Einhundert und ein Jahr Menschlichkeit

Am 24. Oktober 2023 starb Wanda Półtawska.

Die Deutsche Presseagentur (DPA) erklärte sie in ihrem kargen Nachruf kurzerhand zur Jüdin. Offensichtlich erschien den DPA-Redakteuren nur so alles, was sie durchlitten und geleistet hatte. „gut genug”, um postum erwähnt zu werden. Die in Deutschland oft angewandte Rangordnung der Opfer wurde wieder einmal gewahrt. Die Polin Wanda Półtawska hätte es sicherlich mit einem Achselzucken quittiert. Deutschland und den Deutschen begegnete sie bar jeglicher Illusionen.

Nur wenige Menschen können von sich sagen, dass sie ein ganzes Jahrhundert in Würde gelebt haben. Niemand, weder deutsche Gestapobeamte, SS-Aufseher und SS-Mordärzte, noch heimische Kommunisten vermochten sie ihr zu nehmen. Ihr schier unerschöpfliches Gottvertrauen, die unversiegbare Ausdauer, Selbstbeherrschung und Zuversicht machten sie innerlich unangreifbar. Während und nach dem Krieg immer wieder vom Tod belauert, verschrieb sie sich dem Engagement für das Leben. Das brachte ihr nicht nur Respekt und Anerkennung, sondern auch erbitterten Hass ein.

Pfadfinderin im Widerstand

Wanda Półtawska als Gymnasiastin

Sie kam 1921 in Lublin als dritte Tochter des Postbeamten Adam Wojtasik und seiner Frau Anna zur Welt. Wanda Wojtasik, die Musterschülerin des Ursulinen-Gymnasiums, engagierte sich mit Leib und Seele bei den Pfadfindern, verinnerlichte deren vom Patriotismus, Glauben, von Selbstlosigkeit und Kameradschaft geprägtes Ethos. Mit ihren Gefährtinnen schloss sich die 18-Jährige im Herbst 1939, gleich nach dem Beginn der deutschen Besatzung, dem Widerstand an.

Wanda Półtawska mit Pfadfinderinnen kurz nach dem Krieg

Tausende von vierzehn- bis achtzehnjährigen Pfadfindern stellten im  besetzten Polen einen wesentlichen Teil des Verbandes des Bewaffneten Kampfes (ZWZ) dar, der im Februar 1942 in Armia Krajowa (Heimatarmee, Abkürzung: AK) umbenannt wurde. Sie unterstand der polnischen Exilregierung in London und war, nach eigenem Selbstverständnis, die reguläre Polnische Armee, die sich zeitweilig im Untergrund befand. Nach und nach stellte die AK immer mehr Partisanenabteilungen in der Provinz, betrieb aber vor allem, wie man heute sagen würde, eine Stadtguerilla.

Polen während der deutschen Besatzung. Kleine Sabotage

Die jungen Leute nahmen nicht unmittelbar am bewaffneten Kampf teil. Die Jungs wurden auf ihn vorbereitet, vor allem militärisch geschult und mit der sogenannten „kleinen Sabotage” betraut: Herunterholen von Hakenkreuzfahnen, Vernichtung deutscher Propagandalosungen und Schautafeln, Lautsprecheranlagen zur Übertragung von Siegesmeldungen und Marschmusik, Flugblattaktionen, Aufmalen von antideutschen Sprüchen an Hauswänden usw. Wen die deutsche Polizei oder Feldgendarmerie dabei erwischte, der war so gut wie tot.

Die Mädchen wurden für den Sanitätsdienst ausgebildet. Sie waren auch die „łączniczki” (phonetisch; lontschnitschki), die Überbringerinnen von Befehlen und Nachrichten, die auf dünnem Löschpapier verfasst wurden, das man bei Gefahr schnell zerknüllen und herunterschlucken konnte. Sie transportierten Flugblätter sowie die handzettelgroßen Exemplare der Untergrundpresse, brachten den Widerstandskämpfern falsche Papiere, Waffen, meistens Pistolen und Granaten, in die Nähe des nächsten Kampfeinsatzes, nahmen sie anschließend wieder in Empfang, um sie zurück in die Verstecke zu bringen.

Jung, unscheinbar und findig hatten sie die besten Chancen, bei Straßenrazzien und Ausweiskontrollen davonzukommen. Wanda Wojtasik war eine von ihnen, bis die Gestapo Anfang 1941 durch Ermittlungen und Zuträger tief in die Strukturen der Lubliner ZWZ eindringen konnte. Die Verhaftungswelle erfasste am 17. Februar 1941 auch Wanda.

Der Weg durch die Hölle

Ihr Martyrium begann  in der Lubliner Gestapo-Dienststelle in der Uniwersyteckastraße, wo sie zwei Tage und Nächte lang bei Verhören mit Knüppeln und Tischbeinen geschlagen wurde. Sie verriet niemanden. Danach landete sie im deutschen Polizeigefängnis im Lubliner Schloss.

Zellen, die für sechs Gefangene gedacht waren, bevölkerten zwanzig und mehr Frauen. Gang zur Toilette einmal am Tag, ansonsten ein ständig überlaufender Eimer mit Exkrementen in der Ecke. Läuse, Kakerlaken. Tägliche Essensrationen bestehend aus 200 Gramm Brot und einer Kelle undefinierbarer Brühe. Keine Seife, einmal in der Woche kalt duschen im Schnelldurchlauf.

Als man sie fünf Monate später, im Juli 1941, mit einem mehrere Hundert Frauen zählenden Transport in Viehwaggons ins Frauen-KZ Ravensbrück schickte, war sie bereits mit etwa sechzig weiteren Polinnen in Abwesenheit zum Tode verurteilt worden. Solche Verurteilungen erfolgten innerhalb von Minuten, während der Aktendurchsicht durch ein „Polizeigericht”.

SS-Arzt Karl Gebhard

Alle zum Tode verurteilten Frauen durften vorerst am Leben bleiben, denn sie waren als Geschenk für den SS-Arzt Karl Gebhard gedacht, der in Ravensbrück mit Experimenten an Menschen Forschung betrieb. Kurz nach ihrer Ankunft begann Gebhard, Kriegsverletzungen zu simulieren, indem er den Opfern unter Narkose beispielsweise eine Wade aufschneiden, Muskeln quetschen, Holz- und Glassplitter, Erde, Holzwolle in die Wunde einnähen ließ. Er testete verschiedene Sulfonamide (Antibiotika) nach den von ihm festgelegten Kriterien. Am vierten Tag der Versuchsreihe ließ er die eiternden Wunden chirurgisch behandeln. Es kam zu zahlreichen Todesfällen, unter anderem durch künstlich hervorgerufene Blutvergiftungen, bei denen Gebhard den Frauen Eiter in die Venen spritzte. Sie litten entsetzlich.

Die ehemalige polnische Ravensbrück-Insassin Jadwiga Dzido zeigt 1947 beim Nürnberger Ärzteprozess die infolge der medizinischen Experimente entstandenen Narben

Das menschliche Versuchskaninchen Wanda Wojtasik hat Gebhards Eingriffe überlebt, aber noch Jahrzehnte später öffneten sich ihre Wunden und die damals eingenähten Verunreinigungen traten in kleinen Mengen heraus.

Knapp vier Jahre sollte sie ihr Dasein in Ravensbrück fristen. Schwerstarbeit auf den Feldern umliegender Bauernhöfe, beim Straßenbau und nach der Rückkehr der Arbeitskolonnen ins Lager nicht enden wollende Stehappelle, Misshandlungen sadistischer Aufseherinnen, fast jeden Abend das Aussortieren der Schwächsten, die bald darauf umgebracht wurden.

Wanda Półtawska 2005 bei den Feierlichkeiten anlässlich des 60. Jahrestages der Befreiung von Ravensbrück

Gemeinsam mit einigen Gleichgesinnten rettete Wanda Wojtasik in Ravensbrück Säuglingen das Leben. Nachdem im Sommer und Herbst 1944 viele schwangere Frauen eingeliefert wurden, schaffte man im Lager Möglichkeiten zur Entbindung. Doch man ließ die Schwangeren und ihre Neugeborenen absichtlich unversorgt. Die meisten Babys starben nach wenigen Tagen oder Wochen. Frauen, die ihr Neugeborenes verloren hatten, stillten die lebenden Säuglinge. Wanda Wojtasik organisierte für sie immer wieder ein paar Scheiben trockenes Brot, ab und zu eine Decke, etwas Seife, sogar Zucker aus der SS-Kantine. Dreißig Babys konnten so gerettet werden, bis das Schwedische Rote Kreuz sie im April 1945 aufgrund einer Vereinbarung mit der SS nach Schweden evakuierte.

Im Nachhinein betrachtete sie die Zeit in Ravensbrück als „große Exerzitien“, in denen sie gelernt habe, wie man unter extrem widrigen Umständen überlebt. „Ich habe dort niemals meine innere Freiheit verloren. Ich habe nichts gegen meinen Willen getan. Niemand konnte mich dazu bewegen, etwas zu stehlen oder mich in ein Tier zu verwandeln. Du wirst diejenige, die Du sein willst. Erlaube niemandem, Macht über Deine Seele zu haben.“

Vor der anrückenden Roten Armee trieb die SS im April 1945 einen Teil der Ravensbrück-Frauen in das etwa 150 Kilometer weiter westlich gelegene Außenlager Neustadt-Glewe. Wanda war am Ende ihrer Kräfte. Für tot befunden lag sie in der Totenbaracke. „Aber ich lebte”, schrieb sie Jahrzehnte später. „Als ich an der kalten Leiche einer Zigeunerin liegend aufwachte, habe ich beschlossen, Medizin zu studieren und nach Krakau an die Jagiellonen-Universität zu gehen.” Am 2. Mai 1945 erfolgte die Befreiung.

Nur nicht verzagen

Das Wichtigste war jedoch, dass die grausamen Kriegserfahrungen sie nicht in den Abgrund der Verbitterung, der Mutlosigkeit,  der Lebensverneinung stießen. Das war bei vielen Opfern der Fall. Sie konnten das Ausmaß der Demütigungen und Gräueltaten, die sie erlebt hatten, nicht verkraften. Wanda traf eine andere Entscheidung. Nachdem sie die düstere Allgegenwart des Todes erlebt hatte, griff sie nach dem Glauben an Gott und dem Beruf des Lebensretters, zwei Fäden, die zum Licht führen konnten.

Ihr Medizinstudium absolvierte sie 1951. Es folgte die Facharztausbildung zum Psychiater und die Arbeit am Psychiatrischen Klinikum der Krakauer Medizinischen Akademie. Auf den Doktortitel, den sie 1964 erwarb, sollte die Habilitation folgen. Die Habilitationsschrift war fertig. Im Jahr 1968 fehlte nur noch das Endkolloquium, als man das Verfahren auf Anweisung von oben stoppte. Angeblich „aus formalen Gründen”, die im Einzelnen nie ausgeführt wurden. Es lag jedoch auf der Hand, dass sie politischer Natur waren. Jemand, der der Kirche so nahestand, durfte kein Dr. habil. werden. Die herrschenden Kommunisten verhinderten auf diese Weise ihre weitere, bis zum Professorentitel führende wissenschaftliche Karriere. Sich verbiegen lassen, faule Kompromisse schließen, das war nicht ihre Sache. Prompt schmiss sie ihre Stelle als leitende Stationsärztin an der Medizinischen Akademie hin und widmete sich von nun an der praktischen Arbeit in der Frauen- und Familienseelsorge im Auftrag der Krakauer Bischofskurie.

Leben schenken, Leben schützen

Zwei Begegnungen, die sie kurz nach dem Krieg hatte, sollten ihr Leben nachhaltig prägen. Im Jahr 1946 lernte sie den Philosophiestudenten und Warschauer Aufständischen von 1944 Andrzej Półtawski kennen. Silvester 1947 heirateten die beiden, hatten vier Töchter und blieben bis Andrzejs Tod 2020 mehr als siebzig Jahre lang ein Ehepaar.

Wenn man davon ausgeht, dass es im Leben keine Zufälle, sondern nur Zeichen der Vorsehung gibt, dann war es ein Zeichen der Hoffnung für eine vom Krieg verwüstete Welt, als 1951 Kardinal Adam Sapieha den jungen Priester Karol Wojtyła, der gerade von seinem Studium in Rom zurückkehrte, in die Ärzteseelsorge in Krakau entsandte.

Wanda Półtawska und Pfarrer Karol Wojtyła Mitte der 50er-Jahre in Krakau. Das Foto wurde insgeheim von der polnischen Stasi gemacht

In der Zeit des wütenden Stalinismus und der heftigsten kommunistischen Kirchenverfolgung in Polen, unternahmen Pfarrer Wojtyła und eine Gruppe junger katholischer Krakauer Ärzte, darunter Wanda Półtawska, immer wieder Ausflüge in die nicht weit entfernten Tatraberge. Inspiriert durch die majestätische Ruhe der kolossalen Landschaft, entstanden aus den auf der Wanderschaft geführten Gesprächen zeitgemäße theologische Ansätze zu Fragen der Sexualität, zum Schutz des ungeborenen Lebens und schließlich der Eheethik.

Man vergisst heute, welch demoralisierenden Einfluss die erstmalige Freigabe der Abtreibungen in Polen durch die deutschen Besatzungsbehörden im Zweiten Weltkrieg hatte. Die Kommunisten legalisierten die uneingeschränkte Abtreibung auf Wunsch bis zur 12. Woche, ohne Beratung, im April 1956 ein zweites Mal. Jahre später erinnerte sich Wanda Półtawska daran, wie sehr sie der plötzliche Ansturm von Schwangeren zur Tötung ihres eigenen Kindes bedrückte.

Sie schrieb: „Ich traute meinen Augen nicht, aber vielleicht lag das daran, dass ich von vielen Dingen keine Ahnung hatte. Vor den Praxen der Gynäkologen sah ich Schlangen von Frauen, die plötzlich begannen, die Möglichkeiten zu nutzen, die das neue Gesetz bot. Zusammen mit anderen Ärzten, die das Drama dieser Mädchen verstanden, begannen wir spontan zu handeln. Wir versuchten, auf sie zuzugehen und ihnen zu erklären, dass eine Abtreibung einen Schatten auf ihr restliches Leben werfen würde. Einmal erhielt ich nachts um zwei Uhr einen Anruf von einem sehr besorgten Priester, dem ein Mädchen gestand, dass es am nächsten Morgen um neun Uhr einen Termin für eine Abtreibung hatte. Ohne groß nachzudenken, lief ich sofort in das Studentenheim und begann, sie zu überreden, diesen Weg nicht einzuschlagen“.

Wanda Półtawska half, den Aufbau eines kirchlichen Unterstützungssystems für solche Mädchen zu organisieren. So entstand eine Art lokale Krakauer Koalition für das Leben: Der Bischof von Krakau, Karol Wojtyła,  Abtreibungsgegner wie Wanda Półtawska,  mobilisierte Laien gegen Abtreibungen. Der Primas von Polen, Kardinal Stefan Wyszyński, und Kardinal Wojtyła stellten damals die Frau und ihr gezeugtes Kind in den Mittelpunkt der seelsorgerischen Aufmerksamkeit.

Sehr wichtig waren die Begriffe. Wanda Półtawska betonte stets, dass es keine „werdenden Mütter“ gibt. Eine Frau wird in dem Moment Mutter, in dem die Empfängnis stattfindet. Es gibt keinen Fötus, es gibt ein Kind. Die Abtreibung führt zum Tod des Kindes, also ist es eine Tötung. Das Kind ist kein Organ der Frau, das herausoperiert wird, sondern von Anfang an ein autonomer Mensch mit eigenen Fingerabdrücken und einer eigenen DNA. Es ist nicht vertretbar, Abtreibungen in irgendeiner Weise mit dem Krankenwesen in Verbindung zu bringen, denn eine Schwangerschaft ist keine Krankheit.

Die Antwort der Kirche auf die Freigabe der Abtreibungen in Polen war die Einrichtung kirchlicher Beratungsstellen, von Heimen für alleinerziehende Mütter und die Bildung von Selbsthilfegruppen. In einem Land, in dem es keine Kirchensteuer gibt, musste auch das, wie alle anderen Kirchenausgaben, durch die Kollekte finanziert werden. Es galt sich zudem mit der staatlichen „Gesundheitspropaganda” zu messen, die die Abtreibung als eine Errungenschaft des Sozialismus, als ein Recht und eine Verhütungsmethode pries, von der die selbstbestimmte, berufstätige Frau nach Belieben Gebrauch machen konnte. Die „reaktionäre”, „altbackene” Kirche will ihr diese Freiheit streitig machen, hieß es.

Dem konnte die Kirche nur ihre Sonntagspredigten entgegensetzen, denn die staatliche Zensur unterband alle Versuche, Anti-Abtreibungskampagnen zu organisieren. Zudem wussten viele Priester, vor allem der älteren Generation, nicht so recht, wie sie über diese Themen sprechen sollten. Sehr oft konzentrierten sie sich darauf, die Sünderin zu verurteilen, anstatt darüber nachzudenken, wie man ihr helfen und das Kind retten kann.

Wichtig war hier Półtawskas Einfluss auf die Priester. Aus Hunderten von Gesprächen mit verzweifelten jungen Frauen kannte sie das Ausmaß der Probleme, mit denen diese konfrontiert waren. Sie sensibilisierte die Priester dazu, vor allem zuzuhören. Unterstützt wurde sie dabei von Bischof  Wojtyła, der bei den Treffen zu diesem Problem zu sagen pflegte: „Wer ist schuld daran, dass Mädchen ihr eigenes Kind töten wollen?“. Und er antwortete: „Wir sind alle schuld. Die einen, weil sie es tun, die anderen, weil sie nicht reagieren“.

Er nahm das dicke Notizbuch von Wanda Półtawska mit nach Rom, in dem sie die Berichte betroffener Frauen während ihrer Sprechstunden in der Krakauer katholischen Beratungsstelle niedergeschrieben hatte. Während der Sitzung der Familienkommission des Zweiten Vatikanischen Konzils  zitierte Wojtyła mehrmals daraus. Die Schilderungen beeindruckten Papst Paul VI. so, dass er dem Druck nicht nachgab, die katholische Lehre in der Frage der Abtreibung zu lockern. „Humanae vitae“, die Enzyklika Pauls VI. von 1968 über die moralischen Grundsätze für die Weitergabe des menschlichen Lebens, wäre ohne die intellektuelle Arbeit von Wojtyła und Półtawska zur Definition des Übels der Abtreibung vielleicht nicht geschrieben worden. Der italienische Papst regierte ein weiteres Jahrzehnt, dann folgte das kurze Pontifikat von Johannes Paul I. und schließlich wurde der päpstliche Thron von einem polnischen Papst bestiegen. Die Ära von Johannes Paul II. stoppte weitere 27 Jahre lang die Versuche, die Lehre der Kirche über die Heiligkeit des Lebens zu ändern.

Das Gewissen des Arztes

Das Thema ließ Wanda Półtawska nie los. Sie war 93 Jahre alt, lag im Krankenhaus mit schweren Verbrennungen im Gesicht, die sie sich durch eine Ungeschicktheit zu Hause zugezogen hatte, als die von ihr im März 2014 in sechs Punkten zusammengefasste „Glaubenserklärung katholischer Ärzte und Medizinstudenten zum Thema menschliche Sexualität und Fruchtbarkeit“ in Polen für helle Aufregung sorgte. Sie löste eine heftige öffentliche Debatte über die Rolle, die Bedeutung und die Grenzen der Anwendung der Gewissensklausel durch Ärzte aus.

„Der Zeitpunkt der Zeugung eines Menschen und der Zeitpunkt des Verlassens dieser Welt hängen ausschließlich von der Entscheidung Gottes ab“, hieß es dort. Und: „Ohne jemandem ihre Anschauungen und Überzeugungen aufzuzwingen, haben katholische Ärzte das Recht, Respekt für ihre Ansichten und die Freiheit zu erwarten und zu fordern, ihre beruflichen Tätigkeiten in Übereinstimmung mit ihrem Gewissen auszuüben.“

Knapp viertausend Ärzte, Krankenschwestern und Medizinstudenten unterschrieben die Erklärung, darunter 59 Professoren der Medizin. Wie zu erwarten, erntete die greise Autorin heftigen Widerspruch, aber auch Hohn und Spott aus dem politischen Lager der Postkommunisten, die die Behörden aufforderten, die Gewissensklausel abzuschaffen und Ärzte, die sich zu ihr bekennen, aus der staatlichen Gesundheitsfürsorge zu entfernen. Ähnlich äußerten sich die in Polen dominierenden linksliberalen Medien.

Ein Gebet mit schneller Wirkung

Auch das Leben der Lebensretterin drohte abrupt zu enden, als sie gerade 41 Jahre alt war. Im Herbst 1962 stellte man bei ihr Darmkrebs im fortgeschrittenen Stadium fest. Die Ärzte gaben ihr keine großen Chancen. Ihr Duzfreund Karol Wojtyła weilte gerade in Rom zur ersten Sitzungsperiode des Zweiten Vatikanischen Konzils. Sie schrieb ihm, getragen von der Angst, sie könnte bereits tot sein, wenn er in einigen Wochen zurückkehrte.

Der heilige Pater Pio. Briefmarke von 2018

Seine Reaktion? Am 17. November 1962 verfasste Wojtyła an Pater Pio, den Mystiker, Kapuzinerpriester und italienischen Volksheiligen mit Stigmata und dem scharfen Blick, einen kurzen Brief in lateinischer Sprache, mit der Bitte um ein Gebet. Der Überbringer nach San Giovanni Rotondo war ein Vatikanmitarbeiter namens Angelo Battisti, der einen guten Draht zu Pater Pio hatte. Laut Battisti sagte Pio: „Angelino, dazu kann man nicht nein sagen.“ Und: „Versichern Sie ihm, dass ich viel für diese Frau beten werde.“

Es war ein Gebet mit schneller Wirkung. Als bei Wanda Półtawska am 21. November, vor der geplanten Operation, noch einmal eine Untersuchung gemacht wurde, zeigte sich: Der Tumor war nicht mehr da, die Operation also überflüssig. Diese Nachricht gelangte schnell von Krakau nach Rom. Doch die wundersam Geheilte hatte keine Ahnung von Wojtyłas Brief, sie wusste nicht einmal, dass es einen Pater Pio gab. Die Wahrheit erfuhr sie im Dezember 1962 von Wojtyła, als er aus Rom zurückkam. Bei dem Mystiker persönlich bedanken konnte sie sich erst 1967, ein Jahr vor dessen Tod.

Wanda Półtawska 2002 vor dem Bild des hl. Pater Pio in ihrer Wohnung in Kraków

Verlässlichkeit, Respekt, geistiger Austausch. Die Freundschaft mit dem Papst

Bei dem was über die enge Beziehung der beiden geschrieben wurde, gab es auch einige weitgehende Unterstellungen sittlicher Natur, die man getrost auslassen kann. Johannes Paul II., dem alle nahen Verwandten schon in seiner Jugend weggestorben waren, schätzte die wenigen festen und verlässlichen Freundschaften aus seiner Krakauer Zeit sehr. Für ihn war es im Vatikan eine Art Familienersatz. Zu diesem engen Kreis gehörte übrigens auch Wandas Ehemann, Andrzej. Wojtyła war froh, wenn die Krakauer Freunde ihn besuchen kamen, fand immer Zeit für längere Gespräche. Auch lud er sie im Sommer nach Castel Gandolfo ein, damit sie ihn während des Urlaubs begleiteten. Arturo Mari, der persönliche Fotograf des Papstes, erinnerte sich später: „Wenn Wanda mit ihrem Ehemann und den Enkelkindern nach Castel Gandolfo kam, brachten sie viel Freude in das Leben des Papstes.“

Johannes Paul II., Wanda Półtawska und ihr Ehemann Andrzej in Castel Gandolfo

„Thesen jedoch über einen großen Einfluss Półtawskas auf den Papst sind stark übertrieben. Sie haben zusammengearbeitet, sich ausgetauscht, aber Johannes Paul II. hat seine Dokumente, in denen er die  Lehre der Kirche bestätigte, unabhängig verfasst“, sagt Tomasz Terlikowski, einer der führenden katholischen Publizisten und Kirchenkenner  Polens.

Der Respekt, mit dem die allermeisten Polen ihrem Landsmann Johannes Paul II. begegnen, ist dem polnischen postkommunistisch-linksliberalen Lager seit Langem ein Dorn im Auge. Sie unternehmen viel, um den verstorbenen Papst herabzusetzen. Dazu gehört der Versuch, Johannes Paul II. als einen unselbstständigen Akteur darzustellen, der deswegen „irrte“, weil er den Einflüsterungen des „bösen Geistes“ Wanda Półtawska erlag.

Sie sei schuld daran, dass Paul VI. sich vehement gegen die Empfängnisverhütung ausgesprochen habe, denn schließlich habe sie mit Wojtyła zu einer Zeit zusammengearbeitet, als es in der Kirche eine Diskussion über dieses Thema gab. Sie soll Johannes Paul II. zum Schreiben der Enzyklika „Evangelium vitae“ mit dem Untertitel „Über den Wert und die Unantastbarkeit des menschlichen Lebens“  überredet haben. Półtawskas schlechter Einfluss auf Johannes Paul II. sei für die angeblich „pathologische Haltung der Kirche gegenüber dem Sex“ verantwortlich. Sie hat bewirkt, dass Johannes Paul II. Radio Maryja wohlwollend gegenüberstand usw., usf.

Wer mag, der soll es glauben, aber wer sich nur ein wenig mit Johannes Pauls II. Lebensweg, Lebens- und Denkart befasste, dem ist klar, dass er sich gerne mit klugen Menschen austauschte, und Półtawska war eine katholische Intellektuelle, die auf gleicher Wellenlänge wie er „sendete“. Aber seine theologischen Schlussfolgerungen zog und formulierte er selbst. Seine innere Autonomie war nicht zu brechen.

Wanda Półtawska hatte einen ständigen, ungehinderten Zugang zu ihm, wenn sie in Rom weilte, was oft zum Verdruss seiner engsten Mitarbeiter führte. Im Jahr 2001 nutzte der Rektor des Erzbischöflichen Priesterseminars in Poznań diesen Zugang, um sie darum zu bitten, seinen umfangreichen Brief direkt dem Papst zu übergeben. Alle Versuche, mit der Nachricht in den Vatikan durchzudringen, der Posener Erzbischof Juliusz Paetz sei durch seine ungezügelten homosexuellen Eskapaden nicht mehr tragbar, wurden bis dahin abgewehrt. Półtawska sagte zu. Der Papst zeigte sich tief erschüttert über Paetz‘ Verhalten und darüber, dass man den Skandal vor ihm verheimlicht hatte. Paetz musste sein Amt räumen.

Im Juni 2009 nahm Wanda Półtawska zum ersten und letzten Mal dazu öffentlich Stellung: „Ja, ich war der Briefträger, aber auch nichts anderes. Ich habe weder mit Paetz noch mit anderen gesprochen. Es gab nur den Brief, den mir der Rektor des Priesterseminars in Poznań anvertraute und den ich direkt übergab. Ich habe nichts referiert. Der Brief selbst war entscheidend. Der Heilige Vater reagierte umgehend.“

Wanda Półtawska gehörte zu den Auserwählten, die im Februar und März 2005 am Sterbebett Johannes Pauls II. harren durften. Sie hörte auch den letzten Satz des großen Mannes und Papstes: „Der Welt fehlt es an Weisheit.“

Spurt auf der Zielgeraden

Was nun? Plötzlich klaffte in ihrem Leben eine riesige Leere, aber Półtawska wusste, was sie zu tun hatte. Sie erinnerte sich an die Worte Papst Wojtyłas von vor Jahren: „Du wirst sehen, sie werden alle nach dir die Hände ausstrecken“. Und sie strecken sie aus. Warschau, Lublin, Rzeszów, Poznań, Gdańsk. Hier ein Treffen mit Ärzten, dort mit Priestern,  Nonnen bitten sie zu kommen, ein Schulleiter ruft an und sie sagt ein Treffen mit Jugendlichen zu. Die Gespräche und Buchsignierungen dauern bis spät in die Nacht. Hier ein Familiensymposium, dort die Teilnahme an einer Konferenz über die Theologie Johannes Paul II. Dann wieder eine Vorlesung an einer Universität des Dritten Lebensalters, gefolgt von einem Vortrag für junge Mütter. Derweil ruft ein Bürgermeister an, mit der Bitte um Annahme der Ehrenbürgerschaft, und die Katholische Universität Lublin will ihr die Ehrendoktorwürde verleihen. Ihr Terminkalender war prall gefüllt, und man hörte ihr überall gespannt zu. Vier Stunden unterwegs, zwei Stunden Vortrag und zurück. Sie musste überdies immer wieder bei den einstigen Mitgefangenen von Ravensbrück vorbeischauen, auch wenn es von Mal zu Mal weniger wurden. Selbst in ihrem letzten Lebensabschnitt schienen Ihre Kräfte unbegrenzt zu sein.

Im Jahr 2016 dekorierte sie Staatspräsident Andrzej Duda mit der höchsten polnischen Auszeichnung, dem Orden des Weißen Adlers.

Staatspräsident Andrzej Duda bei der Auszeichnung Wanda Półtawskas mit dem Orden des Weißen Adlers

Półtawska und Simone Veil

Im 20. Jahrhundert zogen zwei Zeugen und Opfer der Barbarei in den Konzentrationslagern gegenteilige Schlussfolgerungen aus ihren schrecklichen Kriegserlebnissen. Simone Veil, ehemalige Insassin von Auschwitz-Birkenau, die die Ermordung ihrer Mutter und ihrer Schwester miterlebte, setzte als französische Gesundheitsministerin 1975 die Legalisierung der Tötung ungeborener Kinder auf Wunsch durch.

Wanda Półtawskas Erfahrungen im Lager Ravensbrück veranlassten sie, hartnäckig und zäh für die Anerkennung der Unantastbarkeit des menschlichen Lebens und gegen die „Zivilisation des Todes”, ein Begriff, den Johannes Paul II. formulierte, zu kämpfen. Es war ein sehr lange dauernder Kampf. Sie starb acht Tage vor ihrem 102. Geburtstag.

Lesenswert auch: „Die Frauen des Polnischen Papstes“ und „Erzbischof Juliusz Paetz. Der Hirte der Triebe“

© RdP




Wenn Polen sich das Leben nehmen

Wie gehen Gesellschaft und Kirche heute mit Suiziden um.

Ich will keinen Alarm auslösen, aber die Situation ist nicht gut. Die Zahl der Selbstmorde unter Teenagern hat sich verdoppelt, sagt Professor Adam Czabański, Soziologe und Suizidologe, stellvertretender Präsident der Polnischen Suizidgesellschaft.

Sind Selbstmorde ein echtes soziales Problem? Immerhin gibt es auf der Welt mehr Opfer von Autounfällen als von Suiziden.

Prof. Adam Czabański

In Polen ist die Zahl der Selbstmorde definitiv höher als die der anderen gewaltsamen Todesfälle. Jedes Jahr nehmen sich bei uns etwa 5.200  Menschen das Leben, während es 2.300 bis 2.400 Opfer von Verkehrsunfällen und etwas mehr als 600 Opfer von Tötungsdelikten gibt.

Das Problem lässt sich jedoch nicht anhand trockener Zahlen beurteilen. Hinter jedem Todesfall steht das Drama eines Menschen, der sich das Leben genommen hat, aber auch das seiner Angehörigen und Freunde. Studien haben gezeigt, dass statistisch gesehen etwa zwanzig Personen unter dem Selbstmord eines Angehörigen oder Freundes leiden, d. h. ein Selbstmord verursacht im Durchschnitt bei zwanzig Menschen das Problem, ihr Leben wieder in den Griff zu bekommen.

Auch nach einem Tötungsdelikt ist die Zahl der Leidtragenden nicht gering.

Aber bei einem Selbstmord gibt es auch andere, akutere Trauermechanismen. Sie werden von Fragen geplagt: Warum hat er es getan? War es nicht meine Schuld? Haben meine Worte, Gesten, Vorwürfe dazu beigetragen? Viele Menschen haben deswegen starke Schuldgefühle.

Polen liegt bei der Selbstmordrate im europäischen Vergleich im Mittelfeld. Hat sich die Lage gebessert?

Es ist besser geworden als noch vor zehn Jahren. Seit etwa 2012 ist die Zahl der Selbstmorde zurückgegangen, damals hatten wir sogar mehr als 6.300 Suizide . Genau gesagt: 2020 gab es in Polen 5.156 Selbstmorde, 2022 – 5.201 und 2022 – 5.801.

Pro 100.000 Einwohner liegt Polen mit 11,1 Suiziden weltweit auf Platz 16. Vor uns befinden sich u. a. die traurigen Rekordhalter Südkorea mit 24,6, Litauen mit 21,6 und Slowenien mit 16,5, hinter uns, auf Platz 24., Deutschland mit 9,7 Fällen.

Die Selbstmordrate hängt in Polen stark mit der wirtschaftlichen Lage zusammen, vor allem mit der Arbeitslosenquote. Im Jahr 2012 betrug sie 13,4 Prozent. Jetzt, im April 2023, liegt sie bei 5,4 Prozent, und das trotz der enormen Zuwanderung ukrainischer Flüchtlinge, von denen Polen dauerhaft knapp zwei Millionen aufgenommen hat.

Die Arbeitslosigkeit wirkt sich dramatisch vor allem auf Männer mittleren Alters aus. Das ist ein weltweites Phänomen. Überall begehen Männer häufiger Selbstmord als Frauen, der Unterschied ist aber nicht so gravierend wie in Polen. In Westeuropa  sind es dreimal so viele, in muslimischen Ländern – eineinhalbmal Mal so viele Männer wie Frauen. In Polen hingegen – mehr als sechsmal so viele!

Kennen wir die Ursachen?

Zweifellos hat die Arbeitslosigkeit oder die drohende Arbeitslosigkeit einen großen Einfluss darauf. Männer mittleren Alters sehen ihre soziale Rolle noch immer traditionell. Der Mann soll der Haupternährer, der Familienvater sein, der eine materielle und schützende Funktion ausübt. Wenn er das nicht kann, fühlt er sich gedemütigt und nutzlos. Bei jungen Männern ist bereits ein deutlicher Wandel in der Einstellung zu dieser Familienrolle zu beobachten. Sie beteiligen sich stärker an der Kindererziehung, an der Pflege der Kinder. Eine echte Bindung zu ihren Kindern ist für moderne Männer in Polen ein Lebensretter. Ein weiteres Phänomen ist der Selbstmord älterer Menschen. Ein Fünftel der Selbstmorde in unserem Land begehen Senioren.

