13.06.2023. Steinmeier als Theologe, Jesus als Zauberer

Auf dem jüngsten Deutschen Evangelischen Kirchentag in Nürnberg (7. bis 11. Juni 2023) war Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier als der wichtigste Ehrengast zugegen. Er hielt dort nicht nur eine Rede bei der Eröffnung, sondern ließ sich während einer Veranstaltung innerhalb der Reihe Bibelarbeit zur Auslegung einer Passage aus dem Johannesevangelium verleiten, in der von dem Wunder Jesu bei der Hochzeit zu Kana berichtet wird.

Im Gottesglauben des deutschen Staatsoberhauptes scheint es demnach wenig Platz für die Wunder Jesu zu geben. Es habe „schon plausiblere Bibeltexte für eine Bibelarbeit auf dem Kirchentag“ gegeben, sagte Steinmeier. Diese Erzählung mache ihn „jedes Mal ratlos“. Er stellte die Grundsatzfrage, warum so eine Wundergeschichte es überhaupt in die Bibel geschafft habe, und schilderte den Anwesenden seinen quälenden Zweifel, indem er wörtlich fragte: „Jesus als Zauberer: Ist das nicht etwas dick aufgetragen?“

Steinmeier war sich jedenfalls sicher, dass diese Übertreibung nicht in sein persönliches Jesus-Bild passe, ja, ihn sogar aktiv störe. Er rechnete die Menge des verwandelten Wassers um und erläuterte, dass Jesus ungefähr 1.000 der heute gebräuchlichen Flaschen Wasser zu Wein umgewandelt habe. Dies sei eine unglaubliche Menge, die Darstellung klinge fast obszön und nach Lebensmittelverschwendung. Ihm komme „das schiere Übermaß an Wein“ „merkwürdig“ vor.

Dazu bot der deutsche Bundespräsident seine eigene Interpretation an. Positiv las er aus der Bibelstelle heraus, dass, weil der Wein für Lebensfreude und Kraft stehe, Gott uns Freude im Übermaß schenke und „uns zur Feier“ ermuntere.

Zudem sei Jesus auf einer Hochzeit in einem kleinen Dorf am Rande des Römischen Reiches erschienen, um zu zeigen, dass die Landbevölkerung nicht vernachlässigt werden dürfe, da die Demokratie ihre Legitimität verliere, wenn größere Teile der Gesellschaft nicht in die öffentlichen Debatten einbezogen würden. Die Geschichte, die der Evangelist erzählt, zeigt uns, seiner Meinung nach, dass sich die Dinge zum Besseren wenden können.

Als der Bundespräsident anschließend die Versammelten zu mehr Engagement für die Demokratie und zu rebellischem Mut angesichts der Krisen in der Welt aufrief und mit dem Ausruf „Gemeinsam werden wir die Demokratie in diesem Land verteidigen“ schloss, brach, laut Medienberichten, Begeisterung in dem voll besetzten Saal aus. So vollzog sich auf dem evangelischen Kirchentag in Nürnberg die wundersame Verwandlung des „Zauberers” Jesus in einen Altvorderen der deutschen Demokratie.

Frank-Walter Steinmeiers simple Bibelauslegung in Nürnberg regt zu vielen Überlegungen an. Wir wollen uns auf vier beschränken.

Erstens: Die Bibelexegese des Bundespräsidenten und der Beifall, mit dem sie bedacht wurde, sagen viel über den Zustand einer Glaubensgemeinschaft aus, die sich von einer religiösen Institution in eine gesellschaftspolitische Einrichtung verwandelt. Die senkrechte Dimension, die den Menschen mit Gott verbindet, verschwindet. Was bleibt, ist die waagerechte Dimension, die sich auf den Aufbau von zwischenmenschlichen Beziehungen beschränkt.

Zweitens: Die Ausrichter des Kirchentages haben zum ersten Mal den drei christlichen Organisationen, die sich der Tötung ungeborener Kinder widersetzten (Aktion Lebensrecht für Alle e. V./Fulda, Kooperative Arbeit Leben Ehrfürchtig Bewahren e. V./Chemnitz und Hilfe zum Leben e. V./Pforzheim) die Teilnahme an der Veranstaltung verwehrt. Das obwohl sie in ihrem Aufruf zur Online-Teilnahme am Kirchentag beteuerten, dass dieser eine Gelegenheit zum „offenen Dialog“, zum „Brückenbauen“ und zum „Entdecken von Gemeinsamkeiten“ bieten werde. Danach beklatschten sie, als wäre nichts gewesen, Steinmeiers Bibel-Auslegung, dass die Demokratie ihre Legitimität verliere, wenn größere Teile der Bevölkerung nicht in die öffentlichen Debatten einbezogen würden.

Drittens: Deutsche Medien haben die Teilnahme des Bundespräsidenten an einer religiösen Veranstaltung nicht kritisiert. Dieselben Medien rümpfen oft genug die Nase, wenn polnische Politiker an katholischen Veranstaltungen, z. B. an Debatten in der Journalisten-Hochschule von Radio Maria, teilnehmen oder dem Sender selbst Rede und Antwort stehen. Anders als in Bezug auf Polen kam es niemandem an Rhein und Spree in den Sinn zu behaupten, dass das Verhalten des Bundespräsidenten gegen den Grundsatz der Trennung von Kirche und Staat verstößt. Niemand warf ihm vor, er vermische zwei Aufträge, den politischen und den religiösen, oder biedere sich aus politischem Kalkül der Kirche an.

Viertens: Niemand behelligte Steinmeier, von Christ zu Christ, mit der Frage, wie viel Verwässerung verträgt der christliche Glaube eigentlich, bis er seine Substanz verliert?

RdP




Polen kleinhalten. Das Ringen an Oder und Neisse

Wie Deutschland sämtliche polnische Modernisierungsvorhaben torpediert.

Dass es einen starken Interessenkonflikt zwischen Polen und Deutschland gibt, lässt sich am deutlichsten an Oder und Neiße erkennen. Entlang dieser Flüsse verläuft die Linie einer der schärfsten Auseinandersetzungen innerhalb der Europäischen Union. Vom Ausgang dieses Ringens hängt die zukünftige Stellung Polens in Europa ab.

Am 25. März 2022 wurde in Gdańsk/Danzig der Verein „Ostsee-SOS“ registriert. Sein Ziel ist, „die natürlichen Küstengebiete gegen die Bedrohung durch nukleare Infrastruktur zu verteidigen“.

In Anbetracht der Tatsache, dass in Choczewo, einem pommerschen Dorf auf halbem Weg zwischen Karwia/Karwen und Łeba/Leba, das erste Kernkraftwerk Polens mit amerikanischer Technologie gebaut werden soll, liegt der Schluss nahe, dass das Ziel von „Ostsee-SOS” darin bestehen wird, den Bau des Kraftwerks zu verhindern.

Deutsche Medien, deutsche Behörden, deutsche Aktivisten, deutsches Geld

Während in Polen, abgesehen von der unmittelbaren Nachbarschaft des geplanten AKW, niemand von dem etwa zwanzig Mitglieder zählenden Verein Kenntnis genommen hat, erlangte er in Deutschland bereits landesweite Berühmtheit. Das ARD-Fernsehen, die Berliner Zeitung, der Deutschlandfunk, die TAZ und etliche andere deutsche Medien berichten in gewohnter Manier von „Angst”, „Protest”, „Befürchtungen” und dem „Kampf” der Umweltaktivisten, die sich beim genaueren Hinsehen fast ausnahmslos als die knapp zwei Dutzend Eigentümer von Ferienhäusern und Wohnungen entpuppten. Sie machen sich verständlicherweise Sorgen um ihre Investitionen, während die Kommunalpolitiker und die meisten Einwohner darauf hoffen, dass der AKW-Bau ihnen z.B. die lang ersehnte Kanalisation beschert.

„Ostsee-SOS“-Protest. Ein kleiner Verband, in Deutschland berühmt, in Polen kaum bekannt

Die deutsche Medienattacke geht einher mit einer unverblümten offiziellen Drohung, die der „Tagesspiegel” so betitelte: „Vier Bundesländer schreiten ein: Polen will Atomkraftwerk an der Ostsee bauen. Berlin, Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern und Sachsen wollen das Vorhaben stoppen”. Dass man es ernst meint und dass es sich hier um eine konzertierte Aktion handelt, davon zeugen die Beteuerungen deutscher Aktivisten, ihr Know-how beizusteuern und selbstverständlich an den Blockaden der künftigen Baustelle teilzunehmen. Hinzu kommen erste Andeutungen, dass deutsche Umweltorganisationen Vereine wie den „Ostsee-SOS” mitfinanzieren wollen.

Polnische AKW-Pläne. Deutsche Darstellung

Doch nicht nur in Choczewo fährt Deutschland die geballte Kraft seiner Möglichkeiten gegen polnische Modernisierungsvorhaben auf. Die heute noch bescheidene „Ostsee-SOS”, die deutscherseits aufgepäppelt werden soll, ist eng mit der Initiative „Rettet die Oder“ verbunden. Letztere arbeitet mit der finanzmächtigen deutschen Umweltorganisation BUND zusammen. Ihre Mitglieder blockieren gemeinsam mit polnischen Umweltaktivisten seit einiger Zeit die Wiederherstellung der Binnenschifffahrt auf der Oder.

Deutsche Aktivisten gegen polnische AKW. Frankfurt Oder im Juli 2021

Alle Wege führen nach Deutschland

Worum geht es? Die Oder ist ein sehr attraktiver Schifffahrtsweg, der genutzt werden kann, um Fracht aus Schlesien und Tschechien zu den Häfen von Szczecin/Stettin und Świnoujście/Swinemünde zu befördern. Ein mittelgroßer Lastkahn kann 500 Tonnen Ladung an Bord nehmen, die sonst auf etwa 25 Schwerlastwagen transportiert werden. Und da Binnenschiffe in der Regel nicht allein, sondern im Verband fahren, muss diese Zahl noch multipliziert werden. Die Vorteile der Binnenschifffahrt liegen also auf der Hand: Die Verringerung des Lkw-Aufkommens auf den Straßen wirkt sich auf die Sicherheit, die Umwelt und auch auf die Kosten aus, denn für den Transport von vielen Hunderten Tonnen Ladung sind nur wenige Binnenschiffsbesatzungen anstelle von Dutzenden von Fahrern erforderlich. Der Nachteil ist die Geschwindigkeit, aber bei Schwertransporten, z.B. von Rohstoffen, Zuschlagstoffen und Baumaterialien, ist das nicht so wichtig.

Vor einem halben Jahrhundert wurden auf der Oder jährlich mehrere Millionen Tonnen an Gütern transportiert. Mit dem Ende des kommunistischen Polens begann die Nutzung der Oder jedoch zu sinken. Einer der Gründe dafür war die Vernachlässigung der Wasserstraßen, die ebenso wie die Straßen an Land einer ständigen Pflege bedürfen. In diesem Fall: die Vertiefung der Fahrrinne, Wartung der Anlagen, Schleusen usw. Es stellt sich natürlich die Frage, inwieweit diese Vernachlässigung eine Begleiterscheinung des schlechten Zustands war oder inwieweit sie beabsichtigt war.

In den 1990er-Jahren und im darauffolgenden Jahrzehnt wurde Polen allmählich zu einem Reservoir billiger Arbeitskräfte für die größten EU-Länder, allen voran Deutschland, was erhebliche infrastrukturelle Veränderungen mit sich brachte. Welchen Sinn hatte die Aufrechterhaltung von Nord-Süd-Verkehrswegen (und die Oder ist einer davon), wenn fast der gesamte polnische Handel und Transit in Ost-West-Richtung verlief? Waren wurden von Polen nach Deutschland und zurück sowie zwischen Deutschland und Russland und den postsowjetischen Staaten transportiert.

