantenkrise, als Tusk bereits nach Brüssel abgereist war, um EU-Ratspräsident zu werden, stimmte seine Nachfolgerin Ewa Kopacz der zwangsweisen Umverteilung von Migranten zu. Der Wahlsieg der Nationalkonservativen hat das verhindert. Tusk drohte daraufhin aus Brüssel seinem Land mit Sanktionen und finanziellen Strafen. Es ist davon auszugehen, dass er nach seinem eventuellen Wahlsieg diesem Dauermechanismus zustimmt.

Es sei denn, die Ergebnisse des Referendums hindern ihn daran.

Ein weiterer deutscher Vorwurf lautet: Die Volksbefragung verfolgt einen politischen Zweck. Gewiss, aber welches Referendum tut das nicht? Es heißt auch, es handelt sich um eine Manipulation. Doch was um alles in der Welt soll denn hier manipuliert werden? Schließlich steht es jedem frei, die Antwort zu geben, die er für richtig hält, oder gar keine.

Doch der waghalsigste Drahtseilakt, den deutsche Medien in diesem Fall vollbringen müssen, ist, dem Durchschnittsdeutschen, der selbst gerne eine Volksbefragung über die Einwanderung hätte, zu erklären, dass das Referendum in Polen ein demokratiefeindliches Vorhaben und das Nichtabhalten einer solchen Bürgerbefragung in Deutschland ein löblicher Akt der Demokratie ist.

RdP




13.06.2023. Steinmeier als Theologe, Jesus als Zauberer

Auf dem jüngsten Deutschen Evangelischen Kirchentag in Nürnberg (7. bis 11. Juni 2023) war Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier als der wichtigste Ehrengast zugegen. Er hielt dort nicht nur eine Rede bei der Eröffnung, sondern ließ sich während einer Veranstaltung innerhalb der Reihe Bibelarbeit zur Auslegung einer Passage aus dem Johannesevangelium verleiten, in der von dem Wunder Jesu bei der Hochzeit zu Kana berichtet wird.

Im Gottesglauben des deutschen Staatsoberhauptes scheint es demnach wenig Platz für die Wunder Jesu zu geben. Es habe „schon plausiblere Bibeltexte für eine Bibelarbeit auf dem Kirchentag“ gegeben, sagte Steinmeier. Diese Erzählung mache ihn „jedes Mal ratlos“. Er stellte die Grundsatzfrage, warum so eine Wundergeschichte es überhaupt in die Bibel geschafft habe, und schilderte den Anwesenden seinen quälenden Zweifel, indem er wörtlich fragte: „Jesus als Zauberer: Ist das nicht etwas dick aufgetragen?“

Steinmeier war sich jedenfalls sicher, dass diese Übertreibung nicht in sein persönliches Jesus-Bild passe, ja, ihn sogar aktiv störe. Er rechnete die Menge des verwandelten Wassers um und erläuterte, dass Jesus ungefähr 1.000 der heute gebräuchlichen Flaschen Wasser zu Wein umgewandelt habe. Dies sei eine unglaubliche Menge, die Darstellung klinge fast obszön und nach Lebensmittelverschwendung. Ihm komme „das schiere Übermaß an Wein“ „merkwürdig“ vor.

Dazu bot der deutsche Bundespräsident seine eigene Interpretation an. Positiv las er aus der Bibelstelle heraus, dass, weil der Wein für Lebensfreude und Kraft stehe, Gott uns Freude im Übermaß schenke und „uns zur Feier“ ermuntere.

Zudem sei Jesus auf einer Hochzeit in einem kleinen Dorf am Rande des Römischen Reiches erschienen, um zu zeigen, dass die Landbevölkerung nicht vernachlässigt werden dürfe, da die Demokratie ihre Legitimität verliere, wenn größere Teile der Gesellschaft nicht in die öffentlichen Debatten einbezogen würden. Die Geschichte, die der Evangelist erzählt, zeigt uns, seiner Meinung nach, dass sich die Dinge zum Besseren wenden können.

Als der Bundespräsident anschließend die Versammelten zu mehr Engagement für die Demokratie und zu rebellischem Mut angesichts der Krisen in der Welt aufrief und mit dem Ausruf „Gemeinsam werden wir die Demokratie in diesem Land verteidigen“ schloss, brach, laut Medienberichten, Begeisterung in dem voll besetzten Saal aus. So vollzog sich auf dem evangelischen Kirchentag in Nürnberg die wundersame Verwandlung des „Zauberers” Jesus in einen Altvorderen der deutschen Demokratie.

Frank-Walter Steinmeiers simple Bibelauslegung in Nürnberg regt zu vielen Überlegungen an. Wir wollen uns auf vier beschränken.

Erstens: Die Bibelexegese des Bundespräsidenten und der Beifall, mit dem sie bedacht wurde, sagen viel über den Zustand einer Glaubensgemeinschaft aus, die sich von einer religiösen Institution in eine gesellschaftspolitische Einrichtung verwandelt. Die senkrechte Dimension, die den Menschen mit Gott verbindet, verschwindet. Was bleibt, ist die waagerechte Dimension, die sich auf den Aufbau von zwischenmenschlichen Beziehungen beschränkt.

Zweitens: Die Ausrichter des Kirchentages haben zum ersten Mal den drei christlichen Organisationen, die sich der Tötung ungeborener Kinder widersetzten (Aktion Lebensrecht für Alle e. V./Fulda, Kooperative Arbeit Leben Ehrfürchtig Bewahren e. V./Chemnitz und Hilfe zum Leben e. V./Pforzheim) die Teilnahme an der Veranstaltung verwehrt. Das obwohl sie in ihrem Aufruf zur Online-Teilnahme am Kirchentag beteuerten, dass dieser eine Gelegenheit zum „offenen Dialog“, zum „Brückenbauen“ und zum „Entdecken von Gemeinsamkeiten“ bieten werde. Danach beklatschten sie, als wäre nichts gewesen, Steinmeiers Bibel-Auslegung, dass die Demokratie ihre Legitimität verliere, wenn größere Teile der Bevölkerung nicht in die öffentlichen Debatten einbezogen würden.

Drittens: Deutsche Medien haben die Teilnahme des Bundespräsidenten an einer religiösen Veranstaltung nicht kritisiert. Dieselben Medien rümpfen oft genug die Nase, wenn polnische Politiker an katholischen Veranstaltungen, z. B. an Debatten in der Journalisten-Hochschule von Radio Maria, teilnehmen oder dem Sender selbst Rede und Antwort stehen. Anders als in Bezug auf Polen kam es niemandem an Rhein und Spree in den Sinn zu behaupten, dass das Verhalten des Bundespräsidenten gegen den Grundsatz der Trennung von Kirche und Staat verstößt. Niemand warf ihm vor, er vermische zwei Aufträge, den politischen und den religiösen, oder biedere sich aus politischem Kalkül der Kirche an.

Viertens: Niemand behelligte Steinmeier, von Christ zu Christ, mit der Frage, wie viel Verwässerung verträgt der christliche Glaube eigentlich, bis er seine Substanz verliert?

RdP




4.06.2023. Lex Tusk, Lex Merkel, Lex Schröder, Lex Schwesig, Lex…

Die Hysterie ist groß und man wundert sich sehr. Die geplante Kommission zur Ausleuchtung russischer Einflussnahmen auf die polnische Politik soll ein Anschlag auf die Rechtsstaatlichkeit und die Opposition im Lande, vor allem aber auf Donald Tusks politische Karriere sein.

Dabei haben Tusk, seine engsten politischen Mitarbeiter und deren mediale Unterstützer monatelang immer wieder lautstark gefordert, endlich einen solchen Ausschuss einzusetzen. Er sollte die Regierenden: Jarosław Kaczyński, Mateusz Morawiecki u. v. a. m. bloßstellen, weil sie angeblich gemeinsame Sache mit Putin gemacht haben und weiterhin machen.