Ist das ein globaler Trend oder eine polnische Eigenart?

Universell. Er ist in den alternden westlichen Gesellschaften deutlich zu erkennen. Im Vereinigten Königreich gab es bereits vor der Pandemie umfangreiche Untersuchungen zum Phänomen der Einsamkeit als etwas, das es objektiv gibt, und der Einsamkeit als dem Gefühl, allein zu sein. Es stellte sich heraus, dass mehrere Millionen ältere Menschen ihren Haushalt allein führen und oft sehr einsam sind. Etwa 200.000 von ihnen haben im letzten Monat mit keiner anderen Person gesprochen. Das zeigt das Ausmaß des Problems, das auch in Polen vorhanden ist.

Welche Auswirkungen hatte die COVID-19-Pandemie auf die Selbstmorde?

Die Situation erinnerte damals ein wenig an Kriegszustände. Die rasche Abfolge von ungewöhnlichen Ereignissen konnte von anderen, insbesondere persönlichen Problemen ablenken. Jeder erlebte Zwänge, war verängstigt, wir bildeten sogar eine Gemeinschaft in dieser Angst. Während des Krieges stabilisiert sich die Selbstmordrate und nimmt sogar ab, was damit zusammenhängt, dass viel passiert, der Gemeinschaftssinn funktioniert, der Überlebenswille stark ist, das Leben einen höheren Wert hat. Wenn der Krieg zu Ende ist, steigt die Zahl der Selbstmorde.

In Polen hat sich die Zahl der Selbstmorde stabilisiert, aber das betrifft nicht die jüngste Generation, die am stärksten von der Pandemie betroffen zu sein scheint.

Wie soll man das verstehen?

Ich will keinen Alarm auslösen, aber die Situation ist nicht gut. Die Zahl der Selbstmorde unter Teenagern hat sich verdoppelt. Das sind für ein Land mit gut 38 Millionen Einwohnern immer noch keine großen Zahlen, jährlich etwa einhundert junge Menschen unter 18 Jahren, aber der hundertprozentige Anstieg bereitet ernsthaft Sorgen.

Das absolute Drama sind die Selbstmorde von Kindern bis zu 12 Jahren. Früher gab es 1 bis 2 solcher Selbstmorde pro Jahr, heute sind es 3 bis 4. Die Dunkelziffer der Selbstmordversuche ist viel höher. Fachleute schätzen, dass auf jeden Selbstmord eines Teenagers etwa einhundert Selbstmordversuche kommen.

In einem Teil der Fälle sind die Gründe für den Selbstmordversuch unbekannt. Nur einzelne Selbstmörder hinterlassen Abschiedsbriefe. Inwieweit ist es möglich, die Gründe zu erfahren?

Es ist unmöglich, sie in Prozentzahlen anzugeben. In den Polizeiberichten wird als Hauptgrund angegeben, was die Leute aus der unmittelbaren Umgebung des Selbstmörders denken: Missverständnisse in der Familie, die Untreue der Ehefrau, Probleme in der Schule, der Verlust des Arbeitsplatzes.

Jedes Mal ist die Kombination der Umstände, die dazu beigetragen haben könnten anders. Wenn man die Geschichte eines bestimmten Falles untersucht, stellt sich heraus, dass jemand nicht nur seinen Arbeitsplatz verloren hat, sondern dass er dort etwas Hässliches zu hören bekommen hat, dass jemand ihn betrogen hat usw., usf. Oft sind die Gründe völlig unbekannt. Für diejenigen, die dem Selbstmörder nahestehen, ist es ein großer Schmerz, eine völlige Überraschung. Er ging in den Wald und erhängte sich. Warum hast du das getan? Das ist die Grundfrage bei den Angehörigen.

Und die Abschiedsbriefe?

Abschiedsbriefe sind mit Vorsicht zu genießen. Nicht selten sind sie aggressiv im Ton und weisen die Schuld ganz konkret zu. Diejenigen, die sie finden, Polizisten, Feuerwehrleute, Rettungssanitäter, die als erste am Ort des Geschehens eintreffen, stehen vor dem Dilemma, ob sie sie der Familie geben sollen. Wenn auf jemanden konkret hingewiesen wird: „Du bist schuld“, wird der Betroffene sein Leben lang Schuldgefühle haben, und das kann wiederum auf dramatische Weise enden. Dabei muss es gar nicht an ihm gelegen haben.

Welche Anzeichen sprechen für einen bevorstehenden Selbstmord?

Die meisten von uns haben nicht einmal ein elementares Wissen über dieses Thema. Dabei gibt es, wie gesagt, nur selten einen Grund für einen Selbstmordversuch. Meistens handelt es sich um eine Reihe von Ereignissen, die in der Umgebung oder in der Psyche des Menschen selbst stattfinden. Ihr Auftreten führt dazu, dass eine Person nicht mehr leben will.

Die Mutter einer meiner Patientinnen, das Mädchen hatte versucht, sich das Leben zu nehmen, fand nichts dabei, dass ihre Tochter selbst an heißen Tagen in einem langärmeligen Sweatshirt herumlief. Die Frau war davon überzeugt, dass es sich um eine Modeerscheinung handelte, sodass sie fast in Ohnmacht fiel, als sie im Krankenhaus das Ausmaß der Selbstverletzungen an den Armen ihres Kindes sah.

Ein ähnlicher Mechanismus wirkt bei Ehefrauen, die es als normal ansehen, dass der Ehemann unter der Woche viel arbeitet und am Wochenende „faulenzt“ und viel Alkohol trinkt. Der Mann in unserer Kultur zeigt keine Schwächen. Er ist dazu da, die Familie zu beschützen, das nötige Geld für eine Wohnung, ein Auto, einen Urlaub unter Palmen zu verdienen. Dass er innerlich höllisch unter Druck steht, ausgebrannt ist, das wird er niemandem sagen. Daraus ergeben sich die Sucht, die Depression und schließlich der Schritt in den Selbstmord.

Und wenn man Symptome bemerkt, die für einen bevorstehenden Suizid sprechen?

Das oberste Gebot in einer Krisensituation lautet: Lass einen Menschen in Not nicht allein, egal ob es sich um einen Bekannten, einen Arbeitskollegen, einen Ehepartner oder ein Kind handelt.

Aber wie bringen wir die Person dazu, sich zu öffnen, sich uns  anzuvertrauen, mit uns reden zu wollen?

Optimal wäre es, sofort einen im Umgang mit Suizidgefährdeten erfahrenen Psychologen oder Psychiater einzuschalten. Das ist nicht immer möglich. Irgendwie muss man dem potenziellen Opfer den Weg zu ihnen bahnen.

Verhält sich zum Bespiel ein Kind seltsam, hat es sich verändert oder sagt, es wolle nicht mehr leben. Hat es ungewöhnliche Spuren an seinen Handgelenken und ist es wenig glaubhaft, dass sie die Katze verursacht hat. Vielleicht geht mit dem Kind etwas Besorgniserregendes vor sich? Das Wichtigste ist, solche Beobachtungen nicht zu ignorieren und nicht zu denken, dass wir schon reden werden, wenn wir die Gelegenheit dazu haben. Es ist bekannt, dass es schwierig ist, über Selbstmordversuche und Selbstverletzungen zu sprechen.

Wenn man von einem nahestehenden Menschen erfährt, dass er sich das Leben nehmen will, weiß man im ersten Moment nicht, was man sagen und tun soll.

Solche Informationen dürfen auf keinen Fall ignoriert werden. Man darf  keine Nervosität zeigen und sollte einen Ort suchen, an dem man in Ruhe reden kann. Nehmen Sie sich Zeit, denn ein solches Gespräch wird nicht kurz sein. Lassen Sie den anderen reden. Manche Menschen erzählen sofort, was mit ihnen los ist, andere brauchen viel Zeit, um über Schwierigkeiten, Kämpfe, Traurigkeit und Leid zu sprechen. Wenden Sie die Methode „vom Allgemeinen zum Speziellen“ an. Fragen Sie zunächst, wie sich die Person fühlt, wie lange sie schon Selbstmordgedanken hat und was passiert ist, dass sie diesen Gedanken hegt. Fragen Sie, ob die Person schon einmal versucht hat, sich das Leben zu nehmen, und wenn ja, was sie dann getan hat.

Die nächste Frage ist sehr wichtig: Wie kann ich helfen? Unterschätzen Sie diese Fragen nicht, denn man kann so einen Hinweis darauf bekommen, in welche Richtung man gehen soll. Weniger reden, mehr zuhören. Nicht unterbrechen, nicht urteilen, nicht kritisieren, keine Selbstmordabsichten leugnen. Keine Predigten halten und die Person vor allem nicht unbeaufsichtigt lassen. Sagen Sie auch nicht: „alles wird gut“ oder „übertreibe nicht“, „hör auf, dich zu beklagen“ oder „Kopf hoch”. Solches Gerede blockiert nur und verstärkt das Gefühl der Einsamkeit, des Unverständnisses und der Isolation. Versichern Sie, dass die Krise gelöst werden kann, aber versprechen Sie nicht, ein Geheimnis zu bewahren.

Die Kirche hat in letzter Zeit ihre Einstellung zum Selbstmord geändert. Die Zeiten, in denen Selbstmördern ein katholisches Begräbnis verweigert wurde, liegen aber gar nicht sehr weit zurück.

Dieser Wandel ist seit dem Zweiten Vatikanischen Konzil zu beobachten. Gleichzeitig kann von einer veränderten Bewertung des Phänomens durch die katholische Kirche keine Rede sein. Kein Wunder: Es ist verheerend für die sozialen Bindungen, für die Gesellschaft, objektiv ist es das Böse.

Was wir jedoch erlebt haben, ist eine Revolution in der Art und Weise, wie die Kirche mit Menschen umgeht, die sich das Leben genommen haben. Die Fortschritte der Wissenschaft, insbesondere in der Psychologie und in der Psychiatrie, wurden berücksichtigt, die eindeutig zeigen, dass viele Menschen, die sich selbst Schaden zufügen, oft nicht vollständig erkennen, was mit ihnen geschieht.

Sie stehen also unter Einfluss von Alkohol, psychoaktiven Substanzen, Drogen?

Generell gilt: Sie haben die Situation, in der sie sich befinden, nicht unter Kontrolle. Ein erheblicher Teil von ihnen leidet an psychischen Störungen:  Depressionen, Schizophrenie, bipolaren affektiven Störungen, Demenzerkrankungen. Das muss man unbedingt berücksichtigen.

Es gibt viele unbeantwortete Fragen, was konkret im Kopf eines  Selbstmörders vorgegangen ist. Ein Mann, der allein lebte, mit dem es fast keinen Kontakt gab, hat sich das Leben genommen. Hat er das durchdacht oder war es eine Kurzschlusshandlung? Fühlte er sich an die Wand gedrängt, glaubte er keine andere Wahl gehabt zu haben? Dabei gibt es immer eine Wahl, eine Lösung. Selbstmord ist die schlechteste aller Möglichkeiten. Diese Menschen sehen das nicht, sie sind gelähmt aufgrund ihrer Situation, durch ihr Versagen, durch ihre Misserfolge, die sich oft im Laufe der Zeit angesammelt haben.

Die Kirche hat sich dem Thema auf eine neue Weise genähert, mit einer Reflexion über das Bewusstsein des Selbstmörders. Ein Pfarrer kann jedoch immer noch eine Bestattung auf geweihtem Boden verweigern, wenn er weiß, dass der Selbstmörder ein militanter Atheist, ein Satanist war oder einer okkulten Gruppe angehörte.

Und kommt so etwas vor?

Ja, das kommt vor. Aber wenn der Priester feststellt, dass die Person ein Gemeindemitglied war, dass sie immer wieder die Messe besuchte, die Sakramente empfing, dann gibt es keine Einwände gegen eine solche Beerdigung. Und das ist in der Regel auch der Fall.

Amerikanische Studien zeigen, dass Menschen die sich zum Glauben bekennen, viel seltener Selbstmord begehen als Atheisten oder Suchende. Wir können davon ausgehen, dass es sich bei den meisten Selbstmördern in Polen um getaufte Menschen handelt, die sich generell als Gläubige bezeichnen. Ich vermute jedoch, dass sie sich in den meisten Fällen vom Glauben und dem, wie man ihn praktiziert, abgewendet haben. Es gibt jedoch keine Untersuchungen zu diesem Thema.

Es gibt Selbstmorde unter Priestern. Das ist ein absolutes Drama.

Es sind Menschen aus Fleisch und Blut, die wie andere auch Schwächen haben und fallen, die vielleicht Probleme mit dem Alkohol haben, Probleme, die aus der Einsamkeit resultieren, aus der kritischen Haltung der Gläubigen, aus der fehlenden Akzeptanz für ihr Handeln. Es erfordert eine Menge Widerstandskraft, um damit fertig zu werden. Aus Gesprächen mit Priestern geht hervor, dass die alljährlichen seelsorgerischen Hausbesuche nach Neujahr nicht mehr wie früher zu angenehmen Gesprächen führen. Oft werden Anschuldigungen gegen Priester und die Kirche erhoben. Die Geistlichen sind keine Menschen vom Mars. Sie kommen aus der Gesellschaft, und daher sind deren Zustand, Probleme und Gefühle auch die ihren.

In dem von Pater Andrzej Pryba mitverfassten Buch „Selbstmord aus katholischer Sicht” schreiben Sie viel über die Rolle, die Seelsorger bei der Verhinderung von Selbstmorden spielen können und sogar sollten.

Unserer Meinung nach können Priester, Ordensleute und Nonnen in dieser Hinsicht sehr viel Gutes tun. Es geht nicht darum, dass sie zu selbst ernannten Psychologen oder Psychiatern werden. Wir haben diese Fachleute.

Die Situation ist für den Klerus sehr schwierig, denn ein Mensch, der sich das Leben nehmen will, spricht meist im Beichtstuhl darüber. Und dort gilt das Beichtgeheimnis. Es gibt keine Ausnahmen von dieser Regel. Der Beichtende weiß das. Das Beichtgeheimnis ist eine Garantie dafür, dass niemand von seinem Vorhaben erfährt.

Aber nichts hindert den Priester daran zu sagen: Ich werde dir deine Beichte abnehmen, aber bitte bleib danach und wir werden reden. Dann gibt es die Möglichkeit zur Weitergabe einer hilfreichen Telefonnummer oder zum Hinweis, dass man einen Psychologen aufsuchen sollte.

Ein Mensch, der in den Beichtstuhl kommt, weiß, dass Selbstmord eine schwere Sünde ist, und er kommt dennoch, um sich mit Gott zu versöhnen, obwohl er kurz darauf versuchen will, sich gegen das göttliche Recht auszusprechen. Das ist die innere Spaltung dieser Menschen.

Wie sind Ihre Prognosen? Müssen wir einen Anstieg der Zahl von Suiziden, vor allem bei Jugendlichen, befürchten?

Das kann niemand vorhersagen. Was wir tun können, ist vorbeugen. Dazu gehört vor allem die Sensibilisierung der Gesellschaft, das Aufmerksammachen auf das Problem und seine Symptome.

RdP

Das Gespräch erschien im katholischen Wochenmagazin „Niedziela” („Der Sonntag”) vom 19.02.2023.




Pater Blachnicki. In Deutschland vergiftet

Erst jetzt kommt die Wahrheit ans Licht.

Am 14. März 2023 traten Justizminister Zbigniew Ziobro, der Chef des Instituts für Nationales Gedenken (IPN) Karol Nawrocki und Staatsanwalt Andrzej Pozorski vor die Medien. Ihre Botschaft: Die 2020 wiederaufgenommene Untersuchung hat eindeutige Beweise dafür erbracht, dass Pater Franciszek Blachnicki (phonetisch Blachnitski) am 27. Februar 1987 das Opfer eines Giftmordes geworden ist.

Dieser Schlussfolgerung liegen nach modernsten Methoden erstellte Gutachten auf dem Gebiet der Anthropologie, der Genetik, der Toxikologie, der Gerichtsmedizin und der medizinischen Analyse zugrunde. Neuentdeckte Unterlagen wurden ausgewertet und neue  Zeugen befragt. Man sei in Polen, Deutschland, Ӧsterreich und Ungarn tätig gewesen. Der Leichnam des Opfers wurde exhumiert. An den wissenschaftlichen Untersuchungen beteiligt waren das Professor-Jan-Sehn-Institut für Forensische Studien in Kraków, die Pommersche Medizinische Universität in Szczecin und die Schlesische Medizinische Universität in Katowice.

Die Motive der Tat liegen auf der Hand, den Tätern sei man auf der Spur, so die Feststellung der Verantwortlichen. Mehr könne man im Augenblick nicht offenlegen.

Auf diese Weise lebt ein hochbrisanter politischer Kriminalfall erneut auf, der die polnische Ӧffentlichkeit seit geraumer Zeit immer wieder beschäftigt. Die wichtigsten Fakten konnten inzwischen rekonstruiert werden.

Der Weg nach Carlsberg

Pater Blachnicki verbrachte die letzten Jahre seines Lebens in erzwungener Emigration. Als General Wojciech Jaruzelski am 13. Dezember 1981 das Kriegsrecht in Polen ausrief und damit eine Welle von Repressalien gegen die Solidarność-Bewegung in Gang setzte, befand  sich Pfarrer Blachnicki in Rom. Es sollte ein kurzer Aufenthalt sein, aber angesichts der neuen Lage überredete ihn der oberste Seelsorger der in der ganzen Welt verstreuten polnischen Diaspora, Bischof Szczepan Wesoły, dazu, nicht nach Polen zurückzukehren. Man konnte sicher davon ausgehen, dass den populären und politisch unbeugsamen Geistlichen die Verhaftung erwartete.

Das Internationale Evangelisierungsszentrum der Bewegung Licht-Leben in Carlsberg heute

Der Bischof bot ihm an, nach Westdeutschland zu gehen, um in dem pfälzischen Städtchen Carlsberg ein Evangelisierungszentrum zu gründen. Dazu wies er Pater Blachnicki eine Immobilie zu, die sich infolge der Nachkriegswirren im Besitz exilpolnischer Kirchenstellen befand.

Pater Blachnicki gab dem Ort den Namen Marianum – Internationales Evangelisisationszentrum Licht-Leben. Es sollte ein Ausstrahlungsort neuer Ideen der Bekehrung nicht nur für Polen, sondern für ganz Osteuropa sein. Zu diesem Zweck gründete er den Christlichen Dienst für die Befreiung der Völker (ChSWN).

„Hirte der Konterrevolution”

Die Aktivitäten des ChSWN zielten darauf ab, Mittel- und Osteuropa von der sowjetischen Herrschaft zu befreien, indem man seine Bürger von der lähmenden inneren Angst befreite, die das kommunistische System ihnen einflößte. Viele Emigranten aus Polen und den Ländern Mittel- und Osteuropas schlossen sich dem ChSWN an.

Es wurden Konferenzen organisiert, um die Befreiungsbestrebungen der Völker, die ihres Rechts auf Selbstbestimmung und politische Unabhängigkeit beraubt worden waren, vorzustellen. Gekrönt wurde diese Arbeit von zwei wichtigen Dokumenten: der Carlsberger Erklärung und dem Manifest für die Befreiung der Völker Mittel- und Osteuropas. Es entstanden ständige Arbeitsgruppen: eine tschechisch-polnisch-slowakische etwa oder eine polnisch-ukrainische, die sich um die Annäherung der Nachbarvölker im Hinblick auf die Zeit nach dem Kommunismus bemühten. Bemerkenswert waren die Märsche für die Befreiung der Völker mit dem Ziel, das Interesse der westlichen Öffentlichkeit für die Lage der Völker Mittel- und Osteuropas zu wecken.

Marsch für die Befreiung der Völker, organisiert vom Christlichen Dienst für die Befreiung der Völker (ChSWN) 1988 in Hambach

Die Ideen des ChSWN wurden auch über die polnische Redaktion von Radio Free Europe verbreitet. In den damaligen Zeiten, ohne Satelliten-TV, Internet und Handy war das von den Amerikanern betriebene und in München ansässige RFE, obwohl dessen Empfang massiv gestört wurde, die wichtigste Informationsquelle für die Völker hinter dem Eisernen Vorhang. Pater Blachnicki, der häufig bei RFE zu Gast war, legte das Wesen des kommunistischen Systems offen und rief zu konkreten Maßnahmen des zivilen Ungehorsams auf.

Seine antikommunistische Effizienz und die Reichweite seines friedlichen Befreiungskreuzzugs versetzten die kommunistischen Machthaber in höchste Alarmstimmung. In enger Abstimmung umspannten die polnische und ostdeutsche Stasi sowie der sowjetische KGB Carlsberg und Pater Blachnicki mit einem Netz von Zuträgern, sie tüftelten Provokationen aus, versuchten seine Arbeit lahmzulegen.

Zeitungsausschnitte mit Anti-Blachnicki-Beiträgen

Gleichzeitig lief eine osteuropaweite Diffamierungskampagne gegen den Pfarrer und sein Werk an. Er wurde bezeichnet als „Hirte der Konterrevolution” (kommunistische Jugendzeitschrift „Molodets Estonii”, „Pfundskerl von Estland“, 24.02.1983), als „Saboteur in Soutane” (die sowjetische „Komsomolskaja Prawda“, 5.02.1983), als „kriegerischer Pfarrer“, „polnischer Ajatollah“, „Politiker in Soutane“, „Theologe der Konterrevolution“ (polnische kommunistische Armeezeitung „Żołnierz Wolności“, „Soldat der Freiheit“, 5.09.1984),  als „zeitgenössischer Kreuzritter“,  „Theologe des nationalen Verrats” (Zentralorgan der polnischen KP „Trybuna Ludu“, „Volkstribüne”, 1.10.1984), als „fanatischer Politiker” (polnische Wochenzeitung „Tu i Teraz”, „Hier und Jetzt“, 29.12.1982) usw., usf.

Broschüren und Bücher des ChSWN gelangten auf illegalen Wegen nach Osteuropa. Sie entstanden im Verlag und in der Druckerei Maximilianum, die ein wichtiger Teil des Vorhabens und im Laufe der Jahre eine Quelle großer Schwierigkeiten und finanzieller Probleme waren. Anhand kürzlich aufgefundener Dokumente wissen wir, dass Pater Blachnicki kurz vor seinem Tod einen Vertrag über zwei Millionen Dollar mit der amerikanischen protestantischen Organisation Campus Crusade for Christ abgeschlossen hatte. Er sollte die Zukunft der Druckerei sichern und die Evangelisierungsprojekte in Polen, Mitteleuropa und der Sowjetunion erheblich ausweiten helfen. Wurde der Priester vergiftet, damit dieses Projekt nicht verwirklicht werden konnte? Die Untersuchung wird sicherlich auch diese Frage zu beantworten versuchen.

Politischer Sprengstoff. Broschüren und Bücher des ChSWN gelangten auf illegalen Wegen nach Osteuropa

Ein charismatischer Priester

Wie sah der Lebensweg desjenigen aus, der eine ganze Generation junger Polen geprägt hat? Blachnicki wurde 1921 in Rybnik, im polnischen Teil Oberschlesiens geboren. Nach dem Abitur 1938 wurde er zum Militärdienst im Divisionskadettenkorps in Katowice eingezogen.

Fähnrich Blachnicki (r. i.B.) bei einer Geländeübung 1938

Er träumte davon, in der Diplomatie zu arbeiten, doch schon bald brach der Krieg aus. Der künftige Priester kämpfte im September 1939 gegen die deutschen Angreifer und wurde bereits im Herbst 1939 in die Untergrundarbeit einbezogen. Im Frühjahr 1940 verhaftete ihn die Gestapo.

Auschwitzhäftling Franciszek Blachnicki

Er wurde in das deutsche Konzentrationslager Auschwitz gebracht. Dort blieb er über ein Jahr lang, war wiederholt dem Tod nahe. Er durchlebte die Hölle der Strafkompanie und blieb auch einen Monat lang im Todesbunker eingesperrt (demselben, in dem die Deutschen später Pater Kolbe ermordeten). Im Herbst 1941 verlegte man ihn ins Gefängnis in Katowice, um ihn vor ein Sondergericht zu stellen. Im Frühjahr 1942 fiel das Urteil: Todesstrafe. Nach Interventionen seiner Familie wurde das Urteil in zehn Jahre Gefängnis umgewandelt.

Zeitungsausschnitt mit der Bekanntgabe von gefällten Todesurteilen, darunter gegen Franciszek Blachnicki, der als „der 21 Jahre alte Franz B.“ bezeichnet wird

Die Monate des Wartens auf den Tod, bevor die Strafe umgewandelt wurde, waren ein Wendepunkt in Blachnickis Leben. Am 17. Juni 1942 erlebte er eine geistige Wandlung. Er beschloss, seinen Glauben mit anderen zu teilen und sein Leben der göttlichen Vorsehung anzuvertrauen.

Den Rest des Krieges verbrachte Blachnicki in den Konzentrations- und Arbeitslagern des Dritten Reiches und trat sofort nach Kriegsende ins Priesterseminar ein. Die Priesterweihe empfing er 1950 auf dem Höhepunkt der Stalinisierung Polens und des Kampfes des Staates gegen die katholische Kirche.

Franciszek Blachnicki (3 v. l. i. B.) als Diakon (erste Stufe des Weihesakraments) 1949

Blachnicki erkannte, dass die Zukunft der Nation und der Kirche im kommunistischen Staat vom Nachwuchs abhängen würde, daher konzentrierte er sich seit Beginn seiner pastoralen Tätigkeit auf die Arbeit mit Kindern und Jugendlichen. 1957 gründete er aber auch noch den „Kreuzzug der Enthaltsamkeit”, den er ein Jahr später in „Kreuzzug der Nüchternheit” umbenannte, um den starken Alkoholismus der Nachkriegszeit zu bekämpfen. Im Frühjahr 1960 zählte die Bewegung bereits mehr als 100.000 Mitglieder und umfasste rund tausend Gemeinden. Die von ihr herausgegebene Zeitschrift „Niepokalana Zwycięża“ („Die Unbefleckte siegt”) hatte eine Auflage von 120.000 Exemplaren.

Verfolgung

Blachnickis Aktivitäten weckten von Anfang an das Misstrauen der Kommunisten und der polnischen Stasi. Im Jahr 1959 startete die kommunistische Geheimpolizei eine umfangreiche Überwachungsoperation gegen den „Kreuzzug der Nüchternheit”, Deckname „Zawada” („Hindernis’). Bald darauf folgten Dutzende von Hausdurchsuchungen bei Aktivisten, Schikanen und Einschüchterungen. Ende August 1960 umstellte die Polizei das Büro der Bewegung in einer Baracke auf einem Kirchengelände in Katowice. Alle Akten, Publikationen und Möbel wurden beschlagnahmt. Das war das Ende des Vorhabens.

Das Gefängnis in der Mikołowskastraße in Katowice. Hier saß Franciszek Blachnicki 1942 und 1961 ein

Die Kommunisten, die sich mit der großen Popularität des Priesters nicht abfinden konnten, verhafteten ihn schließlich. Im Frühjahr 1961 wurde der Geistliche wegen „Veröffentlichung illegaler Drucke und Verbreitung falscher Nachrichten über die Verfolgung der Kirche“ zu neun Monaten Gefängnis verurteilt. Er saß in demselben Gefängnis in Katowice ein, in dem ihn die Deutschen während des Krieges festgehalten hatten. Damals schrieb er auf: „Man darf den gegenwärtigen Zustand nicht als ein Unglück betrachten und nur in der Hoffnung leben, dass er bald vorübergeht. Im Gegenteil, man muss die Gegenwart als eine Gnade von unschätzbarem Wert betrachten, aus der man das Beste machen muss“.

Nach seiner Entlassung begann er sein Studium an der Katholischen Universität Lublin, wo er promovierte und arbeitete. Da die Behörden seine Habilitation blockierten, verließ er die Universität 1972.

Pfarrer Blachnicki bei der Jugendarbeit in den Sechzigerjahren des 20. Jh.

Blachnicki kehrte bereits in den 1960er-Jahren  zu den Ideen der Oase, eines sehr attraktiven Modells der Evangelisierung von Kindern und Jugendlichen, zurück, aus dem die Bewegung „Lebendige Kirche” und 1976 die Bewegung „Licht-Leben” hervorgingen. Die Oase-Bewegung, deren informelle Hauptstadt Krościenko wurde, ein Dorf und Kurort ca. 110 Kilometer südlich von Kraków, direkt an der slowakischen Grenze, zog Tausende von jungen Menschen an. Die Aktivitäten von Pater Blachnicki waren ein wirksamer Schlag gegen die von den Kommunisten konsequent betriebene Atheisierung und Säkularisierung.

Die enorme Bandbreite der Aktivitäten von Pater Blachnicki in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts war in diesem Teil Europas nahezu beispiellos. Unter den Bedingungen eines kommunistischen Staates schuf er eine Massenbewegung, die mit ihrem Programm Hunderttausende von jungen Menschen erfasste. Die Idee der Oase-Bewegung gründet auf einer ganzheitlichen Pädagogik, in der nicht nur Einzelne, sondern ganze Gemeinschaften heranwuchsen. Sie hat das heutige Gesicht der Kirche in Polen und auch das Polens selbst geprägt.

Obwohl die kommunistischen Behörden es verboten haben, entsteht 1979 unter der Leitung von Pfarrer Blachnicki (r. i. B.) in Krościenko ein provisorisches Amphitheater für eine katholische Jugend-Großveranstaltung

Die Erfahrung, gemeinsam zu beten, zu singen oder an der Eucharistie teilzunehmen, hat bei jungen Menschen einen unauslöschlichen Eindruck hinterlassen. Von nun an verbanden sie die Kirche nicht nur mit der Hierarchie, sondern auch mit einer Gemeinschaft von Menschen und mit einer persönlichen Begegnung mit Gott. Das war das Ziel der Oase, die Pater Blachnicki der Licht-Leben-Bewegung vorangestellt hat. Es ging darum, Generationen von Katholiken heranzuziehen, die die Kirche als ihren Ort betrachten um Verantwortung für sie übernehmen zu können.

Abgabe von Beitrittserklärungen zum Kreuzzug zur Befreiung des Menschen, den Pfarrer Blachnicki 1979 ausgerufen hat. Der Beitretende verpflichtete sich, in den folgenden zwölf Monaten keinen Alkohol zu kaufen, zu trinken oder anderen Alkohol anzubieten

Über ihre Aufgaben sagte er Folgendes: „Wenn die Oase-Bewegung bei einer rein religiösen oder erzieherischen Tätigkeit stehen geblieben wäre und gesagt hätte: Wir mischen uns nicht in andere Angelegenheiten ein, denn das ist Politik, dann hätte die Bewegung ihre eigenen Grundlagen geleugnet. Die Probe aufs Exempel für die Echtheit und Fruchtbarkeit einer Bewegung ist ja gerade die Tatsache, dass aus ihr verschiedene Formen des menschlichen Engagements erwachsen“.

All das führte zu weiteren Schikanen, Verhören und Durchsuchungen in der Wohnung von Pater Blachnicki. In einer Studie der polnischen Stasi ist zu lesen: „Die Führung der Bewegung hatte als Hauptziel, sich der fortschreitenden Säkularisierung der Gesellschaft und dem sozialistischen Modell der Erziehung von Kindern und Jugendlichen entgegenzustellen. 1977 wurde eine spezielle Arbeitsgruppe gebildet, um die Oase-Bewegung zu untersuchen.” Pater Blachnicki konnte stets auf die Unterstützung des Krakauer Metropoliten Kardinal Karol Wojtyła zählen, was insofern von Bedeutung war, als die Staatssicherheit versuchte, die Kirchenhierarchie gegen den Priester auszuspielen, indem sie Gerüchte kolportierte, Blachnicki sei im Grunde ein Stasi-Zuträger.

Pfarrer Blachnicki mit Karol Wojtyła, dem damaligen Erzbischof von Kraków

Im Jahr 1997 erinnerte sich Johannes Paul II. während einer Pilgerreise nach Polen: „Ich besuchte die Oasen an verschiedenen Orten in der Erzdiözese Krakau und verteidigte die Bewegung gegen die Bedrohungen, die von der Stasi ausgingen. Alle wussten es, sowohl die Priester als auch die Jugendlichen selbst, dass der Kardinal von Krakau mit ihnen war, dass er sie unterstützte, ihnen beistand und bereit war, sie im Falle einer Gefahr zu verteidigen“, sagte der Papst. Etwa zwei Millionen Polen sind durch die Oase-Bewegung gegangen. Sie waren es, die den Grundstein für Solidarność legten und die Zivilgesellschaft formten.

Sand ins Carlsberger Getriebe

1984 kamen die neuen Mitarbeiter des Pfarrers, das Ehepaar Andrzej und Jolanta Gontarczyk und ihr Sohn Gajusz, in Carlsberg an. Sie, promovierte Soziologin, war Assistenzprofessorin am Institut für Lehrerbildung in Łódź gewesen, er Leiter der örtlichen Zweigstelle des staatlichen Filmverleihunternehmens. Sie hatten sich an den Aktivitäten der Solidarność in Polen beteiligt und schienen eine der vielen polnischen Emigrantenfamilien der 1980er-Jahre zu sein, die Polens kommunistische Behörden ziehen ließen, in der Hoffnung, die politische Opposition dadurch ausbluten zu lassen. Jolanta Gontarczyk, geborene Lange, berief sich zudem auf ihre deutsche Abstammung. Ihr Vater hatte in der Wehrmacht gedient und nach dem Krieg änderte er seinen Namen in Piławski. Nun konnte die Familie nach ihrer Ankunft in der Bundesrepublik im September 1982, als „Spätaussiedler”, in Düsseldorf schnell Fuß fassen. Sie bekamen bald darauf die deutsche Staatsangehörigkeit, die sie bis heute, neben der polnischen, besitzen.