Der Zusammenbruch des Nord-Süd-Verkehrs war daher ein deutlicher Hinweis auf den Verlust der wirtschaftlichen Unabhängigkeit Polens und die Unterordnung der polnischen Verkehrsinfrastruktur unter die Bedürfnisse unserer stärkeren EU-Partner. Daher wurden vor allem die durch Polen verlaufenden Ost-West-Strecken neugebaut und modernisiert. Das waren die Autobahnen A2 und A4, deren fehlende Abschnitte unter der Regierung Tusk in aller Eile fertiggestellt wurden. Eine solche Politik verschärfte Polens infrastrukturelle Nachteile, mit all ihren Folgen für seine gesamte Wirtschaft.

Nur über Hamburg

Polens Flüsse hingegen fließen nicht quer durch das Land, und so ist es nicht verwunderlich, dass die Binnenschifffahrt praktisch ausgestorben ist. Mit dem zunehmenden Stillstand auf der Oder begann das Sterben des Stettiner Hafens und machte die einst  prosperierende Hafen- und Schiffbaustadt zu einem armen Vorposten Berlins. Swinemünde hat dank seiner Lage am offenen Meer, einem kleinen Marinehafen und einem Terminal, von dem aus regelmäßig Fähren nach Schweden verkehren, überlebt.

Die Bedeutung von Świnoujście nahm zu, nachdem auf Wolin 2016 ein Flüssiggashafen fertiggebaut worden war. Nur wenige erinnern sich heute an die heftigen deutschen Proteste gegen diese strategische Investition. Zu den Einwänden gehörten sogar die angeblichen Schäden, die der Gashafen mecklenburgischen Vögeln und Fledermäusen zufügen würde. Vordergründig ging es um Fledermäuse, in Wirklichkeit um die Nord-Stream-Pipeline-2, die zur gleichen Zeit gebaut wurde. Der Gashafen Świnoujście stand in direkter Konkurrenz zu den russischen Gaslieferungen.

Die Deutschen warfen Polen außerdem vor, dass schwere Gastanker die unterseeische Pipeline beschädigen könnten, lehnten aber eine Ausbaggerung der Wasserstraße kategorisch ab. Auf diese Weise versuchte Berlin die polnischen Investitionen so weit wie möglich zu verzögern, was wahrscheinlich auch das langsame Tempo der Arbeiten am Gashafen unter der Regierung Tusk erklärt.

Der Wechsel in der polnischen Politik nach der Machtübernahme der Nationalkonservativen im Jahr 2015 bestand darin, eine starke polnische Eigenständigkeit aufzubauen, was zwangsläufig bedeutete, dass man sich von der früheren Abhängigkeit von deutschen Interessen lösen musste. Die ständigen Einwände Berlins konnten die Entwicklung des Landes nicht mehr aufhalten. Das galt auch für die Oder und die Häfen von Stettin und Swinemünde.

Im Jahr 2008 veröffentlichte das Europäische Parlament einen Bericht mit dem Titel „Die sich wandelnde Rolle der EU-Seehäfen in der globalen maritimen Logistik – Kapazitäten, Herausforderungen und Strategien”. In diesem Bericht wurden die fünf wichtigsten Häfen der Union aufgeführt: Rotterdam, Antwerpen, Hamburg, Marseille und Amsterdam.

Nicht ohne Grund unterhält der Hafen Hamburg seit knapp dreißig Jahren eine Repräsentanz in Warschau

Der deutsche Hafen Hamburg wurde als der wichtigste in Mittel- und Osteuropa aufgeführt. Hamburg sollte der Umschlagplatz für den gesamten Seeverkehr in die Ostseegebiete werden. Waren aus Fernost und den USA sollten zunächst auf Riesen-Containerschiffen nach Hamburg gebracht werden und von dort aus mit kleineren Schiffen in die Ostseehäfen transportiert werden. Der Großteil der Ladungen gelangte jedoch auf Lkws in den Osten.

Die polnischen Ostseehäfen Swinemünde, Stettin und Danzig sollten als sogenannte Zubringerhäfen nur noch Empfänger kleinerer Ladungen aus Hamburg sein. Hamburg sollte zu einer maritimen Drehscheibe aufsteigen und Deutschland, als Vermittler für den Weitertransport von Waren in die Ostsee, Geld verdienen.

So gesehen überrascht es nicht, dass die polnische Entscheidung zum Ausbau des Hafens Szczecin-Świnoujście, die mit der Einrichtung eines Containerterminals in Świnoujście und der Vertiefung der Wasserstraße verbunden ist, in Deutschland eine große Welle des Widerstands auslöste.

Im benachbarten Mecklenburg-Vorpommern gab es sofort einen Aufschrei, weil die Hafenerweiterung und der zunehmende Schwerlastverkehr die Region ökologisch verwüsten und die Erholung in den Ostseebädern auf Usedom stören würden. Deutschland weigerte sich daher, die bestehende Wasserstraße, die teilweise auf seinem Territorium liegt und in den Hafen von Swinemünde führt, zu vertiefen. Die Aufnahme größerer Schiffe wurde somit unmöglich gemacht und der Sinn einer Erweiterung des Hafens von Swinemünde infrage gestellt.

Polen beschloss daraufhin eine neue Wasserstraße von Nordosten her abzustecken, die es den Schiffen ermöglichte, das umstrittene Gebiet zu umgehen, auf das die Deutschen schon seit DDR-Zeiten Anspruch erheben. Die Wasserstraße zwischen Swinemünde und Stettin wurde ebenfalls vertieft, sodass größere Schiffe in Stettin einlaufen können. Der Containerterminal in Świnoujście soll bis 2027 fertiggestellt werden, dann wird Polen nicht mehr auf die Umladungen in Hamburg angewiesen sein.

Die Blockade der Oder

Das deutsche Problem mit Stettin und Swinemünde ist jedoch vielschichtiger. Es geht nicht nur darum, dass die neuen Investitionen es ermöglichen, schwere Tiefseeladungen direkt nach Polen zu bringen und damit dem Hamburger Hafen Arbeit und Gewinne wegzunehmen.

Zwei Wasserwege: der Rhein und die Oder

Es ist die Oder, die genutzt werden könnte, um Güter zwischen Swinemünde und Schlesien sowie Süd- und Osteuropa zu transportieren. Wenn dieser Plan in Erfüllung geht, werden die deutschen Häfen und Logistikzentren nicht nur einen Großteil der polnischen Kunden verlieren, auf die sie bisher angewiesen waren, sondern auch einen großen Teil der Auftraggeber aus Ost-Mitteleuropa.

Das ist, so die Überzeugung in Warschau, der wahre Grund für die Hysterie, die im vergangenen Jahr an der Oder ausgebrochen ist. Gemeint ist die in Deutschland erfundene Behauptung, Polen habe eine Quecksilbervergiftung des Flusses verursacht. Diese Darstellung wurde sofort blindlings von den polnischen Lokalbehörden, die der oppositionellen Bürgerplattform nahestehen, aufgegriffen. Als sich später herausstellte, dass das Fischsterben durch die Algenentwicklung verursacht worden war, hat sich niemand entschuldigt.

Bauarbeiten an der Oder im Frühjahr 2023

Sterbende Fische und die ökologische Argumentation sollten die bereits laufende Vertiefung der Oder, die die Schifffahrt auf dem Fluss wieder ermöglichen soll, dauerhaft stoppen. Derzeit hat die Oder die niedrige Schiffbarkeitsklasse II; die Warschauer Behörden wollen sie auf die Klasse III, die Lastkähne mit bis zu 700 Tonnen zulässt, anheben. Deswegen werden auf polnischer Seite die Sporne, seit Jahrzehnten vernachlässigte Uferbefestigungen, modernisiert, um den Fluss schiffbar zu machen, seinen Strom zu kanalisieren und bei dieser Gelegenheit die Hochwassergefahr zu verringern.

Das ist nur der Anfang eines ehrgeizigen Plans zur Wiederherstellung der Binnenschifffahrt in Polen. Im Jahr 2016 ratifizierte Polen das AGN-Übereinkommen, eine europäische Vereinbarung über Hauptbinnenwasserstraßen von internationaler Bedeutung. Im Rahmen dieses Übereinkommens wurden technische Anforderungen für die drei wichtigsten Flussstraßen Polens festgelegt:

die E30 (die Oder von der Mündung in Richtung Schlesien mit einer möglichen Verlängerung über Kanäle bis zur Donau),

die E40 (von Danzig über die Weichsel, dann durch Weißrussland und die Ukraine bis zum Schwarzen Meer) und

die E70 (die die Oder über die Warta/Warthe und die Noteć/Netze mit der Weichsel verbindet).

Diese Wasserstraßen sollen der fünften Schifffahrtsklasse angehören, was mit erheblichen Kosten verbunden sein wird (z. B. Vertiefung und Verbreiterung der Fahrrinne und Vergrößerung der Durchfahrtshöhe unter den Brücken), aber gleichzeitig einen ununterbrochenen Schiffsverkehr ermöglichen wird. Und obwohl diese Pläne nicht nur aus finanziellen, sondern auch aus politischen Gründen vorerst nicht umgesetzt werden können (so ist es heute schwer vorstellbar, eine Route durch Weißrussland und die Ukraine zu bauen), müssen ihre Entwürfe in Berlin Anlass zu ernster Sorge geben, weil sie wichtige regionale Handelsrouten auf polnische Häfen umzuleiten drohen.

Wahrscheinlich ganz zufällig, sind die Pläne zur Modernisierung der Flüsse seit mehreren Jahren Gegenstand der Kritik und der Proteste von Umweltaktivisten, insbesondere von solchen, die eng mit deutschen Organisationen zusammenarbeiten. Auch der umweltbewusste WWF kritisierte in seinem Bericht 2020 das Vorhaben zum Ausbau der immerhin sehr umweltfreundlichen Flussschifffahrt und schlug vor, besser auf die Schiene zu setzen. Und vielleicht wäre da auch etwas dran, aber wieso kämpft niemand in vergleichbarem Umfang gegen die ausgebauten Binnenwasserstraßen in Westeuropa, damit aus Rhein, Mosel und Spree endlich wieder naturbelassene Gewässer werden?

Der neue Zentrale Flughafen bei Łódź. Visualisierung

Der Kampf darum, wer im östlichen Teil Europas am Handel verdienen wird, dreht sich nicht nur um Seehäfen und Binnenwasserstraßen. Kaum jemand nimmt zur Kenntnis, dass es bei der aktuellen Auseinandersetzung auch um den in der Nähe von Łódź/Lodz zu bauenden neuen polnischen Zentralen Flughafen geht. Nicht nur der Personenverkehr und die Konkurrenz zum neuen Flughafen Berlin Brandenburg stehen zur Debatte. Von viel größerer Bedeutung ist das gleichzeitig entstehende Schienennetz, das sich an dem geplanten Flughafen zu einem riesigen Eisenbahnknotenpunkt bündeln soll.

Geplanter Eisenbahnknotenpunkt am künftigen Zentralen Flughafen (CPK) bei Łódż, der bis 2027 fertiggestellt werden soll

Zurzeit werden mehr als 60 Prozent der polnischen Luftfracht aus Asien und Amerika über deutsche Flughäfen wie Leipzig oder Frankfurt abgewickelt. Nach der Eröffnung des neuen polnischen Zentralen Flughafens droht diesen Flughäfen, dass sie Kunden aus Polen und einem großen Teil Ost-Mitteleuropas verlieren. Seine Schaffung und der Ausbau der polnischen Ostseehäfen bedrohen die deutsche Dominanz in Ost-Mitteleuropa. Und das ist der eigentliche Grund für den Aufschrei.

Ein rebellisches Rädchen

Die Zeit seit Herbst 2015 war für Polen eine Periode des schnellen Wachstums, trotz der Pandemie und der durch den Krieg in der Ukraine verursachten Krise. Das steht in krassem Gegensatz zu der Zeit von Donald Tusk (2007 bis 2015), als die gerade beschriebenen Großvorhaben rundweg als „unrealistisch” abgelehnt wurden. Damals ging es der polnischen Regierung jedoch hauptsächlich darum, die Interessen anderer zu befriedigen.