Sie hatten, so der Vorwurf, vor dem Ukraine-Krieg Kontakte zu putinfreundlichen konservativen Politikern wie Marine Le Pen oder Viktor Orban unterhalten. Und sie haben nicht schnell genug, weil „erst” Mitte April 2022, knapp zwei Monate nach Kriegsausbruch, die „mit ukrainischem Blut befleckten” Kohleimporte aus Russland gestoppt. Die EU hat dazu zwar ein halbes Jahr gebraucht, aber was solls. Schlimmer noch, sie sollen sogar gemeinsam mit Putin eine polnisch-russische Aufteilung der Ukraine geplant haben, so der Tusk-Intimus und ehemalige Außenminister Sikorski.

Kurzum: Die gegenüber Russland wohl am unversöhnlichsten eingestellte Regierung Europas ist in Wirklichkeit ein perfekt getarnter Ring von Putin-Fans. Donald Tusk selbst und ihm ergebene Medien, wie die „Gazeta Wyborcza” oder der Fernsehsender TVN, um nur zwei von vielen zu nennen, haben diese Behauptung nicht bloß einmal aus voller Kehle kundgetan.

Ein alter chinesischer Fluch lautet: „Sollen deine Wünsche in Erfüllung gehen!”. Die Regierenden haben sich Tusks permanente Aufforderungen zu Herzen genommen. Der vor Kurzem angebahnte Untersuchungsausschuss soll, fairerweise, ihre eigene bisherige Amtszeit (2015 bis 2022) auf russische Einflussnahmen hin, aber auch die von Tusk und seiner ein Jahr lang amtierenden Nachfolgerin Ewa Kopacz (2007-2015) durchleuchten.

Das sorgt im Tusk-Lager für Panik. Und allein schon der krasse Unterschied im Fotobestand in den Archiven der Weltmedien erklärt, warum das so ist. Es gibt nämlich kein einziges Foto von Putin gemeinsam mit Jarosław Kaczyński, Morawiecki oder Staatspräsident Andrzej Duda. Sie haben Putin nie getroffen. Deswegen machte ihnen Tusk seinerzeit immer wieder den Vorwurf der Russophobie.

Die Auswahl der gemeinsamen Fotos Tusks mit Putin, von denen viele einen herzlichen, vertrauensvollen Umgang belegen, ist hingegen groß. Ebenso bemerkenswert ist die Zahl von Putin- und russlandenthusiastischen TV-Mitschnitten aus Tusks Parlamentsreden, Pressekonferenzen, seinem Besuch im Kreml 2008, Putins Polen-Besuch 2009, Tusks Begegnungen mit Putin in Katyn vor (am 7.04.2010) und nach der Smolensk-Flugzeugkatastrophe (am 10.04.2010).

Das macht sich nicht gut. Noch schlechter macht sich Tusks politische Ӧffnung und Annäherung an Russland, die auch nach dem russischen Überfall auf Georgien 2008 und der Krim-Annexion 2014 fortgesetzt wurden. Tusks Devise lautete: „Wir wollen Dialog führen mit einem Russland, so wie es ist”.

Und so nahm das Unheil seinen Lauf. Anstatt die Gas- und Ӧlimporte zu diversifizieren, setzte Tusk auf eine völlige Abhängigkeit von Russland. Es gab eine innige, vertraglich verbriefte Kooperation der Geheimdienste. Russlands Außenminister Lawrow wurde im September 2010 nach Warschau eingeladen, um polnische Botschafter aus der ganzen Welt bei ihrer Jahreskonferenz zu briefen. Sogar der polnische zentrale Wahlausschuss reiste noch im Mai 2013 „zur Schulung” nach Moskau.

Tusk trägt dafür die volle politische Verantwortung. Aber das weiß man bereits ohne den Ausschuss, der angeblich Tusk und die Seinen diskreditieren soll. Dafür hat bereits das eigene Russland-Gebaren ausreichend gesorgt. Allenfalls kann die die Kommission die Hintergründe zutage fördern.

Jetzt schreien Tusk und mit ihm all die Gegner der polnischen Regierenden im In- und Ausland Zeter und Mordio. Es hagelt Vorwürfe und schwere Anklagen. Zu Recht?

  1. Angeblich sind die Entscheidungen der Kommission nicht anfechtbar. Die Kontrolle der Gerichte fehlt.

FALSCH. Die Kommission ist ein Organ der öffentlichen Verwaltung und erlässt Verwaltungsentscheidungen, die die Möglichkeit beinhalten, dagegen Rechtsmittel einzulegen. Gegen die Beschlussfassungen der Kommission (erste Instanz) kann daher beim Woiwodschafts-Verwaltungsgericht (zweite Instanz) und beim Obersten Verwaltungsgericht (dritte Instanz) Berufung eingelegt werden. Beide Gerichte können die Entscheidungen der Kommission aussetzen, aufheben, sie an diese zur erneuten Prüfung zurückverweisen. Sie können nicht nur Verfahrensfehler der Kommission beanstanden, sondern die Zuständigkeit an sich ziehen und selbst in der Sache ein Urteil fällen.

  1. Die Entscheidung der Kommission führt dazu, dass man nicht mehr für den Sejm kandidieren kann.

FALSCH. Nach polnischem Recht dürfen nur Personen, die wegen einer vorsätzlichen Straftat, die von Amts wegen verfolgt wird und rechtskräftig zu einer Freiheitsstrafe verurteilt wurden, nicht für den Sejm kandidieren. Die Kommission kann keine Haftstrafen verhängen. Das eventuelle Verbot, 10 Jahre lang keine öffentlichen Ämter zu bekleiden, bezieht sich nicht auf den Parlamentssitz.

  1. Die Kommission wird ihre Arbeit am 17. September 2023, unmittelbar vor den Parlamentswahlen, abschließen.

FALSCH. Die Kommission wird, wie im Gesetz vorgesehen, am 17. September 2023 den ersten Bericht über ihre Arbeit vorlegen. Dieser wird zukünftig jährlich abgegeben werden.

4. Warum eine Überprüfungskommission und nicht ein parlamentarischer  Untersuchungsausschuss? Das wird die Politisierung fördern.

FALSCH. Im Gegenteil, die Kommission wird weniger politisiert dadurch, dass sie nicht nur Parlamentarier, sondern auch externe Experten einbeziehen kann. Darüber hinaus haben alle parlamentarischen Fraktionen das Recht, ihre Kandidaten für die Kommission vorzuschlagen. Staatspräsident Duda hat gerade eine Novelle vorgelegt, keine Parlamentarier, sondern nur Fachleute in die Kommission zu berufen.

  1. Die Kommission wurde gegen Donald Tusk eingesetzt, daher wird sie in den Medien als „Lex Tusk“ bezeichnet.

FALSCH. Von Donald Tusk ist in dem Gesetz nirgendwo die Rede. Es geht um russische Einflussnahmen während und nach seiner Amtszeit.

Doch was waren die Beweggründe für Tusks Russlandliebe? Vielleicht erfahren wir bald mehr darüber. Der Verdacht liegt jedenfalls nahe, dass Tusk auch in diesem Fall als politischer Ziehsohn und eifriger Willensvollstrecker Angela Merkels agiert hat. Das „pflegeleichte” Polen unter Tusks Führung sollte Deutschland in seiner grenzenlos russlandorientierten Politik durch etwaige Vorbehalte, laut formulierte Ängste oder gar mahnende Warnungen keine Steine in den Weg legen. Tusk sorgte dafür und wurde für seine Treue, auf Betreiben Berlins, mit dem Amt des EU-Ratsvorsitzenden belohnt.

Er war eine Bauernfigur auf dem Schachbrett der deutschen Russlandpolitik. Die Rollen des Königs, der Königin und aller anderen Figuren waren bereits Angela Merkel, Gerhard Schröder, Frank-Walter Steinmeier, Sigmar Gabriel, Manuela Schwesig, Matthias Platzeck, Armin Laschet, Wolfgang Kubicki, Sahra Wagenknecht  u. v. a. m. zugedacht.