In Wirklichkeit waren beide Agenten der polnischen Staatssicherheit, die bereits Ende der 1970er-Jahre angeworben wurden und vor ihrer Ausreise auf die Solidarność in Łódź angesetzt waren. Jetzt erhielten sie die Decknamen „Yon” und „Panna” („Jungfrau”). Ab Frühjahr 1982 hatte man das Agentenduo intensiv nachrichtendienstlich geschult, bevor es im Herbst nach Westdeutschland aufbrechen konnte. Sie waren gut abgeschirmt. Ihre verschlüsselten Nachrichten schickten sie an eine konspirative Adresse im oberschlesischen Gliwice. Ihr Betreuer war kein in Westdeutschland tätiger Geheimdienstmitarbeiter, sondern ein in Österreich wirkender polnischer Stasi-Offizier, mit dem sie sich in Salzburg oder im jugoslawischen Split trafen.

Das Ehepaar Gontarczyk während seiner Zeit in Carlsberg

All das zeigt, welch enorme Bedeutung die kommunistischen Behörden Pater Blachnickis Tätigkeit beimaßen. Ein Jahr lang schlichen sich ihre Agenten behutsam und beharrlich ins Vertrauen des immer noch gutgläubigen und in geschäftlichen Dingen im Westen etwas unbedarften Pfarrers ein. Dann erst zogen sie von Düsseldorf nach Carlsberg um. Się gaben sich tüchtig und verbindlich und boten sich dadurch als nützliche Helfer bei der Umsetzung der ambitionierten Pläne des Geistlichen, dem die dabei auftauchenden Probleme über den Kopf zu wachsen drohten, an.

Zu ihren operativen geheimdienstlichen Aufgaben gehörte es, die Aktivitäten des Marianum-Zentrums und des ChSWN zu kontrollieren und zu beeinflussen, die Kontakte Pater Blachnickis zum polnischen Episkopat und zum Vatikan auszuspähen, Informationen über polnische Emigrantengruppen in Westdeutschland zu beschaffen und deren eventuelle Verbindungen zu den US-amerikanischen und westdeutschen Geheimdiensten zu ermitteln.

Unterdessen betraute Pater Blachnicki die Gontarczyks mit immer wichtigeren Aufgaben. Bereits im Juni 1985 wurde Jolanta Gontarczyk Präsidentin des Christlichen Dienstes zur Befreiung der Völker (ChSWN), und ihr Ehemann wurde Berater im Vorstand des ChSWN. Im April 1986 übertrug ihnen Pater Blachnicki weitere wichtige Funktionen: Jolanta Gontarczyk war von nun an in Carlsberg verantwortlich für die Verwaltung und den Empfang sowie den ChSWN, Andrzej Gontarczyk leitete die Druckerei, den Informationsdienst und das audiovisuelle Studio.

Das Agentenduo konnte nun mit der Sabotage beginnen. Jolanta Gontarczyk verschuldete das Zentrum, indem sie Dokumente unterschlug und manipulierte. Ihr Mann beschädigte unauffällig die Maschinen in dem modernen Druckzentrum, das durch kommerzielle Aufträge Geld für Pater Blachnickis Vorhaben verdienen sollte. Immer wieder wurden Druckfristen nicht eingehalten, die Druckqualität entsprach nicht dem vereinbarten Standard, Vertragsstrafen wurden fällig, Druckmaterial ging verloren, Reparaturen mussten vorgenommen werden. Es hieß, die Geräte seien eben störanfällig.

In den letzten dreizehn Lebensmonaten von Pater Blachnicki sollten eigentlich annähernd 1,3 Millionen D-Mark eingenommen werden. Im Carlsberg-Zentrum reichte das Geld derweil nicht einmal für Benzin und Lebensmittel aus. Gegen Ende seines Lebens war der Priester angesichts des sich anbahnenden Desasters extrem überfordert und deprimiert.

Pater Blachnicki bereitete den Sohn des Ehepaars, das sein Werk auf so perfide Weise zerstörte, auf die Erstkommunion vor. Diese Zeremonie fand in Carlsberg statt. Zeugen berichten auch, dass die Gontarczyks fast jeden Tag in frevelhafter Weise die Heilige Kommunion empfingen und auch zur Beichte gingen. Deswegen seien Risse in der Ehe entstanden, denn es gab Zeiten, in denen Andrzej Gontarczyk die Last dieser Heuchelei und Scheinheiligkeit nicht ertragen konnte.

Tod in Carlsberg

Jolanta Gontarczyk vel Lange, die sich durch außergewöhnliche Rücksichtslosigkeit auszeichnete, war eine Art Krankenpflegerin für Pater Blachnicki. Sie kannte und besorgte alle seine Medikamente und verabreichte sie ihm tagsüber in der vom Arzt verordneten Reihenfolge. Selbst wenn es nicht Jolanta Gontarczyk oder ihr Ehemann waren, die die letzte Dosis des Giftes verabreichten, muss sie seine medizinischen Daten an die Zentrale weitergegeben haben. So konnten Fachleute des Geheimdienstes das richtige Gift in der richtigen Dosis vorbereiten.

In der zweiten Februarhälfte 1987 erhielt Pfarrer Blachnicki über Solidarność-Kanäle aus Brüssel die Warnung, die Gontarczyks seien auf ihn angesetzte Agenten. Der Hinweis kam aus Łódź, wo das Duo seine Zuträger-Karriere begonnen hatte, und wo man sich im Solidarność-Untergrundmilieu im Nachhinein auf erlittene Rückschläge und die Verbindung zu den Gontarczyks einen Reim machen konnte.

Pfarrer Blachnickis Sarg in Carlsberg

Am Abend des 26. Februar 1987 traf sich Pater Blachnicki mit seinen engsten Mitarbeiterinnen: Zuzanna Podlewska und Grażyna Sobieraj. Er sagte ihnen, dass die Gontarczyks das Maximilianum in den Ruin getrieben hätten, und kündigte an, am nächsten Tag ein entscheidendes Gespräch mit ihnen zu führen.

Das Gespräch mit Andrzej Gontarczyk, der für die Druckerei zuständig war, verlief nach Zeugenaussagen stürmisch. Es soll zu Handgreiflichkeiten gekommen sein. Gegen Mittag kehrte der Priester in seine Wohnung zurück und fühlte sich krank. Die Qualen setzten nach dem Mittagessen ein. Der Priester bekam einen Erstickungsanfall, musste stark husten, fiel in Ohnmacht.

Dr. Reiner Fritsch, der seit 1982 sein behandelnder Arzt war, wurde hinzugezogen. Er versuchte, den Kranken zu retten, aber die durchgeführten Maßnahmen, darunter eine Injektion ins Herz, schlugen fehl, und Pater Blachnicki starb am Nachmittag. Während des Todeskampfes und nach dem Eintritt des Todes trat aus seinem Mund ein starkes, schaumiges Sekret aus, das mit Papiertüchern abgewischt wurde. Dies führte zu dem Verdacht, dass der Tod durch eine Vergiftung verursacht worden sein könnte. Da jedoch niemandem etwas vorgeworfen wurde, gab es keine Grundlage für eine Autopsie. Dr. Fritsch kam zu dem Schluss, dass die Todesursache eine Lungenembolie war, die in Verbindung mit einem fortgeschrittenen Diabetes zum Tod führte.

Den Agenten geht es gut

Das wirklich Unfassbare geschah aber erst nach Pater Blachnickis Tod. Das enttarnte Agentenehepaar ist nicht etwa Hals über Kopf geflüchtet, sondern lebte, als wäre nichts geschehen, noch ein ganzes Jahr lang in der Bundesrepublik. Einige Monate später war der Verdacht gegen die Gontarczyks bereits so stark, dass auf der Hauptversammlung des Vereins des Christlichen Dienstes zur Befreiung der Völker (ChSWN), dessen Vorsitzende Jolanta Gontarczyk vel Lange auf Empfehlung von Pater Blachnicki war, der Vorwurf der Agentenkollaboration gegen sie erhoben wurde. Dennoch geschah nichts, obwohl westdeutsche Geheimdienste, der Verfassungsschutz und der BND, im Bilde waren. Erst im April 1988, rechtzeitig vor der bevorstehenden Verhaftung gewarnt, wurde das Duo mit Kind von der polnischen Stasi auf dem Landweg über Ӧsterreich, Jugoslawien nach Budapest evakuiert und von dort nach Warschau ausgeflogen. Die westdeutschen Stellen drückten offensichtlich beide Augen zu und waren froh, sich so des Problems der lästigen „Emigrantenquerelen” entledigt zu haben.

In Polen angekommen bekamen die Gontarczyks 10.000 DM als Rückerstattung ihres in Westdeutschland zurückgelassenen persönlichen Vermögens sowie 1.000 US-Dollar für die Renovierung einer sehr großen Wohnung im Warschauer Stadtzentrum, in der Poznańska-Straße, die sie aus einem Wohnungspool der Staatssicherheit erhalten hatten (zuvor war sie die Kontaktadresse mit dem Decknamen „Czanel II“, in der sich Führungsoffiziere mit ihren IMs trafen). Nach dem Ende des Kommunismus gelang es den Gontarczyks, die Wohnung zu privatisieren, und sie um das Jahr 2000 äußerst gewinnbringend zu verkaufen.

Die Ehe zerbrach. Andrzej Gontarczyk lebt heute zurückgezogen in Łódź. Seine geschiedene Frau hingegen, heute Jolanta Lange, scheut in  Warschau keineswegs das Licht der Ӧffentlichkeit. Sie ist stellvertretende Vorsitzende des Vereins „Pro Humanum”, dessen „Aktivitäten darauf abzielen, eine offene Zivilgesellschaft aufzubauen, Diskriminierung zu bekämpfen und soziale Ausgrenzung zu verhindern”, so die Selbstdarstellung.

Jolanta Gontarczyk 1988 und Jolanta Lange heute

Bevor ihre wahre Identität im Jahr 2005 publik wurde, engagierte sich Jolanta Lange im radikalfeministischen Flügel der postkommunistischen Allianz der Demokratischen Linken (SLD). Nachdem die Postkommunisten im Jahr 2001 die Wahlen gewonnen hatten und regierende Partei wurden, bekleidete sie einen hohen Posten im Innenministerium, den sie nach ihrer Enttarnung durch die Medien räumen musste.

Der Oberbürgermeister von Warschau Rafał Trzaskowski und Jolanta Lange

Obwohl die Vergangenheit Jolanta Langes bestens bekannt war, gewährte die Stadt Warschau, die vom führenden Politiker der Bürgerplattform und ihrem Präsidentschaftskandidaten 2020 Rafał Trzaskowski regiert wird, im Jahr 2019 „Pro Humanum” einen Zuschuss von umgerechnet gut 400.000 Euro. Im Dezember 2022 wurde ein weiterer Zuschuss von umgerechnet 270.000 Euro gewährt. Beide Summen für ein vom Verein betriebenes „Multikulturelles Zentrum”. Trzaskowski sieht auch nichts Unpassendes darin, sich mit der ehemaligen rücksichtslosen Stasi-Agentin in der Ӧffentlichkeit zu zeigen.

Jolanta Lange gehört heute zu den führenden Persönlichkeiten der Warschauer linken Szene, setzt sich für LGBTQ-Belange ein, predigt Toleranz und Gleichberechtigung. Ihr unmittelbarer Chef, der Stasi-Oberst Aleksander Makowski, gehört heute zu den führenden Sicherheitsexperten des wichtigsten oppositionellen Fernsehsenders TVN. Der „Pro Humanum”-Vorstand steht derweil fest an Jolanta Langes Seite und „ist sich bewusst, dass diese Angriffe Teil einer größeren Hasskampagne gegen diejenigen sind, die sich für gleiche Bürgerrechte und gegen Diskriminierung einsetzen”, so die offizielle Stellungnahme.

Nach neuesten Berichten hat sich Jolanta Lange im Frühjahr 2023 nach Neuseeland abgesetzt.

Am 6. August 2023 verlieh Staatspräsident Andrzej Duda Pfarrer Franciszek Blachnicki postum die höchste polnische Auszeichnung, den Orden des Weißen Adlers.

© RdP




4.01.2023. Was uns in Polen an Joseph Ratzinger so sehr gefiel

Da reibt man sich die Augen und traut seinen Ohren nicht, aber offensichtlich geht es doch. Dieselben deutschsprachigen Medien, die den verstorbenen Papst Benedikt XVI. zu Lebzeiten auf das Gröbste in Verruf gebracht haben, üben sich jetzt in ihren Nachrufen in Zurückhaltung. Auch wenn sie ihm weiterhin ablehnend gegenüberstehen wägen sie ab, versuchen sein Denken und Handeln für ihre Abnehmer nachvollziehbar zu machen. Immerhin, sie haben die rhetorischen Knüppel und Keulen beisetegelegt.

Wo die Gründe für dieses späte Bemühen um elementare Fairness zu suchen sind, ob in den schlechten Gewissen oder in der späten Einsicht, dass es trotz allem einen herausragenden Deutschen zu verabschieden gilt, sei hier dahingestellt.

Denn Ratzinger war ein brillanter Denker, auch wenn sein Gedankengut heutzutage wenig Applaus finden mag. Es hat ihm dennoch viele Ehrungen, Auszeichnungen, Ehrendoktorwürden und Mitgliedschaften eingebracht. Der nach seinem eigenen Bekunden „religiös unmusikalische“ Philosoph Jürgen Habermas, setzte sich eingehend mit Ratzingers Denken auseinander. Im Jahr 2005 veröffentlichten die beiden gemeinsam das Buch „Dialektik der Säkularisierung“, das nach den vorpolitischen, ethischen Grundlagen des modernen Rechtstaates und seiner Macht fragt.

Nach seinem Tod tut man so, als wäre nichts gewesen, dabei war Joseph Ratzinger jahrzehntelang, gerade in Deutschland, Opfer einer medialen Lynchjustiz die ihresgleichen sucht.

Es sind sehr oft dieselben Redakteure, die ihn heute immerhin einen „herausragenden Theologen“ nennen, „einen Meister des geschriebenen Wortes“, dessen Tod „ein langes wie denkwürdiges Kapitel katholischer Kirchengeschichte beschließt“ usw., usf., und sich vorher im Ausdenken von brutal einprägsamen Spott- und Schmähnamen geradezu überboten: „Hardliner“, „Panzerkardinal“, „Großinquisitor“, „Spielball finsterer Mächte im Vatikanstaat“, reaktionär, weltfremd. Er sollte in der Öffentlichkeit als dogmatischer Finsterling erscheinen, als fundamentalistischer Gegner des Fortschritts, der den Menschen von heute nichts zu sagen hat.

Im Zusammenhang mit einem Missbrauchsfalll aus seiner Zeit als Erzbischof von München (1977-1982) sprachen ihn die Medien jüngst, knapp vierzig Jahre später, wegen Lüge und Vertuschung schuldig, ohne einen einzigen glaubwürdigen Beweis und ohne Gerichtsverfahren, nur anhand eines Gutachtens einer Rechtsanwalskanzlei. In Wahrheit führte Benedikt XVI. den Kampf gegen Missbrauch in der Kirche so rigoros und systematisch wie kein Papst vor ihm.

Im Kern ging es bei den Kampagnen gegen seine Person um den Versuch, seinen Charakter öffentlich hinzurichten. Man wollte sein theologisches Werk dauerhaft beschädigen und künftigen Generationen verleiden. Sein Denken wurde diffamiert, weil er nicht dazu bereit gewesen ist, das Wesen des katholischen Glaubens den wechselnden Moden einer postchristlichen Wohlstandsgesellschaft zu unterwerfen, so fortschrittlich sich diese auch geben mochte.

Ging es um philosophische oder wissenschaftliche Fragen, vertrat er die Überzeugung, dass Vernunft und Offenbarung zusammengehören, so, wie das Erforschen der Welt und das Vertrauen in die Schöpfung. Die reine Vernunft ohne Glauben werde kalt und herzlos, wie umgekehrt der Glaube ohne Vernunft blind und fanatisch werde. „Wenn es nicht das Maß des wahren Gottes gibt, zerstört sich der Mensch selbst.“

Der Theologe Ratzinger gewichtete ein hörendes Herz in Richtung Gott und ein demütiges Mitgehen mit der katholischen Tradition stets höher als weltliche Sinnangebote, die Weisheit der Bibel und der Kirchenväter höher als Technik und Wissenschaft, Sanftmut und Gebet höher als politische Programme.

Er hat weder an die Kraft eines atheistischen Humanismus noch an eine sittlich verbesserte Menschheit durch Technik und Wissenschaft geglaubt. Er setzte die Anwesenheit des Heiligen ganz selbstverständlich voraus und weigerte sich, das menschliche Dasein aufgehen zu lassen in der Banalität von Leistung, Konsum und Karriere. Die Sakramente der Kirche waren für ihn unverrückbar.

Ratzinger sah die Kirche als die einzige wirkliche Gegenkraft zu der immer weiter um sich greifenden Zivilisation des Todes, die „das Recht“ auf Euthanasie und „das Recht“ auf Abtötung des ungeborenen menschlichen Lebens auf ihren Fahnen trägt, und als die Gegenkraft zu den neuen Formen der modernen Tyrannei, die im Gewand des radikalen Genderismus, Ökologismus und vieler anderer utopischer „Ismen“ daherkommen.

Bescheiden und liebenswürdig im Umgang, blieb er unnachgiebig in der Sache. Seit 1981, als Präfekt der Glaubenskongregation, hatte er eine ganze Kette sehr schwieriger Auseinandersetzungen geführt, was ihm den Vorwurf der Intoleranz und des Mangels an geistigem Denkhorizont eingebracht hat. Er scheute keine Konflikte mit Hans Küng, Ernesto Cardenal, Leonardo Boff, Eugen Drewermann, Gotthold Hasenhuttl und anderen bekannten „Reformtheologen“.

Hinter Ratzinger stand der engagierte, aus den Sakramenten lebende, von der Tradition gestärkte Katholizismus, stand die Ordnung in der Lehre, der Liturgie und die Kirchendisziplin, die er aufrechterhielt, um den Zerfall und das Herüberwechseln der katholischen Kirche ins Protestantische zu verhindern. Die tiefe Krise des Protestantismus, der alle von der katholischen Kirche geforderten Reformen längst umgesetzt hat, gab ihm zusätzlich recht.

Theologen, gegen deren Lehren die Glaubenskongregation Einwände erhob, unternahmen alles, um die Medien und die öffentliche Meinung gegen den Präfekten aufzubringen. Fast jedes Mal versuchte die Presse zu beweisen, dass die Aktivitäten des von Kardinal Ratzinger geleiteten Amtes unter den Katholiken in der ganzen Welt angeblich kritische Stimmen provozieren würden.

Sie schrieben über den im Vatikan herrschenden „Geist der Arroganz“ und die „Diktatur Ratzingers“. Der schmächtige Kardinal und spätere Papst erinnerte daraufhin immer wieder daran, dass „die Freiheit der Theologie sich nicht in der Fantasie über Gott ausdrückt, sondern innerhalb des großen Rahmens bleiben muss, den das Wort Gottes vorgibt“.

Das alles machte Benedikt XVI. zu einem „Ärgernis“. Umso mehr, als er sich nicht beeindrucken ließ vom öffentlichen Druck gegen seine Person, vom Liebesentzug einer Gesellschaft, die als obersten Maßstab nur sich selber anerkennt.

Die Polen haben ihn in ihre Herzen geschlossen. Einen Deutschen, den mit dem polnischen Papst eine tiefe Freundschaft verband. Einen Deutschen der sich noch im hohen Alter die Mühe machte Polnisch zu lernen, um die Gläubigen bei seinem Besuch in Polen im Mai 2006 und bei den Generalaudienzen in Rom direkt ansprechen zu können. Einen Deutschen, der ihrem Gottvetrauen stets höchsten Respekt zollte. Einen Deutschen, den man einfach uneingeschränkt gern haben konnte. Uns wird er sehr fehlen.

RdP




30.12.2022. Polnischer Warnruf auf deutschen Irrwegen

Mut stand 2022 sehr hoch im Kurs. Gefragt waren in diesem vom Krieg geprägten „annus horribilis“ beherzte Politiker, Soldaten und Helfer, aber nicht nur. Am Jahresende sei hier an einen weitgehend verschwiegenen Akt christlichen Mutes erinnert und zwar an den Brief, den der Vorsitzende der polnischen Bischofskonferenz, Erzbischof Stanisław Gądecki (fonetisch: Gondetski) im Februar 2022 „Aus brüderlicher Sorge“ an den Vorsitzenden der Deutschen Bischofskonferenz, den „Lieben Bruder im Bischofsamt“, Georg Bätzing, gerichtet hat.

Was Erzbischof Gądecki schrieb erforderte Mut, weil es sich eindeutig gegen den vorherrschenden Zeitgeist richtet. Wer seine Treue zum Evangelium mit einer solchen Deutlichkeit öffentlich bekundet, der setzt sich unweigerlich tausendfach wiederholten Vorwürfen und Schmähungen aus, er sei frauenfeindlich, homophob u.s.w. „In der modernen Welt wird Gleichheit oft missverstanden und mit Uniformität gleichgesetzt. Jeder Unterschied wird als ein Zeichen von Diskriminierung behandelt“, stellt Erzbischof Gądecki dazu fest.

Dem Briefautor ging es um den sogenannten Synodalen Weg, auf den sich, dem Zeitgeist huldigend, die katholische Kirche in Deutschland auf der Suche nach Erneuerung begeben hat. Die Verwirklichung der Reformpläne käme einer so weitgehenden Abkehr von der katholischen Lehre gleich, dass am Ende eine Kirchenspaltung und der Einzug der deutschen Reformer in das Lager des liberalen Protestantismus stünden.

Dieser Gefahr galt „Die brüderliche Sorge“ des Metropoliten von Poznań. Er gliederte seinen Brief in fünf Teile, von denen jeder eine Warnung vor den Versuchungen enthält, denen nicht nur deutsche Katholiken von heute ausgesetzt sind.

Die erste Versuchung besteht darin, die Fülle der Wahrheit außerhalb des Evangeliums zu suchen. Das widerfährt gerade den deutschen „Reformkatholiken“. So etwas, schreibt Erzbischof Gądecki, ist im Laufe der Geschichte immer wieder geschehen.

Man denke nur an die sogenannte Jefferson-Bibel. Der dritte amerikanische Präsident, hauptsächlicher Verfasser der Unabhängigkeitserklärung und einer der einflussreichsten Staatstheoretiker der Vereinigten Staaten, behauptete, dass die Evangelien Passagen enthielten, die sehr weise und erhaben seien, und sicherlich direkt von Jesus stammen, aber auch törichte und triviale Stellen, die, so gesehen, von ungebildeten Aposteln stammen müssten.

In der Überzeugung, dass er über die Kenntnis verfüge, die einzelnen Aussagen nach diesen Kriterien trennen zu können, beschloss Jefferson, das mit einer Schere zu tun. So schuf er einen „moderneren“ Bibel-Text, der nach seiner Ansicht besser als das Original war. Doch gerade in den nach seiner Auffassung „weniger“ anspruchsvollen Abschnitten der Bibel, die unter die „Jefferson-Schere“ fielen, befand sich das proprium christianum – das, was allein dem Christentum eigen ist.

Die zweite Versuchung äußert sich im Glauben an die Unfehlbarkeit der Wissenschaft. Wer ihr erliegt, konfrontiert die Lehre Jesu ständig mit den neuesten Entwicklungen in der Psychologie und den Sozialwissenschaften. Wenn etwas im Evangelium nicht mit dem aktuellen Wissensstand übereinstimmt, versucht er das Evangelium zu „aktualisieren“, in dem Irrglauben Jesus davor schützen zu müssen, sich in den Augen der Zeitgenossen zu blamieren.

Die Versuchung, sich zu „modernisieren“, betrifft inzwischen insbesondere den Bereich der sexuellen Identität. Dabei wird jedoch vergessen, dass sich der Stand der wissenschaftlichen Erkenntnisse oft ändert, manchmal sogar dramatisch. Man braucht nur die einst durchaus vorherrschenden wissenschaftlichen Theorien wie Rassismus oder Eugenik zu erwähnen.

Die dritte Versuchung ergibt sich daraus, dass die Katholiken von heute, so Erzbischof Gądecki, unter dem enormen Druck der öffentlichen Meinung leben, was bei vielen von ihnen Scham und Minderwertigkeitskomplexe hervorruft. Der Glaube ist heute kein selbstverständlicher Bestandteil des allgemeinen Lebens mehr, sondern wird oft geleugnet, an den Rand gedrängt und lächerlich gemacht. Daraus ergeben sich die Relativierung und das Verbergen der eigenen christlichen Identität und der religiösen Überzeugungen angesichts eines zunehmend glaubensfeindlichen öffentlichen Lebens.

„Getreu der Lehre der Kirche dürfen wir nicht dem Druck der Welt oder den Modellen der gerade vorherrschenden Kultur nachgeben, weil das zur moralischen und geistigen Bestechlichkeit führt. Es gilt die Wiederholung abgedroschener Slogans und Standardforderungen wie die Abschaffung des Zölibats, das Priestertum der Frauen, die Kommunion für wiederverheiratete Geschiedene oder die Segnung von gleichgeschlechtlichen Partnerschaften zu vermeiden. So ist die „Aktualisierung“ der Begriffsbestimmung der Ehe in der EU-Grundrechtecharta lange noch kein Grund, das Evangelium zu verzerren“, schreibt Erzbischof Gądecki.

Die vierte Versuchung besteht darin, das gesellschaftliche Leben zu kopieren. „Ich bin mir bewusst, dass die Kirche in Deutschland kontinuierlich Gläubige verliert und dass die Zahl der Priester von Jahr zu Jahr abnimmt. Die Kirche steht in dieser Hinsicht vor der Gefahr eines korporativen Denkens: »Es gibt einen Personalmangel, wir sollten die Einstellungskriterien senken«. Daher die Forderung, die Verpflichtung zum priesterlichen Zölibat aufzuheben, Frauen ins Priesteramt zu berufen und gleichgeschlechtliche Partnerschaften zu segnen“.

Und schließlich die fünfte Versuchung, sich dem Druck zu beugen. Hierzu stellt der polnische Oberhirte unter anderem fest: „Trotz Empörung, Ächtung und Unpopularität, kann die Katholische Kirche, die der Wahrheit des Evangeliums treu ist und gleichzeitig von der Liebe zu jedem Menschen angetrieben wird, nicht schweigen und diesem falschen Menschenbild zustimmen, geschweige denn es segnen oder fördern.“

Das wohldurchdachte, mit vielen starken Argumenten versehene Schreiben von Erzbischof Gądecki, das hier nur fragmentarisch wiedergegeben werden konnte, hat in Deutschland keine Diskussion ausgelöst. Nur einige kurze Notizen in kircheninternen Zeitschriften waren ihm gewidmet. Im Grunde wurde es totgeschwiegen.

Darüber hinaus wiesen deutsche Bischöfe, die am Veränderungsprozess am aktivsten beteiligt sind (Bischof Bätzing ist einer von ihnen), mit einem Eifer, der einer besseren Sache würdig ist, darauf hin, dass Erzbischof Gądecki den Brief nur in seinem eigenen Namen und nicht im Namen des polnischen Episkopats geschrieben habe.

Das ist richtig, aber es ändert nichts an der Tatsache, dass der Brief den Kern des Problems trifft. Er umschreibt sehr präzise die Versuchungen, denen die Katholiken in Deutschland ausgesetzt sind und die Situation in vielen anderen Ländern, darunter, leider, teilweise auch die Lage der Kirche in Polen.

Ist Erzbischof Stanisław Gądecki ein einsamer Rufer in der Wüste? Zum Glück noch nicht, und außerdem, wie man sieht, wer dem Evangelium vertraut, hat nicht auf Sand gebaut.

RdP




Das Pilgern ist der Polen Lust

Jahr für Jahr gehen fünf bis sieben Millionen Polen auf Wallfahrt. 

Pilgern, eine Art der Volksfrömmigkeit, die sich längst überlebt hat? Nicht in Polen. Die Polen wallfahren ständig: zu kleinen Kapellen, wichtig nur für die Dörfer der Region, und zu heiligen Stätten in Europa.

Am liebsten jedoch besuchen sie die Pilgerstätten, die sie am besten kennen, ihre polnischen „locus sacer“, allen voran Jasna Góra, den Lichten Berg mit der Ikone der Muttergottes von Częstochowa, auch bekannt als die Schwarze Madonna. Hier, in Polens nationalem Heiligtum, beten sie, tun Buße, danken Gott und bitten ihn um Gnade.

Polizei- und Hobby-Reiter in polnischen Ulanenuniformen von vor 1939 im Anmarsch auf den Lichten Berg in Częstochowa.

Allein im August 2022 werden in Częstochowa etwa sechzig Wallfahrten erwartet. Darunter sind auch Rad- und Motorradfahrergruppen. Hobby-Reiter aus ganz Polen, teilweise in Ulanenuniformen aus der Vorkriegszeit, haben sich traditionell bereits Anfang Juli bei der Schwarzen Madonna „gemeldet“. Am 15. August wird in Częstochowa auch die alljährliche kaschubische Wallfahrt zu Fuß eintreffen. Die Pilger haben dann die längste Strecke von allen hinter sich gebracht. Von der Halbinsel Hela aus werden sie in neunzehn Tagen 638 Kilometer zurückgelegt haben.

Viele Wallfahrten erreichen den Lichten Berg am 15. August, dem Hochfest Mariä Himmelfahrt, einem gesetzlichen Feiertag und zugleich dem Tag der polnischen Armee. Dieses Datum hat für polnische Katholiken eine besondere Bedeutung. Polen gedenkt an diesem Tag des „Wunders an der Weichsel“, als es 1920 gelang, die gerade wiedergewonnene Unabhängigkeit zu retten. Lenins bolschewistische Truppen wurden vor Warschau vernichtend geschlagen und in die Flucht getrieben.

Krankenschwestern bei ihrer alljährlichen landesweiten Wallfahrt zum Lichten Berg.

Ob Polizisten, Lehrer, Krankenschwestern, Metzger, Landwirte oder Schornsteinfeger, es gibt keine Berufsgruppe in Polen, die nicht an einem festen Tag des Jahres, begleitet von ihren Seelsorgern, eine nationale Pilgerfahrt nach Częstochowa veranstalten würde. Hunderte von Bussen füllen dann die riesigen Parkplätze und in den Auen vor dem Kloster erstreckt sich, soweit das Auge reicht, das Blau der Polizeiuniformen oder das Weiß der Krankenschwesternhauben. Tag für Tag strömen zudem Hunderte, manchmal Tausende einzelne Pilger oder Familien herbei, um vor dem Gnadenbild der Schwarzen Madonna innezuhalten.

Eine Läufer-Wallfahrt, der Pfarrer auf dem Fahrrad vorneweg, begleitet von einer Motorradstaffel der Polizei, nähert sich dem Lichten Berg.

Jahr für Jahr gehen fünf bis sieben Millionen Polen, d. h. zwischen 15 und 18 Prozent der Bevölkerung, auf Wallfahrt. Wallfahrten zu Fuß, auch bekannt als Exerzitien auf dem Weg, gibt es seit Jahrhunderten. Zunächst verliefen sie unorganisiert, allein oder in kleinen Gruppen. Seit dem 16. Jahrhundert bildeten sich zunehmend die uns heute bekannten Wallfahrten heraus. Die Pilger brachen in immer größeren Scharen auf und immer öfter war ein Priester dabei.

Die Polen haben im eigenen Land einige hundert „heilige Orte“. Es wurde berechnet, dass 430 der 500 polnischen Pilgerstätten marianisch sind; darunter sind 180 durch einen Papst gekrönte Darstellungen der Muttergottes. 96 von ihnen sind Wallfahrtszentren, am liebsten aufgesucht werden 37 davon.

Woher kommt das?

Auch wenn die Verweltlichung fortschreitet und die Zahl der Priesterberufungen sinkt, wobei sie lange nicht den katastrophalen Stand von Deutschland erreicht hat, bleibt die religiöse Mobilität der Polen sehr hoch. Woher kommt das?

Der Pfarrer ist immer dabei.

Einst war die Antwort auf diese Frage einfach: Man pilgerte aus Dankbarkeit fürs Überleben, in einem Akt der Buße oder im Zusammenhang mit persönlichen Bitten. Als Polen zwischen 1795 und 1918 dreigeteilt war, pilgerte man zu den Gnadenstätten auch, um dafür zu beten, dass der eigene Staat wieder auf die Landkarte Europas zurückkehren möge.

In der Zeit des Kommunismus wiederum waren Wallfahrten zweierlei: Ausdruck der Zugehörigkeit zu der von den kommunistischen Machthabern bekämpften katholischen Kirche. Zugleich ein Manifest des Missfallens gegen das moskautreue Regime in Warschau. Eine Art politisch-religiöse Demonstration gegen den Kommunismus. Angesichts dessen versuchten die Behörden in jener Zeit gerade die Fußwallfahrten nach Tschenstochau zu unterbinden oder zumindest massiv zu behindern.

Feierlichkeiten auf dem Lichten Berg in Częstochowa 1966 zur Tausendjahrfeier der Taufe Polens, vom Kirchturm aus gesehen.

Dennoch versammelten sich, etwa im August 1957, bis zu einer halben Million Gläubige auf dem Lichten Berg in Częstochowa, damals eine Rekordzahl. Mehr als eine halbe Million Menschen fanden sich 1966 zur Tausendjahrfeier der Taufe Polens ein. Damals hatten die Kommunisten Papst Paul VI. verboten, ins Land zu kommen. Ein leerer Papstthron legte Zeugnis davon ab. Hunderttausende lauschten in den Częstochower Auen den Predigten Johannes Pauls II. bei sechs (1979, 1983, 1987, 1991, 1997 und 1999) von seinen insgesamt acht Pilgerreisen nach Polen. Eine halbe Million Menschen bereiteten im Mai 2006 auch Benedikt XVI. einen begeisterten Empfang.

Papst Johannes Paul II. auf dem Lichten Berg 1991.

Warum aber wallfahren die Polen heute ebenso gern wie vor vielen Jahren? Zum einen hängen sie weiterhin sehr an den Traditionen und heimischen Werten. Auf die Wallfahrten gingen die Großmütter, sie nahmen ihre Töchter mit, jetzt pilgern die Enkelinnen.

Das Gefühl von Gemeinschaft und Solidarität ist sehr wichtig.