Es ist klar, dass eine solche Politik in Deutschland keine Begeisterung hervorruft. Denn Polen, das nur ein Rädchen in der deutschen Wirtschaftsmaschinerie und ein untergeordneter Vollstrecker von Anweisungen aus Berlin sein sollte, strebt plötzlich nach der Position eines gleichberechtigten Partners, entwickelt sich zum Rivalen. Kein Wunder, dass Deutschland um seine Interessen bangt, diese Entwicklung Polens auf unterschiedliche Weise blockiert, um sie zu verhindern.

Dabei ist es bemerkenswert, dass Berlin eine direkte Einmischung vermeiden möchte. Stattdessen nutzt es eine Vielzahl von Instrumenten – von den EU-Institutionen über die Medien bis hin zu Umweltschützern. All dies soll den Eindruck erwecken, dass die derzeitige polnische Politik nicht nur ein deutsches, sondern ein breiteres europäisches Problem ist.

Ein solches Szenario wurde an der Oder angewandt, als die brandenburgische Regierung und Umweltorganisationen die polnische Entscheidung zur Regulierung des Flusses vor einem Verwaltungsgericht anfochten. Das Woiwodschafts-Verwaltungsgericht in Warschau ordnete im Dezember 2022 einen Stopp der Regulierungsarbeiten an, und vier Monate später wurde diese Entscheidung vom Obersten Verwaltungsgericht in Warschau bestätigt.

Deutsche Umweltschützer nutzten hier den Vorwand des letztjährigen Fischsterbens im Fluss und behaupteten, dass die Oder nach dieser Katastrophe renaturiert werden müsse und dass jede weitere Arbeit angeblich ein weiteres Aussterben von Leben im Fluss bedeuten würde. Die Umweltschützer sind jedoch so entgegenkommend, dass sie die Schifffahrt auf der Oder nicht grundsätzlich ablehnen, flache Schiffe werden akzeptiert. Das heißt, Schiffe, die nichts transportieren können. Dadurch würden die derzeitigen Investitionen des Staates in die Oderschifffahrt ihren Sinn verlieren. Daher wird trotz des Urteils des Obersten Verwaltungsgerichts weiter an der Regulierung gearbeitet.

Wie man Polen die Energie entzieht

Die Grenzkonflikte sind nicht auf die Oder beschränkt. Wenn man auf der Karte entlang der Grenze ganz nach Süden scrollt, kommt man nach Turów, wo es einen Braunkohletagebau gibt, um den Polen bereits mit der früheren tschechischen Regierung gestritten hat.

Als dieser Streit beigelegt war, schalteten sich die Deutschen ein und waren, wie die Deutsche Welle unverblümt berichtete, von der polnischen Vereinbarung mit den Tschechen „überrascht“. Der Tagebau in Turów deckt fast 10 Prozent des polnischen Energiebedarfs, sodass seine Schließung ein schwerer Schlag für die polnische Wirtschaft gewesen wäre. Da es jedoch nicht möglich war, den polnischen Tagebau durch tschechische Hände zu schließen, wurde diese Aufgabe von den Behörden der deutschen Stadt Zittau übernommen.

Das Kraftwerk und der Braunkohletagebau in Turów. Von hier kommen knapp 10 Prozent der polnischen Elektrizität

Der Bürgermeister der sächsischen Stadt behauptet, dass der Tagebau in Turów das Bodenniveau um einen Meter senken könnte. Außerdem könnte der polnische Tagebau eine Grundwasserverschmutzung und eine zu große Lärmbelästigung verursachen. Deshalb wird Zittau beim EuGH eine Klage gegen das polnische Bergwerk einreichen. Die Braunkohlegruben auf der deutschen Seite der Grenze stören die Zittauer Behörden natürlich nicht so sehr wie die polnische.

Deutsche Online-Petition gegen polnische AKW

Die Energiewirtschaft, das Rückgrat der Wirtschaft, zu treffen, ist noch gefährlicher als der Kampf um die Vorherrschaft im Handel. Ein Teil des Energiekonflikts ist natürlich das Fit-For-55-Klimapaket, das Polen teilweise umgehen möchte, indem es auf Atomstrom setzt. Und hier kommen wir zurück auf das geplante Kraftwerk in Choczewo und den Verein „Ostsee-SOS”, der sich auf eine Auseinandersetzung mit der polnischen Regierung vorbereitet.

Till Backhaus (SPD), der Umweltminister von Mecklenburg-Vorpommern, hat die Regierung in Berlin bereits zum Einschreiten aufgefordert. „Wir sind gegen den Bau eines Atomkraftwerkes, weil diese Technologie nicht beherrschbar ist“, sagte Backhaus und zeigte sich besorgt um die Umwelt. „Die Flora und Fauna der Ostsee wird darunter leiden“, sagte er. So sieht das auch die Umweltorganisation „Ostsee-SOS”. Aber man sollte keine voreiligen Schlüsse ziehen: Es handelt sich sicherlich um eine zufällige Ähnlichkeit der Ansichten.

Nimmt man alles zusammen, kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, dass derzeit ein Konflikt zwischen Polen und Deutschland im Gange ist, in dem es um Entwicklungsperspektiven Polens geht, die Deutschland eindeutig nicht schmecken.

RdP

Der Artikel erschien im Wochenmagazin „Sieci” („Netzwerk”) am 15.05.2023.




Deutsche Jugendämter, polnische Klagen

Und weg ist das Kind.

Im Dezember 2018 veröffentlichte RdP einen umfangreichen, seinerzeit viel gelesenen und kommentierten Beitrag über den Umgang deutscher Jugendämter mit polnischen Kindern und deren Eltern. (Den Link zu diesem Bericht  finden Sie am Ende dieses Beitrags). In den letzten fünf Jahren hat sich an den Verhältnissen, die, wie es sich zeigt, nicht nur in Deutschland lebende Polen betreffen, leider nichts geändert. Deswegen greifen wir das Thema erneut auf.

Gespräch mit Kosma Złotowski, Mitglied des Europäischen Parlaments.

Kosma Złotowski, geboren 1964. Politiker der Partei Recht und Gerechtigkeit. 1990 bis 1994 Journalist. 1994 bis1995 Stadtpräsident von Bydgoszcz/Bromberg, 1997 bis 2001 und 2011 bis 2014 Abgeordneter des Sejm. 2004 bis 2010 Mitglied des Senats (obere Parlamentskammer). Seit 2014 MdEP.

Der Petitionsausschuss des Europäischen Parlaments (PETI) hat im Anschluss an eine Reise nach Deutschland, bei der er die Tätigkeit der Jugendämter unter die Lupe genommen hat, einen Bericht angenommen, den Sie mitverfasst haben.

Seit Jahren erhält der Petitionsausschuss des Europäischen Parlaments Informationen und Gesuche von verzweifelten Eltern, denen die deutschen Jugendämter und Familiengerichte Unrecht angetan haben. Die Zahl und die Gewichtigkeit der Klagen ist so groß, dass beschlossen wurde, eine Mission des PETI-Ausschusses nach Deutschland zu schicken, um die Situation vor Ort zu erkunden und die uns zugegangenen Informationen, zu überprüfen.

Die Mission hatte es leider nicht einfach. Deutsche Behörden, bei denen wir vorgesprochen haben, zeigten sich völlig ahnungslos, behaupteten, sie wüssten nichts von den Entgleisungen der Jugendämter und hätten keine Kenntnis von den Fällen, die wir ihnen vorlegten. Das lähmte von Anfang an unsere Arbeit, weil wir, ohne die Position der deutschen Behörden zu kennen, die in der Kritik stehenden Maßnahmen nicht überprüfen und nicht beurteilen konnten.

Auf der einen Seite sind die Eltern, die uns erschütternde Geschichten erzählten. Sie verglichen die Art und Weise, wie ihnen ihre Kinder weggenommen wurden, mit Entführungen. Kinder, die ohne Bedenken von ihren Eltern hätten erzogen werden können, landeten bei Fremden.  Auf der anderen Seite hatten wir die deutschen Behörden, die uns offensichtlich auf die Schnelle abspeisen wollten, sich offenbar nicht einmal die Mühe gemacht hatten, sich ausreichend auf unsere Gespräche vorzubereiten.

Diskriminieren deutsche Behörden und Gerichte Kinder ausländischer Herkunft und deren Eltern?

Das geht aus allen Beschwerden hervor, die beim Petitionsausschuss des Europäischen Parlaments eingegangen sind. Auch in Polen ist dieses Problem nicht unbekannt. Wir wissen, dass die Familiengerichte in Deutschland sich praktisch in allen Fällen auf die Seite der Jugendämter stellen. Die Eltern haben vor den Gerichten das Nachsehen, vor allem, wenn sie Ausländer sind. Dabei spielt die Nationalität eigentlich keine Rolle. Ob  Rumänen, Polen oder Franzosen, allen werden fast schon obligatorisch die Kinder weggenommen. Wer kein Deutscher ist und Kinder hat, der sollte sich vor den Jugendämtern und Familiengerichten sehr in acht nehmen.

Wie viele Beschwerden gehen bei Ihnen ein?

Das ist kein Thema, das erst in letzter Zeit aufgetaucht ist. Seit gut zwanzig Jahren gehen in jeder Legislaturperiode des Europäischen Parlaments Dutzende, wenn nicht Hunderte von Beschwerden ein. Schon in der letzten Legislaturperiode des EP wurde eine Parlamentariermission nach Deutschland geschickt, um die Situation zu untersuchen. Da sich seither nichts geändert hat, wurde jetzt eine weitere Mission erforderlich.

Wie erklären die Deutschen ihr Vorgehen?

Sie verstecken sich immer hinter den in ihrem Land geltenden Gesetzen. Sie sagen, dass diese nie übertreten werden, und dass die Kindesentnahmen von Gerichten überwacht werden. Rein formell gesehen ist das alles richtig. Nur sind die diesbezüglichen deutschen Gesetze und Vorgehensweisen eindeutig familienfeindlich. Die Praxis weist zudem eindeutig auf eine unterschiedliche Behandlung von rein deutschen gegenüber ausländischen Familien, beziehungsweise solchen mit einem ausländischen Elternteil, hin.

Haben sich die dortigen Beamten wirklich nichts vorzuwerfen?

Nein, denn für sie zählt nur, dass sie sich an das geltende Recht halten, und das erlaubt ihnen oft, sehr willkürlich einzuschreiten. Sie sagen, sie tragen Sorge für das Wohl des Kindes und das sei ja auch der Hauptzweck der Arbeit der Jugendämter. Dieses Kindeswohl ist jedoch so definiert, dass es dem Kind grundsätzlich in einem Waisenhaus oder bei einer Pflegefamilie viel besser geht, als bei seinen Eltern.

Der Begriff des Kindeswohls ist offensichtlich zu weit gefasst. Gibt es Empfehlungen, Hinweise an die Deutschen, ihre Gesetze anders zu fassen?

Im Anschluss an die neueste Mission in Deutschland, hat der Petitionsausschuss einen Bericht zu dem Thema angenommen. Er enthält eine Reihe von Empfehlungen, aber leider fand sich in dem Dokument kein Platz für eine eindeutige Forderung an Deutschland, die natürlichen Rechte der Familie zu achten. Es wurden zwar Forderungsvorschläge zu diesem Thema gemacht, aber es fand sich keine Mehrheit, um sie in den Bericht einzubringen.

Der deutsche Druck hinter den Kulissen war sehr wirksam und hat das verhindert. Generell kann man sagen, dass deutsche Abgeordnete aller Couleur im Europäischen Parlament an vorderster Front stehen, wenn es darum geht, die moralische Keule zu schwingen, Resolutionen gegen andere Länder zu verfassen und zu verabschieden. Wir in Polen, können ein Lied davon singen. Die Abgeordneten halten sich aber strikt an Anweisungen aus Berlin, die sie diskret über die einzelnen Parteischienen erreichen. So muss es auch in diesem Fall gewesen sein. Und die Möglichkeiten mit Versprechungen oder angedeutetem Liebesentzug Mehrheiten aufzubauen, sind angesichts der deutschen Dominanz in Europa groß.