Ein Teil von ihnen amtiert weiter, der Rest genießt unbelangt den Ruhestand, wird gar, wie Frau Merkel, mit Orden behängt. Derweil steigt die russlandfreundliche AfD im Ansehen, huldigt Putin auf den Straßen und in den sozialen Netzwerken, gemeinsam mit anderen rechten Milieus, mit der Linken, mit den radikalen Ӧko-, Klima- und Friedensbewegten sowie den sehr vielen ungebundenen deutschen Putin-Sympathisanten.

Ein Untersuchungsausschuss in Deutschland zur Aufarbeitung all dessen? Nichts dergleichen. Dafür, ohne offensichtlich das entsprechende Gesetz überhaupt gelesen zu haben, Unterstellungen und hysterische Attacken auf das polnische Bestreben, die Russland-Verstrickungen auszuleuchten. Treue zu erfahren ist Glück. Deutschland lässt seine polnischen Russlandversteher nicht im Stich.

RdP




29.05.2023. Deutschlands Geld und die Versöhnung

In öffentlichen Debatten über Reparationen, die Deutschland Polen für Kriegsschäden schuldet, wird jenseits der Oder oft das folgende Argument angeführt: Da eine Versöhnung zwischen unseren Nationen stattgefunden hat, ist es nicht angebracht, Ansprüche aus der Vergangenheit zu stellen. Manchmal wird in diesem Zusammenhang sogar der berühmte Brief der polnischen  an die deutschen Bischöfe aus dem Jahr 1965 mit den denkwürdigen Worten „Wir vergeben und bitten um Vergebung“ zitiert. Als  hätte der Episkopat im Namen des polnischen Staates auf Reparationen verzichtet.

Dies ist eine klassische Verwechslung zweier Perspektiven: der moralischen und der rechtlich-politischen, wo symbolische Gesten finanzielle Verpflichtungen angeblich aufheben. Interessanterweise misst die deutsche Politik dieselbe Angelegenheit mit zweierlei Maß, abhängig davon, ob es sich um west- oder osteuropäische Staaten handelt, von Israel ganz zu schweigen.

Es gab einige bedeutende Versöhnungsgesten deutscher und französischer Staatsoberhäupter und Regierungschefs. Erinnern wir an Konrad Adenauers und General de Gaulles Teilnahme an der Versöhnungsmesse in der Kathedrale von Reims im Juli 1962 und an die Umarmung der beiden anlässlich der Unterzeichnung des Élysée-Vertrages im Januar 1963. Viele haben bis heute vor Augen, wie Helmut Kohl und François Mitterrand im September 1984 Hand in Hand auf dem Schlachtfeld von Verdun stehen.

Von Geld war anlässlich dieser symbolträchtigen Zeremonien nie die Rede. Ob Reims oder Verdun, wie selbstverständlich zahlte die Bundesrepublik Reparationen aus dem Ersten Weltkrieg an Frankreich weiter. Die letzte Tranche von 70 Millionen Euro hat die Bundesbank im Jahr 2010 nach Paris überwiesen.

Dass Berlin auch ein anderes Maß anwenden kann, das haben die Tschechen schmerzlich erfahren müssen. Es lohnt sich, daran zu erinnern, denn es kann eine wichtige Lehre für andere sein.

Nach der Samtenen Revolution und dem Sturz des Kommunismus wurde Václav Havel Präsident der Tschechoslowakei und war entschlossen, eine Aussöhnung mit Deutschland herbeizuführen. Das lag zum einen an seiner Überzeugung, dass der Weg in den Westen über Deutschland führte, und zum anderen an der zutiefst moralischen Perspektive, die er der politischen Realität zugrunde legte. Es ist daher nicht verwunderlich, dass er bei seinem ersten Auslandsbesuch am 2. Januar 1990 in Bonn bei einem Treffen mit Bundespräsident Richard von Weizsäcker das Prinzip der kollektiven Verantwortung und die Gewalt verurteilte, die die Sudetendeutschen während der 1945 durchgeführten Vertreibung aus der Tschechoslowakei auf der Grundlage der Beneš-Dekrete erfahren hatten.

Václav Havel verstand seine Worte als eine großzügige Geste des guten Willens, die den Weg zur Versöhnung öffnete. Er wollte durch einen symbolischen Akt, der seiner Meinung nach die historische Gerechtigkeit widerspiegelt, die Hand zur Aussöhnung reichen. Die Deutschen hingegen sahen darin ein Zeichen der Schwäche und einen Beweis für die Legitimität der von ihren Landsleuten erhobenen Ansprüche. Sie zogen politische Konsequenzen aus dem moralischen Akt und begannen, unter Berufung auf Havels Worte, die Rückgabe ihres in der Tschechoslowakei verbliebenen Eigentums zu fordern.

Dabei ignorierten sie völlig die Gründe, warum die Deutschen nach dem Krieg aus dem tschechischen Sudetenland vertrieben wurden. Sie hatten in der Zwischenkriegszeit eine fünfte Kolonne gebildet, die auf Hitlers Befehl zur Liquidierung des tschechoslowakischen Staates wesentlich beitrug. Prag wollte nicht, dass sich eine ähnliche Situation in Zukunft wiederholen würde.

Die deutschen Ansprüche an die Tschechische Republik wurden in den Folgejahren zu einem Zankapfel zwischen den beiden Staaten. Helmut Kohl und Hans-Dietrich Genscher weigerten sich entschieden, den deutsch-tschechischen Nachbarschaftsvertrag zu unterzeichnen, solange dieser eine Bestimmung über die rechtliche Absicherung des Eigentums der Tschechen im ehemaligen Sudetenland nach der Wende enthielt. Die Verhandlungen zogen sich aufgrund der unnachgiebigen Haltung Berlins in die Länge, aber Prag war hartnäckiger und setzte sich schließlich durch. Das Dokument wurde erst 1996 unterzeichnet, während ein ähnlicher Vertrag zwischen Polen und Deutschland bereits 1991 unterschrieben und ratifiziert wurde.

Die Haltung der Deutschen war die größte Enttäuschung Havels in seiner Außenpolitik. Berlin hatte die moralische Geste eines Idealisten und Romantikers auf das Feld der kalten und rücksichtslosen Realpolitik überführt.

Jetzt erleben wir ein ähnliches Verhalten in der Frage der Kriegsreparationen, die Polen geschuldet werden: Der erwähnte Brief der Bischöfe oder die Umarmung zwischen Kohl und Mazowiecki im niederschlesischen Krzyżowa/Kreisau im November 1989 werden auf die finanzielle Dimension reduziert, als ob symbolische Gesten die fälligen Reparationen aufheben würden. Frankreich hatte es da besser.

RdP




24.04.2023. Angela die Ausgezeichnete

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat der ehemaligen Bundeskanzlerin Angela Merkel für außergewöhnliche Verdienste das Großkreuz des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland „in besonderer Ausführung”verliehen. Es ist die höchste deutsche Auszeichnung.

Deutsche Bundespräsidenten erhalten es von Amts wegen, aber in der Nachkriegsgeschichte der Bundesrepublik haben bisher nur zwei Bundeskanzler, Konrad Adenauer und Helmut Kohl, diesen Orden erhalten. Nicht einmal Willy Brandt, immerhin der einzige Friedensnobelpreisträger unter allen deutschen Kaisern, Königen, Staatspräsidenten und Kanzlern, wurde für würdig genug befunden, derart geehrt zu werden.

Anders Angela Merkel. Sie hat Putin in der internationalen Politik und wirtschaftlich stets gestärkt und so letztendlich, wenigstens indirekt, die Saat des Krieges gemehrt. Und nun, nach all der Kritik an Merkels langjähriger Politik, Deutschland in ein Bündnis mit Putins Russland zu drängen, geht der höchste deutsche Orden an die wichtigste Architektin dieses Vorhabens.