Zum anderen ist der Glaube für die Polen weiterhin wichtig, viele suchen darin Zuflucht vor den Problemen, die mit der Moderne auf sie eingestürmt sind. Ermüdet vom immer schnelleren Leben, suchen sie auf den Wallfahrten zu den heiligen Stätten eine andere Welt, Reflexion, Erholung.

Drittens pilgern die Polen, weil sie beisammen sein wollen. Die Wallfahrt gibt ihnen, was den Menschen im sozialen Leben fehlt: Vertrauen, Sicherheit, tiefgehende Erlebnisse, Nachdenklichkeit. Das Gefühl von Gemeinschaft und Solidarität. Die religiöse Komponente ist aber, gerade in Polen, immer noch das Wichtigste. 80 Prozent der polnischen Pilger sind aus religiösen Gründen unterwegs.

80 Prozent der polnischen Pilger sind aus religiösen Gründen unterwegs.

Die große Mehrheit der Pilger erreicht glücklich ihr Ziel. Trotz Schmerzen, Regen, Hitze und sogar Verletzungen oder sonstiger Pilgerabenteuer. Viele von ihnen sind Veteranen, die zum fünften, zehnten oder sogar vierzigsten Mal mitlaufen. Aber jedes Jahr kommen auch neue Teilnehmer hinzu. Zunächst erschrocken von der Vorstellung, jeden Tag 35 bis 40 Kilometer weit zu laufen, überwinden sie ihre Bedenken und machen sich auf den Weg. Wie bereitet man sich auf seine erste Wallfahrt zu Fuß vor, um sie erträglicher zu machen?

Ein Rucksack, der wächst

Ein Pilger ist wie… eine Schildkröte. Er trägt sein Hab und Gut auf dem Rücken. Und zwar buchstäblich.

Der Wanderrucksack, den er mitnimmt, sollte die notwendigsten Pilgerutensilien enthalten. Aber das Wort „Wesentliches“ wird von manchen Pilgern eher frei interpretiert. Vor allem die Neulinge packen ein großes Mineralwasser, eine Thermoskanne Kaffee, fünf belegte Brötchen (sonst ist die Oma böse), vier Schokoriegel, eine warme Jacke, einen Regenschutz sowie einen Teller, Löffel, Schüssel und Becher ein. Am besten gleich einen Zwei-Liter Wasserbehälter, damit man nicht dehydriert. Zu Beginn der Wanderung scheint der Rucksack leicht zu sein. Nach ein paar Stunden gibt der Rücken stärker nach als die Beine. Bis der Pilger schließlich bei einer Rast demütig wird und wirklich weiß, was er braucht.

Je leichter der Rucksack, desto weniger schmerzen die Beine.

„Als ich das erste Mal zu Fuß unterwegs war, nahm ich einen großen Rucksack mit“, erinnert sich in der katholischen Wochenzeitung „Niedziela“ („Der Sonntag“) ein junger Pilger, der mit der Goralen-Wallfahrt von Zakopane zum Lichten Berg unterwegs war. „Jetzt werde ich wahrscheinlich nur einen Rosenkranz, das Portemonnaie, ein Taschenmesser, einen dünnen Einweg-Regenmantel und ein paar Schuhe zum Wechseln mitnehmen. Und vielleicht ein paar Notfallmedikamente. Als Faustregel gilt: Je leichter der Rucksack, desto weniger schmerzen die Beine. Ach ja, und die Bibel muss man mitnehmen. Aber ich empfehle die elektronische Version, im Mobiltelefon. Die ist viel leichter.“

Natürlich hat jeder neben dem Tagesrucksack auch einen großen Reiserucksack dabei oder eine Tasche und ein zusammengefaltetes Zelt, falls die Pilger nicht bei Privatleuten übernachten. Das große Gepäck fährt in Kleintransportern oder in LKW ’s und wartet auf die Pilger beim nächsten Zwischenstopp. Es sollte warme Kleidung, eine Jacke, einen Vorrat an Unterwäsche und Hygieneartikel enthalten. Ein Hut ist ebenfalls ein Muss.

Die Pilger erhalten bei der Anmeldung ein Pilgerheft mit dem Verlauf der Strecke und weiteren nützlichen Hinweisen sowie eine Identifikationsmarke. Diese Gegenstände sind stets mitzuführen. Die Marke sollte an einer sichtbaren Stelle angebracht werden, und das Pilgerheft gehört in den Tagesrucksack. Darüber hinaus sollte man die Broschüre vor der Wanderung sorgfältig studieren. Darin sind die Haltestellen markiert und die Regeln und Vorschriften detailliert beschrieben. Denn während einer Wallfahrt …

…  müssen die Regeln beachtet werden!

Manchmal kommt es, vor allem jungen Pilgern so vor, als seien die Vorschriften dazu da, die Wallfahrt zu erschweren. Sie betrachten sie als ein notwendiges Übel und die besonders religiösen unter ihnen als eine zusätzliche Buße.

Die Vorschriften und Regeln während der Wallfahrt sind jedoch eine Voraussetzung dafür, das Ziel wohlbehalten zu erreichen. „Die Regeln sind keine Erfindung eines böswilligen Priesters, sondern eine Art weise Disziplin, die es ermöglicht, manchmal Tausende von Menschen zu steuern und deren Sicherheit zu gewährleisten“, so ein freiwilliger Ordner in der kaschubischen Pilgerfahrt gegenüber der Zeitschrift „Niedziela“. „Wenn in den Vorschriften steht, dass „wir kein Eis essen“, dann nicht, um jemanden zu ärgern, sondern um Lebensmittelvergiftungen und Mandelentzündungen vorzubeugen.

Freiwillige Ordner sorgen für Verkehrssicherheit und die Einhaltung der Regeln.

Und wenn wir hartnäckig darauf pochen, dass in der Pilgergruppe auf einer Wegestrecke keine „Löcher“ (d.h. Freiräume) entstehen, dann nur, um den reibungslosen Ablauf zu gewährleisten, denn an uns fahren ständig Autos vorbei, die uns überholen müssen.“

Das Gleiche gilt für die Nachtruhe. Sie dauert normalerweise von 22 bis 4.30 oder 5 Uhr. Und Ruhe bedeutet ein echtes Gebot der Stille und Ruhe, alle Handys werden ausgeschaltet. Der gesamte Körper muss sich regenerieren, damit der anstrengende Marsch über viele Tage hinweg nicht zu Lasten der Gesundheit geht. Ein Pater erinnert sich in „Niedziela“, wie er einst als Seminarist eine Fußwallfahrt von Lubawa aus unternahm. Er war der Quartiermeister und hat damals gelernt, dass das Verhalten der Pilger, die Einhaltung der Regeln, darüber entscheidet, ob Privatleute sie gerne aufnehmen.

„Privatleute, die Vertrauen in die guten Manieren der Pilger hatten, nahmen uns bereitwillig auf. Diejenigen, die eine gewisse Aufsässigkeit bemerkten, behandelten uns vorsichtiger. Ich erinnere mich an einen Gastgeber, der uns nicht aufnehmen wollte, er war sehr aufgeregt. Es stellte sich heraus, dass im Jahr zuvor einer der Pilger, die in seiner Scheune übernachtet hatten, eine Nadel hatte liegen lassen. Und die Kuh hatte dafür mit ihrem Leben bezahlt. Da die Nacht nahte und es immer noch zu wenig Unterkünfte gab, kam er dann doch noch selbst zu uns und nahm die letzten obdachlosen Pilger bei sich auf.

Und wie steht es um die Gesundheit?

Neulinge (oder auch potenzielle Pilger) fürchten sich wahrscheinlich am meisten vor den Blasen an den Füßen, mit denen erfahrene Pilger ihnen ständig Angst einjagen. Die Vorstellung, mit schmerzenden Beinen erschöpft am Straßenrand zu sitzen, macht vielen, die mit dem Gedanken spielen, an einer Wallfahrt teilzunehmen, Angst.

Pfarrer Tomasz Roda aus Koszalin/Köslin hat nur dank seiner eingelaufenen Sandalen etliche Wallfahrten wohlbehalten überstanden.

„Ich hatte schreckliche Angst vor Blasen, erinnert sich eine ehemalige Einsteigerin. „Das Einzige, was mir dazu einfiel, war, die uralte Pilgerregel zu brechen, dass der Schuh über den Knöchel reichen und eingelaufen sein muss. Also habe ich in brandneue Sandalen aus einem Markensportgeschäft investiert. Das Wichtigste war die Sohle. Sie durfte nicht zu hart sein, weil sonst beim langen Asphaltlaufen Prellungen am Fuß entstehen. Schließlich entschied ich mich für Sandalen mit einer weichen Schaumstoffsohle, die die Schritte abfedert. Der Preis spielte keine Rolle. Schließlich werden die Schuhe jahrelang halten.“

Sie behielt recht. Während andere sich mit Blasen herumplagten, hatte sie während der gesamten Wallfahrt gesunde Füße.

Wunde Füße werden verarztet.

Es ist natürlich auch ratsam, sich entsprechend den Wetterverhältnissen zu kleiden. Bei Hitze auf leichte, luftdurchlässige Sachen zu achten. Das bedeutet nicht, dass man sich bis auf die nackte Haut entkleiden sollte. Schließlich ist eine Wallfahrt kein Freibad und es ist auf die Kleiderkultur zu achten. Außerdem schützt längere Kleidung vor Sonnenbrand und dem Asphaltfieber, einer lästigen Allergie gegen heißen Asphalt.

Luftdurchlässig und zugleich bedeckt sollte der Pilger gekleidet sein.

Generell wird die Gesundheit der Pilger von freiwilligen Sanitätern überwacht. Es sind erfahrene Pilger mit medizinischer Ausbildung, die während der Ruhepausen und in den Unterkünften beratend zur Seite stehen, verletzte Beine verbinden und auch kranke Pilger professionell untersuchen können. Bei jeder Wallfahrt ist mindestens ein Arzt mit dabei. Wenn ein Pilger wirklich nicht weitergehen kann, fährt er in einem der Begleitfahrzeuge so viele Etappen mit, bis seine Füße wiederhergestellt sind. Wenn es nicht anders geht, muss er nach Hause, aber das passiert wirklich selten.

Es ist immer ratsam, eine kleine Reiseapotheke dabei zu haben: Wasserstoffperoxid, Pflaster, elastische Binden. Denn meistens haben die Pilger zwar Angst um ihre Füße, aber es sind oftmals die Kniegelenke, die versagen. Wenn man Kopfschmerzen hat, lohnt es sich manchmal nicht, deshalb beim Arzt Schlange zu stehen, besser ist es seine eigene Tablette zur Hand zu haben.

Die Freude, den Lichten Berg erreicht zu haben, macht selbst den größten Schmerz wett.

Der Pilger ist ein Mensch der Tat, unabhängig. Er versucht, allein zurechtzukommen. Und das Wichtigste bei einer Wallfahrt sind der innere Antrieb und der Glaube! Geht man mit einer Bitte zur Muttergottes, erträgt man alle Widrigkeiten. Die Freude, den Lichten Berg erreicht zu haben, macht selbst den größten Schmerz wett.

© RdP




Migranten attackieren Polens katholische Gewissen

Nicht jeder ist ein Gast.

Wie sollen Katholiken mit den Geschehnissen an der polnischen Ostgrenze umgehen? Steht die Empfindsamkeit des Herzens der Vernunft des Handelns im Wege? Soll man jenen helfen, die sich den Eintritt in unser Haus mit Gewalt verschaffen? Wie kann man helfen, ohne die Gesetze zu brechen?

Auf diese und viele andere Fragen geht ein hoher katholischer Geistlicher ein, der sein seelsorgerisches Amt unmittelbar am Ort des Geschehens versieht.

Erzbischof Józef Jan Guzdek.

Erzbischof Józef Jan Guzdek,

ist Jahrgang 1956 und Doktor der theologischen Wissenschaften. Er wurde 1981 zum Priester geweiht und empfing 2004 das bischöfliche Sakrament. Guzdek war Weihbischof der Erzdiözese Krakau und ist seit 2010 Militärbischof der polnischen Armee. In dieser Eigenschaft wurde er 2015 zum Brigadegeneral befördert. Im Juli 2021 ernannte ihn Papst Franziskus zum Erzbischof von Białystok.

Erzbischof Józef Jan Guzdek in seiner Eigenschaft als Militärbischof der polnischen Armee.

Die östliche Grenze der Diözese Białystok stimmt auf einer Länge von etwa 200 Kilometern mit dem Verlauf der polnisch-weißrussischen Grenze überein. Guzdek soll nach dem Willen des Papstes das Amt als Militärbischof bis zur Ernennung eines Nachfolgers weiterbekleiden.

Kürzlich haben Sie in einer Ihrer Predigten gesagt, dass Migranten, die versuchen, unsere Ostgrenze zu überqueren, auf verantwortungsvolle Weise geholfen werden sollte. Welche Art von Hilfe haben Sie gemeint?

Diözese Białystok

Ein Christ, der einen Menschen in Not sieht, sollte nicht nach dessen Herkunft, Wohnort oder Zugehörigkeit zu einer Religionsgemeinschaft fragen. Gemäß dem Geist des Evangeliums ist er verpflichtet, ihn als Nächsten zu sehen, an dem man nicht einfach vorbeigehen darf und der versorgt werden muss.

Allerdings muss jeder karitativen Hilfe eine Abwägung vorausgehen, was der in Not geratene Mensch braucht: Eine einmalige, vorübergehende Unterstützung oder eine langfristig angelegte Hilfe? Außerdem ist es wichtig, solche Menschen, wo immer möglich, dazu anspornen, selbst zurechtzukommen.

In jüngster Zeit sehen wir, wie notwendig es ist, Flüchtlingen und Migranten zu helfen, die nach dem Überqueren der polnisch-weißrussischen Grenze in Wäldern kampieren und dort vor allem durch Erschöpfung, Unterernährung, niedrige Temperaturen und manchmal durch Krankheiten dem Tod ausgesetzt sind. Die Botschaft des Gleichnisses vom barmherzigen Samariter besteht darin, die Empfindsamkeit des Herzens mit der Vernunft des Handelns, mit Sachverstand und einer gewissen Ordnung zu verbinden.

Deswegen ist es wichtig, an dieser Stelle den Rat des Apostels Paulus anzuführen: „Wer aber für seine Verwandten, besonders für die eigenen Hausgenossen, nicht sorgt, der verleugnet damit den Glauben und ist schlimmer als ein Ungläubiger“ (1. Timotheus 5,8). Einen ähnlichen Hinweis gab seinerzeit der Primas von Polen Stefan Kardinal Wyszyński (1901-1981 – Anm. RdP), der seit dem 12. September 2021 zum Kreis der Seligen gehört. Man solle zuerst an die „Pflichten gegenüber den Kindern der eigenen Nation“ denken und erst dann anderen Völkern helfen.

Viele Katholiken fragen sich, was sie in der gegenwärtigen Situation tun sollen. Die Grenze für Migranten öffnen oder sie schließen und niemanden hineinlassen? Und wenn doch jemand durchkommt, sollen wir ihm helfen oder die staatlichen Stellen informieren?

Migranten, die die Grenze illegal überquert haben, müssen unbedingt die notwendige Unterstützung erhalten: Lebensmittel, warme Kleidung, Gelegenheit zum Aufwärmen. Das darf jedoch nicht zu Rechtsverstößen führen, zum Beispiel zur Beförderung von Migranten ins Landesinnere oder in ein anderes Land. Migranten, die in unserem Land Schutz und Betreuung benötigen, müssen die für solche Fälle vorgesehene Rechtsordnung respektieren und entsprechende Verfahren durchlaufen. Es gibt Möglichkeiten, einen ordnungsgemäßen Asylantrag zu stellen.

Es ist nicht die Aufgabe eines barmherzigen Menschen, die Motive eines illegalen Migranten zu beurteilen. Ob es sich um einen Menschen handelt, der ein besseres Leben sucht, oder um jemanden, der Verbrechen begangen hat und vor der Justiz flieht. Jemand der hilft ist auch nicht in der Lage zu erkennen, ob der Ankömmling in mafiöse oder terroristische Aktivitäten verwickelt ist. Dafür sind entsprechende staatliche Stellen da. Sie müssen jeden überprüfen, der über die grüne Grenze gekommen ist.

Polen ist für seine Gastfreundschaft bekannt. Aber bezeichnen wir jemanden, der im Schutze der Dunkelheit oft unter Anwendung von brutaler Gewalt in unser Haus einbricht, als einen Gast? Jeder, der bei klarem Verstand ist, denkt darüber nach, wie er sein Haus sichern kann, damit ein Einbruch oder Überfall nicht vorkommt.

Allein in den letzten Jahren haben Hunderttausende von Ukrainern in Polen Zuflucht und Arbeit gefunden. Im letzten und in diesem Jahr kamen mehr als 30.000 Menschen aus Weißrussland. Sie sind mit offenem Herzen aufgenommen worden.

Doch verdienen diejenigen, die illegal und sogar gewaltsam in unser Land eindringen, dazu unsere Soldaten, Grenzschutzbeamten und Polizisten angreifen, einen gastfreundlichen Empfang? Emotionale Erpressung ist besonders unehrlich. Vor allem die Verwendung von Zitaten aus dem Evangelium durch radikale Aktivisten, die oft selbst Gewalt anwenden und nichts mit dem Dekalog, mit den Leitlinien des Evangeliums zu tun haben wollen.

Einige Migranten schaffen es über die Grenze und verstecken sich in den Wäldern. Sie haben oft nichts zu essen. Humanitäre Organisationen versuchen, ihnen zu helfen. Andererseits gibt es die Meinung, dass wir auf diese Weise andere dazu ermutigen, die Grenze zu überwinden. Wie stehen Sie zu dieser Frage?

Bei Treffen mit der Leitung der Caritas Polska und der Caritas der Erzdiözese Białystok haben wir betont, dass Hilfe nicht unter Verletzung der Gesetze geleistet werden darf.

Als Metropolit der Erzdiözese Białystok, die an der polnisch-weißrussischen Grenze liegt, kann ich reinen Herzens bezeugen, dass die Pfarrgemeinden, mit denen ich in ständigem Kontakt stehe, die Prüfung der christlichen Empfindsamkeit bestehen und den bedürftigen Migranten, wo sie nur können, helfen.

Meine Diözese sieht Migranten als Mitmenschen und eilt ihnen zu Hilfe. In den „Zelten der Hoffnung“ gibt es das Nötigste für erschöpfte, frierende und schwache Ankömmlinge. Jeder, der glaubt, eine solche Person treffen zu können, kann hier ein Hilfspaket bekommen. Es ist jedoch kaum anzunehmen, dass die Migranten von sich aus an solche Orte kommen werden. Sie versuchen, die Grenzdörfer und -städte zu meiden und unbemerkt ihr Ziel zu erreichen, das in der Regel Deutschland ist.

Es liegt in seiner eigenen Verantwortung, wie sich der Bewohner eines Grenzgebiets verhält, wenn er auf Migranten trifft, und ob er die staatlichen Stellen informiert oder nicht. Es ist richtig, dass wir auch für die Sicherheit der Europäischen Union verantwortlich sind, der wir angehören. Ich bin überrascht über Aussagen wie: „Gib ihnen zu essen, gib ihnen zu trinken und lass sie dann ihren Weg gehen… nach Deutschland“. Sollen wir etwa die Sicherheit eines Nachbarlandes außer Acht lassen?

Sie haben sich mit Priestern von Kirchengemeinden im Grenzgebiet getroffen. Wie beurteilen sie die Situation? Wie ist die Stimmung unter den Menschen, die in der Nähe der Grenze leben?

Ich war in der Grenzregion und habe mehrere Berichte von Geistlichen erhalten, und ich möchte noch einmal betonen, dass mich die Haltung der Pfarrer und Gemeindemitglieder der Grenzdörfer ermutigt. Seit August dieses Jahres teilen sie das, was sie haben, mit Migranten in Not. Die Caritas Polska und die Erzdiözese Bialystok haben außerdem weitere Lebensmittel- und Kleidungslieferungen bereitgestellt, als dies notwendig war, um einer größeren Gruppe, die den Weg nach Polen gefunden hat, zu helfen. Darüber hinaus sollen die ständig vor Ort anwesenden Caritas-Vertreter den aktuellen Bedarf ermitteln.

Die Gemeindepfarrer erwähnten auch eine gewisse Angst unter Menschen, die abgeschieden leben. Sie berichteten davon, dass Lebensmittel aus Wohnungen entwendet und Autos aufgebrochen wurden. Sie betonten auch, dass sich die Einwohner inzwischen, dank der Anwesenheit von Soldaten und Beamten, sicher fühlen.

Sie sagten, Herr Erzbischof, dass viele Bewohner der Grenzgebiete Fragen zu den Motiven und dem Verhalten der Migranten , die an der polnisch-weißrussischen Grenze auftauchen, stellen.

Die jüngsten Ereignisse an der Grenze, bei denen sich nicht wenige Migranten aggressiv gegenüber Beamten und Soldaten verhielten, haben zur Polarisierung der Einstellung gegenüber diesen Menschen beigetragen. Viele fragen sich, ob es wirklich so ist, dass sie in die Europäische Union kommen wollen, um unter Wahrung der europäischen Kultur und Sitten zu leben und zu arbeiten.

Die Gläubigen wollen den Bedürftigen helfen. Gleichzeitig wird das Bild des armen, hilfsbedürftigen Migranten oft mit teuren Handys und Designerkleidung sowie aggressiven, wütenden Verhaltensweisen, die sie an den Tag legen, in Verbindung gebracht. Das dämpft den Eifer.

Auch die Absichten mancher Politiker, Promis und Aktivisten, die ihre Hilfsbereitschaft kundtun, wirken zweifelhaft. Es stellt sich die Frage, ob sie wirklich diejenigen unterstützen wollen, die Hilfe brauchen. Oder vielleicht benutzen diese Menschen sie nur dazu, um sich in den Medien darzustellen?

Sie trafen sich mit Soldaten, den Beamten des Grenzschutzes und der Polizei, die die Grenze bewachen und Angriffe von Migranten abwehren. Wie beurteilen Sie die Haltung, den Zustand und die Moral dieser Menschen?

Ich beobachte das Engagement und eine bewundernswerte Gelassenheit der Beamten und Soldaten. Sie müssen auf Gewalt mit Gewalt reagieren, aber sie tun es stets angemessen zur Bedrohung. In anderen Ländern hätten die Ordnungskräfte auf solche gewalttätigen Angriffe mit mehr Nachdruck reagiert.

Wir dürfen jedoch nicht vergessen, dass die Beamten, die die Grenze verteidigen, nicht aus Stahl sind. Die andauernde Anspannung erschöpft sie körperlich und geistig. Für manche sind die bösartigen Unterstellungen, die verächtlichen Äußerungen einiger Prominenter und Politiker, die abschätzigen Kommentare von Journalisten eine zusätzliche psychologische Belastung. Sie zielen darauf ab, die Moral der Soldaten und Offiziere zu schwächen.

Aktivisten, Promis und Oppositionspolitiker haben sie öffentlich mit SS-Bewachern von KZs, mit Wachleuten an der Berliner Mauer verglichen. Sie wurden von ihnen als „Abschaum“, „Müll“, „Hunderudel“, als „herz- und gehirnlose Maschinen“ bezeichnet.

Deshalb ist es so wichtig, den Menschen in Uniform Wohlwollen und Herzlichkeit entgegenzubringen.

Werden Soldaten, die an der Grenze zu Weißrussland Dienst tun, von Seelsorgern unterstützt?

Die Soldaten wurden von verschiedenen Einheiten aus dem Landesinneren, in denen Seelsorger Dienst tun, an die Grenze geschickt. Ihre Pfarrer besuchen sie vor Ort,  sprechen mit ihnen und feiern, bei günstigen Umständen, mit ihnen die Heilige Messe. Da die Geistlichen die Soldaten und Beamten kennen und diese ihnen vertrauen, können sie deren Moral heben und sie psychisch aufbauen. Unter den Grenzschutzbeamten befindet sich auch ein Kaplan der Grenzschutzabteilung Podlachien, der in meiner Diözese dient. Mehrere Seelsorger bleiben über längere Zeit bei den Soldaten und Beamten an verschiedenen Orten, um sie geistig und psychologisch zu begleiten

Wie können wir den Soldaten und Beamten helfen, die unsere Grenze verteidigen?

Sie brauchen unser Wohlwollen, unsere moralische Unterstützung und vor allem unser Gebet. In den Garnisonkirchen werden beim gemeinsamen Gebet zwei Anrufungen hinzugefügt: eine für die Migranten und eine für die Soldaten und Beamten, die an der Ostgrenze Dienst tun.

Die Bewohner der Grenzregion bringen ihnen viel Dankbarkeit entgegen. Obwohl Soldaten und Beamte gut verpflegt werden, fällt es schwer, nicht gerührt zu sein, wenn ältere Menschen mit heißem Tee, Kaffee, Butterbroten und einem Stück Kuchen, aus den umliegenden Häusern zu ihnen zur Grenze kommen.

Ich hoffe, dass nicht nur die bevorstehenden Weihnachtsfeiertage eine gute Gelegenheit sein werden, all jenen zu danken, die die Grenzen unseres Landes verteidigen.

Das Gespräch erschien im katholischen Wochenmagazin „Gość Niedzielny“ („Der Sonntagsgast“) vom 28.11.2021.

RdP




Polens Sonderweg in die gottlose Zukunft…

…ist nicht vorgezeichnet.

Eintritt, Abkehr, Rückkehr, Rituale – die junge Generation und der Glaube ● Familie, Schule, Kirche und wo die Großmütter bleiben ● Angriffe auf Geistliche, Kirchengebäude und das jähe Ende des Frauenstreiks ● Vom Widerstand der Gläubigen und der Zwangsläufigkeit, die nicht sein muss.

Ein Gespräch mit Prof. Mirosława Grabowska, Polens führender Politik- und Religionssoziologin, Leiterin des staatlichen Zentrums für Meinungsforschung (CBOS).

Prof. Mirosława Grabowska.

Anfang März 2021, bei der Vorstellung des Berichtes der Katholischen Nachrichtenagentur KAI „Kirche in Polen“, haben Sie gesagt, dass sich die Abkehr der polnischen Jugendlichen von der Kirche beschleunigt hat. Wie ist das zu verstehen?

Immer weniger Jugendliche üben den Glauben regelmäßig aus. Gemeint ist damit eine Lebensgestaltung, die mit Gebet, mit der Teilnahme am Gottesdienst und mit der Beachtung christlicher Grundwerte die Hinwendung zu Gott verdeutlicht. Die Bindung an die Kirche lockert sich zunehmend, beschränkt sich auf ein gelegentliches Zusammentreffen. Das gilt für etwa 45 Prozent aller 18- bis 27-Jährigen.

Zudem ist der Anteil der Jugendlichen, die überhaupt nicht mehr zur Kirche gehen, auf etwa 20 Prozent angestiegen. Ihre Begegnung mit der Kirche beschränkt sich auf Taufen, Trauungen, Beerdigungen, manchmal den Gang zur Christmette.

Das sind auch immer noch die Gelegenheiten, bei denen vielen, die sich ganz und gar von der Kirche abgewandt haben, der kirchliche Rahmen wichtig ist. Tradition, Gewohnheit, die Erwartungen der Familie, aber auch die Angst vor einer geistigen und rituellen Leere, die ein wichtiges Ereignis im Leben umgeben könnte, spielen hier eine Rolle.

Damit kommen wir auf etwa 65 Prozent der Jugendlichen, die keinen großen Bezug zur Kirche haben. Kann man das schlechthin mit einer allgemeinen Abkehr vom Glauben gleichsetzen?

Die Abkehr, von der wir reden, hat viele Schattierungen. Einen erklärten, feindseligen Atheismus, der das Christentum als solches rigoros ablehnt, pflegen vielleicht zwei bis drei Prozent der 18- bis 27-Jährigen.

Der Rest bekundet, sich von der Kirche als solcher entfernt oder abgewandt zu haben. Sie behaupten aber gleichzeitig, dem katholischen Glauben „privat“, „mehr“, „weniger“ oder „ein wenig“ verbunden geblieben zu sein. Dieser selbst abgesteckte Verbleib ist möglich, weil sie sich die moralischen Vorgaben des Katholizismus derart zurechtgebogen haben, dass sie ihren „modernen“ Lebenswandel nicht behindern.

Ein bezeichnendes Indiz dafür ist das sehr weitverbreitete Festhalten am religiösen Brauchtum. Nicht wenige Kirchenleute spielen das herunter. Es seien Rituale, ohne einen wahrhaftigen religiösen Inhalt, sagen sie. Ich sehe das anders.

Diese Rituale sind der Gang zur Kirche am Karsamstag, um die Speisen segnen zu lassen. Das Anfertigen oder Erwerben von Osterpalmen. Das Teilen der Oblaten miteinander vor dem Festmahl und das zusätzliche Gedeck auf dem Tisch an Heiligabend. Das gemeinsame Singen von Weihnachtsliedern. Die Teilnahme an der Christmette.

Acht von zehn Jugendlichen, die zu den „abgekehrten“ 65 Prozent gehören, geben an, diesen Bräuchen zugetan zu sein.

Wovon zeugt das?

Davon, dass bei den polnischen Jugendlichen, die sich abgewandt haben, in den meisten Fällen längst nicht alle Brücken zum Glauben und zur Kirche gekappt wurden. Zudem weiß man bei jungen Menschen nie, wie viel purer Trotz, Lust am Protest, an der Provokation ihr Handeln beeinflussen. Das war schon immer ein Privileg des Jungseins.

Die Vorbereitungen auf Erstkommunion und Firmung, der Religionsunterricht in der Schule, auch wenn an ihm vieles bemängelt wird, gehören zu den Erfahrungen der meisten polnischen Jugendlichen. Auch wenn, zumeist nach der Firmung, viele junge Menschen mit 15 bis 18 Jahren von der Kirche, oft aus purer Bequemlichkeit, wegdriften, steht ihnen der Weg der Rückkehr jederzeit offen. Man kennt sich, sozusagen.

Eine große Anzahl derjenigen, die in ihrer Jugend Gott und der Kirche gekündigt haben, gingen und gehen diesen Weg zurück, wenn sie gereift sind, manchmal erst im Alter.

Ich will damit sagen, dass die Tradition, die immer noch sehr lebendig ist, sowie die rege, mit Leben erfüllte Berührung mit der Religion im Kindesalter die polnische Jugend prägen. Daraus ergeben sich viele Brücken und Anknüpfungspunkte. Das gibt Hoffnung, was nicht heißen soll, dass wir uns keine ernsthaften Sorgen machen sollen.

Der Unterschied fällt besonders krass ins Auge, wenn wir unseren unmittelbaren Nachbarn Ostdeutschland betrachten. Dort haben die Nazis und die Kommunisten in mehr als einem halben Jahrhundert beim religiösen Kahlschlag ganze Arbeit geleistet. Die Bevölkerung ist in ihrer Masse gänzlich vom Glauben und von der Kirche separiert. Wo die Jugendweihe die Firmung dauerhaft besiegt hat, da kann man an nichts mehr anknüpfen.

Aber zurück zu uns. Viele Geistliche sagen, dass die Feinde der Kirche schuld sind am Rückgang der Religiosität bei den Jugendlichen.

Dass es solche Feinde der Kirche gibt, das kann man nicht von der Hand weisen. Die Kirche ist im heutigen Polen sehr heftigen Attacken rabiater, linksradikaler Rowdys ausgesetzt: Verunglimpfungen, tätliche Angriffe auf Priester, das Stören von Gottesdiensten, mutwillige Beschädigungen von Kirchengebäuden, aber auch Hasskampagnen in den sozialen Medien. Das ist rohe physische und pure geistige Gewalt.

Doch hier handelt es sich mehr um eine Folge als um eine Ursache. Nicht deswegen entziehen sich Jugendliche der Kirche und dem Glauben, sondern weil drei Institutionen zunehmend versagen: Familie, Schule und die Kirche selbst.

Den Eltern liegt weniger daran, den Glauben weiterzugeben, ihre Kinder in der Kirche zu sehen. Im Jahr 1996 sagten gut 50 Prozent der Jugendlichen, ihren Eltern sei das wichtig. Jetzt sagen das nur noch 30 Prozent.

Warum ist das so?

Das konsumorientierte Denken greift auch bei uns um sich. Die Arbeit verlangt den Eltern immer mehr Kraft und Engagement ab. Die Kinder sollen lernen, einen guten Beruf haben, materiell erfolgreich sein. Ein Teil von ihnen driftet ganz und gar in die sozialen Medien ab, weg von den Eltern. Die Liste der Gründe ließe sich fortsetzen.

Und wo bleiben die Großmütter?

Viele von ihnen sind heute berufstätig oder wohnen woanders, sehen ihre Enkelkinder nur ab und an. Die Mehrgenerationenfamilie, die zusammen wohnt, ist bei uns längst nicht ausgestorben, aber sie ist doch ein langsam auslaufendes Modell.

Hat sich der Religionsunterricht nicht bewährt?

Die Kommunisten haben nach 1945 den Religionsunterricht eingeschränkt und behindert, aber sie brauchten sechzehn Jahre, bis sie es wagten, ihn 1961 aus dem Schulwesen gänzlich zu verbannen.

Ab dann durfte er nur noch an Nachmittagen in den Pfarreien stattfinden. Das freiwillige „chodzenie na religię“, „hingehen zum Religionsunterricht“ einmal in der Woche, bedurfte seitens der Kinder und Jugendlichen eines zusätzlichen Zeit- und Kraftaufwandes.

Es war in der Zeit der kommunistischen Kirchenverfolgungen zugleich zwangsläufig ein eindeutiges Bekenntnis der Eltern zur Kirche. Wer seine Kinder zum Religionsunterricht schickte, musste nicht mit Repressalien, aber sehr wohl mit Nachteilen, zum Beispiel am Arbeitsplatz, rechnen.

Seit September 1989 gibt es wieder Religionsunterricht an den Schulen. Die Erwartung, ihn flächendeckend ausgesprochen attraktiv, außergewöhnlich zu gestalten, ist natürlich unrealistisch. Es gibt durchaus begnadete Katecheten, aber meistens ist das ein Unterricht wie jeder andere. Über die Teilnahme bestimmen die Eltern, volljährige Schüler entscheiden selbst.

