26.12.2023. Radio+TV. Wie die Rechtsstaatlichkeit in Polen gesundet
Die Ereignisse der letzten Tage vor Weihnachten haben die polnische Politik grundsätzlich verändert. Zum ersten Mal seit dem Ende des Kommunismus sind die Sicherungen des Systems im politischen Konflikt durchgebrannt, sodass der Kampf um die Macht nun chaotisch und ungebremst ausufert.
Bisher war es immer so, dass diejenigen, die die Wahlen gewannen und nach der Macht griffen, ihre vertrauten Juristen einsetzten, um herauszufinden, welche Gesetze angewendet werden könnten und welche geändert werden müssten, um die mit ihren Vorgängern besetzten oder von ihnen geschaffenen Institutionen zügiger als eigentlich vorgeschrieben zu übernehmen. Manchmal wurde dabei das geltende Recht gedehnt, gebogen, aber die rote Linie blieb unangetastet. Prozeduren und Zuständigkeiten wurden eingehalten, entsprechende, demokratisch gewählte, Mehrheiten waren vorhanden.
Dieses Mal jedoch kamen die neuen Machthaber unter Donald Tusk zu dem Schluss, dass ein solcher „Formalismus“ unnötiger Aufwand oder Zeitverschwendung ist, wenn die Dinge schneller und einfacher erledigt werden können.
Die Regierungsmehrheit im Parlament begab sich deswegen nicht auf den umständlichen Weg des Gesetzgebungsverfahrens, der Verabschiedung eines neuen Gesetzes oder der Änderung eines bestehenden, mit drei Lesungen, der anschließenden Debatte im Senat und dem Bangen um die Unterschrift des Staatspräsidenten. Sie verabschiedete stattdessen eine einfache, rechtlich nicht verbindliche Entschließung, die die Regierung dazu aufruft, die öffentlich-rechtlichen Medien einem „Gesundungsprozess” zu unterziehen.
Daraufhin verkündete der neue Kulturminister, dass er alle Organe der öffentlich-rechtlichen Medien auf einen Schlag entlassen habe, obwohl das Gesetz eine solche Befugnis nur dem vom vorherigen Parlament gewählten Medienrat, dessen Amtsperiode erst in eineinhalb Jahren ausläuft, nicht aber dem Minister zugesteht.
Muskelmänner eines privaten Sicherheitsdienstes, der Donald Tusk im Wahlkampf beschützte, überrannten handstreichartig die Gebäude und jagten, im wahrsten Sinne des Wortes, den Intendanten des Fernsehens und die Intendantin des Rundfunks kurzerhand aus ihren Büros. Das Sendesignal des eindeutig nationalkonservativ gefärbten öffentlichen TV-Nachrichtenkanals TVP Info wurde kurzweg, mitten im Sendebetrieb, abgeschaltet. Nicht auszudenken der weltweite Aufschrei der Empörung, wenn sich die Partei von Jarosław Kaczyński so etwas leisten würde.
Die Belegschaften der Fernseh-Nachrichtenzentrale und der Polnischen Presseagentur PAP, die auch ein öffentlich-rechtliches Medium ist, ließen sich nicht überrumpeln und hielten, als dieser Kommentar geschrieben wurde, immer noch ihre Redaktionsräume gemeinsam mit Abgeordneten von Recht und Gerechtigkeit besetzt. Sie hindern „neuberufene” Redaktionsleiter daran, ihre Posten anzutreten. Die massiv aufgefahrene Polizei umstellt die Gebäude, verhält sich jedoch überwiegend passiv. Solidaritätsdemonstrationen finden statt. Eine in einem externen Studio produzierte „Not-Tagesschau” ist die Umkehrung der bisherigen. Sie huldigt Donald Tusk und den seinen.
Tusks Kulturminister und Oberleutnant der Sicherheitsdienste, Bartłomiej Sienkiewicz, störte es nicht, dass jemand anderes juristisch berechtigt sei, die genannten Entscheidungen zu treffen. In einem Kommuniqué verkündete er, dass er den Staat vertritt, dem die Medien gehören, und er daher in dieser Hinsicht freie Hand habe. Das ist etwa so, als würde ein Polizeichef eine Universität betreten und erklären, dass er für die Ordnung im Staat verantwortlich ist und deshalb den Rektor und die Professoren, die ihm nicht passen, entlasse.
Auf diese Weise geht „Kulturminister” Sienkiewicz in die Geschichte der polnischen Demokratie als Schöpfer eines bedeutenden Präzedenzfalls ein. Er besteht darin, dass Behörden die systemimmanenten Spielregeln ablehnen, die aufgestellt wurden, um zu verhindern, dass der politische Kampf zu einem Catch-as-catch-can, auch Wrestling genannt, entartet.
Die Bedeutung dieses Präzedenzfalls ist groß, denn das Schauspiel mit dem Titel „Wiederherstellung der Rechtsstaatlichkeit”, Regie: Donald Tusk, bei dem noch einige Aufzüge angekündigt sind, geht weiter, aber bereits ohne Regeln.
Schließlich haben Tusk und der besagte Sienkiewicz im Wahlkampf gedroht, ihre Vollstrecker, die „kräftigen Männer”, werden auch den „PiS-Nationalbankpräsidenten” und die „PiS-Richter” am Verfassungsgericht im Handumdrehen an die frische Luft setzen. Als juristische Grundlage sollen weitere Sejm-Entschließungen dienen. Eine von ihnen will Justizminister Bodnar dazu nutzen, die knapp viertausend seit 2017 ernannten und vom Staatspräsidenten vereidigten „PiS-Richter” ihrer Ämter zu entheben.
Wie weit die neue „proeuropäische” Mehrheit, wie sie liebevoll in den deutschen Medien umschrieben wird, gehen will, bleibt abzuwarten. An welche Regeln wird sie sich halten? Welche Gesetze gelten noch und welche nicht mehr? Seitdem die „Mutter aller Regeln”, die garantiert, dass überhaupt Regeln in Kraft sind, kurz vor Weihnachten außer Kraft gesetzt wurde, ist alles offen. So auch das Ausmaß des jetzt schon heftigen Widerstandes.
RdP