Der ehemaligen DDR-Bürgerin wird nachgesagt, dass sie auf ihrem Schreibtisch stets das Porträt einer anderen souveränen ostdeutschen Frau stehen hat, das von Sophie von Anhalt-Zerbst, der späteren russischen Zarin Katharina II., die 1729 in Pommern geboren wurde. Sie hat Russland in ein Imperium verwandelt. Die Tilgung Polens von der Europakarte für 123 Jahre gehört mit zu den „Glanzleistungen” ihrer Politik. Aus dem westlichen Teil Pommerns, ihrem Wahlkreis jenseits der Oder, wurde  Angela Merkel viele Jahre lang in den Bundestag gewählt.

Ihr irritierendes Beharren darauf, dass sie im Grunde alles richtig gemacht hat, wurde mit der nun vorgenommenen Ehrung im Nachhinein geadelt. Musste das unbedingt sein?

Steht der deutsche Bundespräsident etwa in der Schuld von „Mutti“? Steinmeier ist zwar Sozialdemokrat, aber als Außenminister in zwei Merkel-Kabinetten (2005-2009 und 2013-2017) gehörte er zu den engagiertesten Putinverstehern unter den deutschen Spitzenpolitikern überhaupt und setzte Merkels Russland-Politik hartnäckig um. Weder die Annexion der Krim, noch der Krieg im Donbas und die KGB-Morde an russischen Oppositionellen haben ihn eines Besseren belehrt. Die „deutsch-russische Partnerschaft” war durch nichts zu erschüttern.

Im Gegenzug schlug ihn Angela Merkel 2016 als Kandidaten der GroKO für die Wahl zum Bundespräsidenten vor und hievte ihn so in das höchste deutsche Staatsamt. Jetzt bekam sie von ihm die höchste deutsche Auszeichnung, obwohl (oder vielleicht gerade weil?) sie jede Selbstkritik scheut. Steinmeier hat sich zwar nach dem russischen Überfall auf die Ukraine von seiner prorussischen Haltung sanft distanziert, aber so ganz falsch konnte sie ja nicht gewesen sein, wenn ihre wichtigste Verfechterin in solcher Weise geehrt wird. Und das gut ein Jahr nach Beginn der russischen Attacke, als auf der Hand liegt, was Putin angerichtet hat.

Das alles setzt ein bitteres Nachdenken in Gang. Trotz der Beteuerungen, Deutschland habe aus dem Flirt mit Putin gelernt, bleibt die deutsche Politik ein Kontinuum. So wie Merkel die SPD-Politik von Bundeskanzler Gerhard Schröder, ein Bündnis mit dem Kreml aufzubauen, fortgesetzt hat, so ehrt nun Bundespräsident Steinmeier, ein ehemaliger SPD-Politiker und Schröders ehemaliger Staatssekretär, Merkel für die Fortsetzung des Flirts mit dem russischen Bären.

Es fällt schwer, dieses nicht auch als eine Geste in Richtung Kreml zu deuten: Wir sind mit euch, wir schämen uns für nichts, wir haben uns nichts vorzuwerfen und wir freuen uns darauf, mit euch bald wieder ‚Geschäfte as usual‘ zu machen. Und die Politikerin, die das Symbol unserer Allianz mit euch ist, schmücken wir so ehrenvoll, wie wir können.

Im Kreml hat man dieses Signal aus Deutschland ganz gewiss mit Genugtuung registriert. Auch das offizielle Warschau hat es wahrgenommen. Das Vertrauen in die deutsche Politik wird es in Polen nicht stärken.

RdP




21.04.2023. Die Flinte nicht ins ukrainische Korn geworfen

Ende gut, alles gut? Die Lage jedenfalls ist im Griff. Die Flut des ukrainischen Weizens ergießt sich seit einigen Tagen nicht mehr unkontrolliert über ganz Polen. Erlaubt sind nur noch verplombte Eisenbahntransfers von der ukrainischen Grenze zu den polnischen Häfen. Wie bereits alle Kraftstofftransporte in Polen, werden die Getreideladungen jetzt zudem von Zoll und Steuerfahndung elektronisch überwacht.

Die Behörden haben buchstäblich im letzten Augenblick die Reißleine gezogen und damit einen gewaltigen Bauernaufruhr abgewendet. Sie überrumpelten Brüssel mit einem sofortigen Importstopp für alle ukrainischen Agrarprodukte. Ungarn, die Slowakei, Rumänien und Bulgarien schlossen sich bald darauf an, und Kiew wurde am Verhandlungstisch dazu gebracht, der neuen Regelung zuzustimmen. Dabei wurde lediglich der Zustand hergestellt, der von Anfang an hätte gelten sollen.

Die gut gemeinte Solidarität mit der Ukraine hat die polnischen Regierenden monatelang alle Warnungen in den Wind schlagen lassen. Derweil sind seit Juli 2022, als die EU für ein Jahr alle Importzölle für ukrainische Einfuhren aufgehoben hatte,  knapp 1,3 Millionen Tonnen Mais, knapp 800.000 Tonnen Weizen und ca. 700.000 Tonnen ukrainischer Raps nach Polen gelangt.

Eigentlich sollten sie über polnische Häfen nach Afrika gebracht werden. Doch in den meisten Fällen geschah genau das nicht. Ukrainische Lkw hielten stattdessen vor großen und kleinen Futtermittelfirmen, Getreide- und Ӧlmühlen, Silo-Großanlagen, um ihre billige Fracht abzuladen. Auf riesigen Flächen fruchtbarster Schwarzböden, bei niedrigen Arbeitskosten und ohne die zahlreichen kostspieligen EU-Vorgaben, erzielen heute dänische, holländische und deutsche Agrarfirmen in der Ukraine Rekorderträge zu Niedrigpreisen, mit denen keine EU-Landwirtschaft mithalten kann.

Die Nachfrage nach polnischem Getreide sank dramatisch und genauso sanken die Preise. Eine Tonne Konsumweizen kostete Anfang April 2023  maximal 1.150 Zloty, während mindestens 1.400 Zloty notwendig sind, um den Bauern eine kleine Gewinnmarge zu gewähren. Nach der Schließung der Grenze für unkontrollierte ukrainische Einfuhren will die Regierung den Bauern nun die entstandene Differenz pro Tonne auszahlen. Staatliche Siloanlagen sollen den polnischen  Weizen aufnehmen, damit die Speicher der Bauern bis zur Ernte leergeräumt sind. Nur so ist der Ruin von Abertausenden von Bauern abwendbar.

Bevor die Abwehrmaßnahmen im Hauruckverfahren eingeführt wurden, versuchte Landwirtschaftsminister Henryk Kowlaczyk, ein enger Vertrauter des Recht-und-Gerechtigkeit-Chefs Jarosław Kaczyński, schnell noch die Katastrophe, deren Herannahen er zunächst tatenlos zugesehen hatte, im Einvernehmen mit der Brüsseler EU-Zentrale, in deren Kompetenz die Handelspolitik fällt, abzuwenden. Dort sah man jedoch keinen Grund zu schnellem Handeln, um der ungeliebten Warschauer Regierungsmannschaft aus der Bredouille zu helfen.

Anders in Warschau. Im Oktober 2023 finden in Polen Parlamentswahlen statt. Der Unmut der Bauern, der traditionellen Wahlklientel der Nationalkonservativen, würde die seit 2015 regierende Partei zweifelsohne um den dritten Wahlsieg in Folge bringen.

Obwohl eigentlich ein enger Vertrauter, wurde Landwirtschaftsminister Kowalczyk im Nu an die Luft gesetzt. Der Einfuhrstopp trat am 16. April mit sofortiger Wirkung in Kraft. Polen berief sich dabei auf die EU-Verordnung Nr. 478 aus dem Jahr 2015. Diese sieht vor, dass ein EU-Staat Einfuhrverbote und -beschränkungen verhängen kann, wenn dies wegen Gefährdung der öffentlichen Ordnung geboten ist. Und die Gefahr war in diesen Tagen in Polen wahrlich im Verzug. Tausende von Treckern standen bereit, um das Land lahmzulegen.