Die Zahlen sind rückläufig. Im Augenblick nehmen zwei Drittel der Schüler am Religionsunterricht teil. Vor zehn Jahren noch waren es neunzig Prozent.

Sie sagen: Die Familie versagt, die Schule versagt, und die Kirche selbst?

Wer nicht regelmäßig zur Messe geht, der kommt nicht in Berührung mit der Kirche. Wenn die Eltern nicht hingehen, tun es auch die Kinder nicht. Hinzu kommen die bereits erwähnten Faktoren, wie das Internet, die sozialen Medien, in denen es von Kirchenschmähungen nur so wimmelt, und einiges mehr, das sie davon abbringt. Diejenigen, die nicht zu ihr kommen, kann die Kirche nicht gewinnen.

Sollte die Kirche nicht nach neuen Wegen suchen, Kinder und Jugendliche zu erreichen?

Das geschieht vielerorts, auch unter Anwendung der neuen Medien. Aber machen wir uns nichts vor, es gibt Grenzen, hinter denen sich nur noch Infantilisierung und Anbiederung erstrecken. Die sollte man lieber nicht überschreiten. Es gibt Priester, die berufene Erzieher sind, aber die meisten Geistlichen können sich nur Mühe geben, und das reicht bei den heutigen, auf Events und Action eingestellten Jugendlichen oft nicht aus.

Wir reden bis jetzt nur von Problemen und Niederlagen, malen ein durch und durch düsteres Bild. Es gibt aber auch die Kehrseite der Medaille. In den heiligen Messen, egal wo man in Polen in die Kirchen hineinschaut, sind beileibe nicht nur alte Mütterchen zu sehen. Kinder und Jugendliche bevölkern sie immer noch reichlich. An den knapp fünfhundert von der Kirche getragenen katholischen Schulen lernen etwa 75.000 Schüler. Das eine Drittel der sich nicht von der Kirche abgewendeten jungen Menschen lebt den Glauben und engagiert sich sehr stark.

Ja, das ist immer noch ein sehr starkes Fundament. Die Frage ist, ob es sich festigen und ausbauen lässt oder ob es weiterhin bröckelt.

Die Verweltlichung nimmt auch in Polen immer radikalere Formen an. Hat Sie das Ausmaß der Aggression, mit der Protestteilnehmer nach dem Urteil des Verfassungsgerichts zum besseren Schutz des ungeborenen Lebens im Herbst letzten Jahres gegen Geistliche und Kirchengebäude vorgingen, überrascht?

Das geschah überwiegend in den Großstädten. Die Proteste waren nicht klein, aber im Gesamtmaßstab umfassten sie nur einige wenige Prozent der Gesellschaft. Die Veranstalter behaupteten im Namen „der Frauen“ aufzutreten. In Wirklichkeit vertraten sie zwar eine gehörige Anzahl von ihnen, aber es war eine Minderheit.

Dabei wurde ein Tabu, das in Polen gesellschaftsübergreifend galt, auf eine früher unvorstellbar brutale Art gebrochen. Der Trend selbst hat mich nicht verwundert, aber die Brutalität des Vorgehens tat es durchaus. Das Eindringen in Kirchen, um die Heilige Messe zu stören, das konnte ich mir bis dahin nicht vorstellen. Jetzt kann ich es.

Nach wenigen Wochen sind die Proteste versiegt. Zu dem vorläufig letzten Versuch, Warschau am 8. März 2021, dem sogenannten Internationalen Frauentag, lahmzulegen, sind mehr Polizeibeamte und Journalisten als Demonstranten erschienen. Wo sehen Sie die Gründe für das Scheitern des sogenannten Frauenstreiks?

Erstens. Die Jugendlichen, die massenweise zu den ersten Protesten im Oktober 2020, unmittelbar nach dem Spruch des Verfassungsgerichts, kamen, haben diese Protestaktionen zumeist als ein Happening aufgefasst. Es war, in der Corona-Zeit, vor allem ein Entkommen aus dem Eingesperrtsein zu Hause, ohne Schule, ohne Disco, ohne Geselligkeiten. Diese Ventilfunktion jedoch hat sich bald abgenutzt. Das fast tagtägliche Protestieren wurde ihnen schnell langweilig.

Zweitens. Die Veranstalter sind sehr rasch von der Forderung, die Abtreibung auf Wunsch zuzulassen, dazu übergegangen, einen Machtwechsel ohne Wahlen in Polen zu fordern, den Sturz der Regierung anzustreben, gar eine Revolution zu verkünden. Der Regierung wurden allen Ernstes acht Tage eingeräumt, um zurückzutreten. Es war grotesk und es ging den meisten viel zu weit. Das waren nicht ihre Anliegen. Sie fühlten sich hintergangen und sind zu Hause geblieben.

Drittens. Nach der anfänglichen Begeisterung kam die Ernüchterung. Die brutale Hass- und Gossensprache, derer sich die Anführerinnen der Frauenstreiks bedienten, dazu die erwähnten Attacken auf Geistliche und Kirchengebäude, erzeugten die Frage: Wo und womit soll das enden?

Zwischen der Ablehnung der Kirche und dem Demolieren von Kirchen liegen in Polen immer noch Lichtjahre. Das haben die selbsternannten, inzwischen ziemlich vereinsamten Führerinnen des Frauenstreiks schmerzlich zur Kenntnis nehmen müssen.

Kindesmissbrauch durch Geistliche hat im katholischen Irland die Kirche in eine schwere Krise gestürzt. Ist das auch in Polen eine wichtige Ursache dafür, dass Jugendliche der Kirche den Rücken kehren?

Sicherlich spielt das eine Rolle, aber wie groß sie ist, das kann ich nicht sagen. Dazu bedürfte es sehr eingehender Untersuchungen. Tatsache ist, dass das Vertrauen in die Kirche schwindet. Das zeigen alle Umfragen. Aber auch hier sollten wir eine polnische Besonderheit nicht außer Acht lassen.

Ein wichtiges Erbe des Zweiten Weltkrieges und des an ihn unmittelbar anschließenden Kommunismus in Polen war das außerordentlich große Vertrauen in die Kirche. Ob Massenmorde im Krieg oder Repressalien im Kommunismus, die Kirche teilte das Schicksal der Nation. Sie war und ist immer noch ihre tragende Säule. Gegen sie richtete sich deswegen die Wucht des deutschen, des sowjetischen und des eigenen kommunistischen Terrors.

Die polnische Kirche hat mit ihrem Widerstand wichtiges Zeugnis abgelegt. Zwei Namen: Pater Maksymilian Kolbe und Pfarrer Jerzy Popiełuszko stehen stellvertretend für die im Krieg etwa 3.000 ermordeten polnischen Geistlichen und einige Dutzend, die nach dem Krieg getötet wurden. Die Kirche litt mit der Nation, sie spendete zugleich Trost, gab seelischen Rückhalt, erhob die Stimme des Protestes, war ein Zufluchtsort, an dem man sich dem totalitären Herrschaftsanspruch und der allgegenwärtigen, dumpfen kommunistischen Propaganda entziehen konnte.

Der kommunistische Staat und die Kirche, das war jahrzehntelang der von den anormalen politischen Umständen hervorgebrachte, eigenartige polnische Pluralismus. Daher rührte die Autorität der Kirche und die Zustimmung von gut 90 Prozent, die sie um 1990 genoss. Mehr ging nicht.

Zweierlei war zudem klar. In einer pluralistischen Gesellschaft werden andere einen Teil der bisherigen, politisch-gesellschaftlichen Funktionen der Kirche übernehmen, die diese im Kommunismus notgedrungen ausüben musste. Außerdem werden ihr, auf dem neu entstandenen „freien Basar der Ideen“, schnell vielfältige heftige Winde entgegenwehen. Dass unter diesen Umständen heute, dreißig Jahre nach dem Ende des Kommunismus, immer noch um die 50 Prozent der polnischen Gesellschaft der Kirche ihr Vertrauen aussprechen, ist durchaus bemerkenswert.

Und die Parallele zu Irland?

Dort hat nicht ausschließlich die Pädophilie die Kirche in die Krise gestürzt. In der einst armen britischen Kolonie überstieg innerhalb einer Generation das Pro-Kopf-Einkommen das in Großbritannien. Es war ein geradezu kometenhafter Aufschwung. Das ist ungefähr so, als würden wir in Polen innerhalb von zwanzig Jahren reicher werden als die Deutschen. Dieser plötzliche Wechsel zog atemberaubende soziale Veränderungen nach sich, die den Verweltlichungsprozess einer bisher sehr traditionellen Gesellschaft erheblich beschleunigten.

Das heißt: Je reicher wir sind, umso mehr lässt unsere Religiosität nach?

So eine Abhängigkeit weisen alle internationalen Untersuchungen auf. Wachsender Wohlstand, mehr soziale Sicherheit bewirken nicht, dass wir gleich den Glauben verlieren, aber wir werden zunehmend abgelenkt, unser Lebensstil ändert sich.

Der Kirche in Polen wird vorgeworfen, sie mischt in der Politik mit und begünstigt die regierenden Nationalkonservativen. Die Linke sieht darin einen wichtigen Grund für eine fortschreitende Laizisierung der Gesellschaft.

In aller Welt beeinflusst die Religiosität die politischen Präferenzen, auch in Polen. Überall geben gläubige Menschen bevorzugt konservativen Parteien ihre Stimme. Bei uns ist das Niveau der Religiosität immer noch viel höher als anderswo im Ausland. Das verknüpft sich mit anderen Merkmalen: höherem Alter, dem Wohnen in traditionell geprägten Regionen.

Auch den Vorwurf des Mitmischens in der Politik muss man redlich angehen. Die Gegner der Kirche bezeichnen auf diese abschätzig klingende Weise Stellungnahmen der Bischöfe zu Fragen der Ethik, der Moral, der Sozialpolitik. Der Schutz des ungeborenen Lebens gegen Abtreibung. Das Recht, am Sonntag nicht an der Kasse eines Discounters sitzen zu müssen. Die Festigung der traditionellen Familie. All das und vieles mehr sind zugleich hochbrisante politische Themen, die die Gesellschaft spalten. Dennoch kann und darf die Kirche nicht dazu schweigen.

Dieselben Linken und Liberalen, die das Engagement der Kirche in diesen Fragen als „Einmischung in die Politik“ bemängeln, erwarten und fordern gar, dass sich die Kirche zu denselben Themen in ihrem Sinn äußern soll. Das ist dann nicht „Einmischung“, sondern „Engagement“.

Wenn man die Entwicklung in den noch vor nicht langer Zeit sehr katholischen Ländern wie Irland, Spanien oder Italien beobachtet, drängt sich die Frage auf: Welchen Weg hin zur Laizisierung wird Polen einschlagen?

Soziologen sind keine Zukunftsforscher, sie erkunden den Ist-Zustand der Gesellschaft. Das zum einen. Zum anderen schwingt in Ihrer Frage die zwingende historische Vorbestimmung mit, an die die Marxisten felsenfest glauben. Die unausweichliche historische Gesetzmäßigkeit hat die Frage nach dem „Ob“ längst entschieden. Was angeblich lediglich noch übrigbleibt, ist die Frage nach dem „Wie“ zu beantworten.

Derweil ist die Kirche in Polen, anders als seinerzeit in den von Ihnen erwähnten Ländern, nicht sich selbst überlassen. Vorgewarnt durch das, was dort passiert ist, stellen sich Polens Katholiken dem Zeitgeist in den Weg.

Eine breite Pro-Life-Bewegung hat sich etabliert. Elterninitiativen widersetzen sich erfolgreich den Versuchen, in den Schulen einen zügellosen Sexualanleitungs-Unterricht einzuführen. Tausende stellten sich im Herbst vor die Kirchen, um sie vor Zerstörungen zu bewahren. Eine große Schar von katholischen Journalisten, Ärzten, Wissenschaftlern, Gewerkschaftlern, Unternehmern scheut keine Debatten, auch nicht mit den rabiatesten Verfechtern der Gegenseite. In Deutschland z. B. würde niemand auf die Idee kommen, diese Leute gleichberechtigt an öffentlichen Debatten teilnehmen zu lassen. Sie wurden dort längst in Nischen und Reservate verbannt.

Zahlreiche katholische und konservative Medien, die in den letzten Jahren entstanden sind, bieten den immer noch weit einflussreicheren linksliberalen Medien die Stirn. Anzeigen- und Plakatkampagnen bringen pointiert, deutlich und publikumswirksam die katholischen Argumente zum Ausdruck. Das Spendenaufkommen für all diese Zwecke ist groß.

Mit einem Wort, die breite katholische Öffentlichkeit in Polen ist sehr wachsam geworden. Das verlangsamt die Laizisierung deutlich und es kann sie durchaus auf verschiedenen Gebieten des öffentlichen Lebens aufhalten.

In Irland und Spanien verlief der Laizisierungsprozess schnell und heftig. In Italien hingegen ist er auch sehr weit fortgeschritten, verläuft jedoch langsam, schleppend. Das beobachten wir auch in Polen.

RdP

Das Gespräch, das wir, mit freundlicher Genehmigung, wiedergeben, erschien in dem katholischen Wochenmagazin „Gość Niedzielny“ („Sonntagsgast“) vom 21. März 2021.




Ein Beigeschmack von Rufmord

Am 16. November 2020 starb Kardinal Henryk Gulbinowicz.

Was ihm widerfuhr harrt einer fairen Aufklärung. Noch bis kurz vor dem Tod wegen seiner aufrechten Haltung während der Verhängung des kommunistischen Kriegsrechts geehrt und verehrt, jahrzehntelang als leutselig, gutherzig und lebensklug gemocht und bewundert, wurde Kardinal Henryk Gulbinowicz als Stasi-Zuträger und Sexualtäter verstohlen zu Grabe getragen. Parteienübergreifend sind gewichtige Stimmen laut geworden, man habe alle Zweifel an seiner Schuld zu seinen Ungunsten ausgelegt.

Als volksnah, leutselig, gutherzig und lebensklug gemocht und bewundert. Kardinal Emeritus Henryk Gulbinowicz vor dem Anpfiff des Spiels WKS Śląsk Wrocław gegen Cracovia Kraków am 18. März 2012 im Fußballstadion von Wrocław, mit Wrocławs damaligen Oberbürgermeister Rafał Dutkiewicz.

Der Vatikan hat dem 97-Jährigen und damit dem zweitältesten Kardinal der Welt, zehn Tage vor seinem Tod, am 6. November 2020, eine Reihe von „Disziplinarmaßnahmen“ auferlegt.

Der frühere Erzbischof von Wrocław/Breslau sollte keine Gottesdienste mehr zelebrieren und nicht länger an öffentlichen Veranstaltungen teilnehmen dürfen. Ihm wurde das Tragen der Bischofsinsignien: des Bischofsstabes, des Brustkreuzes, des Bischofsrings, der Mitra verboten. Ebenso wurde ausgeschlossen, dass es nach seinem Tod in der Kathedrale eine Trauerfeier für ihn gibt und er dort beigesetzt wird.

Zudem sollte Gulbinowicz der „Sankt-Josef-Stiftung“ eine „angemessene“ Spende zukommen lassen. Von der Polnischen Bischofskonferenz für Opfer sexueller Gewalt gegründet, bietet sie seit 2020 Unterstützung durch Psychologen, Pädagogen, Juristen und Priester an und engagiert sich in der Prävention. Soweit bekannt, hat der Sterbende von alldem nichts mehr wahrgenommen.

Der 80-Millionen-Coup und der Kardinal

Anfang Dezember 1981 war die politische Atmosphäre in Polen zum Zerreißen gespannt. Leergefegte Regale in den Läden, keine Medikamente zu kaufen, tagelanges Anstehen nach Benzin, Polizeiprovokationen gegen Solidarność, ungestüme Drohgebärden der staatlichen Propaganda und schneidige Ankündigungen der Gewerkschaft, sich notfalls mit einem Generalstreik zur Wehr setzen zu wollen. Seit längerem schon auf Kollisionskurs, rasten die beiden Antagonisten, Solidarność und der kommunistische Staat, immer schneller aufeinander zu.

Polen Ende 1981. Anstehen vor leeren Läden und Tankstellen.

Dazwischen befanden sich Millionen, zunehmend physisch und psychisch erschöpfter, orientierungsloser Menschen. Sie, mit einer staatlich
gelenkten Konfrontationspolitik zu zermürben, in die Resignation zu drängen, das sollte den Nährboden der Begeisterung austrocknen, auf dem Solidarność seit dem Streiksommer von 1980 gediehen war. Was den Kommunisten dann auch weitgehend gelungen ist.

Der Zusammenstoß schien unvermeidlich. Wann? Wie? Die Antwort brachte der 13. Dezember 1981 mit der unerwarteten Ausrufung des von langer Hand vorbereiteten Kriegsrechts durch die kommunistischen Machthaber unter General Jaruzelski.

Armee und Polizei legten das Land in Ketten. Solidarność wurde verboten. Gefängnisse und Internierungslager füllten sich mit Regimegegnern. Der Generalstreik blieb aus.

Dezember 1981. Polen unter dem Kriegsrecht.

Bevor die Panzer tatsächlich auffuhren, war vielen, die damals in den Solidarność-Strukturen tätig waren, bewusst, dass es brenzlig werden könnte.

Am 3. Dezember 1981 frühmorgens, zehn Tage vor Ausrufung des Kriegsrechts, betraten drei leitende Solidarność-Funktionäre der Region Niederschlesien die fünfte Filiale der Polnischen Nationalbank NBP in Wrocław/Breslau. Sie befindet sich bis heute  in einem ehemaligen deutschen Bankgebäude, in der Straße der Opfer von Auschwitz (ulica Ofiar Oświęcimskich), unweit vom Ring, dem mittelalterlichen Marktplatz in der Oder-Metropole.

Gebäude der Polnischen Nationalbank in Wrocław heute.

Der Termin war am Vortag vereinbart worden, und Filialdirektor Jerzy Aulich gab der Bitte der Kunden nach, die Polizei nicht zu benachrichtigen, obwohl sie beim Abheben exorbitant großer Summen aus Sicherheitsgründen eigentlich immer dabei sein musste. Dieses Entgegenkommen sollte Aulich schon kurz darauf den Job kosten.

Abheben des Solidarność-Geldes am 3. Dezember 1981 in Wrocław. Szene aus dem Spielfilm „80 Millionen“ von 2011.

Es waren 80 Millionen Zloty, was nach dem damaligen Schwarzmarktkurs (1$ = 180 Zloty) knapp einer halben Million Dollar entsprach. Der offizielle Kurs (1$ = 40 Zloty) war zu dieser Zeit ein rein fiktiver Wert und nicht ausschlaggebend. Nur unter der Hand, zu dem horrenden Schwarzmarktpreis, konnte der Normalpole den begehrten Greenback erstehen und mit ihm in den Besitz von all den schönen, modernen Konsumwaren gelangen, die es nur in den Pewex-Valutaläden zu kaufen gab. Am Bankschalter war der Dollar, genauso wie die D-Mark oder das britische Pfund, in der ganzen kommunistischen Zeit grundsätzlich nicht zu bekommen.

Gesichter des Kommunismus. Devisenschieber vor dem Sitz der Polnischen Nationalbank in Warschau.

Ein durchschnittliches Jahresgehalt betrug im damaligen kommunistischen Polen etwa 70.000 Zloty, wofür man im trist grauen Dezember 1980 nicht einmal 400 Dollar beim Devisenschieber erstehen konnte. Heute, kaufkraftbereinigt, würden die damaligen 80 Millionen Zloty etwa 2 Millionen Dollar entsprechen.

So viele Mitgliedsbeiträge hatte die Solidarniość von Niederschlesien auf ihrem Konto angehäuft. In der richtigen Annahme, dass im Falle eines Notstandes, das Konto sofort gesperrt worden wäre, wurde der ganze Betrag abgehoben und in drei großen Koffern mit einem Privatauto fortgeschafft. Unterwegs in einen zweiten Wagen umgeladen, brachten ihn zwei Solidarność-Leute ins erzbischöfliche Palais auf der Dominsel.

Das Erzbischöfliche Palais (links) auf der Dominsel von der Oder aus gesehen. Unten die Auffahrt zum Palais.

Die Ordensschwestern an der Rezeption riefen den ahnungslosen Erzbischof Gulbinowicz (Kardinal wurde er erst 1985) an: „Zwei Herren bitten Exzellenz herunterzukommen“. „Was sind das für Herren?“ „Wir kennen sie nicht“.

Innenhof vom Palais aus gesehen.

Gulbinowicz ging hinunter. Er kannte die beiden vom Sehen und wusste, dass sie Solidarność-Funktionäre waren. Er nahm sie mit nach oben, drehte das Radio laut auf und fragte in seiner unverkennbar östlichen Wilnaer Satzmelodie: „Was wollt ihr?“

„Wir haben Geld gebracht“. „Was für Geld? Gestohlen?“ „Nein“ „Eigenes Geld?“ „Eigenes“. „Von wo?“ Gulbinowicz zuckte nicht einmal mit der Wimper als er von den 80 Millionen in drei Koffern hörte. „Zloty?“, vergewisserte er sich noch. „Zloty“. „Echt?“ „Echt“. „Und was soll ich damit?“ „Aufbewahren“. „Ist euch niemand hinterhergefahren?“ „Nein“. „Dann lasst es hier stehen und haut ab“.

Gulbinowicz stoppte die beiden jedoch als sie bereits in seiner Bürotür standen: „Ihr braucht noch eine Quittung“. „Nein, lieber nicht, könnte in falsche Hände geraten“. „Und wenn ich sterbe?“ Gulbinowicz ließ nicht locker, bis man sich einigte die Quittung in einen der Koffer zu legen.

Die Echtheit dieses Dialogs ist verbrieft, genauso wie die Ereignisse, die darauf folgten. Jahrelang schöpfte die Untergrund-Solidarność aus den drei Koffern Hilfsgelder für Ehefrauen und Kinder ihrer Mitglieder, die in Gefängnissen und Internierungslagern saßen. Auch wer sich verstecken musste, wurde aus dieser Quelle versorgt. Es war Geld da, für Tonnen illegal beschaffter Druckschwärze, für Papier und die Bezahlung der Drucker. Junge Männer stellten Flugblätter, Zeitschriften im Handformat, aber auch verbotene Bücher tage- und nächtelang in stickigen Kellern auf primitiven Vervielfältigungsgeräten her.

Gulbinowicz ließ die verschlossenen Koffer erst einmal auf dem Gang stehen, um glaubhaft zu machen, dass sie „wiedergefundene deutsche Kirchenarchivalien enthielten und bald abgeholt würden“. Eines Nachts haben sie der Erzbischof und sein Sekretär dann gut versteckt.

Erzbischof Gulbinowiczs ausgebrannter Ford Granada.

Die Staatssicherheit tobte nach dem 80-Millionen-Coup. Sie vermutete das Geld im Bischofspalais, aber eine Hausdurchsuchung wollte sie nicht riskieren. Würde die Stasi das Geld nicht finden, wäre sie blamiert. Hätte sie es gefunden, müssten die Kommunisten einen Erzbischof verhaften und vor Gericht stellen. Das Welt-Echo wäre verheerend. Die Geheimpolizei rächte sich lieber mit Schikanen.

Wie wir heute aus Stasi-Akten wissen, haben zwei Stasi-Beamte, Grosman und Pełka, im Mai 1984 Gulbinowiczs Auto bei seinem Besuch im niederschlesischen Złotoryja/Goldberg in Brand gesteckt. Auf Gulbinowicz waren in Wrocław, wohin er 1976 als Erzbischof gekommen war, bis zum Ende des Kommunismus 1989, nicht gleichzeitig aber insgesamt, vierzig Zuträger der polnischen Staatssicherheit, Laien wie Geistliche, angesetzt.

Schirmherr des Widerstandes

Sofort nach der Verhängung des Kriegsrechts rief Gulbinowicz das Erzbischöfliche Wohltätigkeitskomitee ins Leben. Mit ihm entstand ein beachtliches, regionales, ehrenamtliches Verteilungsnetzwerk von Hilfsgütern, die damals in gewaltigem Ausmaß nach Polen flossen: Lebensmittel, Hygieneartikel, Medikamente, Kleidung.

Die Spender wollten sichergehen, dass ihre Hilfe nicht dem Regime, sondern den Bedürftigen zugutekommt. Die Kirche sollte dafür sorgen und sie tat es, ohne Lagerhallen, Kühlhäuser und Transportkolonnen zu haben. Auch wenn es mal galt fünf Tonnen tiefgefrorene Butter in 25-Kilo-Blöcken, die jemand mit einem Kühl-Lkw auf die Reise nach Polen geschickt hatte, kurzerhand zu entladen, mit Hackmessern und Äxten zu portionieren und unter die Leute zu bringen, bevor sie ranzig wurde, die Kirche kümmerte sich auch darum.

Erzbischof Gulbinowicz segnet eine Solidarność-Betriebsfahne vor der Verhängung des Kriegsrechts.

Der Erzbischof selbst erstritt sich Einlass in niederschlesische Gefängnisse und Internierungslager, durchforstete sie regelrecht, zelebrierte dort Messen, nahm Beichten ab, trug ihm zugeflüsterten Bitten, Beschwerden und Botschaften nach außen und gab sie weiter. Er protestierte und intervenierte bei den Behörden. Die Priester seiner Diözese hatten es ihm gleich zu tun. Das schuf eine Öffentlichkeit, die der kommunistischen Willkür hinter den Gefängnismauern Grenzen setzte.

Gulbinowicz war auch Schirmherr vieler unabhängiger Kulturaktivitäten, die in dem sonst gleichgeschalteten Kriegsrecht-Polen, nur auf kirchlichem Terrain stattfinden konnten. Künstler, die den offiziellen Kulturbetrieb boykottierten oder Berufsverbot hatten, gaben Konzerte, inszenierten Theateraufführungen, organisierten Lyrik-Abende, stellten ihre Bilder aus. Ohne „Danke“ zu sagen, wechselten nicht wenige von ihnen nach dem Ende des Kommunismus an die vorderste Front der Kämpfer gegen „Klerikalismus“ und katholische Tradition.

Solidarność-Proteste und Unruhen in Wrocław am 31.08.1982

Es war zu einem erheblichen Teil Gulbinowicz zu verdanken, dass Wrocław, trotz aller Repressalien und der Resignation, die viele in Polen erfasste, eine der Hochburgen der Untergrund-Solidarność blieb, weil er ihr, Kraft seines enormen Ansehens und seiner Popularität, Schutz bot. Was sich damals im Einzelnen in Wrocław ereignete, können Sie ausführlich in dem Nachruf auf Kornel Morawiecki nachlesen, den legendären Begründer der „Kämpfenden Solidarność“ in Wrocław und Vater des polnischen Ministerpräsidenten Mateusz Morawiecki.

„Der Unverbrüchliche“ (bitte hier klicken).

Zeuge des Grauens

Henryk Gulbinowicz. Wilnaer Gymnasiast 1938.

Im polnischen Wilno, heute in Litauen, 1923 auf die Welt gekommen, verbrachte der kleine Henryk die Kindheit unweit der Stadt, im Dorf Szukiszki, wo sein Großvater Ende des 19. Jahrhunderts ein kleines Gut gekauft hatte. „Arbeitsam, naturnah, solide, gottesfürchtig und patriotisch ist es bei uns zu Hause zugegangen“, erinnerte sich Gulbinowicz Jahrzehnte später. Im September 1938 schickten ihn die Eltern auf das Wilnaer Jungengymnasium der Jesuitenpadres.

Wilno in den 30er Jahren des 20. Jahrhunderts.

Henryk Gulbinowicz wuchs zu einem echten „Wilniuk“, „Wilnaer“ auf. Es war ein Menschenschlag, den die jahrhundertelange wechselvolle Geschichte des Polentums in Litauen geformt hatte. Frohnaturen, in der Tiefe ihrer Herzen stets wachsam und vorsichtig, wenn es galt sich auf Fremde einzulassen. Schwer durchschaubar, robust im Einstecken und bauernschlau.

Diese Eigenschaften wurden überlebenswichtig in den dunklen Zeiten, die im Herbst 1939 für die Polen (zwei Drittel) und später auch für die Juden (ein Drittel der Bevölkerung) in Wilno und Umgebung anbrachen. Die Rote Armee, die in Absprache mit Hitler am 17. September 1939 Polen überfiel, besetzte Wilno zwei Tage später.

Sowjeteinmarsch in Wilno am 19. September 1939.

Fünf Wochen dauerten Raub, Repressalien und Übergriffe der Sowjets an. Am 26. Oktober 1939 fand die Übergabe der Stadt an das noch halbwegs unabhängige Litauen statt. Die Sowjets hatten kurz zuvor im Land, genauso wie in Lettland und Estland, die Errichtung ihrer Militärstützpunkte erzwungen. Stalin, dem es ein diebisches Vergnügen bereitete seinen verunsicherten Opfern Galgenfristen zu gewähren, um sie im Unklaren zappeln zu sehen, zeigte sich auch den Litauern gegenüber auf diese für ihn typische, pervertierte Art generös.

26. Oktober 1939. Ein litauischer (links) und ein sowjetischer Offizier durchsägen den Grenzschlagbaum. Die Sowjets übergeben das fünf Wochen zuvor von ihnen besetzte polnische Wilnaer Land an Litauen.

Etwa ein halbes Jahr lang waren die neuen Besatzer der Stadt damit beschäftigt, sie und ihre Bewohner gründlich zu lithuanisieren. Henryk Gulbinowicz, der nie mit dem ethnischen Litauen etwas zu tun hatte und kein Wort Litauisch sprach, hieß jetzt, laut einem neuen Ausweis, Henrikas Gulbinovičius. Wo sie nur konnten, haben die Litauer alles Polnische schikaniert und ausgemerzt, aber, so der Kardinal Jahrzehnte später, wenigstens füllten sich die Läden nach den sowjetischen Raubzügen schnell wieder mit Waren und es gab genügend Lebensmittel zu kaufen.

Litauischer Einmarsch in Wilno am 26 Oktober 1939. Banner-Aufschrift: „Die Einwohner von Wilno begrüßen die litauische Armee“.

Stalin ließ den Litauern sieben Monate lang ihren Spaß am „wiedererlangten“ Wilno. Dann verwandelte er, unter Gewaltandrohung, die drei baltischen Staaten kurzerhand in Sowjetrepubliken. Am 15. Juni 1940 war die Rote Armee zurück in Wilno. Am 14. Juli 1940 fuhren von dort die ersten Viehwaggons mit Tausenden, überwiegend polnischen Deportierten, in Richtung Sibirien ab, zur Vernichtung durch Holzfällen und Arbeit unter Tage.

Auf nach Wilno. Die Rote Armee überschreitet die litauische Grenze am 15. Juni 1940. Links im Bild ein litauischer Grenzpfosten.

Ein knappes Jahr später wich der rote Terror dem braunen. Am 24. Juni 1941 nahm die Wehrmacht Wilno ein. Die spontanen litauischen Judenpogrome der ersten Tage nach dem deutschen Einmarsch waren der Einstieg in die Hölle. Allein im bewaldeten Stadtteil Ponary, brachten Deutsche Sonderkommandos und die litauische Hilfspolizei zwischen Sommer 1941 und Sommer 1944 schätzungsweise an die 72.000 Juden und mehr als 2.000 Polen um.

Deutscher Einmarsch in Wilno am 24. Juni 1941. Unten: Litauischer Hilfspolizist bei den Massenmorden in Ponary.

Mitte Juli 1944 erlebte der 21-jährige Gulbinowicz den dritten Einmarsch der Sowjets in Wilno. Die Deutschen leisteten heftigen Widerstand. Die polnische Heimatarmee (Armia Krajowa – AK) im Untergrund zog alle ihre verfügbaren Kräfte, etwa 4.500 Mann, in und um die Stadt zusammen. Sie wollte Wilno während des bereits begonnenen Abzugs deutscher Dienststellen, noch vor den Sowjets befreien, um anschließend, als Hausherr, die Rote Armee im Namen der polnischen Exilregierung in London vor Ort zu begrüßen.

Sowjeteinmarsch in Wilno im Juli 1944.

Die deutschen Truppen, mit schweren Waffen ausgestattet, die die AK nicht besaß, erwiesen sich als zu stark. Erst das Eintreffen der Russen, denen sich die Polen zur Seite stellten, brachte den Durchbruch. Die Sowjets nahmen die Hilfe der ortskundigen polnischen Kämpfer gern in Anspruch, um sie gleich nach dem Ende der Kämpfe zu entwaffnen und entweder umzubringen oder ins Innere der Sowjetunion zu deportieren.

Aus Wilno vertrieben

Das hautnah miterlebte Grauen der Kriegsjahre 1939-1944 bestärkte Gulbinowicz darin, sich ganz und gar Gott zu verschreiben. Er trat Im Oktober 1944 in das Wilnaer Priesterseminar ein.

Henryk Gulbinowicz. Priesterseminarist in Wilno 1944.

Die Stadt befand sich damals schon seit etwa vier Monaten fest in sowjetischer Hand. Die Sowjets und ihre litauischen kommunistischen Helfer waren felsenfest entschlossen, den polnischen Charakter von Wilno auszuradieren.

Wer Widerstand, egal ob friedlich oder bewaffnet, leistete, starb einen qualvollen Tod in den Folterkammern der Geheimpolizei NKWD oder landete in einem Viehwaggon der Deportationszügen nach Sibirien. Zehntausende wurden in das neuentstehende kommunistische Polen abgeschoben, das die Hälfte des polnischen Staatsgebietes aus der Vorkriegszeit, darunter das Wilnaer Land, an die Sowjets hatte abtreten müssen.

Wilno 1945. Sowjets erfassen Polen vor der Abschiebung.

Am 20. Februar 1945 umstellte der NKWD das Wilnaer Priesterseminar. Ein Offizier erklärte den ins Refektorium zusammengetriebenen Seminaristen und Dozenten, die Lehranstalt sei hiermit geschlossen. Sie sollten ihre Sachen packen und sofort verschwinden. Man erwarte, dass sie sich in die Deportationslisten nach Polen eintragen lassen und mit den nächsten Bahntransporten ausreisen.