Aus der Sicht des Petitionsausschusses ist also alles in Ordnung. Wir sind hingefahren, wir haben einen Bericht verfasst, der aber Deutschland in dieser Hinsicht nicht wehtut. Und ich bin sicher, dass bald neue Klagen und Beschwerden eingehen werden, in denen weitere schockierende Fälle über die Zerstörung von Familien beschrieben werden. Dann wird es eine weitere PETI-Mission geben, und die Deutschen werden uns wieder sagen, dass sie zu den von uns vorgelegten Fällen nicht Stellung nehmen können, weil sie sich nicht darauf vorbereitet haben und die Fälle nicht kennen. Und der Kreis wird sich wiederum schließen, so wie er sich nach den ersten beiden Missionen geschlossen hat.

Kann das Europäische Parlament in dieser Frage wirklich nichts mehr tun?

Es kann, aber das ist, wie ich gerade geschildert habe, sehr schwierig.  Deshalb sollte jeder, der die Möglichkeit dazu hat, das Thema lautstark ansprechen. Nur ein massiver internationaler Druck kann zu Veränderungen führen.

Seit Jahren berichten Eltern massenhaft, dass die Beamten der Jugendämter ihren Kindern nicht erlauben, in ihrer Muttersprache Kontakt zu den Eltern aufzunehmen. Hat sich in dieser Hinsicht etwas geändert?

Nichts hat sich geändert. Das ist ein weiteres Beispiel für die unerbittliche deutsche Hartnäckigkeit. Das Gesetz garantiert, dass ein Kind mit seinen Eltern in der Sprache sprechen kann, in der es kommunizieren möchte: Rumänisch, Französisch, Polnisch, Ungarisch und so weiter. Hier ist gesetzlich eine vollständige Freiheit gesetzlich garantiert. Andere Bestimmungen im Gesetz besagen jedoch, dass der Beamte, der bei diesem Gespräch verpflichtend anwesend ist, unbedingt den Inhalt kennen  muss. Dadurch sind die Eltern gezwungen, mit ihrem Kind  Deutsch zu sprechen, da das oft die einzige Sprache ist, die der Beamte versteht.

Kommen die Klagen, die Sie erreichen, auch von in Deutschland lebenden Polen?

Nicht nur von ihnen, sondern auch von Deutschen polnischer Herkunft. Auch die Rumänen haben sehr viele Probleme mit den örtlichen Behörden. Des Weiteren gibt es nicht wenige Petitionen von Franzosen. Keine Nationalität ist vor den Aktionen des Jugendamtes sicher.

Wenn es dem Europäischen Parlament nicht gelingt ihnen zu helfen, dann muss es anderswo geschehen. Ich zähle sehr auf die Unterstützung der Medien. Sie konnten den Europäern erschreckende Beispiele für die Wegnahme von Kindern präsentieren.

Könnten Sie einen dieser Fälle schildern?

Es ging um eine rumänische Familie. Ein Kind hatte einen Unfall. Die Mutter brachte es in ein Krankenhaus. Das Krankenhaus stellte aber fest, dass der Unfall ohne die Nachlässigkeit der Eltern nicht passiert wäre. Sofort wurden Mitarbeiter des Jugendamtes hinzugezogen, die die Auffassung der Ärzte teilten.

Die Beamten nahmen die beiden Kinder sofort mit und brachten sie bei zwei Pflegefamilien unter. Sie erklärten, dass die Pflegefamilie, die eines der Kinder aufgenommen hatte, sich bereits um andere Kinder kümmere und nicht in der Lage sei, zwei Kinder aufzunehmen. Das war der Grund, weshalb die Geschwister getrennt wurden. Sie wurden nicht nur aus ihrem Zuhause gerissen, sondern es wurde ihnen auch das Recht verweigert, zusammenzuleben. Das Gericht ignorierte die Erklärungen der Eltern zu den Umständen des Unfalls völlig. Als ob es im Leben nie Situationen gäbe, die sich unserer Kontrolle entziehen. Aus solch scheinbar trivialen Angelegenheiten entstehen Familientragödien.

Lesenswert auch: „Deutsche Jugendämter, polnisches Leid“

RdP

Das Interview erschien in der Tageszeitung „Nasz Dziennik” („Unser Tagblatt”) vom 2. Mai 2023.




4.01.2023. Was uns in Polen an Joseph Ratzinger so sehr gefiel

Da reibt man sich die Augen und traut seinen Ohren nicht, aber offensichtlich geht es doch. Dieselben deutschsprachigen Medien, die den verstorbenen Papst Benedikt XVI. zu Lebzeiten auf das Gröbste in Verruf gebracht haben, üben sich jetzt in ihren Nachrufen in Zurückhaltung. Auch wenn sie ihm weiterhin ablehnend gegenüberstehen wägen sie ab, versuchen sein Denken und Handeln für ihre Abnehmer nachvollziehbar zu machen. Immerhin, sie haben die rhetorischen Knüppel und Keulen beisetegelegt.

Wo die Gründe für dieses späte Bemühen um elementare Fairness zu suchen sind, ob in den schlechten Gewissen oder in der späten Einsicht, dass es trotz allem einen herausragenden Deutschen zu verabschieden gilt, sei hier dahingestellt.

Denn Ratzinger war ein brillanter Denker, auch wenn sein Gedankengut heutzutage wenig Applaus finden mag. Es hat ihm dennoch viele Ehrungen, Auszeichnungen, Ehrendoktorwürden und Mitgliedschaften eingebracht. Der nach seinem eigenen Bekunden „religiös unmusikalische“ Philosoph Jürgen Habermas, setzte sich eingehend mit Ratzingers Denken auseinander. Im Jahr 2005 veröffentlichten die beiden gemeinsam das Buch „Dialektik der Säkularisierung“, das nach den vorpolitischen, ethischen Grundlagen des modernen Rechtstaates und seiner Macht fragt.

Nach seinem Tod tut man so, als wäre nichts gewesen, dabei war Joseph Ratzinger jahrzehntelang, gerade in Deutschland, Opfer einer medialen Lynchjustiz die ihresgleichen sucht.

Es sind sehr oft dieselben Redakteure, die ihn heute immerhin einen „herausragenden Theologen“ nennen, „einen Meister des geschriebenen Wortes“, dessen Tod „ein langes wie denkwürdiges Kapitel katholischer Kirchengeschichte beschließt“ usw., usf., und sich vorher im Ausdenken von brutal einprägsamen Spott- und Schmähnamen geradezu überboten: „Hardliner“, „Panzerkardinal“, „Großinquisitor“, „Spielball finsterer Mächte im Vatikanstaat“, reaktionär, weltfremd. Er sollte in der Öffentlichkeit als dogmatischer Finsterling erscheinen, als fundamentalistischer Gegner des Fortschritts, der den Menschen von heute nichts zu sagen hat.

Im Zusammenhang mit einem Missbrauchsfalll aus seiner Zeit als Erzbischof von München (1977-1982) sprachen ihn die Medien jüngst, knapp vierzig Jahre später, wegen Lüge und Vertuschung schuldig, ohne einen einzigen glaubwürdigen Beweis und ohne Gerichtsverfahren, nur anhand eines Gutachtens einer Rechtsanwalskanzlei. In Wahrheit führte Benedikt XVI. den Kampf gegen Missbrauch in der Kirche so rigoros und systematisch wie kein Papst vor ihm.

Im Kern ging es bei den Kampagnen gegen seine Person um den Versuch, seinen Charakter öffentlich hinzurichten. Man wollte sein theologisches Werk dauerhaft beschädigen und künftigen Generationen verleiden. Sein Denken wurde diffamiert, weil er nicht dazu bereit gewesen ist, das Wesen des katholischen Glaubens den wechselnden Moden einer postchristlichen Wohlstandsgesellschaft zu unterwerfen, so fortschrittlich sich diese auch geben mochte.

Ging es um philosophische oder wissenschaftliche Fragen, vertrat er die Überzeugung, dass Vernunft und Offenbarung zusammengehören, so, wie das Erforschen der Welt und das Vertrauen in die Schöpfung. Die reine Vernunft ohne Glauben werde kalt und herzlos, wie umgekehrt der Glaube ohne Vernunft blind und fanatisch werde. „Wenn es nicht das Maß des wahren Gottes gibt, zerstört sich der Mensch selbst.“

Der Theologe Ratzinger gewichtete ein hörendes Herz in Richtung Gott und ein demütiges Mitgehen mit der katholischen Tradition stets höher als weltliche Sinnangebote, die Weisheit der Bibel und der Kirchenväter höher als Technik und Wissenschaft, Sanftmut und Gebet höher als politische Programme.

Er hat weder an die Kraft eines atheistischen Humanismus noch an eine sittlich verbesserte Menschheit durch Technik und Wissenschaft geglaubt. Er setzte die Anwesenheit des Heiligen ganz selbstverständlich voraus und weigerte sich, das menschliche Dasein aufgehen zu lassen in der Banalität von Leistung, Konsum und Karriere. Die Sakramente der Kirche waren für ihn unverrückbar.

Ratzinger sah die Kirche als die einzige wirkliche Gegenkraft zu der immer weiter um sich greifenden Zivilisation des Todes, die „das Recht“ auf Euthanasie und „das Recht“ auf Abtötung des ungeborenen menschlichen Lebens auf ihren Fahnen trägt, und als die Gegenkraft zu den neuen Formen der modernen Tyrannei, die im Gewand des radikalen Genderismus, Ökologismus und vieler anderer utopischer „Ismen“ daherkommen.

Bescheiden und liebenswürdig im Umgang, blieb er unnachgiebig in der Sache. Seit 1981, als Präfekt der Glaubenskongregation, hatte er eine ganze Kette sehr schwieriger Auseinandersetzungen geführt, was ihm den Vorwurf der Intoleranz und des Mangels an geistigem Denkhorizont eingebracht hat. Er scheute keine Konflikte mit Hans Küng, Ernesto Cardenal, Leonardo Boff, Eugen Drewermann, Gotthold Hasenhuttl und anderen bekannten „Reformtheologen“.

Hinter Ratzinger stand der engagierte, aus den Sakramenten lebende, von der Tradition gestärkte Katholizismus, stand die Ordnung in der Lehre, der Liturgie und die Kirchendisziplin, die er aufrechterhielt, um den Zerfall und das Herüberwechseln der katholischen Kirche ins Protestantische zu verhindern. Die tiefe Krise des Protestantismus, der alle von der katholischen Kirche geforderten Reformen längst umgesetzt hat, gab ihm zusätzlich recht.

Theologen, gegen deren Lehren die Glaubenskongregation Einwände erhob, unternahmen alles, um die Medien und die öffentliche Meinung gegen den Präfekten aufzubringen. Fast jedes Mal versuchte die Presse zu beweisen, dass die Aktivitäten des von Kardinal Ratzinger geleiteten Amtes unter den Katholiken in der ganzen Welt angeblich kritische Stimmen provozieren würden.

Sie schrieben über den im Vatikan herrschenden „Geist der Arroganz“ und die „Diktatur Ratzingers“. Der schmächtige Kardinal und spätere Papst erinnerte daraufhin immer wieder daran, dass „die Freiheit der Theologie sich nicht in der Fantasie über Gott ausdrückt, sondern innerhalb des großen Rahmens bleiben muss, den das Wort Gottes vorgibt“.

Das alles machte Benedikt XVI. zu einem „Ärgernis“. Umso mehr, als er sich nicht beeindrucken ließ vom öffentlichen Druck gegen seine Person, vom Liebesentzug einer Gesellschaft, die als obersten Maßstab nur sich selber anerkennt.

Die Polen haben ihn in ihre Herzen geschlossen. Einen Deutschen, den mit dem polnischen Papst eine tiefe Freundschaft verband. Einen Deutschen der sich noch im hohen Alter die Mühe machte Polnisch zu lernen, um die Gläubigen bei seinem Besuch in Polen im Mai 2006 und bei den Generalaudienzen in Rom direkt ansprechen zu können. Einen Deutschen, der ihrem Gottvetrauen stets höchsten Respekt zollte. Einen Deutschen, den man einfach uneingeschränkt gern haben konnte. Uns wird er sehr fehlen.