Kaczyński und seine Umgebung stellten wieder einmal ihre viel  gepriesene Handlungsfähigkeit unter Beweis, diesmal jedoch bei der Abwehr einer Gefahr, die sie lange ignorierten und die sie problemlos hätten im Keim ersticken können.

Das geschah zum Unmut Moskaus, wo man sehr auf eine anti-ukrainische Wende im polnischen Volksempfinden gehofft hatte. Ebenso in Deutschland. Die Zeitung „Die Welt” frohlockte bereits: „Diese Aktion Polens stellt die Loyalität zur Ukraine infrage”. Seht her, sind nicht auch die unbequemen polnischen Musterhelfer im Grunde nur kleinliche Egoisten? Und ist Polens Uneigennützigkeit, aus der seine wachsende Bedeutung in der europäischen Politik aufkeimen soll, eine Mär?

Am meisten enttäuscht ist jedoch die „totale”, wie sie sich selbst nennt, Opposition mit Donald Tusk an der Spitze. Im Unmut der Bauern witterte sie eine neuen Gamechanger, die Chance, eine schnelle Wende zu eigenen Gunsten herbeizuführen. Wo sie schon die Hoffnung auf einen harten Winter aufgeben musste, mit erfrorenen alten Menschen in ihren Wohnungen, unbezahlbaren Strom- und Heizkosten, einem Brotpreis von 30 Zloty (ca. 6,50 Euro, heute kostet 1 kg Brot durchschnittlich 8 Zloty, d.h. ca.1,75 Euro).

Doch die Zustimmungswerte für die Regierenden klettern seit Wochen beständig auf die 40-Prozent-Marke zu. Donald Tusk und die ihm genehmen Medien tun plötzlich so, als hätte es ihre dramatischen Aufrufe zur Grenzschließung nie gegeben. Jetzt prangern sie die „mangelnde Solidarität mit der Ukraine” an, sehen in den Sofortmaßnahmen eine „EU-feindliche Eigenmächtigkeit”, „einen neuen Anlauf zum Polexit” und „puren Wahlkampf”.

In Wahrheit jedoch hat das im letzen Augenblick aufgerüttelte Polen drastische Maßnahmen ergriffen, um die EU und die Ukraine zum Handeln zu zwingen, und es war erfolgreich. Die ursprüngliche Idee, ukrainisches Getreide durch Polen auf den Weg nach Afrika zu bringen, musste wiederbelebt werden, nicht mit dem Ziel, der Ukraine das Leben schwer zu machen, sondern den polnischen Landwirten keine Probleme zu bereiten und den sozialen Frieden zu wahren.

RdP




11.04.2023. Putins Morden macht den ukrainischen Völkermord nicht ungeschehen

Der Staatsbesuch Wolodymyr Selenskyjs in Warschau am 5. April 2023 war ein einziges Festival beiderseitiger Bekundungen von Einigkeit, Solidarität und engster Verbundenheit im Kampf gegen den russischen Überfall auf die Ukraine. In den ansonsten gewohnt kämpferischen und in Warschau mit stürmischem Beifall überschütteten Reden des Gastes, in seinen Lobeshymnen auf die Hilfs- und Opferbereitschaft „unserer polnischen Brüder und Schwestern”, tauchte jedoch das schwierigste historische Thema, die ukrainischen Wolhynienmassaker an etwa 100.000 Polen zwischen 1943 und 1945, nicht auf.

Nach dem Überfall Russlands auf die Ukraine im Februar 2022 wurde es von polnischer Seite ganz und gar ausgeklammert. Es sollte in solch harten Zeiten die Beziehungen zu dem sich kämpfend verteidigenden Land nicht belasten. Das funktioniert bis heute, doch immer mehr Polen, auch wenn sie ansonsten hundertprozentig hinter der Ukraine stehen, fällt es schwer, Kiews diesbezügliches beharrliches Schweigen ohne Weiteres hinzunehmen.

Ihre Frage lautet: Sind nicht gerade die grausamen russischen Verbrechen an der ukrainischen Zivilbevölkerung der richtige Anlass für die ukrainischen Eliten, über die Verbrechen der ukrainischen Nationalisten während des Zweiten Weltkriegs nachzudenken? Das ist schwierig und erfordert Mut von der ukrainischen Führung. Wolodymyr Selenskyj, der in anderen Fragen sehr schneidig daherkommt, legt hier eine geradezu beklemmende Hasenfüßigkeit an den Tag.

Im Sommer 1943 machten sich ukrainische  Nationalistenführer: Stepan Bandera, Roman Schuchewytsch, Dmytro Kljatschkiwskyj, Mykola Lebed und andere erneut daran, eine polen- und judenfreie Ukraine zu schaffen. Es war ein von langer Hand vorbereiteter Völkermord, der unter der Schirmherrschaft der deutschen Besatzer stattfand.

Ehemalige ukrainische Hilfspolizisten, die sich bereits bei den Massenmorden an Juden „bewährt” hatten, auch Mitglieder ukrainischer KZ-Wachmannschaften folgten massenhaft dem Aufruf der Nationalisten und desertierten mit ihren Waffen in die Partisanenabteilungen der Ukrainischen Aufständischen Armee. Begleitet von Horden aufgestachelter ukrainischer Bauern, leisteten sie ab Juli 1943 ganze Arbeit. Wichtigster Schauplatz dieses Völkermordes war Wolhynien.

Häuser, Gärten, Kirchen, Friedhöfe und alle anderen Anzeichen  jahrhundertelanger polnischer Anwesenheit in Wolhynien haben Banderas Helden dem Erdboden gleichgemacht und diese Erde in den meisten Dörfern umgepflügt. Wo einst  polnisches Leben war, pfeift heute der Wind über die Brachen oder wogt der ukrainische Weizen.

An mindestens 2.122 Orten wurden polnische Zivilisten, die Großeltern der heutigen polnischen „Brüder und Schwestern”, Kinder jeden Alters, Frauen, Männer, Greise, in wahren Blutorgien, zumeist mit Äxten, Messern, Mistgabeln und Holzknüppeln umgebracht. Ihre sterblichen Überreste haben die ukrainischen Mörder wie Tierkadaver in anonymen Gruben verscharrt. Bis heute verweigert die Ukraine Polen, sie zu bergen und sie menschenwürdig zu bestatten. Dahinter verbirgt sich die panische Angst, dass Hunderte von Gedenkorten in Wolhynien der Ӧffentlichkeit das wahre Ausmaß des bis jetzt beharrlich geleugneten Völkermordes vor Augen führen würden.

Das wiederum würde die Frage nach sich ziehen, warum die Massenmörder und die geistigen Urheber dieser Taten: Bandera, Kljatschkiwskyj, Schuchewytsch, Lebed usw., genauso wie die ukrainischen Freiwilligen der verbrecherischen SS Division „Galizien” in der Westukraine mit unzähligen Denkmälern, Gedenktafeln, Umzügen sowie mit Publikationen, und mit Sondermarken der ukrainischen Post zu Galionsfiguren der ukrainischen Freiheit stilisiert werden. Sie gelten als unbefleckte Patrioten und Helden des späteren Kampfes gegen die Sowjets, die 1944 die Westukraine von den Deutschen zurückerobert haben. Was sie zuvor anrichteten, wird geflissentlich ausgeblendet.

Die intellektuelle Elite der Ukraine ist offensichtlich nicht bereit, das einzusehen und daraus die Konsequenzen zu ziehen. Und Polen?

Polen sollte Selenskyj nicht dazu zwingen, denn das Wichtigste ist jetzt der Sieg an der Front und die zukünftige Sicherheit unseres Teils von Europa. Die Eliten in Kiew müssen selbst erkennen, dass das Wegschauen nicht ewig dauern kann.

Es wird nämlich schwer zu vereinbaren sein, Putin vor den Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag zu schicken und gleichzeitig Bandera zu loben. Und wie lange kann man die russischen Gräueltaten an einigen Hundert Zivilisten in Butscha als Völkermord bezeichnen und gleichzeitig die Wolhynienmassaker abstreiten oder behaupten, dass das ukrainische Abschlachten Zehntausender polnischer Zivilisten kein Völkermord, sondern höchstens eine weitere Ausprägung „ukrainisch-polnischer Zwistigkeiten” war.