Die sowjetrussische Bürokratie mit ihrer peniblen Überprüfung, damit bloß kein Nicht-Pole in einen Deportationstransport geriet, zusätzlich ein Mangel an Viehwaggons, verlangsamten die Abschiebungen. Derweil wurde der Andrang der verzweifelten Menschen immer größer. Um sie zur Ausreise zu bewegen, jagten die Sowjets Polen aus ihren Wohnungen, und brachten dort neue Siedler unter. Sie schlossen reihenweise polnische Einrichtungen, deren Mitarbeiter dadurch ihr Einkommen verloren, ebenso wie die polnischen Arbeiter, die man massenweise entließ und die Bauern, die man von ihren Höfen vertrieb.

Wilnaer Bahnhof 1945. Polen verlassen ihre Heimat.

Gulbinowicz musste sich bis Ende August 1945 irgendwie durchschlagen, bis er endlich im dreihundert Kilometer entfernten Białystok ankam. Im doppelten Boden seines Holzkoffers schmuggelte der Priesteranwärter einiges an liturgischen Geräten. Kurz vor der Deportation hatte er es noch geschafft das Abitur in Wilno abzulegen. Die Jesuitenpadres vom Wilnaer Jungengymnasium, die auch schon aus ihrer Schule geworfen worden waren und auf den Abtransport warteten, hatten die Prüfungen in kleinen Gruppen konspirativ durchgeführt.

Wie sich die Vertreibung der polnischen Bevölkerung durch die Sowjets 1944 und 1945 im Einzelnen abspielte, können Sie in dem Beitrag „Das Ende des polnischen Lwów“ lesen (bitte hier klicken).

Erzdiözese dreigeteilt

Der ebenfalls ausgewiesene Wilnaer Erzbischof Romuald Jałbrzykowski (fonetisch Iaubschikowski) verlegte die Kurie und das Priesterseminar ins polnische Bialyskok, das damals zur Erzdiözese Wilno gehörte. Da sich der Vatikan konsequent weigerte die Einverleibung der drei baltischen Staaten als Sowjetrepubliken in die UdSSR anzuerkennen, blieb die Erzdiözese Wilno weiterhin formell in gleicher Weise bestehen wie vor dem Zweiten Weltkrieg.

Verwaltet wurde sie seit 1945 von Białystok aus durch einen apostolischen Administrator. Bis zu seinem Tod 1955 war das Erzbischof Jałbrzykowski. Nach dem Tod von dessen Nachfolger ernannte Papst Paul VI. Henryk Gulbinowicz im Januar 1970 zum Bischof und betraute ihn mit diesem Posten, den dieser bis zu seinem Wechsel nach Wrocław Ende 1975 bekleidete.

Gulbinowicz konnte als Administrator, wie alle anderen, die das Amt bekleideten, nur in dem in Polen verbliebenen Zipfel der Erzdiözese Wilno seines Amtes walten. Mit knapp 54.000 Quadratkilometern Fläche war die Diözese einst die größte im Vorkriegspolen gewesen. Davon verblieben lediglich ca. 6.000 Quadratkilometer in Polen. Nicht ganz 10.000 Quadratkilometer befanden sich in der Litauischen Sowjetrepublik und etwa 38.000 Quadratkilometer im sowjetischen Weißrussland.

Fünfundvierzig Jahre lang, von 1945 bis 1990, verweigerten die Sowjets polnischen Geistlichen die Einreise auf ihr Gebiet. Erst 1991, nach dem Wiederentstehen des unabhängigen Litauens und der staatlichen Verselbständigung Weißrusslands, passte der Vatikan die Grenzen der Wilnaer Erzdiözese der neuen politischen Karte an. Der apostolische Administrator in Białystok wurde somit überflüssig.

„Wilno, für mich die geliebte Stadt.“

Gulbinowicz hat niemals, auch nicht in den kommunistischen Zeiten, als es ein Tabuthema war, ein Hehl daraus gemacht, wie sehr sein Herzblut an Wilno hing. Wie sehr, dass kann man z.B. in einem Gratulationsbrief, den er als Kardinal 2004 zum 60. Ehejubiläum an das Ehepaar Trojanowski richtete, das die Ereignisse, so wie ihn, aus Wilno nach Wrocław verschlagen hatte, nachlesen.

„Seien Sie stolz auf die Zeit, in der Sie in Wilno in der Heimatarmee gedient haben. (…) Alle Mühen, Leiden und Opfer, die Sie aus Liebe zu Gott, zum Vaterland und zur eigenen Nation erbracht haben, wird Ihnen der Allmächtige im Himmel anrechnen.

Der zehnjährige Henryk Gulbinowicz auf Spaziergang in Wilno mit Tante Anna Grajewska, 1936.

Wilno, das ist für mich die geliebte Stadt, in der ich geboren wurde und viele Schuljahre verbracht habe. Eine Stadt, die ich gut kenne, weil ich in Zarzecze (fonetisch Saschetsche, Stadtteil, heute Užupis – Anm. RdP) in der Popławskastraße (heute Paupio – Anm. RdP) gewohnt habe. Ich kenne auch Łosiówka (Stadtteil, existiert nicht mehr – Anm. RdP), wo Sie gelebt haben und die von dort stammenden tapferen polnischen AK-Jungs, die bei den Kämpfen um die Stadt im Juli 1944 zeigten was sie konnten. Damals fiel mein bester Freund, Kozierowski, mit dem ich in eine Klasse im Gymnasium der Jesuitenpadres gegangen bin. Ruhm unseren Helden!“

Die Stasi spinnt ihr Netz

Nach fünf Jahren am Priesterseminar empfing Gulbinowicz im Juni 1950 in Białystok die Priesterweihe.

Henryk Gulbinowicz hatte kurz zuvor die Priesterweihe empfangen. Białystok am 18. Juni 1950.

Seine Vorgesetzten schickten ihn gleich danach zum Studium der Moraltheologie an die Katholische Universität Lublin (KUL) wo er bis 1955 blieb. Er erlebte eine von den regierenden Kommunisten schwer bedrängte, bespitzelte und ständig von der Schließung bedrohte Hochschule. Doch die KUL überdauerte die Zeit der roten Sintflut als einzige katholische Universität im ganzen kommunistischen Machtbereich zwischen Elbe und Nordkorea.

Katholische Universität Lublin in den 50er Jahren.

Die ersten dreißig Nachkriegsjahre verbrachte Gulbinowicz in Białystok (1945 bis 1950), an der KUL in Lublin (1950-1955), in Olsztyn/Allenstein (1955 bis 1969) und wieder in Białystok (1970 bis 1975), als apostolischer Administrator der Erzdiözese Wilno.

Die Staatssicherheit legte seine Akte 1951 an. Im kommunistischen Polen hatten mit der Zeit jeder Priesteranwärter, Priester, jeder Mönch und jede Nonne eine Stasiakte. Sie wanderte ihnen von einer regionalen Stasidienststelle zur anderen hinterher, sobald der Betroffene seinen seelsorgerischen Standort wechselte.

Die Akte Gulbinowicz ist nicht, wie viele andere, 1990 dem Akten-Vernichtungsfeldzug der alten Stasi-Garde zum Opfer gefallen und, soweit man das einschätzen kann, vollständig erhalten geblieben.

Man kann ihr entnehmen, dass Gulbinowicz den Kommunisten vor allem wegen seiner Jugendarbeit nicht passte. Er war Seelsorger der Medizinstudenten in Białystok. Die Medizinische Hochschule gehörte zur St. Rochus-Gemeinde, wo er zwischen 1956 und 1959 Pfarrer war. In Olsztyn wiederum, hielt er Vorlesungen am Priesterseminar Hosianum, wurde 1962 dessen Konrektor und 1968 Rektor. Der damalige Allensteiner Bischof machte Gulbinowicz zudem zum Seelsorger der örtlichen Wissenschaftlermilieus.

Jugend und Hochschulwesen, das waren Bereiche, in denen die Kommunisten die Kirche ganz und gar nicht haben wollten. Heute wissen wir, dass die Stasi in Białystok drei Zuträger in der Umgebung Gulbinowiczs platzierte. In Olsztyn spionierten ihn bereits sechzehn, teilweise direkt angesetzte, IMs aus.

Gulbinowiczs Stasi-Akte.

Die Stasi verfügte über ein breit gefächertes Gulbinowicz-Dossier, als ab Mitte 1969 in Białystok die Neubesetzung des Postens des apostolischen Administrators der Erzdiözese Wilno anstand. Kardinalprimas Stefan Wyszyński (1901 – 1981), das wusste die Stasi, empfahl Papst Paul VI. (1897 – 1978) Gulbinowicz als den geeigneten Kandidaten.

Der „operative Dialog“

Im November 1969 erschien Oberstleutnant Józef Maj von der Warschauer Stasi-Zentrale beim Noch-Rektor des Allensteiner Priesterseminars und künftigen apostolischen Administrator Henryk Gulbinowicz. So begann der bis 1985 andauernde sogenannte „operative Dialog“ zwischen der Stasi und Gulbinowicz.

Ein „operativer Dialog“, so die Umschreibung des Instituts des Nationalen Gedenkens (IPN), der polnischen Gauck-Behörde, war eine präzise durchdachte und vorbereitete Abfolge von Gesprächen zwischen speziell dazu geschulten Stasi-Beamten und einer von ihnen ausspionierten Persönlichkeit, die man nicht einfach so zum Bespitzeln anwerben konnte.

Die Gespräche verliefen in höflicher, angenehmer Atmosphäre. Man tauschte Meinungen aus, diskutierte Standpunkte, redete über dies und das. In Gulbinowiczs Fall handelte es sich hierbei um ein psychologisches Duell und ein gegenseitiges Sich-Belauern.

Das Ziel der Stasi war die „Loyalisierung“. Sie wollte ihrem Gegenüber das Gefühl vermitteln, sie nehme seine Meinung ernst, teile sie manchmal sogar, gebe sie nach oben weiter. Die Staatssicherheit zeigte sich konstruktiv und vernünftig. Eine gewisse Vertrautheit sollte Partnerschaft vortäuschen, Entgegenkommen erwirken, eine Dankesschuld aufkommen lassen.

Wir wissen es heute, aber Gulbinowicz konnte nicht wissen, wie durchdacht und von langer Hand geplant ihm da eine Falle gestellt wurde, in die nicht wenige ahnungslos getappt sind.

Gulbinowicz blieb für die Stasi ein potentieller Staatsfeind, den es zu überwachen galt. Er hat nie eine IM-Verpflichtung unterschrieben, keine Berichte verfasst, kein Geld entgegengenommen. Und die Ausbeute an Fakten, die für die Stasi von Relevanz gewesen wären, war nach diesen Gesprächen eher dürftig, wie die verfassten Stasi-Berichte beweisen.

Der bauernschlaue Gulbinowicz entfaltete die ganzen Fähigkeiten eines „Wilniuk“. Er war zuvorkommend, scherzte viel, machte Komplimente, achtete aber sehr darauf was er sagte, so die Stasi-Berichte. Manchmal lachte er jovial und rief, augenzwinkernd Entsetzen vortäuschend: „Genug, ich rede zu viel!“.

Der „operative Dialog“ wurde intensiver, nachdem der neugeweihte Bischof Gulbinowicz in Białystok als apostolischer Administrator der Wilnaer Erzdiözese im Januar 1970 antrat. Der Bischof hoffte vor allem darauf durch die Gespräche Baugenehmigungen für neue Kirchen zu erhalten.

Solche Baugenehmigungen waren ein sehr knappes Gut. Ganze Trabantenstädte entstanden vielerorts in Polen auf der grünen Wiese, in denen es keine Kirchen gab. Der Weg zur Sonntagsmesse, zum Religionsunterricht, den die Kommunisten aus den staatlichen Schulen auf die Nachmittage in die Kirchen verbannt hatten, der Weg des Pfarrers zum Schwerkranken mit der letzten Ölung usw., das alles dauerte immer länger und wurde immer beschwerlicher. Und darum ging es.

Es war eine der vielen kommunistischen Repressalien und Gängelungen, die auch Gulbinowicz im „operativen Dialog“ nicht aufzuweichen vermochte. Er bekam keine Baugenehmigungen. Auch nicht, als er Entgegenkommen zeigte und auf Bitten seiner „Dialogpartner“ den schon vorbereiteten Hirtenbrief zum 50. Jahrestag des Bestehens der Erzdiözese Wilno (1925-1975) in den örtlichen Kirchen nicht verlesen ließ.

Jegliche Erinnerung an die ehemaligen polnischen Ostgebiete sollte nach dem Willen der polnischen Kommunisten und der Sowjets, die jenseits der Grenze in Sowjet-Litauen die katholische Kirche noch viel brutaler unterdrückten, getilgt werden. So haben seine „Dialogpartner“ in Białystok Gulbinowicz, der damals wohl noch einige Illusionen hegte und auf seine Bauernschläue vertraute, eines Besseren belehrt.

Ränke hinter den Kulissen. Wie Henryk Gulbinowicz Erzbischof von Wrocław wurde

Mit dem Tod von Kardinal Bolesław Kominek, des Verfassers des bedeutenden „Aufrufs der polnischen Bischöfe an ihre deutschen Amtsbrüder zur Versöhnung“ vom November 1965, verwaiste im März 1974 der Bischofsstuhl im Erzbistum Wrocław. Angesichts starker Personalkonflikte in der Kurie von Wrocław, war Kardinalprimas Stefan Wyszyński der Meinung, dass der neue Metropolit von außerhalb kommen müsse.

Die damals geltende Regelung sah vor, dass der Primas den staatlichen Behörden drei Kandidaturen unterbreitete, von denen diese dann eine akzeptierten. Der Primas wollte in Wrocław einen Erzbischof seines Vertrauens haben. Die Kommunisten dagegen, stets darauf bedacht durch Bespitzelung, Erpressung und Provokationen, in der Kirche möglichst viel Zwietracht zu säen, bevorzugten, wie konnte es anders sein, Kandidaten, die sie als „nicht-Wyszyński-hörig“ einstuften.

Der Konflikt um die Neubesetzung des Breslauer Bischofsstuhls geriet zu einem heftigen, knapp zwei Jahre andauernden, Tauziehen hinter den Kulissen. Vier Mal unterbreitete Wyszyński seine Kandidaturen und vier Mal wurden sie in Warschau in toto abgelehnt. Zwischendurch versuchten die Kommunisten den Vatikan zu überreden, Wyszyński zu umgehen, und den Breslauer Metropoliten aus ihrer eigenen Dreier-Liste auszuwählen. Alle drei Kandidaten galten als „nicht-Wyszyński-hörig“. Heute ist bekannt, dass zwei von ihnen, was weder der Vatikan noch der polnische Kardinalprimas damals wissen konnten, registrierte Stasi-IMs waren. Der Vatikan ließ sich nicht ködern.

Anfang Oktober 1975 unterbreitete Wyszyński zum fünften Mal eine Kandidatenliste, auf der sich jetzt auch der apostolische Administrator der Erzdiözese Wilno mit Sitz in Białystok, Bischof Henryk Gulbinowicz, befand. Die Kommunisten reagierten positiv.

In einer internen Stasi-Analyse, die der Einwilligung vorausging, sprach für Gulbinowicz, dass er sich auf den „operativen Dialog“ einließ. Außerdem sei er stets bemüht gewesen, das Verhältnis zu staatlichen Behörden von Spannungen freizuhalten, Gesetze, und Anordnungen zu befolgen, wozu er auch den örtlichen Klerus anhielt.

Auf die andere Waagschale legten die Stasi-Kirchenaufseher, dass Gulbinowicz sich vehement der „neuen vatikanischen Ostpolitik“ des damaligen „Außenministers“ des Heiligen Stuhls, Kardinal Agostino Casaroli (1914-1998) widersetzte. Casarolis Idee war es, weitgehende Kompromisse mit den Machthabern des Ostblocks einzugehen, unter Umgehung der örtlichen Kirchenstrukturen. In Polen untergrub eine solche Politik die Autorität von Kardinalprimas Stefan Wyszyński, was den Kommunisten nur recht sein konnte. Auch sprach Gulbinowiczs immer wieder bekundetes Interesse für das schwere Schicksal der Katholiken in Sowjetrussland gegen ihn.

Aus weiß wird schwarz oder: Eine Stasi-Akte wird umgedeutet

Am Ende überwog das „Positive“ und Gulbinowicz konnte Anfang 1976 seinen neuen Kirchenposten in Wrocław übernehmen. Seitdem wurde es für die Stasi-Leute immer schwieriger einen Termin zum Fortsetzten des „operativen Dialogs“ bei ihm zu bekommen. Der von den Kommunisten als weitgehend „loyalisert“ eingestufte Kirchenmann sah wohl ein, dass er an den Rand des Vertretbaren gelangt war, auch wenn er kein IM war und stets auf der Hut blieb. Erschwerend kam hinzu, dass er gegenüber Kardinalprimas Wyszyński, der ihn sehr schätzte, nie ein Wort über den „operativen Dialog“ verloren hatte.

6. Februar 2007. Kardinal Gulbinowicz wird der Status eines Geschädigten zuerkannt. Rechts im Bild Janusz Kurtyka, damaliger Leiter des Instituts für Nationales Gedenken IPN.

Die Befreiung aus dieser Verstrickung erfolgte stufenweise. Ein wichtiger Einschnitt war das geradezu euphorische Engagement Gulbinowiczs für die Solidarność nach ihrem Entstehen im September 1980. Davon, wieviel er für sie tat nachdem das Kriegsrecht am 13. Dezember 1981 verhängt wurde, war schon eingangs die Rede. Den Schlusspunkt setzte die Entführung und Ermordung des Warschauer Arbeiterpriesters Jerzy Popiełuszko im Oktober 1984 durch die polnische Stasi. Danach war der Kardinal für die Stasi endgültig nicht mehr zu sprechen. Seit diesem Zeitpunkt gibt es in der Akte Gulbinowicz nur noch Berichte über die Bespitzelung seiner Person.

24. Februar 2009. Staatspräsident Lech Kaczyński verleiht Kardinal Gulbinowicz die höchste polnische Auszeichnung, den Orden des Weißen Adlers.

Diese Akte wurde lange hin und her gewälzt, bevor Kardinal Gulbinowicz im Februar 2007 offiziell vom Institut des Nationalen Gedenkens (IPN) den Status eines Geschädigten zuerkannt bekam. Sie wurde noch einmal diskret hervorgeholt, bevor ihm Staatspräsident Lech Kaczyński im Februar 2009 die höchste polnische Auszeichnung, den Orden des Weißen Adlers, verlieh. Diejenigen, die sie damals studierten, meinten nichts Ehrenrühriges in ihr gefunden zu haben.

Rafał Łatka, Filip Musiał, „Der Dialog sollte fortgesetzt werden… Operative Gespräche der Staatssicherheit mit Pfarrer Henryk Gulbinowicz 1969-1985. Eine Fallstudie“, IPN-Verlag 2020.

Das änderte sich erst im Juni 2019, als plötzlich die IPN-Historiker Dr. Rafał Łatka und Dr. Filip Musiał auf den Plan traten. Sie haben die Akte und weitere, teilweise noch nicht bekannte, Gulbinowicz betreffende Bestände aus dem Stasi-Fundus ausgewertet, den „operativen Dialog“ genau rekonstruiert und ein Buch darüber geschrieben, das der IPN-Verlag kurz danach veröffentlichte.

Dr. Łatka formulierte scharf, und was er sagte schlug ein wie eine Bombe: Gulbinowiczs Biografie müsse umgeschrieben werden, denn ein tiefer Schatten liege auf ihr. Und das seien die „operativen Gespräche“. Gulbinowicz war illoyal, so Łatka, sein Handeln schädigte die Kirche.

Und konkret? Łatka schob die Einzelheiten erst einige Wochen später nach und fasste seine Vorwürfe in drei Punkten zusammen.

1. Gulbinowicz ließ sich auf vertrauliche Gespräche mit der Stasi ein, obwohl die polnische Bischofskonferenz dies untersagt hatte.

2. Er versuchte durch diese Gespräche, hinter dem Rücken der Bischofskonferenz, gute Beziehungen zum örtlichen Verwaltungsapparat aufzubauen.

3. Aus den Gesprächen konnte die Stasi den Schluss ziehen, dass nicht alle Bischöfe mit Kardinalprimas Wyszyński einer Meinung waren.

Es war nichts Neues dabei, außer einer neuen Auslegung altbekannter Tatsachen, diesmal nur zu Ungunsten des Betroffenen.

Filip Musiał, Rafał Łatka. Buchpräsentation am 20. November 2020 in Warschau.

Seit Mitte 2019 haben weder die beiden Autoren, noch irgendjemand anderes weitere, wirklich stichhaltige, bisher unbekannte Beweise dafür erbracht, dass Gulbinowiczs Biografie in puncto seiner Stasi-Kontakte umgeschrieben werden müsste. Doch dem medialen Chaos reißerischer Schlagzeilen, plakativer Berichte, überspannter Auslegungen entstieg plötzlich ein Stasi-Spitzel-Kardinal, ein angeblich einwandfrei überführter falscher Held. Der schwerkranke Emeritus ließ noch erklären, er werde gegen solche Behauptungen gerichtlich vorgehen, aber die Kraft dazu hatte er nicht mehr.

Die Verlautbarung der Warschauer Apostolischen Nuntiatur (Vatikan-Botschaft) vom 6. November 2020 über die gegen Gulbinowicz verhängten Disziplinarmaßnahmen enthielt keine Begründung. Einen Tag später druckte „L’Osservatore Romano“, die Zeitung des Vatikanstaates, eine kurze Notiz über die Disziplinarmaßnahmen, in der es hieß, einer der Gründe sei die „Zusammenarbeit mit der Staatsicherheit“ gewesen. Worauf hatte sich die Redaktion bei dieser Behauptung gestützt? Inoffiziell war zu erfahren: Auf die Berichte polnischer Medien.

„Die Behauptung von der (Gulbinowiczs – Anm. RdP) Zusammenarbeit mit der Staatssicherheit ist gelogener Nonsens. So wie sie medial verbreitet wird, entbehrt sie jeglicher Bestätigung durch den Stand der Forschung“, schrieben Ende November 2020 fünfzig ehemalige hohe Breslauer Untergrund-Solidarność-Aktivisten, viele von ihnen einstige politische Häftlinge, heute angesehene Kommunalpolitiker, Wissenschaftler, Geschäftsleute, die oft zutiefst verfeindeten politischen Lagern angehören. Ihren offenen Brief richteten sie an den Apostolischen Nuntius (Vatikan-Botschafter) und die wichtigsten polnischen Bischöfe.

Wie war das mit dem Sex?

„Was die Unsittlichkeitsvorwürfe angeht, die öffentlich erhoben werden, so gibt es, außer einer einzigen fraglichen Aussage, nichts Konkretes“, heißt es in dem offenen Brief weiter.

Gulbinowiczs Stasi-Akte wurde zwischen 1951 und 1989, also immerhin achtunddreißig Jahre lang geführt. Nur an einer Stelle, und zwar kurz bevor der „operative Dialog“ im Herbst 1969 seinen Anfang nahm, werden dort Gerüchte erwähnt, der damalige Rektor des Priesterseminars in Olsztyn unterhalte sexuelle Kontakte zu jungen, erwachsenen Männern. Sonderbarerweise überging die Stasi dieses Gerede, ging ihm nicht nach, obwohl sie für gewöhnlich geradezu darauf erpicht war, Geistliche auf diese Weise erpressen zu können. War da etwa nichts?

Fast zeitgleich mit der fraglichen Umdeutung von Gulibinowiczs Stasi-Akte durch die Historiker Łatka und Musiał im Juni 2019, trat im Mai 2019 Karol Chum auf den Plan. Er behauptete Gulbinowicz habe ihn vor drei Jahrzehnten sexuell missbraucht.

Karol Chum alias Przemysław Kowalczyk.

Der im Januar 1974 geborene Dichter und ein Selbstdarsteller, der auf Facebook fortlaufend detailliert schildert, was er zum Frühstück gegessen hat und was seine Magenspiegelung ergab, bekennt sich offen zu seiner Homosexualität und bedient sich mit Vorliebe der Vulgärsprache. Karol Chum (von englisch „cum“, Sperma) ist sein Pseudonym. Sein wirklicher Name lautet Przemysław Kowalczyk.

Der in Wrocław geborene und, nach eigenen Angaben, aus schwierigen Familienverhältnissen stammende Przemysław besuchte ab September 1988 das Kleine Priesterseminar des Franziskanerordens (entspricht dem Gymnasium) im nicht weit entfernten Legnica/Liegnitz. Am 7. Januar 1989, nachdem er Weihnachten und Neujahr zu Hause verbracht hatte, wurde Kowalczyk, so seine Darstellung, gebeten auf dem Rückweg nach Legnica von der Kurie in Wrocław ein Paket mitzubringen.

Przemysław Kowalczyk 1989.

Da es noch nicht fertig gepackt war, habe man ihm angeboten, die Nacht in der Kurie zu verbringen. Als er schon im Bett war, habe Gulbinowicz „sein Zimmer, ohne zu klopfen, betreten“, sein Geschlechtsteil für drei bis vier Minuten „massiert“ und sei dann „wieder gegangen.“

Wegen Verjährung sah die Staatsanwaltschaft davon ab, ein Untersuchungsverfahren einzuleiten. Belastende Zeugen, nach denen linke Medien händeringend gesucht haben, gibt es nicht. Ordensschwestern, die bis 2004, als der Kardinal emeritiert wurde, in der Kurie arbeiteten, sagen, dass, außer Papst Johannes Paul II., dem französischen Kardinal Roger Etchegaray, dem italienischen Professor Antonio Grassi und einigen Familienangehörigen des Kardinals, niemand im Bischofspalast übernachtet habe. Es kam so selten vor, sagten sie, dass man sich jeden Einzelnen gut merken konnte.

Warum Kowalczyk, der kurz nach dem vermeintlichen Vorfall in der Kurie das Kleine Priesterseminar verließ, so lange mit seiner Offenbarung gewartet habe? Er entgegnet, er habe seine Geschichte zum ersten Mal vor 22 Jahren der Homosexuellen-Nischen-Monatszeitung „Inaczej“ („Anders“) erzählt. Damals jedoch kannte er angeblich den Namen des vermeintlichen Täters noch nicht.

Nach dem Grund seines Weggangs vom Seminar gefragt, holten die Franziskaner im Juni 2019 seine Akte aus dem Archiv. Es hieß, Kowalczyk habe Bücher aus der Seminar-Bibliothek gestohlen.

So gesehen kann man sagen, er sei sich treu geblieben. Der heute 47-Jährige hat nämlich ein beachtliches Strafregister angehäuft. Gerichte in Warschau, Lubliniec/Lublinitz (Oberschlesien), Kraśnik (Südostpolen), Września/Wreschen (bei Poznań/Posen) und Wrocław haben ihn, einige sogar zweimal, zwischen 2005 und 2014 zu etlichen Geld und Freiheitsstrafen verurteilt. Er hat gestohlene Personalausweise auf seinen Namen umgeschrieben. Er bot Handys im Internet an und stellte sie Kunden, die sie bezahlt hatten nicht zu. Er beging mehrere Kleindiebstähle. Er entwendete hochgiftiges Quecksilber in großer Menge. Er nahm von einer Frau Geld für 1,5 Tonnen Zucker an, den er nicht besaß. Er hatte eine Sammlung kinderpornografischer Bilder auf seinem Computer, was pädophile Neigungen ahnen lässt, u. e. m.

Man kann es denjenigen, die Kardinal Gulbinowicz in Schutz nehmen nur schwer verübeln, wenn sie Kowalczyk, alias Chum, angesichts all der Tatsachen einen geltungssüchtigen Kleinganoven nennen. Umso mehr, als seine Aussage bisher die einzige ist, auf der die Beschuldigungen wegen Unsittlichkeit gegen Kardinal Gulbinowicz aufgebaut sind. Seit Mitte 2019 sind keine weiteren bekannt geworden.

Warum tat der Vatikan was er tat?

Angesichts der ausgesprochen dünnen Beweislage stellt sich die Frage, warum der Vatikan den im Sterben liegenden Kardinal dermaßen hart diszipliniert hat, ohne ein Wort offizieller Begründung von sich zu geben?

Stanisław Huskowski.

Stanisław Huskowski, einer der Solidarność-Leute, die die 80 Millionen Zloty im Dezember 1980 zu Gulbinowicz brachten und Mitunterzeichner des offenen Briefes, hat da eine Theorie:

„Ich schließe nicht aus, dass der Vatikan Kardinal Gulbinowicz nicht wegen bewiesener Vergehen bestraft hat, sondern wegen des ganzen Aufhebens um seine Person. Vielleicht ist man zu der Überzeugung gekommen, dass in der Lage, in der sich im Augenblick die Kirche befindet, nachdem verschiedene Pädophilie-Fälle bekannt geworden sind, man an den Tag legen muss, dass es auch ohne überzeugende Beweise im Interesse der Kirche liege, zu zeigen, dass gewisse Verhaltensweisen mit glühenden Eisen ausgebrannt werden.“

Doch Huskowski und die anderen Autoren des offenen Briefes wollen das so nicht stehen lassen: „Wir fordern Beweise, die auf eindeutigen Tatsachen und nicht auf Vermutungen oder Unterstellungen beruhen.(…) Wir fordern Aufklärung und wir haben ein Recht darauf.“

Die Totenmesse für Kardinal Henryk Gulbinowicz  fand, unter Auschluss der Öffentlichkeit, in der Breslauer Namen-Jesu-Universitätskirche statt.  Er wurde im Familiengrab auf dem Kommunalfriedhof von Olsztyn beigesetzt.

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Wieviel Steuern zahlt die Kirche in Polen?

Mehr als viele denken.

Gläubige spenden für ihr Seelenheil und ihre Religionsgemeinschaften, und der Staat hält dabei die Hand auf. Polen ist das einzige Land in Europa, in dem die Kollekte besteuert wird.

Die Bestimmungen des Steuerrechts sind für alle registrierten Religionsgemeinschaften gleich, aber sie betreffen natürlich vor allem die katholische Kirche, zu der sich mit Abstand die meisten Polen (knapp 90 Prozent) mehr oder weniger bekennen.

Zusammen mit Hebammen, Übersetzern und Ostseefischern

Wie und wieviel Steuern Geistliche zu zahlen haben, das wurde 1998 zum letzten Mal im Gesetz „Über die pauschale Besteuerung von einigen Einkommen physischer Personen“ festgelegt. Darin geht es um Gewerbetreibende, die keine Arbeiter oder Angestellten beschäftigen und deren gesamtes Jahreseinkommen umgerechnet 250.000 Euro nicht übersteigt. Sie können ihr Einkommen, der Einfachheit halber, pauschal besteuern lassen. In diesem vereinfachten Verfahren besteht allerdings keine Möglichkeit irgendwelche Kosten von der Steuer abzusetzen.

Anders als sonst bei Gewerbetreibenden üblich, führen die „Pauschalisten“ kein „Einnahmen-Ausgaben-Journal für steuerliche Zwecke“, sondern lediglich ein Einnahmenbuch.

Die pauschalen Steuersätze betragen, je nach ausgeübter Tätigkeit, 20%, 17%, 10%, 8,5%, 5,5% und 3%. Den höchsten Satz von 20 Prozent zahlen u. a. Ärzte, Zahnärzte, Hebammen und Übersetzer. 3 Prozent u. a. Ostsee- und Binnengewässerfischer, auch Imbissbuden-Betreiber.

Zu diesen Berufsgruppen gesellen sich ebenfalls die Geistlichen. Deren Besteuerung wird  in einem separaten Unterkapitel (Art. 42 bis 51) geregelt. Sie zahlen jedoch keine Prozentanteile, sondern feste Beträge ohne direkten Bezug zur Höhe ihrer Einnahmen. Im Unterschied zu den im selben Gesetz erfassten weltlichen Berufsgruppen können Geistliche keine andere Art der Besteuerung wählen.

Sechzehn Pauschalstufen

Für Geistliche gibt es sechzehn verschiedene Steuerpauschalen, abhängig von der Einwohnerzahl in der jeweiligen Pfarrgemeinde. Die Beträge pro Stufe werden jedes Jahr nach einem besonderen Modus geringfügig angehoben.

Am Jahresanfang fragt das Finanzamt die Einwohnerzahl in der Pfarrgemeinde per 31. Dezember des Vorjahres beim Einwohnermeldeamt ab. Ob die Einwohner Kirchgänger sind oder nicht, spielt dabei keine Rolle.

(Den nachfolgenden Angaben in Euro wurde ein Wechselkurs von 1 Euro = 4,25 Zloty zugrunde gelegt)

Die Pauschalsteuer in den kleinsten Pfarreien, mit weniger als eintausend Einwohnern, betrug 2019 für den Gemeindepfarrer 434 Zloty (ca. 102 Euro) pro Quartal. 2018 waren es 427 Zloty, 2017 – 420 Zloty, 2007 – 341 Zloty.

Sein Stellvertreter, der Vikar und alle anderen Gemeindepriester zahlten alle drei Monate 2019 einen Beitrag von 131 Zloty (ca. 31 Euro), 2018 – 129 Zloty, 2017 – 127 Zloty und 2007 – 107 Zloty. Zumeist jedoch, gibt es in den kleinen Pfarreien keine Vikare.

In Pfarrgemeinden mit mehr als 20.000 Einwohnern (das entspricht der höchsten, sechzehnten Pauschalstufe) zahlte 2019 der Gemeindepfarrer pro Quartal 1.559 Zloty (knapp 370 Euro). In den Jahren 2018, 2017 und 2007 waren es entsprechend 1.533 Zloty, 1.505 Zloty, bzw. 1.217 Zloty.

Vikare und andere Gemeindepriester in den gröβten Pfarreien zahlten 2019 alle drei Monate – 475 Zloty (ca. 112 Euro), 2018 – 448 Zloty, 2017 – 440 Zloty und 2007 – 359 Zloty.

Geerbt aus der kommunistischen Zeit

Vor dem Zweiten Weltkrieg waren in Polen Kollekten und Sammlungen, wenn sie religiösen Zwecken dienten und innerhalb der Gotteshäuser stattfanden, von jeglicher staatlicher Kontrolle ausgeschlossen. Das war ein wesentlicher Bestandteil der Autonomie der Kirche und der einvernehmlichen Trennung von Kirche und Staat.