RdP




30.12.2022. Polnischer Warnruf auf deutschen Irrwegen

Mut stand 2022 sehr hoch im Kurs. Gefragt waren in diesem vom Krieg geprägten „annus horribilis“ beherzte Politiker, Soldaten und Helfer, aber nicht nur. Am Jahresende sei hier an einen weitgehend verschwiegenen Akt christlichen Mutes erinnert und zwar an den Brief, den der Vorsitzende der polnischen Bischofskonferenz, Erzbischof Stanisław Gądecki (fonetisch: Gondetski) im Februar 2022 „Aus brüderlicher Sorge“ an den Vorsitzenden der Deutschen Bischofskonferenz, den „Lieben Bruder im Bischofsamt“, Georg Bätzing, gerichtet hat.

Was Erzbischof Gądecki schrieb erforderte Mut, weil es sich eindeutig gegen den vorherrschenden Zeitgeist richtet. Wer seine Treue zum Evangelium mit einer solchen Deutlichkeit öffentlich bekundet, der setzt sich unweigerlich tausendfach wiederholten Vorwürfen und Schmähungen aus, er sei frauenfeindlich, homophob u.s.w. „In der modernen Welt wird Gleichheit oft missverstanden und mit Uniformität gleichgesetzt. Jeder Unterschied wird als ein Zeichen von Diskriminierung behandelt“, stellt Erzbischof Gądecki dazu fest.

Dem Briefautor ging es um den sogenannten Synodalen Weg, auf den sich, dem Zeitgeist huldigend, die katholische Kirche in Deutschland auf der Suche nach Erneuerung begeben hat. Die Verwirklichung der Reformpläne käme einer so weitgehenden Abkehr von der katholischen Lehre gleich, dass am Ende eine Kirchenspaltung und der Einzug der deutschen Reformer in das Lager des liberalen Protestantismus stünden.

Dieser Gefahr galt „Die brüderliche Sorge“ des Metropoliten von Poznań. Er gliederte seinen Brief in fünf Teile, von denen jeder eine Warnung vor den Versuchungen enthält, denen nicht nur deutsche Katholiken von heute ausgesetzt sind.

Die erste Versuchung besteht darin, die Fülle der Wahrheit außerhalb des Evangeliums zu suchen. Das widerfährt gerade den deutschen „Reformkatholiken“. So etwas, schreibt Erzbischof Gądecki, ist im Laufe der Geschichte immer wieder geschehen.

Man denke nur an die sogenannte Jefferson-Bibel. Der dritte amerikanische Präsident, hauptsächlicher Verfasser der Unabhängigkeitserklärung und einer der einflussreichsten Staatstheoretiker der Vereinigten Staaten, behauptete, dass die Evangelien Passagen enthielten, die sehr weise und erhaben seien, und sicherlich direkt von Jesus stammen, aber auch törichte und triviale Stellen, die, so gesehen, von ungebildeten Aposteln stammen müssten.

In der Überzeugung, dass er über die Kenntnis verfüge, die einzelnen Aussagen nach diesen Kriterien trennen zu können, beschloss Jefferson, das mit einer Schere zu tun. So schuf er einen „moderneren“ Bibel-Text, der nach seiner Ansicht besser als das Original war. Doch gerade in den nach seiner Auffassung „weniger“ anspruchsvollen Abschnitten der Bibel, die unter die „Jefferson-Schere“ fielen, befand sich das proprium christianum – das, was allein dem Christentum eigen ist.

Die zweite Versuchung äußert sich im Glauben an die Unfehlbarkeit der Wissenschaft. Wer ihr erliegt, konfrontiert die Lehre Jesu ständig mit den neuesten Entwicklungen in der Psychologie und den Sozialwissenschaften. Wenn etwas im Evangelium nicht mit dem aktuellen Wissensstand übereinstimmt, versucht er das Evangelium zu „aktualisieren“, in dem Irrglauben Jesus davor schützen zu müssen, sich in den Augen der Zeitgenossen zu blamieren.

Die Versuchung, sich zu „modernisieren“, betrifft inzwischen insbesondere den Bereich der sexuellen Identität. Dabei wird jedoch vergessen, dass sich der Stand der wissenschaftlichen Erkenntnisse oft ändert, manchmal sogar dramatisch. Man braucht nur die einst durchaus vorherrschenden wissenschaftlichen Theorien wie Rassismus oder Eugenik zu erwähnen.

Die dritte Versuchung ergibt sich daraus, dass die Katholiken von heute, so Erzbischof Gądecki, unter dem enormen Druck der öffentlichen Meinung leben, was bei vielen von ihnen Scham und Minderwertigkeitskomplexe hervorruft. Der Glaube ist heute kein selbstverständlicher Bestandteil des allgemeinen Lebens mehr, sondern wird oft geleugnet, an den Rand gedrängt und lächerlich gemacht. Daraus ergeben sich die Relativierung und das Verbergen der eigenen christlichen Identität und der religiösen Überzeugungen angesichts eines zunehmend glaubensfeindlichen öffentlichen Lebens.

„Getreu der Lehre der Kirche dürfen wir nicht dem Druck der Welt oder den Modellen der gerade vorherrschenden Kultur nachgeben, weil das zur moralischen und geistigen Bestechlichkeit führt. Es gilt die Wiederholung abgedroschener Slogans und Standardforderungen wie die Abschaffung des Zölibats, das Priestertum der Frauen, die Kommunion für wiederverheiratete Geschiedene oder die Segnung von gleichgeschlechtlichen Partnerschaften zu vermeiden. So ist die „Aktualisierung“ der Begriffsbestimmung der Ehe in der EU-Grundrechtecharta lange noch kein Grund, das Evangelium zu verzerren“, schreibt Erzbischof Gądecki.

Die vierte Versuchung besteht darin, das gesellschaftliche Leben zu kopieren. „Ich bin mir bewusst, dass die Kirche in Deutschland kontinuierlich Gläubige verliert und dass die Zahl der Priester von Jahr zu Jahr abnimmt. Die Kirche steht in dieser Hinsicht vor der Gefahr eines korporativen Denkens: »Es gibt einen Personalmangel, wir sollten die Einstellungskriterien senken«. Daher die Forderung, die Verpflichtung zum priesterlichen Zölibat aufzuheben, Frauen ins Priesteramt zu berufen und gleichgeschlechtliche Partnerschaften zu segnen“.

Und schließlich die fünfte Versuchung, sich dem Druck zu beugen. Hierzu stellt der polnische Oberhirte unter anderem fest: „Trotz Empörung, Ächtung und Unpopularität, kann die Katholische Kirche, die der Wahrheit des Evangeliums treu ist und gleichzeitig von der Liebe zu jedem Menschen angetrieben wird, nicht schweigen und diesem falschen Menschenbild zustimmen, geschweige denn es segnen oder fördern.“

Das wohldurchdachte, mit vielen starken Argumenten versehene Schreiben von Erzbischof Gądecki, das hier nur fragmentarisch wiedergegeben werden konnte, hat in Deutschland keine Diskussion ausgelöst. Nur einige kurze Notizen in kircheninternen Zeitschriften waren ihm gewidmet. Im Grunde wurde es totgeschwiegen.

Darüber hinaus wiesen deutsche Bischöfe, die am Veränderungsprozess am aktivsten beteiligt sind (Bischof Bätzing ist einer von ihnen), mit einem Eifer, der einer besseren Sache würdig ist, darauf hin, dass Erzbischof Gądecki den Brief nur in seinem eigenen Namen und nicht im Namen des polnischen Episkopats geschrieben habe.

Das ist richtig, aber es ändert nichts an der Tatsache, dass der Brief den Kern des Problems trifft. Er umschreibt sehr präzise die Versuchungen, denen die Katholiken in Deutschland ausgesetzt sind und die Situation in vielen anderen Ländern, darunter, leider, teilweise auch die Lage der Kirche in Polen.

Ist Erzbischof Stanisław Gądecki ein einsamer Rufer in der Wüste? Zum Glück noch nicht, und außerdem, wie man sieht, wer dem Evangelium vertraut, hat nicht auf Sand gebaut.

RdP




5.12.2022. Deutscher Hochsprung, polnischer Fußball. Eine WM-Nachlese

Ohne Überschwang der Freude, aber auch ohne dem Katzenjammer zu erliegen, verabschiedete sich Polen am Sonntag, dem 4. Dezember vor den Fernsehschirmen von der Fußball-WM in Katar. Die polnische Nationalmannschaft verlor 1 : 3 gegen Frankreich, den Weltmeister von 2018.

Eine Blamage war es nicht, denn die Elf konnte das ungleiche Duell mit dem großen Favoriten über weite Strecken besser als angenommen gestalten. Vorher, mit einer Prise Glück und bei eher mittelprächtigem Können, war es dem polnischen Team gelungen, zum ersten Mal seit 1986, in die K. o.-Runde einer Fußball-WM zu gelangen. Wenigstens „wyjść z grupy“ („aus der Vorrunde herauskommen“) lautete der millionenfach wiederholte, hoffnungsvolle Stoßseufzer, seitdem sich Polen für diese WM qualifiziert hatte. So gesehen kann von Enttäuschung keine Rede sein.

Und sonst?

Vor der WM wurde beklagt, dass durch die Zulassung von vielen „Schwächlingen“ das Turnier nur unnötig verlängert wird, und dass es zu viele Spiele auf nur ein Tor geben würde. Es wäre am besten, so der Tenor, fünf Top-Mannschaften aus Europa und fünf aus Südamerika gegeneinander antreten zu lassen. Der Rest der Welt zähle ohnehin nicht.

Die erste Runde der Meisterschaft hat das widerlegt. Die Teams, die den besten Eindruck machten, waren genau diejenigen, die im Vorfeld als Punktelieferanten abqualifiziert worden waren: Saudi-Arabien, die USA, Kanada oder Japan. Und es geht nicht nur um die sensationellen Ergebnisse, wie Japan gegen Deutschland 2 : 1, sondern um den Stil, den Kampfeswillen, die Freude am Spiel, die sie gezeigt haben.

Ansonsten lassen sich die Überlegungen zur WM und diejenigen, die sie formulieren, in zwei Gruppen einteilen. Den einen geht es um Fußball, den anderen um Katar.

Nach dem Spiel Deutschland-Japan verkündete Moderatorin Monika Olejnik, die Oberfurie des linksradikalen polnischen Journalismus, in ihrer Sendung auf dem Fernsehkanal TVN, dass Deutschland zwar gegen Japan verloren, aber abseits des Spielfeldes gewonnen habe, weil das DFB-Team gegen die Geschehnisse in Katar zu protestieren wagte. „Danke Deutschland!“, platzte es auf Deutsch emphatisch aus ihr heraus, und sie hielt sich, zusammen mit ihren Talk-Gästen, ausschließlich Politikern der Linken, die Hand vor den Mund.

Diese groteske Szene zeigt die Scheinheiligkeit der linksliberalen Medien, der großen Politik und nicht zuletzt des großen Kapitals, die viele Jahre lang Zeit hatten die Fußballweltmeisterschaft in Katar zu verhindern, es aber, aus bekannten Gründen, nicht getan haben. Was blieb, waren leere Gesten.

In Polen überwog einfach die Vorfreude darauf, endlich wieder einem Festival des Spitzenfußballs beiwohnen zu können. Unsere deutschen Nachbarn, soweit man das aus der Ferne überblicken konnte, vermittelten eher den Eindruck, sich auf eine Weltmeisterschaft im Hochsprung vorzubereiten und sich damit zu beschäftigten, ihre moralische Messlatte so hoch zu legen, wie es nur geht. Nicht dabei, sondern dagegen zu sein schien ihr wichtigstes Anliegen zu sein. Schmerzhaft mussten sie auf dem Spielfeld erfahren, dass Haltung keine Leistung ersetzen kann.