Vor zwanzig Jahren hatte es den Anschein, als wäre die offizielle Ukraine bereit, sich in Sachen Wolhynien mit der Wahrheit zu messen. Im wolhynischen Pawliwka, dem früheren polnischen Poryck, wo im Juli 1943 ukrainische „Freiheitskämpfer” 222 Polen bestialisch ermordet hatten, sagte Staatspräsident Aleksander Kwaśniewski, neben ihm der ukrainische Präsident Leonid Kutschma: „Kein Ziel oder Wert, selbst ein so hehres wie die Freiheit und Souveränität einer Nation, kann Völkermord, das Abschlachten von Zivilisten, Gewalt und Vergewaltigung, das Zufügen von grausamen Leiden an Mitmenschen rechtfertigen“. Und er fügte hinzu, dass nicht das gesamte ukrainische Volk für dieses Verbrechen an den Polen verantwortlich gemacht werden könne.

„Wir wollen unsere Versöhnung auf der Wahrheit aufbauen: das Gute als gut und das Böse als böse bezeichnen“, diese Worte Kwaśniewskis aus dem Jahr 2003 muss man den ukrainischen Verantwortlichen von heute wieder in Erinnerung rufen. Und warten.

RdP




15.09.2023. Wehrhaftes Polen mit Deutschland im Rücken

Der US-Kongress hat in diesen Tagen grünes Licht für den Verkauf von 96 Hubschraubern des Typs AH-64E „Apache” an Polen gegeben. Bis die Maschinen geliefert sind, will Washington Polen Hubschrauber aus Beständen der US-Armee ausleihen.

Glaubt man den technischen Beschreibungen, sind die „Apaches” wahre Wunder der Wehrtechnik, fliegende Höllenmaschinen Gut gepanzert, ausgestattet mit zwei Typen von Panzerabwehrraketen, ferner mit Flugabwehrraketen, Laserleitmodulen, Feuerleitradaren, Raketenwarnsystemen u. v. m. können sie über einhundert Ziele gleichzeitig verfolgen und ein Dutzend von ihnen treffen. Sie sind kompatibel mit den US „Abrams”-Panzern, von denen Polen 220 Stück gekauft hat. Gemeinsam sollen die beiden Waffensysteme einen undurchdringlichen Riegel entlang der polnisch-weißrussischen Grenze bilden, von wo aus im Ernstfall ein russischer Vorstoß gegen Polen am wahrscheinlichsten ist.

Diese Barriere werden knapp fünfhundert hochmobile amerikanische HIMARS-Raketenwerfer ergänzen. Abhängig vom Raketentyp, mit dem sie bestückt sind, können sie Ziele in einer Entfernung zwischen 30 und 300 Kilometern vernichten. Die HIMARS haben ihre gewaltige Vernichtungskraft bereits im Ukraine-Krieg unter Beweis gestellt, wo sich etwa zwanzig von ihnen im Einsatz befinden.

Die Liste der aktuellen polnischen Waffenkäufe ist lang. Sie reicht von 32 amerikanischen Tarnkappen-Mehrzweckkampfflugzeugen vom Typ F-35 über 1.000 südkoreanische K2-Kampfpanzer, 700 K9-Pnzerhaubitzen des Typs K9 und 48 leichte FA-50-Kampfflugzeuge bis hin zu 48 Patriot-Flugabwehrraketensystemen, die das Rückgrat der polnischen Luftverteidigung bilden sollen. Hinzu kommen gewaltige Aufträge, die an eigene Rüstungsunternehmen vergeben werden, wie etwa die Bestellung von eintausend schwimmenden Schützenpanzern vom Typ „Borsuk” („Dachs”). Zudem soll die Zahl der Soldaten von  jetzt 130.000 auf 300.000 ansteigen.

Polen gibt inzwischen fast vier Prozent seines Bruttoinlandproduktes für das Militär aus. Bald sollen es fünf Prozent sein. Für andere Nato-Staaten sind das unerreichbare Höhen.

In Deutschland derweil, ob am Stammtisch oder in der Politik, erntet Polens Aufrüstung viel Spott und Hohn. Nach dem Motto (Originalkommentare unter einem Medienbericht): „Größter EU-Nettoempfänger, aber auf dicke Hose machen” oder „Die Polen schwimmen im EU-Geld aus Deutschland und wissen nicht wohin damit. Dann kauft man eben Panzer”. Kurzum: Ein paar rechtspopulistische Spinner in Warschau leben für deutsches Geld ihre Sandkastenkindheitsträume aus.

In einem ihrer spöttischen Berichte zum Thema, formuliete die deutsche Tageszeitung „Die Welt” den Vorwurf: „Polen rüstet auf, als ob es keine Verbündeten hätte” und traf damit unversehens den Nagel auf den Kopf.

Polen ist nämlich seit dem russischen Überfall auf die Ukraine Frontstaat geworden. Über sein Territorium laufen die meisten Waffenlieferungen für die Ukraine, kaputtes Kriegsgerät wird in Polen instand gesetzt, hier werden die meisten ukrainischen Soldaten ausgebildet.

Im Rücken hat Polen Deutschland mit seiner, trotz des vor eineinhalb Jahren eingerichteten Sondervermögens, heruntergewirtschafteten und auf Jahre kampfunfähigen Bundeswehr. Mit einer Bevölkerung, die, wie wir seit Neuestem wissen, mehrheitlich nicht mehr zur Unterstützung der Ukraine steht, und sich zunehmend zur russlandfreudlichen AfD hinwendet. Im Ernstfall ist mit dem klima- und genderbewegten Deutschland nicht zu rechnen.

Die Amerikaner wiederum, die in Polen inzwischen etwa zehntausend Soldaten stationiert haben, sagen, zurecht, klipp und klar, dass sie Ihre Jungs nur dann in den Kampf schicken werden, wenn der polnische Verbündete sich selbst ernsthaft militärisch ins Zeug legt.

Und sollten die Russen angreifen, muss jeder Zentimeter polnischen Bodens bis zum letzten verteidigt werden, denn spätestens seit Butscha wissen wir, mit welch schlimmen Kriegsverbrechen eine russische Besetzung verbunden ist.

Die großen Rüstungsanschaffungen sollen vor allem der Abschreckung dienen. Sie sind allemal billiger und Leben schonender als ein durch Schwäche, wie im Falle der Ukraine, provozierter russischer Überfall. Es gibt niemanden, der für Polen diese Hausaufgabe macht. Wie heißt es so treffend: Wenn Du zählen kannst, dann zähle auf Dich selbst.

RdP




1.03.2022. Österreichs tiefer Knicks vor Putin

Wien war am 23. und 24. Februar 2023 Schauplatz der Wintertagung der Parlamentarischen Versammlung der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE). Die 1995 gegründete OSZE ist die größte regionale Sicherheitsorganisation der Welt. Der Parlamentarischen Versammlung (PV) gehören 323 Abgeordnete aus 57 Staaten an. Die diesjährige Winterberatung fand am Jahrestag des russischen Überfalls auf die Ukraine statt.

Bei vorangegangenen OSZE-Treffen hatten die Gastgeber Großbritannien und Polen keine Russen einreisen lassen. Trotz etlicher Bitten und Appelle es genauso zu halten, haben die österreichischen Behörden russische Vertreter eingeladen, um „die Tür der Diplomatie nicht zuzuschlagen“. Es kamen neun russische Abgeordnete, von denen sechs auf Brüsseler Sanktionslisten stehen und eigentlich mit einem Einreiseverbot in die EU belegt sind. Darunter Delegationschef und Duma-Vizepräsident Pjotr Tolstoi sowie Leonid Sluzki, Leiter des Duma-Außenausschusses, beide begeisterte Verfechter der Krim-Besetzung und des Ukraine-Krieges.