Nach dem Zweiten Weltkrieg legten die Kommunisten diese Trennung anders aus. Sie verbannten die Kirche aus dem öffentlichen Raum. Die Caritas wurde verstaatlicht, der Religionsunterricht in den Schulen untersagt, die katholische Presse zumeist verboten, die wenigen übriggebliebenen Blätter einer strengen Zensur unterworfen, ihre Auflagen durch gedrosselte Papierzuteilungen auf ein Minimum beschränkt. Viele religiöse Feiertage verschwanden, die meisten Prozessionen wurden untersagt, karitative Einrichtungen wie Altersheime und Krankenhäuser, aber auch alle katholischen Schulen und Kindergärten wurden der Kirche weggenommen und gingen in Staatsbesitz über.

Kirchenverfolgung im kommunistischen Polen. Schauprozess des Bischofs von Kielce Czesław Kaczmarek (i. d. Mitte) im September 1953. Urteil: 12 Jahre Zuchthaus.

Die Trennung erfolgte jedoch nur einseitig, denn gleichzeitig wollte sich der kommunistische Staat auf keinen Fall von der Kirche lösen. Seine Einmischung in innerkirchliche Angelegenheiten durch Bespitzelung, Repressalien und Gängelungen wurde immer gröβer.

Kirchenverfolgung im kommunistischen Polen. Schauprozess der Mitarbeiter der Bischofskurie von Kraków im Januar 1953. Sieben Angeklagte, drei Todesurteile (umgewandelt in lebenslänglich).

Dazu gehörte die Einführung der Besteuerung. Ab 1949 mussten alle Pfarreien das für sie eigens ausgedachte Muster Nr. 11 des allgemeinen „Einnahmen-Ausgaben-Journals für steuerliche Zwecke“ führen. Alle Kollekten und Sammlungen wurden dort aufgeführt. Jede noch so kleine Schenkung musste samt Spendernamen eingetragen werden. Nach den Sonntagsmessen stürmten immer wieder Kontrolleure die Sakristeien, um nachzuprüfen, ob der Inhalt des Klingelbeutels umgehend nachgezählt und registriert wurde.

Kirchenverfolgung im kommunistischen Polen. Weihbischof von Gniezno/Gnesen Antoni Baraniak verbrachte drei Jahre (1953-1956) im Gefängnis. Bei insgesamt 145 Verhören wurden ihm u.a. alle Fingernägel herausgerissen. Wochenlang hielt man ihn ohne jegliche Kleidung in eiskalten, feuchten Zellen fest, in denen es kein Mobiliar gab.

Nach dem Ende des Stalinismus 1956 lieβ der brutale Druck auf die Kirche ein wenig nach, die meisten Verbote und Gängelungen jedoch blieben. Eine Erleichterung war damals der Übergang zur pauschalen Besteuerung der Pfarrer, auch wenn die Pauschalen ziemlich hoch angesetzt waren. Nach dem Ende des Kommunismus 1989 blieb dieses Besteuerungssystem bestehen, wurde jedoch abgemildert.

Trotzdem lieferte 2019 der Pfarrer einer Gemeinde mit mehr als 20.000 Einwohnern, von denen bei weitem nicht alle am Sonntag in der Kirche erschienen, insgesamt immerhin umgerechnet knapp 1.500 Euro beim Finanzamt ab. Sein Amtsbruder von der Kleinstgemeinde mit weniger als eintausend Einwohnern zahlte 2019 insgesamt etwa 410 Euro ein.

2018 beliefen sich die Staatseinnahmen aus der Besteuerung der Pfarrer aller Glaubensgemeinschaften alles in allem auf 14,3 Millionen Zloty (ca. 3,4 Mio. Euro).

Keine Kirchensteuer, nur die Kollekte

In Polen gibt es keine Kirchensteuer, wie man sie aus Deutschland kennt. Polnische Gemeinden aller Glaubensgemeinschaften finanzieren sich fast ausschlieβlich durch die Kollekte. In Deutschland oder Österreich wird, anders als in Polen, die Kollekte nicht besteuert und stopft die Finanzlöcher vor Ort, die von der Kirchensteuer nicht abgedeckt werden.

Die Einkommenssituation der polnischen Pfarrgemeinden und ihrer Priester ist sehr unterschiedlich. Generell kann man sagen, dass nur wenige Gemeindepfarrer ein gutes Auskommen haben. Die meisten leben bescheiden. Die Pfarrer in den kleinen Gemeinden haben nicht selten Mühe, über die Runden zu kommen.

Staatspräsident Andrzej Duda bei der Kollekte.

Im Jahr 2012 veröffentlichte die polnische Katholische Nachrichtenagentur (KAI) einen ersten ausführlichen Bericht zur finanziellen Lage der katholischen Kirche in Polen. Obwohl sich seit damals die aufgeführten Einnahmen um schätzungsweise 10 bis 15 Prozent erhöht haben, ebenso wie die Ausgaben, so gelten die zu jener Zeit in dem Bericht aufgezeigten Gesetzmäβigkeiten und Tendenzen auch acht Jahre später weiterhin uneingeschränkt.

Zu den Einnahmen einer Pfarrgemeinde gehören: die Kollekte während der Sonntagsmessen und der Messen an kirchlichen Feiertagen, wie Weihnachten, Aschermittwoch, Ostern usw., Spenden für bestellte Messen, für Taufen, Trauungen und Beerdigungen, und die Kollekte während der alljährlichen Hausbesuche des Gemeindepfarrers oder des Vikars.

Wenn der Pfarrer nach Hause kommt

Sie werden „kolęda“ (fonetisch kolenda) genannt, sind eine in Polen tief verwurzelte Tradition und finden zwischen Anfang Januar und Mariä Lichtmess am 2. Februar statt. Der Besuch wird ein paar Tage vorher zumeist mit einem Anschlag im Treppenhaus angekündigt. Oft geht dem Pfarrer ein Messdiener voraus und fragt, ob das Kommen erwünscht ist.

Pfarrer mit Ministranten unterwegs bei der Kolęda.

Kolęda. Gemeinsames Gebet.

Wenn ja, dann stehen schon, auf dem Tisch vorbereitet, ein Kruzifix, zwei Kerzen, ein Gefäβ mit Weihwasser und ein Weihwedel. Zunächst unterhält man sich, bietet dem Pfarrer etwas zu essen und zu trinken an, was der zumeist höflich ablehnt, denn er hat an dem Nachmittag bereits etliche Besuche absolviert und weitere stehen ihm bevor. Gemeinsam wird anschließend ein Gebet gesprochen und der Pfarrer segnet das Haus. Am Ende bekommt er einen Umschlag überreicht. Darin sind meistens zwanzig oder fünfzig, manchmal auch einhundert Zloty, also etwa vier oder zwölf, beziehungsweise knapp fünfundzwanzig Euro.

„Co łaska“ – „Was beliebt“

In einer polnischen Pfarrkanzlei sucht man vergebens nach einer Preisliste. Bestellt jemand, zum Beispiel, eine Messe für das Seelenheil der verstorbenen Mutter und fragt, was es denn kosten solle, bekommt er unweigerlich die Antwort: „Co łaska (fonetisch uaska) – „Was beliebt“. Nichtsdestotrotz haben sich bestimmte Beträge eingebürgert, die sich herumsprechen und die man bei Bedarf im Bekanntenkreis erfragen kann und nicht unterbieten sollte.

So liegt die Spende für eine Messe mit einem Fürbittenwunsch für einen Verstorbenen (Seelenamt, Jahrgedächtnis) oder für ein anderes Anliegen bei 30 bis 100 Zloty. Wobei kein Priester eine Bitte zur Lesung einer Messe ablehnen darf, wenn aus finanziellen Gründen keine Bezahlung erfolgen kann. Trauung: 500 bis 700 Zloty. Beerdigung: 300 bis 600 Zloty. Die Spannweite der Beträge zeigt die Unterschiede zwischen den ärmeren und den vermögenderen Pfarrgemeinden.

Segnung einer neuen Brücke in Rzeszów. Oktober 2015.

Deutlich höher fallen Spenden aus, wenn Firmen ihre neuen Produktionshallen, Büros oder die freiwillige Feuerwehr das neue Spritzenhaus, Vereine ihre Fahnen segnen lassen wollen. Das ist in Polen zwar ein weitverbreiteter Brauch, kommt aber im Gemeindeleben verständlicherweise nicht oft vor, und darf deswegen getrost in der Einnahmenrubrik „besondere Ereignisse“ verbucht werden .

Kirchenkommerz ist steuerpflichtig

Dieses, etwas verwirrende, aber in der polnischen Tradition tief verankerte Kollekten- und Spenden-System vor Augen, versteht man besser, warum der polnische Staat es mit Pauschalbeträgen besteuert und auf eine Buchführung verzichtet.

Davon abgesehen, ist die Seelsorge keine kommerzielle Dienstleistung. Wäre sie das, müsste der Pfarrer für einen Messeobolus von 100 Zloty insgesamt 105 Zloty oder 108 Zloty, beziehungsweise sogar 123 Zloty berechnen. Je nachdem, ob der Gesetzgeber den verminderten (5 beziehungsweise 8 Prozent) oder den regulären (23 Prozent) Mehrwertsteuersatz anwenden würde.

Seelsorge kommerzialisiert. Die postkommunistische Parlamentskandidatin Hanna Gil-Piatek und der bekannte antikirchliche, rabiate Provokateur Paweł Hajncel mit einer Fiskalkasse vor der Kathedrale von Łódź/Lodsch während des Parlamentswahlkampfes im Oktober 2019.

Dies fordert seit geraumer Zeit die polnische Linke. Pfarrer sollen Fiskalkassen führen, Quittungen und Rechnungen ausstellen, und die Pfarreien sollen, den Firmen gleich, auf die Kollekte Steuern zahlen. Es ist eine der wichtigsten Forderungen Robert Biedrońs, des Homosexuellen-Aktivisten und Kandidaten der polnischen Linken bei den Präsidentschaftswahlen am 10. Mai 2020.

In dem linken Block, der ihn aufgestellt hat, spielen die Postkommunisten die wichtigste Rolle. Sie haben Polen seit 1989 insgesamt acht Jahre lang (1993-1997 und 2001-2005) regiert, es aber nicht gewagt, ihre damals schon in den Wahlkämpfen gestellte Forderung nach der Kommerzialisierung der Seelsorge umzusetzen.

Um es gleich vorwegzunehmen: Pfarrer, die zusätzlich oder hauptamtlich außerhalb der Gemeinde arbeiten, einen Arbeits-, Zeit- oder Werkvertrag haben, werden genauso besteuert wie alle anderen Bürger. Das gilt für Pfarrer, die Religionsunterricht an Schulen geben, für Geistliche als Hochschullehrer, für festangestellte Seelsorger bei Militär, Polizei, Feuerwehr, im Gesundheitswesen usw., für Pfarrer, die in der Kurie (Bischofsamt) angestellt sind und alle anderen. Die Pauschalbesteuerung gilt nur für die Kollekte und die Spenden der Gläubigen.

Auch die Diözesanbischöfe, die in ihren Kurien ein Gehalt bekommen, zahlen die normale Einkommenssteuer. Die Höhe schwankt zwischen vier- und sechstausend Zloty (ca. 950 bis 1.400 Euro), wobei sie kostenfrei wohnen und ihnen ein Dienstwagen zur Verfügung steht.

Devotionalienhandel.

Zudem unterliegen das Vermögen und die Einkommen kirchlicher juristischer Personen den allgemeinen Steuerbestimmungen. Darunter fallen die Caritas Polska (die mit Abstand größte Wohltätigkeitsorganisation des Landes), die diözesanen Caritasverbände, Priesterseminare, Klöster, Pfarreien, Diözesen usw. Sie alle zahlen Grundsteuer. Das Verpachten von Liegenschaften bzw. Vermieten von Räumlichkeiten, kirchliche Apotheken, Verlage, Kräuter- und Buchhandlungen, Andenken- und Devotionalienläden, Übernachtungshäuser, sie alle sind genauso einkommens- und gewerbesteuerpflichtig wie die weltliche Konkurrenz.

Dafür sind Schenkungen und Erbschaften, die der Kirche zugutekommen, soweit sie nicht kommerziellen Zwecken dienen, steuerfrei.

Die Gemeinde, die Pfarrer und ihre Finanzen

Hat der Pfarrer die Pauschalsteuer an das Finanzamt entrichtet, muss er zusehen, dass er seinen innerkirchlichen finanziellen Verpflichtungen gerecht wird. So gilt es den Beitrag zur Finanzierung der bischöflichen Diözesanverwaltung zu zahlen. Überwiesen werden muss zudem das Geld in die Diözesanfonds zugunsten pensionierter und arbeitsunfähiger Amtsbrüder, des diözesanen Priesterseminars, der Diözesanpriester auf Mission in der Dritten Welt, der Klausurklöster u. e. m.

Für den innerkirchlichen Gebrauch ist der Pfarrer verpflichtet ein Einnahmen-Ausgaben-Journal zu führen. Nach Jahresende schickt er es an die Diözesankurie.

Dann sind die Rücklagen für die regelmäßig anfallenden Kosten zu berücksichtigen. Die Bezahlung des Organisten, der Putzfrau, Versicherungsbeiträge, das teure Beheizen der Kirche, laufende Reparaturen, die Kosten für verschiedene niedrigschwellige soziale Angebote, die praktisch jede polnische Pfarrei betreibt. Das kann ein Nachmittagshort mit Hausaufgabenhilfe für besonders förderbedürftige Kinder sein. Oder eine Beratungsstelle für Frauen in schweren Notlagen. Oder eine Essensausgabe für Arme. Und von irgendetwas müssen die Pfarrer, die ja kein festes Gehalt bekommen, auch leben.

Wieviel eine Pfarrei an Kollekte einnimmt, hängt ab von der Zahl der Kirchgänger, davon wie vermögend und spendenfreudig sie sind, von der Zahl der Messegaben, Taufen, Trauungen, Beerdigungen, der Kommunionkinder und der Firmlinge. Zudem schwanken all diese Faktoren von Jahr zu Jahr. Was bleibt sind grobe Schätzungen.

Erstes Beispiel. Eine mittelgroße Pfarrgemeinde in Łódź mit zehntausend Einwohnern, von denen etwa viertausend regelmäßig eine der fünf Sonntagsmessen besuchen. Im Kollektenkörbchen, mit dem einer der Pfarrer den Kirchenraum durchschreitet, landen meistens Zwei- oder Fünf-Zloty-Münzen, ab und zu ein Zehn-Zloty-Schein. Die Leute in Łódź, der einstigen Textilstadt, haben nicht viel Geld.

Sonntagsmesse. Kollekte.

Die Sonntagskollekte bringt meistens insgesamt um die fünftausend Zloty ein. Die Kollekten an kirchlichen Feiertagen fallen zumeist etwas üppiger aus. Das ergibt im Jahr in etwa 300.000 Zloty. Hinzu kommen um die vierzig Trauungen je 500 Zloty, das macht zusammen 20.000 Zloty. Etwa einhundert Taufen mal 100 Zloty, sind 10.000 Zloty. Um die einhundertfünfzig Bestattungen, rechnet man im Schnitt mit 400 Zloty, ergeben 60.000 Zloty. Zirka fünfhundert Messegaben mal durchschnittlich 40 Zloty, das macht 20.000 Zloty im Jahr. Von den jährlichen Hausbesuchen (kolęda) bringen die drei Gemeindepfarrer 25.000 Zloty mit ins Pfarrhaus.

Insgesamt kommt man somit auf 435.000 Zloty (ca. 102.000 Euro) im Jahr. Davon wird mindestens die Hälfte an die Diözese weitergeleitet. Bleiben etwa 217.000 Zloty übrig, also um die 18.000 Zloty (ca. 4.200 Euro) pro Monat. Davon sollen alle Kosten vor Ort plus die Lebenshaltung des Gemeindepfarrers, des Vikars und, in Polen in einer Pfarrei dieser Größe durchaus noch üblich, eines weiteren Pfarrers bezahlt werden. Das ist nicht viel.

Zum Glück unterrichten alle drei Religion an umliegenden Schulen. Einer mit einer vollen Stelle (macht ca. 2.900 Zloty netto), die beiden anderen haben halbe Stellen (ca. 1.500 Zloty netto).

Religionsunterricht in einem Warschauer Lyzeum.

Wenn größere Renovierungen anfallen, wie zum Beispiel vor zwei Jahren, als ein Sturm das Dach beschädigte und zwei Mosaikfenster hinter dem Altar eingedrückt wurden, dann wird zu zusätzlichen Spenden aufgerufen und befreundete Firmen reparieren zum Selbstkostenpreis. Nur so geht es.

Zweites Beispiel. Eine kleine Gemeinde mit 1.200 Einwohnern auf dem Lande. Ein Pfarrer. Sonntags- und Feiertagskollekte, um die 2.000 Zloty. Im Jahr: ca. 120.000 Zloty. Fünf Trauungen je 500 Zloty: 2.500 Zloty. Zehn Taufen mal 100 Zloty: 1.000 Zloty. Zehn Bestattungen je 400 Zloty: macht 4.000 Zloty. Einhundert Messegaben je 40 Zloty: 4.000 Zloty. Die Hausbesuche (kolęda): 3.000 Zloty. Insgesamt ergibt das 130.000 Zloty im Jahr (ca. 30.500 Euro). Davon geht die Hälfte für die Diözese. Bleiben rund 65.000 Zloty für die kirchengemeinde. Das ergibt knapp 5.500 Zloty (ca 1.300 Euro) pro Monat.

Gemeindemitglieder helfen ehrenamtlich bei Dachrenovierung. Kirche der Muttergottes von Piekary im Warschauer Stadtteil Wola. Herbst 2018.

Zum Glück ist das Kirchengebäude nicht groß und nicht denkmalgeschützt. Der Pfarrer hat zwar keine Nebeneinkünfte, aber die Dorffrauen helfen gerne ehrenamtlich beim Schmücken und Putzen der Kirche. Die Männer gehen bei größeren Arbeiten zur Hand. Essbares gibt es immer wieder mal, auch umsonst, und der zwölf Jahre alte VW schafft noch munter den Weg zu den Hausbesuchen und in die Kreisstadt. Der Pfarrer kommt auf diese Weise ganz gut zurecht.

Sozialversicherungsbeiträge zahlt der Staat

Katholische Pfarrer gehen mit 75 Jahren endgültig in Rente. Ab 65 Jahren können sie das tun, wenn die Gesundheit nicht mitspielt. Dann helfen sie, wenn sie noch können, in den Pfarreien aus, wo sie als sogenannte Residenten leben. Es gibt in Polen auch einige Einrichtungen für schwerkranke oder altersschwache Pfarrer. Generell sind Priester diejenigen, die ihre Renten am kürzesten beziehen.

Erst mit 75 in Rente.

Geistlichen werden Sozialversicherungsbeiträge nur von ihren Einkommen aus festen Arbeitsverhältnissen (Schule, Universität usw.) einbehalten. Zudem zahlt der Staat für alle Geistlichen achtzig Prozent der niedrigsten, gesetzlich vorgeschriebenen, Renten, – Unfall,- und Gesundheitsbeiträge. Die fehlenden zwanzig Prozent zahlen die Geistlichen selbst oder deren Diözese, beziehungsweise der Orden.

Zu hundert Prozent vom Staat getragen, werden lediglich die Sozialversicherungsbeiträge polnischer Missionare, so lange sie auf Mission im Ausland sind, sowie für Nonnen und Mönche kontemplativer Orden, die in strenger Klausur, ohne Kontakt zur Außenwelt leben.

Das Geld hierfür kommt aus dem sogenannten Staatlichen Kirchenfonds. Gegründet haben ihn 1950 die Kommunisten, nachdem sie der Kirche fast ihr gesamtes Eigentum weggenommen hatten. Der Fonds sollte sich ursprünglich aus den Einkommen, die das verstaatlichte Kircheneigentum erbrachte speisen, und daraus Gesundheitskosten sowie Renten der Geistlichen finanzieren.

Die Kommunisten haben seinerzeit allein von der katholischen Kirche 145.000 Hektar Land und knapp 4.000 Gebäude konfisziert. Es handelte sich dabei meistens um sogenannte „Güter der toten Hand“, also Land, das Gläubige nach ihrem Tod der Kirche über Jahrhunderte vermacht hatten.

Nicht wenige der enteigneten Gebäude beherbergten gut ausgestattete Schulen, Krankenhäuser, Altersheime, Kindergärten. Mit der Caritas Polska zum Beispiel, gingen ein beachtlicher, moderner Lkw-Fuhrpark aus US-amerikanischen Spenden, sowie ebenfalls große Vorräte an Hilfsgütern und etliche Spendenkonten unwiederbringlich verloren.

Der Kirchenfonds jedoch, hat nie so funktioniert wie angedacht. Die Kommunisten haben das gesamte Kircheneigentum mit dem übrigen Staatseigentum vermischt, es nie separat verwaltet. Der Fonds wurde also von vornehein aus dem Staatshaushalt finanziert.

Untersuchungen nach 1990 ergaben, dass nur etwa 40 Prozent der Fonds-Gelder den ursprünglichen Aufgaben zugutekamen. Der Rest wurde für atheitstische Propaganda, antikirchliche Maßnahmen, die Förderung regimehöriger Kirchenleute ausgegeben. Er war ein weiteres, wirksames Werkzeug der Glaubenspolitik eines totalitären Staates.

Kirche und Geld. So sieht es die polnische Linke.

Bis heute hat die Kirche gut 30 Prozent ihres Eigentums nicht zurückerhalten. Die polnische Linke fordert die Abschaffung des Kirchenfonds. Soll doch der Klerus seine Sozialversicherungsbeiträge alleine zahlen. Hinzu kommen Forderungen nach der Verbannung des Religionsunterrichts aus den staatlichen Schulen, nach der Besteuerung der seelsorgerischen Leistungen, Entfernung von Kruzifixen aus dem öffentlichen Raum, Abschaffung der Gewissensklausel u. v. m. Sie wird damit eher keinen Erfolg haben.

Nichts deutet heute darauf hin, dass sich an der Finanzierung der Kirche in absehbarer Zeit etwas ändern wird. Die Art, wie die Kirche an ihr Geld kommt, ist ein wichtiger Bestandteil ihrer traditionellen Nähe zur Nation. Die Gläubigen greifen für sie jedes Mal direkt und freiwillig in die Tasche. Das verbindet.

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Hirte der Triebe

Am 15. November 2019 starb Erzbischof Juliusz Paetz.

Scham hindert Schande, doch Scham ist eine Tugend, die ihm offensichtlich nicht eigen war. Als wäre nichts gewesen, hat Erzbischof Juliusz Paetz seine Kirche und die katholische Öffentlichkeit in Polen lange Jahre hindurch in einen Zustand peinlicher Berührtheit versetzt. Er beherrschte hervorragend die Kunst der Verdrängung, seine zügellosen homosexuellen Triebe vermochte er jedoch nicht zu bändigen.

Goldene Königskapelle im Dom von Poznań. Links das Denkmal von Fürst Mieszko I. und König Bolesław des Tapferen, die beide auf der Dominsel begraben sein sollen.

Im Schatten alter, wiet ausladender Baumkronen erstreckt sich auf der Dominsel von Poznań die Wiege des christlichen Polens. Hier stand die Fürstenpfalz Mieszko I., der 966 sich, und damit ganz Polen, taufen lieβ. Hier befand sich seine Kapelle, das erste christliche Gotteshaus auf polnischem Boden. Hier soll er beigesetzt worden sein. Pietät, Würde und Anstand sind an diesem historischen Ort keineswegs fehl am Platze.

Altarraum mit Kanzel im Dom von Poznań.

Kaum einen Steinwurf von der Kathedrale entfernt, erhebt sich heute auf der Dominsel der Bischofspalast. An ihn angeschlossen ist das Gebäude der Diözesankurie. Unweit davon befindet sich die Kirche der Allerheiligsten Jungfrau Maria, das älteste gotische Gotteshaus der Stadt. Daneben das Diözesanmuseum in der einstigen Lubranski-Akademie, der ersten Hochschule Poznańs vom Anfang des 16. Jahrhunderts. Zum etwa zweihundert Meter entfernten Erzbischöflichen Priesterseminar gelangt man durch eine Unterführung, die die benachbarte Schnellstraβe unterquert.

Der Dom und im Vordergrund die Kirche der Allerheiligsten Jungfrau Maria.

„Roma“ rückwärts lesen

Erzbischof Paetz schaute hier des Öfteren unangemeldet vorbei und nahm stets am liebsten die Schlafsäle der Priesteranwärter in Augenschein. Nach mehreren peinlichen Vorfällen verbot der Rektor Dr. Tadeusz Karkosz (er starb 2015) dem Erzbischof, das Seminar ohne Vorankündigung zu betreten. Normalerweise wären danach die Tage eines Priesters im Amt des Rektors gezählt. Doch nichts geschah. Hat das schlechte Gewissen Gutes bewirkt oder lieβ der Hierarch nur Vorsicht walten?

Das Erzbischöfliche Priesterseminar in Poznań.

Wie auch immer es gewesen sein mag, wahr ist, dass er, je älter er wurde, sich umso weniger im Griff hatte. Pädophilie konnte man ihm nicht vorwerfen, denn nicht Kinder, sondern junge Männer trafen seinen Geschmack. Kein Priesteranwärter war sicher vor seinen Avancen, Umarmungen, Zudringlichkeiten, vieldeutigen Anspielungen, Anzüglichkeiten. Angeboten, sich mal abends zu treffen. „Lustigen“ Geschenken, wie rote Schlüpfer mit der Aufschrift „Roma“ und dem Hinweis, das Wort rückwärts zu lesen.

Es ist die Norm, dass etwa ein Drittel der Priesteranwärter das Seminar vorzeitig verlässt. Die Anforderungen sind für sie zu hoch, der Glaube nicht ausreichend gefestigt, weltliche Verlockungen zu groβ. Wie viele sind nur seinetwegen gegangen, wie viele haben sich missbrauchen lassen?

Das erzbischöfliche Palais in Poznań.

Vielen graute es vor den Vieraugengesprächen mit dem Erzbischof. Jeder Seminarist muss ein solches Gespräch, Scrutinum genannt, dreimal während seiner Ausbildung absolvieren. Verhaltensregeln wurden unter der Hand weitergegeben. Bei der Begrüβung, die Hand so steif wie möglich geben und sie sofort zurückziehen. Blickkontakt meiden. Sich bei zweideutigen Bemerkungen, Anspielungen dumm stellen usw.

Auch wenn manches Detail von kirchenfeindlichen Medien erfunden oder aufgebauscht sein könnte, das meiste, leider, sind verbriefte Tatsachen.

All das spielte sich im letzten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts ab. Als Juliusz Paetz im April 1996 das prestigeträchtige Amt des Metropoliten von Poznań übernahm, blickte er bereits, mit 61 Jahren, auf einen ereignis- und erfolgreichen Werdegang im Dienste der Kirche zurück.

Der Bamberger

Er kam 1935 in Poznań zur Welt, in einer Familie der sogenannten Posener Bamberger. Zu Beginn des 18. Jahrhunderts hatten der Groβe Nordische Krieg und nachfolgende Seuchen die ländliche Bevölkerung in der Umgebung von Poznań dezimiert. Felder lagen brach. Ratsherren beschlossen, katholische Siedler aus der Umgebung von Bamberg in Oberfranken zu holen und ihnen den Ackerbau anzuvertrauen. Zwischen 1719 und 1753 wurden insgesamt etwa einhundert Familien mit fünfhundert Mitgliedern angesiedelt.

Posener Bamberger in ihren Trachten auf dem Alten Markt in Poznań.

Die Bamberger pflegten zwar weiterhin ihren eigenen Lebensstil und  behielten bis heute ihre Festtrachten, polonisierten sich jedoch vollends und waren loyale Staatsbürger seit der Wiedergründung des polnischen Staates 1918, nach 123 Jahren der Teilungen. Unter der deutschen Besatzung im Zweiten Weltkrieg weigerten sie sich zumeist, die Deutsche Volksliste zu unterschreiben. Viele wurden deswegen enteignet, brutal schikaniert, oft in Konzentrationslager verschleppt.

Nicht anders erging es Juliusz‘ Vater, einem Metzger, der am Rande der Stadt einen kleinen Schlachthof und eine Fleischerei betrieb. Der Junge war neun, als im Februar 1945 der Krieg mit schweren Kämpfen der Sowjets um die Stadt und enormen Zerstörungen in Poznań zu Ende ging.

Die vier Söhne des Metzgermeisters Paetz  haben es im Leben zu was gebracht. Juliusz zum Erzbischof, die anderen sind heute gut situiert und bestens eingebunden in die städtische Elite. Einer als Arzt, der zweite als Notar und der dritte als Rechtsanwalt. Dieser Umstand hat sich für Erzbischof Paetz als sehr nützlich erwiesen, als es eng für ihn wurde. Die Elite der Stadt hielt ihm die Treue.

Mit vierzehn kam Juliusz auf das vierjährige Kleine Seminar in Poznań. Es gab damals in Polen fast fünfzig solcher katholischen Schulen mit Internat für Knaben, die später Priester werden wollten. Viele mit langer Tradition. Im Nachkriegspolen waren sie den Kommunisten ein Dorn im Auge. Sie entzogen Jugendliche der kommunistischen Staatserziehung, beeinflussten sie „feindlich“. Zwischen 1952 und 1962 schlossen die Behörden alle Kleinen Seminare. In Poznań geschah das 1960.

Poznań, Lublin, Rom

Zu der Zeit war Juliusz Paetz bereits seit einem Jahr Priester. Dem vorausgegangen war ein fünfjähriges Lernen am Erzbischöflichen Priesterseminar auf der Posener Dominsel. Nur zwei Jahre lang war er anschließend als Vikar an zwei Posener Gemeinden tätig. Dann schickte ihn der damalige Erzbischof von Poznań zum Theologiestudium an die Katholische Universität Lublin, bis 1990 die einzige katholische Universität im ganzen kommunistischen Machtbereich zwischen Elbe und Pjöngjang in Nordkorea. Von Polens Kommunisten schwer drangsaliert, stand sie oft kurz vor der Schlieβung, aber sie überdauerte.

Weitere zwei Jahre vergingen und Pfarrer Juliusz Paetz konnte ab 1962 das Studium in Rom an den Päpstlichen Universitäten Gregoriana und Heiliger Thomas von Aquin fortsetzen. Er durfte sich deswegen ausgesprochen glücklich schätzen.

Denn auch der einst als liberal und reformfreudig geltende Parteichef Władysław Gomułka, den bei seinem Machtantritt 1956 ganz Polen bejubelt hatte, begann nämlich ab Ende der 50er-Jahre, die Kirche, die einzige noch verbliebene unabhängige Institution in Polen, heftig zu bekämpfen. Die kurze „Verschnaufpause“ zwischen 1956 und 1958 war vorbei. Die Schlieβung der noch verbliebenen Kleinen Seminare, die Verbannung des Religionsunterrichts aus den Schulen, das massenweise Abhängen von Kreuzen in öffentlichen Gebäuden, die strikte Nichterteilung von Baugenehmigungen für Kirchen, während die Städte sprunghaft wuchsen, das waren nur einige der vielen Symptome des neuen Kirchenkampfes der Kommunisten.

Dazu gehörte aber auch die drastische Einschränkung der, ohnehin nie üppigen, Ausgabe von Auslandspässen an Priester. Sogar dem Primas von Polen, Kardinal Stefan Wyszyński, verweigerten die Behörden einige Male die Reise nach Rom. Wem oder welchen Umständen verdankte ausgerechnet Pfarrer Paetz in dieser schweren Zeit die Gunst der Kommunisten? Wir wissen es nicht.

Nach dem Studium blieb Paetz in Rom. Zuerst arbeitete er neun Jahre lang im Generalsekretariat der Bischofssynode. Ab 1976 stand Paetz als einziger polnischer Prälat im päpstlichen Vorzimmer unmittelbar im Dienst der Päpste Paul VI., Johannes Paul I. und Johannes Paul II.

Er begrüβte Gäste und leistete denen Gesellschaft, die auf die Audienz beim Papst warteten. Es waren fast ausnahmslos Spitzenpolitiker aus der ganzen Welt, namhafte Künstler, Wissenschaftler, Sportler. Er begleitete Johannes Paul II. bei seinen ersten Auslandsreisen, auch als er zum ersten Mal als Papst im Juni 1979 Polen besuchte.

In jener Zeit nahm nachweislich die polnische Staatssicherheit Kontakt zu Paetz auf. Die wenigen Unterlagen hierzu, die die massenhafte Vernichtung der polnischen Stasi-Dokumente zwischen 1989 und 1990 überdauert haben, belegen, dass er 1978 als Quelle „Fermo“ registriert und bis 1980 abgeschöpft wurde. Knapp neunzig Prozent der Informationen, die „Fermo“ weitergab, stufte die Stasi damals als wichtig ein.

Paetz beteuerte später, er habe nie bewusst mit der Stasi zusammengearbeitet. Die Einstufung als Quelle und nicht als IM könnte dafür sprechen. Die polnischen Stasi-Leute agierten in Rom gut getarnt als Diplomaten, Mitarbeiter des Römischen Büros der Fluggesellschaft LOT, polnische Wissenschaftler-Stipendiaten an italienischen Universitäten usw. Es gab viele Kontakte zu polnischen Geistlichen im Vatikan. Einige von ihnen waren Stasi-Agenten, andere wiederum  wurden abgeschöpft, ohne es zu wissen. War das so bei Paetz? Auch hier gibt es keine gesicherte Antwort.

Ins Abseits befördert?

Seine vatikanische Karriere endete 1983. Der polnische Papst Johannes Paul II. erteilte ihm die Bischofsweihe und machte Paetz zum Bischof in Łomża (fonetisch Lomscha), einer Provinzstadt mit sechzigtausend Einwohnern im Nordosten Polens. War das eine echte Beförderung oder nur eine Beförderung ins Abseits?

Wojciech Polak, Erzbischof von Gniezno und Primas von Polen, und Marcin Przeciszewski am 29. November 2019 in Wrocław.

Völlig unerwartet, am 29. November 2019, knapp zehn Tage nach Erzbischof Paetz‘ Tod, äuβerte sich dazu Marcin Przeciszewski (fonetisch Pschetsischewski), der Leiter der polnischen Katholischen Nachrichtenagentur. Dies geschah während einer Podiumsdiskussion, bei einer öffentlichen katholischen Tagung in Wrocław.