Die deutsche Innenministerin trug in Katar stolz die „One-Love“-Binde. Kurz zuvor hatte ihr Kabinettskollege Habeck beim katarischen Scheich um Gas gefleht. Seinem Drängen und Bitten wurde stattgegeben. So war für beides gesorgt, was den Deutschen wichtig ist: die überlegene ethische Gesinnung und die warme Stube für den Winter. Notgedrungen haben die beiden ein triple pack geschnürt, denn eine ungebetene „Gästin“, die Doppelmoral, gesellte sich hinzu und wollte partout nicht enteilen.

Es gibt noch viele Staaten, in denen die Ehe das ist, was sie eigentlich ist: eine dauerhafte Verbindung zwischen Mann und Frau. Dazu gehören u. a. Polen, Griechenland, Japan (wo das vor wenigen Tagen bestätigt wurde), Russland, die Slowakei, Bulgarien, Lettland, die Ukraine, Ungarn usw., usf. Werden deutsche Politiker, Herr Scholz, Herr Habeck, Frau Baerbock, Herr Lindner u. a. jetzt klein beigeben oder konsequenterweise auch bei ihren Besuchen in diesen „Zeichen setzen“ und trotzig die „One-Love“-Binden tragen?

Jedenfalls ist für Abermillionen von Menschen auf der ganzen Welt die WM in Katar das, was sie für große Teile der deutschen Öffentlichkeit nicht mehr zu sein scheint: ein großes Fest des Fußballs. Auch weil die Duelle zwischen den Nationalmannschaften die letzten Bastionen eines Fußballs sind, den es sonst nicht mehr gibt. Hier werden Spieler nicht für Millionenbeträge ge- und verkauft, sie können höchstens eingebürgert werden, aber das ist eher nebensächlich. Man feuert die eigenen Landsleute an, schwingt die eigene Nationalfahne. Nur bei den Weltmeisterschaften besiegt David den Goliath.

Die Begeisterung in Polen (und anderswo) nach der Niederlage Deutschlands gegen Japan war kein antideutscher Reflex, sondern einfach die Freude darüber, dass der Fußball offensichtlich noch nicht verloren ist, wenigstens so lange so etwas passieren kann.

Zwar weiß und macht man in Deutschland gemeinhin alles besser, dennoch sei von dieser Warte aus die Bemerkung erlaubt, dass man den Sportlern nicht die Aufgaben von Politikern zumuten sollte. Fußballer verdienen viel Geld mit ihrem Sport, weil sie vor allem das machen, was sie am besten können: Fußball spielen. In anderen Dingen sind sie oft eher blauäugig und unwissend. Wäre es also nicht besser, die Fußballprofis Fußball spielen und die deutschen Polit-Profis ihre Arbeit verrichten zu lassen, allerdings weit weg von den Stadien, wenn möglich? Nur so machen sich beide nicht lächerlich.

RdP




19.11.2022. KoKoPol. Die Vernunft bezwingt Deutschland

Eine Schwalbe macht bekanntlich noch keinen Sommer. Dennoch sollte man einen Lichtblick in dem seit einigen Jahren ansonsten ausgesprochen getrübten deutsch-polnischen Verhältnis nicht unerwähnt erlöschen lassen. Wie aus Berlin zu erfahren ist, soll es zum ersten Mal staatliches Geld für die Errichtung und den Betrieb eines Kompetenz- und Koordinierungszentrums für die Polnische Sprache (KoKoPol) auf Bundesebene in Deutschland geben. Das jedenfalls sieht der Entwurf des Bundeshaushalts vor, über den der Bundestag Ende November 2022 abstimmen soll.

Damit dürfte ein Konflikt beigelegt werden, der über dreißig Jahre hinweg anschwoll und sich vor knapp einem Jahr deutlich verschärfte. Damals hat die nationalkonservative Regierungsmehrheit die jährliche staatliche Subvention für den muttersprachlichen Unterricht an den Schulen der deutschen Minderheit in Polen, in den Woiwodschaften Opole/Oppeln und Śląsk/(Ober)Schlesien, um umgerechnet knapp 9 Millionen Euro gekürzt. Die Summe verringerte sich dementsprechend auf umgerechnet ca. 42,5 Millionen Euro und die etwa 50.000 Schüler erhalten nun, statt bisher drei, nur noch eine Stunde Deutschunterricht pro Woche.

Die erste Reaktion Berlins war helle Empörung. Der Bund der Vertriebenen protestierte, einige deutsche Politiker meldeten sich in dramatischem Ton zu Wort und schließlich verurteilte sogar der Europarat die Entscheidung der polnischen Behörden. Doch nach einiger Zeit hat diese Entscheidung endlich den von Polen erhofften Wandel in der Berliner Politik ausgelöst.

In dem 1991 unterzeichneten polnisch-deutschen Vertrag über gute Nachbarschaft und freundschaftliche Zusammenarbeit verpflichteten sich beide Staaten u. a. dazu, „sich zu bemühen, die ethnische, kulturelle, sprachliche und religiöse Identität der Angehörigen der deutschen Minderheit in Polen (…) und der Personen in der Bundesrepublik Deutschland, die polnischer Abstammung sind (…), auf ihrem Hoheitsgebiet zu schützen und (…) entsprechende Möglichkeiten für den Unterricht ihrer Muttersprache oder in ihrer Muttersprache in öffentlichen Bildungseinrichtungen (…) zu gewährleisten.“

Seither wurden in Warschau Jahr für Jahr wachsende Summen für den muttersprachlichen Deutschunterricht in den Minderheitenschulen automatisch im Staatshaushalt bewilligt. Auf der deutschen Seite gab es jedoch von Anfang an Probleme.

Zwar unterzeichnete Polen den Vertrag von 1991 gemeinsam mit der deutschen Bundesregierung, die aber erklärte sich jahrzehntelang für nicht zuständig und verwies auf die Bildungshoheit der Bundesländer.

Bildlich gesprochen wäre es Berlin am liebsten gewesen, wenn der polnische Botschafter die sechzehn Bundesländer abgeklappert hätte, um dort immer wieder von Neuem wegen einer Verpflichtung, die die deutsche Zentralregierung eingegangen ist, zu   antichambrieren. In jedem Bundesland sollten zudem die dort lebenden Polen zusehen, wie sie die Behörden dazu bringen können, Polnisch als Muttersprache unterrichten zu lassen. Überall wurde natürlich Wohlwollen bekundet, doch bekanntlich gilt: „Herrengunst und Lerchensang klinget wohl und währt nicht lang“.

In manchen Bundesländern, wie in Brandenburg, war die „Herrengunst“ von Dauer und der Polnischunterricht an den dortigen Schulen kann sich sehen lassen. In vielen anderen nicht. Vor Ort wurde blockiert und wer in Berlin intervenierte, wurde wegen „Nichtzuständigkeit“ abgewiesen. Die deutschen Behörden haben dieses Katz-und-Maus-Spiel perfekt einstudiert und es funktionierte auch jahrzehntelang bestens. Deutschlandhörige Regierungen in Warschau, wie die des Postkommunisten Leszek Miller oder des Angela-Merkel-Zöglings Donald Tusk, und die von ihnen nach Berlin entsandten Botschafter haben das brav hingenommen. Auch die Nationalkonservativen warteten sechs Jahre lang, bis, wie man in Polen sagt, „die Sense den Stein traf“ und Warschau endlich die Reißleine zog.

Druck, wie man sieht, macht Sinn. Nicht polnische Minister und Botschafter, sondern der Bund soll die von ihm im Namen Deutschlands eingegangenen Verpflichtungen im eigenen Land durchsetzen, und der Vertragspartner Polen soll eine zentrale Kontaktbehörde bekommen, bei der er vorsprechen kann. Die gestrichenen neun Millionen Euro werden in diesem Fall, so das Versprechen Warschaus, wieder bewilligt.

Eine solche Entwicklung bahnt sich an und es ist zu hoffen, dass sie so umgesetzt wird. Wenn ja, dann hat nicht Polen, sondern die Vernunft den Sieg davongetragen.

RdP




15.10.2022. Polen aushungern, Deutschland erlösen

Am 16. Oktober 2022 jährt sich die Ermordung der Enthüllungsjournalistin Daphne Caruana Galizia auf Malta zum fünften Mal. Das Europäische Parlament widmete diesem Mord bisher nur eine Debatte. Eine zweite soll in diesen Tagen, am Jahrestag des Todes von Galizia, stattfinden. In einem anderen EU-Land, der Slowakei, wurden im Februar 2018 der Enthüllungsjournalist Jan Kuciak und seine Verlobte ermordet. Auch diese Tat war dem Europaparlament nur eine einzige Debatte wert.

Derweil widmete sich dieselbe Institution zwischen Januar 2016 und Dezember 2021 in 27 Debatten Polen. Hinzu kommen unzählige Ausschusssitzungen. Im Durchschnitt also wurde Polen in dieser Zeit alle zwölf Wochen von der linken Mehrheit im EP-Plenum durch Resolutionen an den Pranger gestellt. Länder, in denen politische Morde begangen werden, wurden dagegen mit Einzeldebatten „bestraft“.

Und da ist da noch Bulgarien, das seit seinem EU-Beitritt vor 15 Jahren die Liste der Länder mit der höchsten Korruption und einer gigantischen Verschwendung von EU-Geldern anführt. Zudem handelt es sich um ein Land, das so instabil ist, dass es dort innerhalb von eineinhalb Jahren bereits vier Parlamentswahlen gab. Und das alles ist lediglich einmal im Jahr, jeweils im Herbst, Thema einer EP-Debatte, die völlig folgenlos bleibt. Von Sanktionen gegen Bulgarien redet niemand.

Für Brüssel ist Polen das Problem schlechthin, und die Folgen sind gravierend. Was auf den ersten Blick wie ein groteskes Paradoxon aussieht, ist in Wirklichkeit die brutale Realität der europäischen Politik.

Und die sieht so aus, dass Russland, das in sein Nachbarland einmarschiert ist und dessen Bevölkerung tötet, und Polen, das riesige Anstrengungen zugunsten der Ukraine unternimmt, von Brüssel mit vergleichbar großen Sanktionen belegt werden. Polen wird die Auszahlung von knapp 36 Milliarden Euro aus dem sogenannten Wiederaufbaufonds verweigert, der im Februar 2021 aufgelegt wurde, um die wirtschaftlichen und sozialen Auswirkungen der COVID-19-Pandemie in den Mitgliedsstaaten einzudämmen und zu mildern. Der Wert der bisher von der EU geschnürten russischen Sanktionspakete beläuft sich in etwa auf dieselbe Summe.

Auch der Mechanismus, mit dem die EU Druck auf Moskau und Warschau ausübt, ist recht ähnlich. Ihre Institutionen wiederholen: Erfüllt unsere Forderungen und wir werden die Sanktionen aufheben. Nur dass es im Falle Russlands darum geht, Aggression und Mord zu stoppen, während es sich im Falle Polens, im Kern, längst nicht mehr um die Justizreform, sondern um die Erzwingung eines Machtwechsels an der Weichsel handelt.

Zudem gibt Brüssel der Opposition bewusst das Wahlargument in die Hand: „Wählt uns, dann kommt das EU-Geld!“

Im Herbst 2023 finden in Polen Parlamentswahlen statt. Die Nichtauszahlung der riesigen Summen aus dem Wiederaufbaufonds kann Ratingagenturen leicht dazu veranlassen, die Kreditwürdigkeit des Landes herabzustufen. Heute befindet sie sich auf dem erfreulichen Niveau „A-“ (stabil). In Zeiten der Hochinflation und Energiekrise könnte eine Herabstufung an den Grundfesten der Wirtschaft rütteln, die Unzufriedenheit schüren und der EU-ergebenen Opposition, angeführt von Brüssels Liebling, dem deutschlandhörigen Donald Tusk, zum Wahlsieg verhelfen.