Um den russischen Gästen Unannehmlichkeiten durch Proteste vor dem Haupteingang zu ersparen, wurden sie durch eine Hintertür in den Tagungsort, die Hofburg am Wiener Heldenplatz, gelotst. Medien waren bei dem zweitägigen Termin nicht erlaubt. Die zu erwartenden Teilnehmer-Proteste im Tagungssaal sollten möglichst wenig Echo finden, wofür eine starr auf das Präsidium ausgerichtete Videoübertragung zu sorgen hatte. Offiziell kam wieder einmal die berühmte österreichische Schlitzohrigkeit zur Geltung, indem es hieß, man möchte verhindern, „dass russische Journalisten hineinkommen, um eine riesige Propagandashow zu machen“.

Die österreichischen Gastgeber taten allen Ernstes so, als würden sie wirklich daran glauben, dass Dialog und Diplomatie mit Russland unter den gegebenen Umständen möglich seien. Jedenfalls war ihnen die Anwesenheit der Russen wichtiger als die der Ukrainer, die zu der Konferenz gar nicht erst angereist sind.

Doch es kam, wie es kommen musste. Statt Beratungen gab es permanent Aufruhr. Die Russen und die übrigen Teilnehmer verließen abwechselnd, unter Protest, den Saal. Es kam zu wüsten Beschimpfungen, flammende Manifeste ersetzten normale Redebeiträge. Dieses unwürdige Schauspiel drang auf verwackelten Handy-Aufnahmen nach außen und hinterließ einen üblen Nachgeschmack. Am Ende lag allen Beobachtern nur eins auf der Zunge: Außer Spesen nichts gewesen.

Das alles war leicht vorhersehbar. Wieso also haben sich die Österreicher darauf eingelassen? Die einzige plausible Antwort lautet, es sollte in Richtung Moskau ein deutliches Zeichen des Wohlwollens gesendet werden.

In Wien gefällt man sich in der Rolle des Vermittlers zwischen West und Ost. Dahinter verbergen sich diverse dubiose, milliardenschwere Geschäfte mit Moskauer Oligarchen, ergänzt durch zwielichtige Mafia- und Geheimdienstkontakte. Wien, einst Moskaus wichtigstes Spionagezentrum hinter dem Eisernen Vorhang, hat diesbezüglich bis heute nichts an Bedeutung eingebüßt.

Nicht zufällig war Bundeskanzler Karl Nehammer nach dem Kriegsausbruch der erste Regierungschef eines EU-Landes, der bereits Mitte April 2022 Putin in Moskau seine Aufwartung machte. Er ist bis heute der einzige geblieben.

Sein Amtsvorgänger Wolfgang Schüssel hatte erhebliche Mühe, sich nach dem Ukraine-Überfall von seinem mit 100.000 Euro pro Jahr dotierten Aufsichtsratsposten beim russischen Mineralölkonzern Lukoil zu lösen. Und bis Mai 2022 saß die ehemalige österreichische Außenministerin Karin Kneissl im Aufsichtsrat des russischen Mineralölkonzerns Rosneft. Noch im Amt, lud sie 2018 Russlands Präsidenten Wladimir Putin zu ihrer Hochzeit in die Steiermark ein. Nach einem gemeinsamen Tanz machte Kneissl einen tiefen Knicks vor ihm. Es war eine trotzige Demonstration der einflussreichen Position Russlands an der Donau.

Die angebliche österreichische Neutralität ist schon vor langer Zeit dauerhaft in eine prorussische Schieflage geraten. In Wien hat man sich bis heute nicht einmal dazu durchgerungen, eine 1949 im Stadtteil Meidling zu Ehren Stalins angebrachte Gedenktafel abzuhängen.

Sich mit Russland einlassen ist wie eine Kobra tätscheln. Ehe man sich umsieht, ist man schon  gelähmt. Deshalb ist Österreich heute Putins Fürsprecher.

RdP




23.02.2023. Joe Bidens klare Warschauer Ansagen. Auch an Deutschland

Neuigkeiten brachte Joe Biden nach Warschau nicht mit. Doch wer die Rede des US-Präsidenten vom 21. Februar 2023 in den Gärten des Warschauer Schlosses mit der geringschätzigen Bemerkung abtut, Biden habe „mit viel Pathos nichts Neues verkündet“, der verkennt nicht nur die enorme Bedeutung der Botschaft, die die Ansprache enthielt, sondern auch den Ernst der Lage, in der Biden das Wort ergriff.

Die Rede des US-Präsidenten fiel nicht nur in die Woche des Jahrestages des russischen Überfalls auf die Ukraine, sondern auch in eine schwierige Phase des Krieges. Den Verteidigern gehen Munition und Männer aus, während Putin immer neue Truppen an die Front wirft. Auch wenn die Frühjahrsoffensive der Russen noch keine Erfolge zeigte, so kommen doch bange Fragen und nagende Zweifel auf: Wie lange hält die Ukraine noch durch? Bekommt sie weiterhin die erforderliche Unterstützung? Spekuliert man im Kreml zu Recht darauf, dass sich Kriegsmüdigkeit im Westen breitmacht und die Ukraine ihrem Schicksal überlassen wird?

All dem musste und wollte Biden entgegentreten, und hielt sich dabei an die antike Erkenntnis „Repetitio est mater sapientiae“, dass „die Wiederholung die Mutter der Weisheit“ sei. Er trug seine Warschauer Rede mit typisch amerikanischem Pathos vor und fand einfache und klare Worte, mit denen er die Haltung Amerikas mit Nachdruck bekräftigte. Falls jemand Zweifel an der Entschlossenheit der USA gehabt haben sollte, der Ukraine weiterhin zu helfen, nach Bidens Warschauer Rede dürften sie zerstreut sein.

Die Ansprache hatte mehrere Adressaten, denen sie unmissverständlich klarmachen sollte, wie Amerika denkt und wie es zu verfahren gedenkt.

Zum einen die Ukraine. Das wichtigste Signal in diese Richtung hatte Biden bereits am Vortag mit seinem unerwarteten Kurzbesuch in Kiew gegeben. In Warschau verkündete er dann ausdrücklich, dass die USA an der Seite der Ukraine bleiben werden, „solange es nötig ist“. „Die Ukraine wird niemals zu einem Sieg für Russland. Niemals“, rief der Präsident. „Es sollte keine Zweifel geben: Unsere Unterstützung für die Ukraine wird nicht nachlassen“.

Zum anderen Russland. Putin erlebe nun etwas, das er nicht für möglich gehalten hätte. Er habe den Westen auf die Probe gestellt mit der Frage, ob sein Angriff unbeantwortet bleibe. „Als er seine Panzer in die Ukraine beorderte, dachte er, wir würden wegschauen“, doch der Westen habe nicht weggeschaut. „Wir waren stark.“ Nun sei klar, dass die Antwort laute: „Russland wird in der Ukraine niemals siegen“.

Der US-Präsident wandte sich auch an die Menschen in Russland: „Die Vereinigten Staaten und die europäischen Nationen wollen Russland nicht kontrollieren oder zerstören“. Der Westen habe vor Kriegsbeginn nicht vorgehabt, Russland anzugreifen, wie Putin behauptet. „Jeder Tag, an dem der Krieg weitergeht, ist seine Entscheidung. Er könnte den Krieg mit einem Wort beenden. Es ist ganz einfach.“

Adressaten waren auch das Gastgeberland Polen und weitere acht Staaten der „Bukarest Neun“, die osteuropäischen Nato-Länder von Estland bis Bulgarien, mit deren Staats- und Regierungschefs sich Biden am Tag darauf in Warschau getroffen hatte. Diese Länder stellen die vorderste Front der kollektiven Verteidigung.

Biden sagte das, was von ihm erwartet wurde. Er bekannte sich unmissverständlich zu Artikel 5 des Nato-Vertrages, der gegenseitigen Beistandsverpflichtung. „Ein Angriff auf einen ist ein Angriff auf alle“, rief er der Menge zu. Jeder Zentimeter des Bündnis-Territoriums werde verteidigt. Das sei ein „heiliger Eid“. Alles andere wäre eine Überraschung gewesen, doch gerade im östlichen Mitteleuropa kann dieses Bekenntnis nicht oft genug beteuert werden.