„Erzbischof Paetz hatte eine wahrlich hohe Stellung im Vatikan inne und ging nach Łomża in die Verbannung. Das war ein grundlegender Fehler, weil seine (homosexuellen – Anm. RdP) Neigungen im Vatikan erkannt worden waren. Der Vatikan wollte ihn loswerden. Das war einer der Gründe für die Ernennung“, sagte Przeciszewski.

Mit auf dem Podium saβ Wojciech Polak, Erzbischof von Gniezno und Primas von Polen. Er reagierte nicht darauf, was als sehr vielsagend ausgelegt wurde.

Diezöse Łomża

Das Sich-Herantasten an die unangenehme Wahrheit dauerte damals, aus heutiger Sicht, lange. Für viele viel zu lange. Warum?

„Sünde verteidigen heiβt selber sündigen“ (Sprichwort)

Bischof Paetz empfängt Johannes Paul II. in Łomża während der päpstlichen Pilgerfahrt nach Polen im Juni 1991.

Juliusz Paetz konnte ein umgänglicher, zuvorkommender Mensch und ein engagierter Seelenhirte sein. Ein Pfarrer aus Łomża berichtete der Zeitung „Rzeczpospolita“ („Republik“), die den Skandal 2002 öffentlich machte anonym:

„Er hat schnell die meisten Priester und Gläubigen für sich gewonnen. Er war höflich, freundlich, einfühlsam. Er besuchte unermüdlich Klöster und soziale Einrichtungen der Kirche. Er kam schon mal zu einem runden Pfarrergeburtstag, auch wenn er weitab von seinem Bischofspalast gefeiert wurde. Er fuhr zu Beerdigungen, wenn die Mutter oder der Vater eines Pfarrers gestorben war, führte Trauerzüge an. Übernahm ein Kaplan eine Pfarrei, führte Paetz ihn persönlich ein.“

Dieser gute Ruf eilte ihm voraus, als er 1996 das Bistum in Łomża verlieβ, um in Poznań Metropolit zu werden.

Dort schlug ihm damals eine allgemeine Begeisterung entgegen. Paetz war gebürtiger Posener, dazu noch ein Nachkomme der Posener Bamberger, durch seine Verwandten bestens vernetzt in der örtlichen Elite.

Diese Elite, angeführt von dem (2015 verstorbenen) Oligarchen und reichsten Mann Polens, Jan Kulczyk, hielt eisern zu ihm. Sie veröffentlichte einen offenen Brief, wenige Tage nachdem die Tageszeitung „Rzeczpospolita“ („Republik“) am 23. Februar 2002, in einem Bericht mit dem Titel „Sünde im erzbischöflichen Palais“, das Doppelleben des Erzbischofs öffentlich gemacht hatte.

„Angeklagt wurde ein Mensch, der allgemeine Hochachtung genieβt, dessen Verdienste um die Wissenschaft und Kultur in Poznań unbestritten sind. Er spielt eine wichtige Rolle im Leben unserer Stadt und Region. Er regt an und vereinigt viele Milieus im gestalterischen und fruchtbaren  Handeln zum Allgemeinwohl der Menschen in Poznań und Groβpolen. Derweil erwecken Ton und Inhalte verschiedener Presse-, Rundfunk- und Fernsehberichte den Eindruck, als wären die Bezichtigungen zweifelsfrei bewiesen. Das muss unseren entschiedenen Widerspruch wecken“, hieβ es in dem Schreiben.

Paetz-Förderer Jan Kulczyk.

Unterschrieben hatten, neben Kulczyk, u. a. die Rektoren aller  staatlichen Hochschulen in Poznań: der Universität, der Technischen Hochschule, der Wirtschaftsuniversität, der Musikhochschule, der Medizinischen Universität, der Hochschule für Landwirtschaft, der Kunsthochschule, dazu noch der Direktor der Oper u. e. m.

„Sumpfland-Midas“. Nachruf auf Jan Kulczyk ist hier zu lesen.

Da sind auch viele Gläubige, die es einfach nicht fassen konnten, dass ihr Hirte auf Irrwege geraten sein sollte. Bis heute weigern sie sich, die schwierige Wahrheit zur Kenntnis zu nehmen.

Da sind schlieβlich einige wichtige Kirchenhierarchen. Sie duckten sich, mieden den Zusammenstoβ mit ihrem – aufgrund seiner Popularität und seiner bewährten Kontakte im Vatikan – einflussreichen Amtsbruder. Trotz aller Beschwerden, Hinweise und Indizien. Hierzu gehören die drei Stellvertreter von Paetz (Weihbischöfe) und der damalige apostolische Nuntius (Vatikan-Botschafter) in Warschau, Bischof Józef Kowalczyk, der alle Versuche, die Sache nach Rom weiterzuleiten, blockiert hat.

Die Gerechten geben nicht auf

Den Blockierern gegenüber stand jedoch eine zunehmend gröβere Schar von Kirchenleuten, die den unzüchtigen Erzbischof endlich gebändigt sehen wollte. Zum einen aus moralischen Gründen, zum anderen, um die Kirche zu schützen, weil es nur eine Frage der Zeit war, bis seine Ausschweifungen öffentlich würden. Die Sache zog ja im innerkirchlichen Bereich schließlich immer weitere Kreise.

Einige hochrangige geistliche Posener Wissenschaftler sprachen Paetz unter vier Augen auf seine Neigungen an. Er war beherrscht, so hörte man hinterher, verhielt sich wie ein Diplomat. Zwar spülte er die Fakten weich, leugnete sie jedoch nicht. Auch der in den Posener Kirchenkreisen angesehene Ultrakonservative, Prof. Maciej Giertych, sprach bei Paetz vor. Alles vergebens. Die Klagen der Priesteranwärter wurden nicht weniger.

Anfang September 2001 schrieben einige hochrangige Geistliche einen Brief an die polnischen Bischöfe, die damals als Delegierte der Polnischen Bischofskonferenz zur Bischofssynode nach Rom reisen sollten. Zu den Unterzeichnern gehörten der Dekan der Theologischen Fakultät der Universität Poznań; Pfarrer Prof. Tomasz Więcławski, Pfarrer Dr. Jacek Stępczak, Chefredakteur des sehr populären örtlichen Diözesan-Wochenmagazins „Przewodnik Katolicki“ („Katholischer Leitfaden“); der Rektor des Erzbischöflichen Priesterseminars, Dr. Tadeusz Karkosz,  und der führende, sehr angesehene örtliche Aktivist der Anti- Abtreibungsbewegung Paweł Wosicki. Ihr Fazit: „Der Diözesanbischof stelle durch sein Benehmen eine ernsthafte Gefahr für die Diözese dar.“

Daraufhin rief Erzbischof Paetz Anfang Oktober 2001 die vierzig Dekane der Diözese Poznań zu einer dringenden Sitzung ein. (Ein Dekan beaufsichtigt im Auftrag des Bischofs jeweils zehn Gemeinden). Er verlieβ die Versammlung nach einigen Minuten. Die drei Weihbischöfe baten die Anwesenden, eine Erklärung zugunsten des Erzbischofs zu unterzeichnen.

Sie sollte am nächsten Sonntag in allen Kirchen der Diözese verlesen werden. Zwei Tage später jedoch lieβ man die Unterzeichner wissen, die Erklärung werde nicht verlesen. Sie wurde in den Vatikan geschickt, sozusagen als eine Gegendarstellung zu dem Brief an die Delegierten zur Synode in Rom. Die Dekane fühlten sich hintergangen. Vier von ihnen legten ihr Amt nieder.

Als sich Chefredakteur Stępczak weigerte, die Erklärung im „Przewodnik Katolicki“ abzudrucken, feuerte ihn der Erzbischof  kurzerhand und verbat ihm jegliche seelsorgerische Tätigkeit in der Diözese. Pfarrer Stępczak ging als Missionar nach Zambia.

Im Verlauf des Oktober sowie November 2001 schrieben weitere besorgte Kirchenleute und katholische Intellektuelle Briefe an Nuntius Stanisław Kowalczyk in Warschau mit der Bitte, die Angelegenheit an den Papst weiterzuleiten. Als weiterhin nichts geschah, beschloss Theologiedekan Prof. Tomasz Więcławski, Dr. Wanda Półtawska in Kraków in die Sache einzuweihen.

Dr. Wanda Półtawska

Die namhafte Psychiaterin, eine ehemalige KZ-Inhaftierte, an der deutsche Ärzte grausame medizinische Experimente durchgeführt hatten, kannte Karol Wojtyła seit fünfzig Jahren und war seine engste Vertraute. Sie brachte den Brief Prof. Więcławskis unmittelbar zum Papst nach Rom und las ihn beim Abendessen, dem damals gesundheitlich schon schwer angeschlagenen, Kirchenoberhaupt  vor. Johannes Paul II. zeigte sich tief erschüttert über Paetzs Verhalten und darüber, dass man den Skandal vor ihm verheimlicht hatte.

Der Erzbischof geht, der Erzbischof bleibt

Nur eine Woche später, am 29. November 2001, kam ein zweiköpfiger Untersuchungsausschuss aus dem Vatikan nach Poznań. Ein Woche lang verhörten die beiden Kontrolleure von früh bis spät in die Nacht die Priesteranwärter. Haarsträubendes soll ans Tageslicht gekommen sein. Was genau? Verhörprotokolle und Abschlussbericht wurden bis heute nicht veröffentlicht.

Die Gerüchteküche kochte derweil immer heftiger, bis am 23. Februar 2002 der „Rzeczpospolita“-Bericht den Skandal zur Explosion brachte. Am Karfreitag, dem 28. März 2002, nahm Johannes Paul II. den Rücktritt des Erzbischofs an.

Paetz verabschiedete sich mit einem Brief an die Gläubigen, in dem er behauptete, die gegen ihn erhobenen Vorwürfe, Priesteranwärter sexuell belästigt zu haben, stellten „eine Fehlinterpretation meiner Güte und Spontaneität dar“.

Seitdem war Juliusz Paetz Erzbischof-Senior der Diözese Poznań. Der Vatikan hatte schriftlich festgehalten, dass er keine Predigten halten, keine Firmungen, Priester-, Kirch- und Altarweihen vornehmen dürfe. Dieses Verbot galt nicht auβerhalb der Diözese Poznań.

Paetz derweil tat nach seinem Rücktritt von Anfang an so, als wäre nichts geschehen. Er lebte keinesfalls zurückgezogen, sondern wohnte weiterhin auf der Dominsel und scheute keineswegs die Öffentlichkeit. Im Gegenteil, er suchte sie. So war er weiterhin Gast bei den Premiere-Aufführungen in der Posener Oper, saβ oft in der Loge zwischen dem Oligarchen Kulczyk und dem von der Regierung Tusk ernannten Regierungspräsidenten.

Das hörte erst 2015 auf, als Kulczyk unerwartet starb und die Tusk-Partei Bürgerplattform die Parlamentswahlen verlor. Der von der neuen Regierung ernannte Regierungspräsident mied den Skandal-Geistlichen demonstrativ. Bis zuletzt jedoch sah man Paetz bei Empfängen, Vernissagen, Einweihungen. Die Reichen, Schicken und Schönen von Poznań blieben ihm treu.

Erzbischof Stanisław Gądecki.

Man sah auf Anhieb, dass Paetz besessen davon war rehabilitiert zu werden, die Liturgie wieder zelebrieren zu dürfen. Siebzehn Jahre lang war er emeritiert, und so lange dauerte der kalte Kleinkrieg zwischen ihm und seinem Nachfolger, Erzbischof Stanisław Gądecki (fonetisch Gondetzki), der nicht bereit war, über das skandalträchtige Verhalten von Paetz hinwegzusehen.

Immer wieder musste Gądecki, der bis heute von den Posener Eliten abgelehnt und nirgendwo eingeladen wird, Paetz ausrichten lassen, er möge sich  an die ihm auferlegten Einschränkungen halten. Manchmal blieb Gądecki keine andere Wahl, als seinem umtriebigen Vorgänger das Erscheinen zu wichtigen Kirchenanlässen ausdrücklich zu verbieten.

Paetz wurde nicht müde, seine Beziehungen im Vatikan für eine Rücknahme der Verbote zu nutzen, und 2010 sah es so aus, als hätte er sein Ziel erreicht. Damals reiste Bischof Gądecki nach Rom und teilte Papst Benedikt XVI. mit, er werde im Falle einer Rehabilitierung von Paetz zurücktreten. Der Papst, der in die Angelegenheit nicht eingeweiht zu sein schien, gab ihm sofort recht.

Danach musste die Kirche den umtriebigen Emeritus noch zweimal öffentlich ermahnen. Im Jahr 2013 sah sich der damals sehr einflussreiche vatikanische Kardinalstaatssekretär Tercisio Bertone gezwungen, Paetz zu bitten, sein Leben „in Klausur, Einkehr und mit Gebeten zu fristen“. Drei Jahre später, unmittelbar vor den groβen Feierlichkeiten zum 1050. Jahrestag der Taufe Polens in Poznań, verkündete das Pressebüro der Polnischen Bischofskonferenz, Paetz solle von der Teilnahme Abstand nehmen.

Statt in der Gruft an der frischen Luft

Nach Paetz‘ Tod begann ein drei Tage lang andauerndes heftiges Ringen hinter den Kulissen darum, wo er bestattet werden sollte. Als dem emeritierten Diözesanbischof stand ihm eine letzte Ruhestätte im Dom zu. Darauf drängte die Familie, und auch die Kurienmitarbeiter neigten, unter Berufung auf kirchliche Vorschriften, erst einmal dazu.  Das war die Situation am Freitag, dem 15. November 2019.

Paetz‘ Grab.

Am Samstagabend, dem 16. November, machte ein Brief, veranlasst von namhaften Posener Priestern und Laien aus dem nationalkonservativen Lager, die Runde, in dem vor den katastrophalen Folgen für das Ansehen der Kirche bei einer Bestattung im Dom gewarnt wurde. Bischof Gądecki, der schon vorher Bedenken hatte, schloss sich dem Appell an.

 

Am Montag, dem 18. November, gab es eine Totenmesse im Dom, die Bischof Gądecki zelebrierte und an der nur die Familie teilnehmen durfte. Außenstehende wurden von eigens bestellten Wachleuten an den Eingängen abgewiesen. Anschlieβend wurde der Sarg zum städtischen Friedhof gebracht und im Familiengrab beigesetzt.

„Alte Sünde macht oft neue Schande“, sagt das Sprichwort. Oft, aber zum Glück nicht immer.

© RdP

 

 




Allein für das Leben

Polnische Ärztin gegen den Staat Norwegen.

Fast fünf Jahre lang kämpfte Katarzyna Jachimowicz darum als Ärztin arbeiten zu dürfen ohne an der Tötung ungeborener Kinder teilnehmen zu müssen.

Dr. Katarzyna Jachimowicz arbeitete nach dem Medizinstudium, seit 1999, als Familienärztin in ihrer Heimatstadt Białystok. Im Jahr 2008 siedelte sie nach Norwegen um, wo ihr Ehemann, ein Radiologe, ein lukratives Arbeitsangebot erhalten hatte. Nach zwei Jahren des Norwegischlernens und der Erledigung notwendiger Formalitäten, begann sie 2010 als Hausärztin in der Viertausend-Einwohner-Gemeinde Sauherad in der Provinz Telemark, in Südnorwegen.

Das Gespräch mit Frau Jachimowicz veröffentlichte das Wochenmagazin „Sieci“ („Netzwerk“) vom 8. Dezember 2019.

Das Titelbild entstammt einer Solidaritätsaktion mit ihr.

Wie ist es um den Schutz des ungeborenen Lebens in Norwegen bestellt?

Die Abtreibung auf Wunsch ist bis zur zwölften Schwangerschaftswoche erlaubt. Wird beim Kind oder bei der Mutter eine Erkrankung festgestellt, dann verlängert sich die Frist bis zur achtzehnten Schwangerschaftswoche.

Die Verabschiedung dieser Regelungen (1978 – Anm. RdP) war nur eine Zwischenstation in einer fortlaufenden Entwicklung. Wobei in Norwegen die Verschiebung der Grenzen nur in eine Richtung vonstattengeht: gegen das Leben.

Das Gesetz, das den Schutz der ungeborenen Kinder aufgehoben hat, wurde mit nur einer Stimme Mehrheit verabschiedet, begleitet von Massenprotesten christlicher Kreise. Viele Teilnehmer dieser Proteste wurden verhaftet. Ich bin Leuten begegnet, die deswegen bis zu zwei Wochen im Gefängnis verbracht haben. Protestierende Pastoren wurden entlassen, weil die Kirche in Norwegen eine staatliche Institution ist. Von 1978 an wurden in Norwegen eine halbe Million ungeborene Kinder beseitigt. Das sind zehn Prozent der Bevölkerung.

Gemeinde Sauherad.

Wann haben Sie erfahren, dass die Gewissensklausel aufgehoben wird?

Als ich nach Norwegen übersiedelte wusste ich, dass es dort zu den Pflichten eines Hausarztes gehört Frauen zur Abtreibung zu überweisen und Mittel für eine frühe Abtreibung einzusetzen. Ich wusste aber auch, dass in Norwegen die Gewissensklausel gilt und dass ich mich weigern darf solche Handlungen vorzunehmen. Mir war nicht klar, dass Norwegen, ein Land der Freiheit und Toleranz, sich in dieser Hinsicht dermaßen totalitär geben würde.

Bald stellte sich heraus, dass, wenn Sie sich auf die Gewissensklausel berufen, sie als Hausärztin nicht arbeiten dürfen.

Ab Januar 2015 galt das neue Hausärzte-Gesetz. Es hob die Gewissensklausel in der Familienmedizin auf.

Hat die Gesellschaft das befürwortet?

Als das Hausärzte-Gesetz geändert wurde, gab es in ganz Norwegen sechzehn Mediziner, die sich auf die Gewissensklausel beriefen. Darunter mich.

Poliklinik in Sauherad.

Gegen uns haben Feministinnen Demonstrationen mit Tausenden von Teilnehmern veranstaltet. Meine Vorgesetzte stellte mich damals vor die Wahl: entweder du änderst deine Meinung oder du kündigst. Man erwartete, dass ich von alleine aufgebe. Damals hatten bereits zwei Kollegen in derselben Lage wie ich den Dienst quittiert.

Ich habe mich geweigert, weil ich sah wie die Rechte christlicher Ärzte zielstrebig eingeschränkt wurden. Das Recht auf die Gewissensklausel ist ein Menschenrecht. Man kann dem Beruf nicht gleichzeitig mit zwei entgegengesetzten Wertenormen nachgehen. Ich bin Katholikin, also bin ich für das Leben. Die Tötung eines Menschen, sei es auch in einer sehr frühen Lebensphase, ist unzulässig.

Man hat jedoch von mir erwartet, dass ich meine Arbeit verrichte und meine Wertvorstellungen währenddessen an der Garderobe abgebe. Als Mensch bin ich jedoch ein Ganzes. Ich habe meinen Vorgesetzten gesagt, dass sie es sind, die mich entlassen müssen. Von alleine gehen würde ich nicht.

Was passierte dann?

In einer ausweglosen Lage findet man manchmal doch einen Weg. Man hat mir gekündigt. Aber das erlaubte mir, einige in Norwegen geltende Mechanismen bloßzustellen und das war, gewissermaßen, bereits ein Sieg.

Was zeigte ihr Rausschmiss?

Dass Norwegen ein intolerantes Land ist. Man achtet dort verschiedene Nationalitäten, Glaubensrichtungen, Minderheiten, alle möglichen Lebensweisen, aber meine wurde nicht akzeptiert. Das ist ein eklatanter Bruch von Menschenrechten und die öffentliche Meinung nahm das wahr.

Ich war die erste Person meines Berufsstandes, der in Norwegen aufgrund von ihr vertretener Ansichten gekündigt wurde. Allein zu zeigen, wie das funktioniert war ein Sieg. Ich hatte erwogen vor Gericht zu klagen, aber damals erschien mir das unrealistisch. Es bedurfte eines großen finanziellen Aufwands, eines guten Anwalts, eines medizinischen Umfelds, das bereit war mich zu unterstützen. Ich war jedoch allein.

Sie waren ohne Arbeit. Was haben sie gemacht?

Nach meiner Entlassung bekam ich, rein zufällig, ein Angebot in der Psychiatrie zu arbeiten. Ich habe es angenommen.

Psychiatrie, das ist ein ganz anderes Fachgebiet.

Norwegens Christliche Ärztevereinigung. Logo.

Ja, eine völlig neue Herausforderung. Gleichzeitig kamen Vertreter der Christlichen Ärztevereinigung auf mich zu. Protestanten. Sie fanden einen Anwalt und stellten Geld zur Verfügung, damit ich meinen Arbeitgeber verklagen konnte.

Wie hat die Gemeinde, die Sie entlassen hat darauf, reagiert?

Die Verantwortlichen waren wütend. Sie versuchten mich zu bestechen, damit ich die Klage zurücknehme. Ich sollte ein Entgelt für meine Umschulung bekommen, und zwar in Höhe des norwegischen Mindestgehalts. Die Summe konnte nicht einmal den Verlust eines vorherigen Monatsgehalts aufwiegen.

Haben Sie aus materiellen Beweggründen geklagt?

Nein. Es ging mir darum, dass das geltende Recht all jene benachteiligt, die der Meinung sind, das Leben sei heilig von der Zeugung bis zum natürlichen Tod. Niemand, der das behauptet könnte jemals in Norwegen Hausarzt werden. Dagegen bin ich vorgegangen. Keine Geldsumme konnte mich davon abhalten.

Katarzyna Jachimowicz mit ihrem Anwalt Haakon Bleken.

Wie sah die erste Verhandlung aus?

Mein Anwalt hatte sich sehr gut vorbereitet. Was er vorgetragen hat, war eine philosophische, historische, juristische Ausführung über die Bedeutung der Gewissensklausel für den Menschen, die Menschheit und die Ärzteschaft. Seiner Argumentation wurde kein Gehör geschenkt. Das Gericht hat meine Klage (im Februar 2017 – Anm. RdP) abgewiesen.

Es sah in meiner Kündigung keinen Rechtsbruch. Das Gericht befand, dass mein Umgang mit Frauen diskriminierend sei, weil ich einer Frau die zu mir kommt das Einsetzen einer Spirale verweigern könnte, ein Mann jedoch mit einer solchen Weigerung nicht konfrontiert wäre. Als ich das hörte, konnte ich mich, obwohl ich verloren hatte, vor Lachen kaum halten.

Welche Folgen hatte Ihre Niederlage in erster Instanz?

Vor allem enorme Gerichtskosten. Es waren einige Hunderttausend Kronen (1 Euro entspricht ca. 10 NOK – Anm. RdP). Ich war jedoch entschlossen weiter zu kämpfen und auf einen langen Verfahrensweg gefasst, sogar bis nach Straßburg (bis zum Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte – Anm. RdP).

Hatte der Prozess Widerhall gefunden?

Ja. Schon nach der ersten Verhandlung änderte sich in den norwegischen Medien der Ton. Die Kommentare wurden ausgewogener. Die Hetzjagd auf die christliche Ärzteschaft war zu Ende. Auch die Leserkommentare waren interessant. Sie reichten von Hohn und Verharmlosung bis hin zu Hochachtung. Zudem hatten Feministinnen ein Problem mit mir, weil ja eine Frau, eine Immigrantin und dazu noch die Vertreterin einer religiösen Minderheit gefeuert worden war.

Norwegisches Antiabtreibungs-Plakat.

Dann fand die Verhandlung in der zweiten Instanz statt.

Wir wiederholten unsere Darlegung, aber dieses Mal hatten wir den Vorsitzenden der Familienärztlichen Vereinigung als Zeugen berufen. Er sagte aus, dass ihn die Zusammenarbeit mit einer Person wie mir, die aus moralischen und religiösen Beweggründen die Anwendung einiger Prozeduren verweigert, nicht stören würde. Man könne die Arbeit so organisieren, dass sich die Achtung vor den Wertvorstellungen eines Arztes und der reibungslose Arbeitsablauf in einer Poliklinik miteinander vereinbaren ließen.

In der Verhandlung sagte ein weiterer Arzt als Zeuge aus. Auch er benahm sich sehr anständig. Die berufliche Solidarität hatte für ihn ebenfalls Vorrang, obwohl er meine Ansichten nicht teilte. Direkte Arbeitskollegen von mir hatten einen Appell zu meinen Gunsten verfasst. Ich bekam viel Unterstützung.

Aber alle diese Leute waren nicht Ihrer Meinung.

Ja, doch sie fanden, dass ich das Recht habe Handlungen zu verweigern, die ich für niederträchtig halte. Meine Haltung hat bei ihnen Gewissenskonflikte hervorgerufen. Sie wurden mit Problemen konfrontiert, die sie eigentlich für längst entschieden hielten. Meine Botschaft war eindeutig: das Leben ist heilig vom Augenblick der Zeugung bis zum natürlichen Tod. Gleichzeitig ist es aber erlaubt ungeborene Kinder im Alter von bis zu zwölf Wochen zu töten. Diese beiden, nebeneinander existierenden Situationen verunsichern, verstören das Gewissen von Ärzten und Patienten.

Damals hatte ich sehr viele Gespräche mit Patientinnen, die ihre Kinder hatten abtreiben lassen. Sie kamen und erzählten mir ihr Leid. Dass sie vielleicht anders hätten handeln sollen. Eins wiederholte sich immer wieder und jedes Mal lief mir ein kalter Schauer den Rücken hinunter; jede von ihnen erzählte von ihrer endlosen Vereinsamung.

Als sie sich für die Abtreibung entschieden haben, wurde ihnen gut zugeredet, hieß es von allen Seiten: „Das ist dein Recht, deine Entscheidung“. Danach war aber niemand mehr da. Alle diese Frauen berichteten von ihrem schrecklichen, einsamen Ringen mit den psychischen Folgen, weil sie ihr Kind hatten abtreiben lassen. Wo sind die Familien, wo ist die medizinische Fürsorge, wo ist die Gesellschaft? Warum helfen sie diesen Frauen nicht?

Ich frage manchmal katholische Priester, ob Frauen die Abtreibung beichten. Ja, das tun sie. Und wie viele Männer beichten sie? Es gibt sie nicht! Wo sind die Ehemänner, die Partner, die Väter dieser Kinder? Sie haben sich abgewandt, sie haben die Frauen allein gelassen oder sie zur Abtreibung überredet, nicht selten genötigt, erpresst mit der Drohung „Ich oder das Kind“.

Wie endete das Verfahren in der zweiten Instanz?

Ich habe gewonnen. Die Urteilsbegründung enthielt das, worauf ich bestanden habe: die Menschenrechte.

Katarzyna Jachimowicz gibt ein Fernsehinterview vor der Verhandlung vor dem Obersten Gericht in Oslo.

Doch das war nicht das Ende.

Die Gemeinde hat Berufung beim Obersten Gericht eingelegt. Es kam zu einer weiteren Verhandlung. Das Spruchgremium bestand aus fünf Richtern und ich habe mit fünf zu null Stimmen gewonnen. Das hat meine kühnsten Erwartungen übertroffen.

Ihr Sieg fand ein großes Echo in den Medien. Wie haben die christlichen Kreise reagiert?

Die Christliche Ärztevereinigung wertete das als einen großen Erfolg, den wir auf einer eigens veranstalteten Konferenz dann auch gefeiert haben.

Erschöpft und glücklich. Gewonnen!

Und wie hat die katholische Kirche reagiert?

Zwei norwegische katholische Gemeinden haben mich eingeladen, aber ansonsten war es so, als würde die Sache für die Kirche nicht existieren.

Und die Polen in Norwegen. Betrachteten sie es als ihren Erfolg?

Schwierige Frage. Die polnischen Organisationen in Norwegen haben es offiziell nicht vermerkt. (In Norwegen lebten, laut offiziellen Statistiken, im Jahr 2019 gut 105.000 Polen. Sie stellten die größte Gruppe von Ausländern – Anm. RdP).

Und die polnischen Pfarreien, polnische Priester, vielleicht die Bischöfe in Polen?

Nein. Niemand sagte zum Beispiel zu mir „Gute Arbeit! Du hast die katholischen Werte verteidigt.“

(Die lange Auseinandersetzung Frau Jachimowiczs mit den norwegischen Behörden wurde in Polen mit großer Aufmerksamkeit verfolgt. Zahlreiche Presseberichte, Solidaritätsbekundungen und You-Tube-Aufnahmen sind im Internet leicht zu finden – Anm. RdP).

Woher nahmen Sie die Kraft für Ihren Kampf?

Ich habe viel gearbeitet und viel gebetet: ora et labora. Ich bekam auch Unterstützung von unerwarteter Seite.

Unmittelbar vor der letzten Verhandlung hat eine Bekannte von mir kontemplative Orden in ganz Polen benachrichtigt. Ich bekam Tausende von E-Mails mit der Nachricht, dass Menschen für mich beten. Es war wie ein Windrauschen. Die lebendige, betende Kirche stand mir bei.

Die Protestanten haben gefragt: „Wir haben den Anwalt organisiert. Wir sammeln Geld. Was wird die katholische Kirche beisteuern?“ Meine Antwort war: „Ich habe kein Geld, aber ich weiß, dass in allen kontemplativen Klöstern in Polen für uns gebetet wird, auch für euch Protestanten“.

Das war richtige Ökumene. Katholische Nonnen und Mönche beten für Protestanten, wenn wir gemeinsam ein Ziel verfolgen. In solchen Augenblicken friert die Hölle ein.

Als meine Patienten erfuhren, dass ich entlassen werde, haben sie verständnisvoll mit den Köpfen genickt. „Du hattest keine andere Wahl. Bei den Katholiken ist das so“. Ich war die einzige Katholikin die sie persönlich kannten und sie waren der Meinung, so sei der Katholizismus.

Wie waren die juristischen Folgen des gewonnenen Prozesses?

Es erschien eine Veröffentlichung der Regierung über die Gewissensklausel in verschiedenen Berufen, darin wurde mein Fall als Quelle wichtiger institutioneller und juristischer Erwägungen besprochen. Ich bin in die Geschichte eingegangen (lacht).

Es gab auch eine junge Ärztin aus der Pfingstkirche, die man während des Praktikums entlassen hatte, weil sie sich auf die Gewissensklausel berufen hatte. In der Urteilsbegründung stützte sich das Gericht auf meinen Fall. Sie gewann ihren Prozess und konnte ihr Praktikum beenden.

Leider richten sich alle Veränderungen in Norwegen gegen das werdende Leben. Vor Kurzem beschäftigte eine Debatte über die selektive Abtreibung bei Mehrlingsschwangerschaften das Land. Es gibt Fälle, bei denen Frauen, die gesunde Zwillinge zur Welt bringen könnten, eines der Kinder abtreiben wollen.

Wie geht das vonstatten?

Unter Anwendung der Ultraschalltechnik wird mit einer Nadel in das Herz des Kindes gestochen, das sich in der Nähe des Ultraschallkopfes befindet. Über die Nadel wird Kaliumchlorid injiziert. Es kommt zum Herzstillstand, das Kind stirbt. Der Organismus ist in der Lage den abgetöteten Embryo zu absorbieren, sodass das andere Kind sich theoretisch unbeschadet weiterentwickeln kann. Nicht selten kommt es jedoch zu Komplikationen, die eine Fehlgeburt und somit auch den Tod des zweiten Kindes nach sich ziehen. Am Ende der heftigen Debatte gelang es, die selektive Tötung auf Wunsch bei Mehrlingsschwangerschaften zu verbieten. Entweder beide oder keins. Das ist das Maß des „Erfolgs“.

In der letzten Legislaturperiode (2015 – 2019 – Anm. RdP) des Sejm gelang es nicht den Schutz des ungeborenen Lebens auf ungeborene Kinder auszuweiten, bei denen eine Krankheit oder eine Behinderung festgestellt wurden. Was sagen Sie Müttern, die Angst haben ein krankes Kind auf die Welt zu bringen?

Kranke Kinder muss man heilen und nicht töten. Es gibt in Polen vorgeburtliche Hospize mit hochqualifiziertem Personal, das dazu da ist, um in solchen Fällen zu helfen.

Ihr Kampf ist noch nicht zu Ende. Warum?

Das Gericht sprach mir eine Entschädigung zu für die Zeit, in der ich nicht arbeiten konnte, legte jedoch deren Hõhe nicht fest. Ein Jahr ist vergangen, aber die Gemeinde Sauherad hat bis jetzt nicht gezahlt. Sie behauptet, ich hätte keine finanziellen Einbußen gehabt und stellt verschiedene unwahre Behauptungen auf.

Fünf Jahre Kampf und kein Ende in Sicht. War es das wert?

Auf jeden Fall! Wenn nicht wir, wer dann? Irgendjemand musste das Problem aufgreifen. Die Gewissensklausel hat mein Leben geprägt, also musste ich es tun. Es lohnt sich anständig zu sein. Hier und jetzt, egal was es kostet.

Meine Geschichte zeigt, dass auch eine Einzelperson ohne große Mittel etwas bewirken kann. Das ist meine Botschaft. Wir dürfen keine Angst haben. Wir können etwas ausrichten, sagen was wir denken. Die Folgen können schwerwiegend sein, der Lohn wiegt aber ebensoviel.

Woher haben Sie die Kraft geschöpft?

Wenn du einen langen und schweren Weg vor dir hast, solltest du ihn in kleine Etappen aufteilen und sie gefasst, Schritt für Schritt, stets vom Gebet begleitet, zurücklegen.

Wenn man in eine anscheinend ausweglose Lage gerät, hat man immer die Wahl. Entweder sich zu beklagen und seine Feinde zu verwünschen oder zu den stärksten Waffen eines Christen zu greifen: zur Liebe und zur Vergebung.

Ich habe von Anfang an für die Leute aus dem gegnerischen Lager gebetet. Ich begann stets mit der Bitte ihnen zu vergeben.

Die Christen haben triumphiert, nicht weil sie von Löwen in den römischen Arenen zerfetzt wurden, sondern weil sie fähig waren zu vergeben. Gott begegnet uns unter verschiedenen schwierigen Umständen, damit die andere Seite etwas auskosten kann. Vielleicht sich bekehren? Das ist ein großes Wort. Einen solchen Ehrgeiz habe ich nicht. Wichtig ist, welche Haltung man an den Tag legt. Man muss den aufrechten Gang gehen.

RdP