Das weite Entgegenkommen Warschaus in Sachen Justizreform im Frühjahr 2022, zuerst akzeptiert und gelobt, wurde jedenfalls sehr schnell als „unzureichend“ abgelehnt. Neue Forderungen kamen hinzu, deren Erfüllung das polnische Justizwesen vollends ins Chaos stürzen würde. So sollten die vor der Reform ernannten Richter in zweiter Instanz Urteile von Richtern, die nach der Reform berufen wurden (und derer gibt es inzwischen etwa eintausend), nur aufgrund ihres Ernennungsdatums aufheben dürfen. Letztere seien „keine Richter“. Das wäre ein Zustand, in dem sich niemand in Polen mehr eines Gerichtsurteils sicher sein kann.

Die Forderung ist so gefährlich und zugleich absurd, dass sich Brüssel und Berlin gewiss sein können, dass die jetzige polnische Regierung sie auf keinen Fall akzeptieren kann. Und darum geht es auch. Das verspricht eine langwierige Pattsituation und die provokative Verhängung immer höherer Geldstrafen gegen Polen, deren Summe jetzt bereits 250 Millionen Euro übersteigt und sich immer weiter erhöht. Der Sanktionsdruck soll bis zu den polnischen Wahlen im nächsten Herbst wachsen. Nicht von ungefähr sprach die SPD-EU-Politikerin Katharina Barley vom „Aushungern“ Polens, während „Der Spiegel“ zum „Daumenschrauben anlegen“ riet.

Vor allem für Berlin, das hinter den Kulissen diese Vorhaben anregt und steuert, steht viel auf dem Spiel. Endlich, nach acht Jahren, eine ungehorsame und undankbare osteuropäische Regierung loszuwerden, die sich vehement der von Olaf Scholz geforderten „Führungsrolle“ Deutschlands in der EU widersetzt. Die kein zentralisiertes Europa, sondern ein Europa der Nationalstaaten will. Die Reparationen von Deutschland fordert. Die durch die Zusammenarbeit der ostmitteleuropäischen Staaten ein Gegengewicht zu Deutschland aufbauen möchte. Die, die, die…

Während im Falle der russischen Sanktionen Krieg, Tod und Zerstörung auf dem Spiel stehen, geht es bei den polnischen Sanktionen um nackte Macht.

RdP




8.10.2022. L’Europe au menu allemand. Berlin diniert à la carte

Seit einiger Zeit genehmigt die Europäische Kommission am laufenden Band nationale Hilfsprogramme, die Unternehmen und Bürgern bei der Bewältigung der Auswirkungen der Corona-Pandemie und der Energiekrise helfen sollen. Diese für Brüssel unüblich unbürokratische Vorgehensweise ist erfreulich, wäre da nicht das gigantische Ungleichgwicht zugunsten Deutschlands, das den Europäischen Binnenmarkt zu sprengen droht.

Nach Artikel 107 des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union, darf die Europäische Kommission staatliche Beihilfen genehmigen. Sie sind mit dem gemeinsamen Binnenmarkt vereinbar, wenn sie zur Beseitigung von Schäden dienen, die durch Naturkatastrophen oder sonstige außergewöhnliche Ereignisse in den Mitgliedsstaaten entstanden sind. Es handelt sich um Lohnkostenzuschüsse, die Aussetzung von Steuern bzw. Sozialversicherungsbeiträgen oder direkte Beihilfen für Firmen und Verbraucher.

So erreichte Warschau in diesen Tagen die freudige Nachricht, dass Brüssel einen großen Teil des Finanzschirms in Höhe von umgerechnet gut 15 Milliarden Euro bewilligt hat, mit denen die polnischen Behörden Kleinst-, Klein- und mittleren Unternehmen in der Pandemie unter die Arme gegriffen haben. Auf die Freigabe aus Brüssel wartet noch der Teil für Großunternehmen mit mehr als 249 Beschäftigten.

Alles in allem hat Polen in Brüssel drei große nationale Hilfsprogramme zur Akzeptanz vorgelegt. Sie belaufen sich insgesamt auf umgerechnet gut 67 Milliarden Euro. Das macht in etwa 12 Prozent des polnischen Bruttoinlandproduktes (BIP) aus.

Das ist für polnische Verhältnisse sehr viel, aber geradezu ein Klacks im Vergleich zu dem was Deutschland auffährt. Die bisher genehmigten staatlichen deutschen Corona- und Energiebeihilfen belaufen sich auf 990 Milliarden Euro (28 Prozent des BIP). Jetzt soll noch ein weiterer deutscher 200-Milliarden-Schutzschirm für Verbraucher und Firmen, „Doppel-Wumms“ genannt, hinzukommen.

Zum Vergleich: In Frankreich belaufen sich die von der EU genehmigten staatlichen Beihilfen auf 319 Milliarden Euro (13 Prozent des BIP), in Italien auf 204 MIliarden Euro (11,5 Prozent des BIP), in Belgien auf 53 Milliarden Euro (10,5 Prozent des BIP,) in Österreich auf 24 Milliarden Euro (6 Prozent des BIP) und in Spanien ebenfalls auf 24 Milliarden Euro (2 Prozent des BIP).

Das zeigt, was sich die einzelnen Mitgliedstaaten, je nach ihrer finanziellen Leistungsfähigkeit und dem Spielraum für eine Erhöhung der Staatsverschuldung im Verhältnis zum Bruttoinlandsprodukt, leisten können und wollen.

Schon jetzt macht das deutsche Paket 50 Prozent aller von der Kommission genehmigten EU-Beihilfen aus, das französische Paket 19 Prozent, das italienische Paket 12 Prozent, das polnische 4 Prozent, das belgische 3 Prozent und die übrigen Pakete belaufen sich jeweils auf nicht mehr als 1,5 Prozent.

Wenn die Kommission bereits jetzt so große Unterschiede in der Höhe der von den einzelnen Mitgliedsstaaten gewährten staatlichen Beihilfen zulässt, stellt sich die Frage, wie es dann mit dem Europäischen Binnenmarkt weitergeht, auf dem die so großzügig geförderten deutschen Unternehmen mit denjenigen konkurrieren werden, die sehr viel weniger oder überhaupt keine staatliche Unterstützung erhalten haben.

Das reiche Deutschland versucht seine Haushalte und Firmen vor den steigenden Energiepreisen zu schützen, offensichtlich ohne sich darum zu scheren, dass staatliche Beihilfen in solch riesigem Umfang gegen die Wettbewerbsbedingungen im gemeinsamen Markt der EU verstoßen. Wie ist das möglich?

Ganz einfach. Ebenso diskret wie wirksam macht Deutschland seinen gewaltigen Einfluss in Brüssel geltend, um sich die eigene Vorgehensweise als „europäisch“ absegnen zu lassen. Derweil geben sich die deutsche Politik und die deutschen Medien nach Außen überrascht und ahnungslos. Kritik wird generell als „Neid“ abgetan und wenn sie aus Warschau kommt, ist das, wieder einmal, nur „nationalistische antideutsche Propaganda“.

Die Berliner Parole des Tages lautet: „Rette sich wer kann“. Solidarität als europäische Tugend ist dieses Mal nicht gefragt. In der Stunde der Not ist das deutsche Hemd viel näher als die üblicherweise so gern zur Schau getragene europäische Tracht. Ein gemeinsames Europa? Gerne, aber bitte nur à la carte.

RdP




12.09.2022. EU-Reform. Mehrheitsentscheidungen. Scholzes falsche Lehren

Der deutsche Bundeskanzler wünscht sich noch mehr Mehrheitsentscheidungen in der EU und beschwört damit Geister herauf, die eines Tages deren Untergang besiegeln könnten.

Als eine der Lehren, die aus dem Ukrainekrieg zu ziehen seien, so Scholz in einer Grundsatzrede in Prag am 29. August 2022, gelte es, die Einstimmigkeit in der EU, allen voran in der Außenpolitik, abzuschaffen. Die EU erweist sich nicht nur in seinen Augen umso stärker, je mehr Macht die nationalen Regierungen an die Brüsseler Institutionen abgeben. Dass dort vor allem Berlin in allererster Reihe die Register zieht, wird von den selbstlosen deutschen EU-Enthusiasten dabei gerne unterschlagen.

Im EU-Ministerrat, um den es hier geht, werden schon seit Jahren in vielen Politikfeldern Entscheidungen mit Stimmenmehrheiten getroffen, vor allem wenn es um den Außenhandel oder die Agrarpolitik handelt, wo die meisten Zuständigkeiten ohnehin in Brüssel liegen. Das geschieht entweder mit einfacher (14 Mitgliedsstaaten stimmen mit Ja) oder mit qualifizierter Mehrheit (55 Prozent der EU-Länder, die mindestens 65 Prozent der EU-Bevölkerung vertreten, geben ihre Zustimmung).

In der viel beschworenen „Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik“, wie sie amtlich heißt, hat Brüssel hingegen nicht viel zu vermelden. Die wichtigsten Instrumente halten weiterhin die Mitgliedsstaaten. Es gibt zwar einen Auswärtigen Dienst der EU, aber der kann nicht einmal Visa ausstellen. Und eine europäische Armee existiert schon gar nicht.

Anders als Scholz es darstellt, ist das kein überkommenes Festhalten an nationalem Eigensinn, sondern eine vernünftige Regelung. Auf keinem Politikfeld ist der Einsatz so hoch wie in der Außenpolitik. Letztendlich geht es um Krieg und Frieden, wie gerade wieder in der Ukraine zu beobachten ist. Die Vorstellung, man könne die Regierung eines oder mehrerer Mitgliedsländer bei Fragen von solcher Tragweite einfach überstimmen, ist befremdlich. Die Folgen eines solchen EU-Beschlusses müssen alle tragen.

Das gilt auch für die Sanktionspolitik, die Scholz im ersten Schritt in eine Mehrheitsentscheidung überführen möchte. Wenn die EU zum Beispiel mehrheitlich für die Einstellung des Handels mit einem Drittstaat stimmen sollte, dann müssten auch die Mitgliedsstaaten ihre Geschäftstätigkeit beenden, die dagegen waren. Eine Vergeltung träfe wiederum alle 27 EU-Länder. In einem gar nicht mehr so undenkbaren Szenario ist es vorstellbar, dass ein Land wie Russland auf europäische Sanktionen militärisch reagiert. Kann die EU solche Risiken wirklich eingehen, ohne dass alle Regierungen zugestimmt haben? Und wo soll das enden? Sollen eines Tages auch Militäreinsätze per Mehrheit beschlossen werden? In der NATO gibt es das aus gutem Grund nicht.

Was in solch zugespitzten Lagen passieren kann, kennt man aus der Innen- und Justizpolitik der EU. Dort gibt es keine Einstimmigkeit mehr. Im Jahr 2015 beschloss der Ministerrat mit Mehrheit, Flüchtlinge in der gesamten EU zu verteilen. Obwohl es sich um einen rechtskräftigen Beschluss handelte, weigerten sich mehrere osteuropäische Staaten erfolgreich, ihn umzusetzen, weil er bei ihnen innenpolitisch nicht durchsetzbar war. Auch in der Außenpolitik wäre das, bei starken Auffassungsunterschieden im Rat, eine wahrscheinliche Folge. Und der Schaden wäre sicherlich größer als der bei den manchmal unbefriedigenden Kompromissen, die heute in Brüssel eingegangen werden müssen.

Da die Einwohnerzahl berücksichtigt wird, begünstigen die Mehrheitsregeln im Rat die Großen. Scholz (und Macron) geht es letztlich darum, kleineren EU-Ländern das Vetorecht zu nehmen. Der deutsche Kanzler begründet seinen Vorschlag ausdrücklich mit künftigen Erweiterungen in Richtung Süden und Osten (Balkan sowie Ukraine), auch wenn niemand weiß, ob diese in absehbarer Zeit stattfinden werden.