Mit seinem zweiten Besuch in Warschau innerhalb eines Jahres unterstrich Biden unmissverständlich, dass er Polens Schlüsselrolle und seine enormen Anstrengungen, der Ukraine zu helfen, zu würdigen weiß. An das Leid der Flüchtlinge erinnernd, lobte er die Polen für ihre „außerordentliche Großzügigkeit“ in deren dunkelster Stunde. Der polnischen Präsidentengattin rief er gar „I love you“ zu, nachdem er ihren Einsatz für Flüchtlinge gewürdigt hatte.

Polen mit seiner knapp 500 Kilometer langen Grenze zur Ukraine hat fast zwei Millionen Ukrainer aufgenommen und inzwischen weitgehend integriert, ohne sie in Flüchtlingslager oder Sammelunterkünfte zu stecken. Es liefert in großem Ausmaß Munition, Waffen, darunter gut dreihundert Panzer, Kampfausrüstung jeglicher Art, repariert unter Hochdruck beschädigtes Kriegsgerät, trainiert ununterbrochen ukrainische Soldaten und fungiert als Drehscheibe für fast alle ausländischen Waffenlieferungen, die die Ukraine auf dem Landweg erreichen.Gleichzeitig finanziert es zu einem bedeutsamen Teil die Stationierung von knapp 11.000 amerikanischen Soldaten auf seinem Territorium.

Warschau preschte auch wiederholt mit Initiativen zur militärischen Unterstützung für Kiew vor, es fordert ständig neue Sanktionen, mobilisiert andere hilfswillige Staaten und wird nicht müde, Nachzügler zu brandmarken. Russland, so die Warschauer Sicht, muss möglichst dauerhaft angriffsunfähig gemacht werden. Genauso denkt man in Washington.

Dass Biden zum zweiten Mal seit März 2022 nach Polen flog, ohne in Berlin zwischenzulanden, gibt zu denken. Man darf davon ausgehen, dass seine klaren Warschauer Botschaften auch an die unzähligen deutschen Bedenkenträger, Zauderer, Bremser, Russlandversteher und Russlandeinbinder, Kreml-Dialogbeschwörer, Putins Telefonpartner und Friedensstifter auf Kosten der Ukraine gerichtet waren. Haltungen, deren Konsequenzen die Ukraine tragen muss.

Es ist nicht vorstellbar, dass Joe Biden seine klaren Botschaften vor dem Berliner Schloss, am Lustgarten, hätte verkünden können, ohne wütende Proteste und gellende Pfeifkonzerte zu ernten. In der Frontstadt Westberlin war John F. Kennedy noch „ein Berliner“. Im Frontstaat Polen ist Joe Biden ein Warschauer. So ändern sich die Zeiten.

RdP




11.02.2023. Andrzej Poczobut. Weissrussland und die Macht eines ohnmächtigen Polen

Im weißrussischen Grodno wurde dieser Tage der polnische Journalist und weißrussische Staatsbürger Andrzej Poczobut zu acht Jahren verschärfter Lagerhaft verurteilt. Auf Fotos aus dem Gerichtssaal wirkte er gealtert und abgemagert. Immerhin gingen dem Spruch zwei Jahre Untersuchungshaft voraus, in denen Poczobut es ablehnte, sich gegen politische Auflagen und ein Schuldeingeständnis freizukaufen.

Allen war klar, dass das Urteil von Alexander Lukaschenkos Schreibtisch aus diktiert worden war und dass es, dank Richter Dimitrij Bubentschik, der bereits in vielen Prozessen gegen Oppositionelle den Vorsitz führte, garantiert dem Willen des Diktators entsprach. Im Gerichtssaal waren Poczobuts Ehefrau, seine Tochter und seine Eltern anwesend. Wie sein Vater Stanisław berichtete, durfte die Familie nicht mit dem Häftling sprechen. „Ich bin 80, meine Frau ist 79. Wir werden unseren Sohn wahrscheinlich nie wiedersehen.“

Seit den letzten, offensichtlich gefälschten Präsidentschaftswahlen vom August 2020 sitzen in weißrussischen Gefängnissen etwa 1.300 verurteilte politische Häftlinge ein. Einige Hundert weitere warten auf ihren Prozess. Zu beiden Gruppen gehören gut einhundert weißrussische Polen.

Die polnische Minderheit, etwa 5 Prozent der knapp 10 Millionen zählenden Bevölkerung Weißrusslands, ist schon seit Jahren Gegenstand einer entfesselten Willkür und brachialer Repressalien des Regimes. Sie steht unter dem Generalverdacht des „Landesverrats“.

Dabei gesellt sich seit einigen Monaten zur Delegalisierung des Verbandes der Polen, zu Schließungen von polnischen Schulen und der Beschlagnahmung von Kultureinrichtungen, zu Verhaftungen und massiven polizeilichen Einschüchterungen in Form von Hausdurchsuchungen, ständiger Polizeibeobachtung, Vorladungen zu Verhören, kurzfristigen Festnahmen, eine neue barbarische Maßnahme. Es ist die Zerstörung von Gräbern und Friedhofsdenkmälern polnischer Soldaten aus dem Jahr 1939, die diese damals polnischen Gebiete gegen den Einmarsch der Sowjets verteidigt haben. Dasselbe gewaltsame Vorgehen richtet sich gegen Gräber von Soldaten der Partisaneneinheiten der polnischen Heimatarmee (Armia Krajowa). Vierzehn solcher Orte wurden bisher, zumeist bei Nacht, mit Bulldozern plattgewalzt.

Der heute 49-jährige Poczobut erlebte seit 2011 drei Verhaftungen, einmal wurde er zu drei Jahren Haft auf Bewährung verurteilt. Stets wurde ihm zum Vorwurf gemacht, er unterziehe, auf weißrussischen Internetseiten und in seiner Berichterstattung für polnische Medien, das Funktionieren des weißrussischen Systems gut belegten, wohldurchdachten und zugleich schonungslosen Analysen. Seine vielgelesenen und vielzitierten Betrachtungen trafen das Regime ins Mark.

Poczobuts Haltung ruft Bewunderung und großen Respekt hervor. Die verschärften Haftbedingungen werden seinen Willen nicht brechen, aber sie können ihn, und darauf zielen sie letztendlich ab, in einen Krüppel verwandeln. Der Kampf um Poczobuts Freiheit ist vor allem ein Kampf um sein Leben.

Trotz aller Kritik und aller Proteste scheint das weißrussische Regime seit mittlerweile knapp dreißig Jahren, seit dem Amtsantritt Lukaschenkos im Juli 1994, unbezwingbar zu sein. Sein schamloses Fortbestehen und dreistes Agieren verschlagen den Menschen in Weißrussland die Sprache und rauben ihnen oft jede Hoffnung.

Auch ihnen ist Václav Havels berühmtes Essay „Die Macht der Ohnmächtigen“ gewidmet, geschrieben 1978 in der Finsternis der kommunistischen Nacht. Der spätere tschechische Staatspräsident, der damals, wie Andrzej Poczobut heute, aus der Gesellschaft ausgeschlossen war und sein Leben als Heizer fristete, vertrat die Ansicht, dass das totalitäre Regime nicht durch Gewalt, sondern durch das Gewicht der Wahrheit und der Meinungsfreiheit zu Fall kommen würde.

Fünfundvierzig Jahre später können wir sagen: Poczobut ist einer, der in dieser Hinsicht sehr viel unternommen hat und einen hohen Preis dafür zahlt. Nichts ist ewig. Regime, wie das von Lukaschenko, brechen manchmal über Nacht zusammen. Erinnern wir uns nur an Ceaușescus Rumänien. Es muss alles dafür getan werden, dass in dem Wettlauf, wer früher das Zeitliche segnet, Andrzej Poczobut nicht unterliegt.

RdP