Das ist genau die falsche Lehre, die aus den vielen politischen Fehlentscheidungen, die in Europa vor dem Krieg gefallen sind, gezogen wird. Es lag nicht an den Abstimmungsregeln, dass die Brüsseler Institutionen Putins Überfälle (Georgien, Krim, Donbass) immer wieder hingenommen haben und dass vor allem Westeuropa in eine verhängnisvolle Abhängigkeit von russischem Gas geraten ist. Es lag daran, dass Deutschland seine vermeintlichen Wirtschaftsinteressen mit harter Hand, gegen den Willen vor allem der östlichen EU-Mitglieder durchgesetzt hat.

Der Rückschluss daraus darf nicht sein, dass Deutschland, unterstützt von seinen treuen Satelliten (Frankreich, die Benelux-Länder, Österreich u. e. a. m.) diese Staaten künftig nach Lust und Laune überstimmen kann, sondern dass man deren Argumente ernst nimmt und ihre Belange berücksichtigt, so schwer das oft fallen mag.

Ein Konsens, der auf dem kleinsten gemeinsamen Nenner beruht, bringt die EU allemal weiter als der große Dissens in Folge von Kampfabstimmungen, nach denen die Überstimmten rebellieren. Deutschland muss nicht nur so tun als ob, sondern tatsächlich einvernehmlicher werden im Umgang mit Osteuropa. Es ist ernüchternd zu sehen, dass das nach siebzig Jahren „europäischer Einigung“ immer noch keine Selbstverständlichkeit ist.

RdP




Summen, Daten, Fakten. Polnischer Reparationsbericht, deutsche Einschätzung

„Keine einzige Passage, die dazu berechtigen könnte, den Inhalt in Zweifel zu ziehen“.

Deutsche Medien und die deutsche Politik sind sich darin einig: Polen hat, weder juristisch noch moralisch, ein Recht, für die Verwüstung des Landes im Zweiten Weltkrieg Reparationen von Deutschland zu fordern. Am 1. September 2022 wurde in Warschau der lang angekündigte dreibändige Bericht über die polnischen Kriegsverluste vorgestellt. Er soll die Grundlage der polnischen Forderungen sein.

Karl Heinz Roth.

Als einer der wenigen in Deutschland vertritt Dr. Karl Heinz Roth (geb. 1942), ein deutscher Arzt und anerkannter Historiker, der sich mit den Reparationsfragen seit langem beschäftigt, eine andere Meinung. Er ist Mitautor der Buches „Verdrängt – Vertagt – Zurückgewiesen. Die deutsche Reparationsschuld am Beispiel Polens und Griechenlands“ und hat den polnischen Bericht genau gelesen.

Offizielle Vorstellung des Berichtes über die polnischen Kriegsverluste am 1. September 2022 im Warschauer Königsschloss. V. l. n. r.: Jarosław Kaczyński, Parlamentspräsidentin Elżbieta Witek, Ministerpräsident Mateusz Morawiecki und Arkadiusz Mularczyk, Vors. der Parlamentarischen Arbeitsgruppe zur Schätzung der Polen von Deutschland zustehenden Reparationen.

Wir sprechen wenige Tage nach der Veröffentlichung des Berichts über die polnischen Kriegsverluste. Sie haben die englischsprachige Fassung bereits gelesen. Was sind Ihre ersten Eindrücke als Historiker, aber auch als Mitautor eines Buches über deutsche Kriegsreparationen für Polen und Griechenland?

Ich habe ungeduldig auf diesen Bericht gewartet und habe nun den ersten Band in zwei Tagen gelesen und analysiert. Ich muss zugeben, dass ich eine so gute Studie nicht erwartet hatte. Ich bin beeindruckt von dem Bericht und seinem abgeklärten, methodischen Ansatz. Die Autoren entschieden sich für die Anwendung des allumfassenden Konzepts der Wiedergutmachung, was keineswegs typisch ist, d.h. sie berücksichtigten: menschliche Verluste, die schwere Traumatisierung der Bevölkerung, die Folgen körperlicher Gesundheitsschäden, dann die materiellen Verluste, solche im kulturellen Bereich, den finanziellen Raub, die Zwangsarbeit. All diese Bestandteile wurden unter einem Dach zusammengefasst, um eine Ausgangsposition für die Schätzung der Verluste zu schaffen. Das ist eine beeindruckende Methode; auch ich hätte sie gewählt. Und das ist der erste Punkt.

Warschau 1945.

Das zweite betrifft die Struktur des Berichts selbst, sie ist sehr gut und systematisch. Zunächst wird ein Bild der im besetzten Polen begangenen Verbrechen gezeichnet. Danach folgt eine sehr gute Analyse von Professor Konrad Wnęk über die Bevölkerungsverluste. Sie beinhaltet hochqualifizierte Berechnungen, vor allem Basisdaten und deren Umrechnung in aktuelle Werte. Dann haben wir eine Berechnung der materiellen Verluste, der kulturellen Verluste, des finanziellen Raubes. Es folgt ein methodisch hochqualifiziertes Kapitel, das die Teilergebnisse zusammenfasst und die Summe aller Verluste am damaligen Bruttoinlandsprodukt Polens in die heutige Zeit überträgt und entsprechend berechnet.

Von der deutschen Besatzungsverwaltung angeordnete Zerstörung katholischer Kirchen. Hier  in Bydgoszcz (1940) und in Siedlce (1941).

Die Autoren haben die gesamte verfügbare Literatur zu diesem Thema ausgeschöpft, angefangen bei den Werken polnischer Autoren, z. B. Prof. Czesław Łuczaks, Prof. Czesław Madajczyks und vieler anderer, bis hin zu internationalen Quellen wie des U.S. Bureau of Labor Statistics der Weltbank. Der Bericht schließt mit einer Schätzung der Kriegsverluste in Euro ab, und der Betrag ist sehr überzeugend: 1,3 Billionen Euro. Es ist eine Summe, die auf den ersten Blick horrend erscheinen mag. Ich habe etwas weniger berechnet, aber es ist eine völlig legitime Summe. Alles in allem: die Autoren haben sehr gute Arbeit geleistet.

Erschossene polnische Kriegsgefangene am 9. September 1939 bei Ciepielów südlich von Warschau.

Hinzu kommt, dass der Anhang des Berichts eine Kurzstudie von Dr. Robert Jastrzębski enthält. Sie legt die Hauptthesen von Rechtsgutachten über die Möglichkeit Polens dar, von Deutschland Reparationen für die im Zweiten Weltkrieg verursachten Schäden in Verbindung mit internationalen Abkommen zu fordern. Sie beschäftigt sich auch mit dem angeblichen Verzicht der Volksrepublik Polen auf Reparationsforderungen gegenüber Deutschland im Jahr 1953. Im Anhang findet man den Wortlaut der Erklärung der Regierung der Volksrepublik Polen an die UNO aus dem Jahr 1969.

Polnischen Zivilisten wird das Todesurteil vorgelesen am 21. Oktober 1939 in Szubin unweit von Bydgoszcz

Ich fand es sehr positiv, dass Dr. Jastrzębski, der bereits 2017 in seiner Studie für den Sejm zu diesem Thema Stellung genommen hat, auch in diesem Bericht die Kernpunkte anspricht, die die Falschheit der These belegen, dass Polen 1953 auf Reparationen von Deutschland verzichtet hat. Das stand schon immer im Mittelpunkt meiner eigenen Forschung, und die Widerlegung der These vom polnischen Verzicht halte ich für grundlegend in dieser Angelegenheit.

Haben Sie, als Sie den ersten Band des Berichts lasen, seinen Inhalt mit Ihren eigenen Erkenntnissen zum Thema Kriegsentschädigungen verglichen?

Ja, das war unausweichlich. Allerdings war meine Arbeit weniger detailliert. Ich habe mich von einem globalen Ansatz leiten lassen. Polen trat in dieser Untersuchung als Fallstudie im Zusammenhang mit griechischen Reparationsforderungen auf. Der am 1. September 2022 in Warschau vorgestellte Bericht über die Kriegsverluste ist ein Meilenstein in der historischen Forschung zur Frage der Reparationen. Deshalb sollte man ihn nicht auf die aktuelle Situation beziehen. Umso mehr stören mich die negativen Kommentare deutscher Historiker und Politiker, die dieses Werk von vornherein ablehnen. Ich finde es geradezu beschämend. Ihre Meinung beruht nicht auf der Lektüre des ersten Bandes; sie urteilten, ohne den Inhalt zu kennen.

Gruppenfoto vor der Hinrichtung. In Palmiry bei Warschau wurden zwischen Dezember 1939 und Juli 1941 etwa 2.000 polnische  Politiker, Künstler, Sportler, Geistliche, Wissenschaftler aus Warschau, im Rahmen der Auslöschung (Aktion AB) der polnischen intellektuellen Elite ermordet.

Wir haben diese Kommentare verfolgt. Die meisten waren sehr oberflächlich.

Auch mich haben diese Stellungnahmen erbittert. Aber lassen Sie mich ein Beispiel nennen. Das Deutschlandradio Berlin hat eine Umfrage zum Thema Reparationen durchgeführt. Wenn früher das Thema Wiedergutmachung in den Medien auftauchte, wurde ich in der Regel um einen Kommentar gebeten. Dieses Mal rief niemand an. Ich wurde von der Debatte über diesen Bericht ausgeschlossen.

Vertreibung der polnischen Bevölkerung aus Żywiec im Herbst 1940 (Aktion Saybusch), um deutschen Siedlern Platz zu machen.

Das alles bringt mich in Verlegenheit und ich schäme mich sogar dafür, dass ich einen deutschen Pass besitze. Es gibt nämlich in Deutschland eine unglaubliche Selbstgefälligkeit, Anmaßung und Dummheit, wenn es um Reparationen geht. Historiker, die sofort negativ auf den polnischen Bericht reagierten, hatten es offensichtlich eilig damit, denn sie konnten sich kaum innerhalb von zwei oder drei Stunden mit dem Inhalt vertraut gemacht haben. Zumal es in den ersten Stunden Probleme mit dem Herunterladen der englischen Version gab. Ich musste mich ziemlich beeilen, um in zwei Tagen den Bericht aufmerksam zu Ende zu lesen. Es ist unverantwortlich und absurd, wenn Wissenschaftler ein Dokument ablehnen, bevor sie es überhaupt gelesen haben.

Ich für meinen Teil kann mit voller Überzeugung sagen, dass es in dem polnischen Bericht, einschließlich der Einleitung von Herrn Arkadiusz Mularczyk (Vorsitzender der Parlamentarischen Arbeitsgruppe zur Schätzung der Polen von Deutschland zustehenden Reparationen – Anm. RdP), keine einzige Passage gibt, die dazu berechtigen könnte, dessen Inhalt in Zweifel zu ziehen.

Raub von Kunstgegenständen aus Warschauer Museen.

Ich bin ein Linker, das ist kein Geheimnis, und ich schäme mich, dass sich keine linke polnische Regierung die Mühe gemacht hat, einen solchen Bericht zu erstellen, sondern eine nationalkonservative Regierung. Über alle politischen Grenzen hinweg wurde, objektiv betrachtet, eine große und notwendige Arbeit geleistet. Im Laufe meiner akademischen Laufbahn habe ich mich mehrere Jahre lang mit dem Thema Wiedergutmachung befasst, sodass ich wirklich in der Lage bin, die Qualität des polnischen Berichtes zu beurteilen.

Woher kommt Ihr Interesse an Kriegsreparationen?

Das Thema hat zu einem bestimmten Zeitpunkt in meinem Leben eine gewisse existenzielle Dimension angenommen. Jahrelang hatte ich beobachtet, wie die Ansprüche verschiedener Staaten auf Wiedergutmachung von Deutschland abgelehnt wurden. Das hat mich berührt, aber auch dazu veranlasst, selbst Nachforschungen anzustellen.

Was sollte Warschau Ihrer Meinung nach jetzt tun?

Am 11. Februar 1944 hingerichtete polnische Geiseln am Balkon eines bei der Belagerung Warschaus 1939 ausgebrannten Hauses in der Lesznostraße.

Zunächst sollte der Bericht Gegenstand einer parlamentarischen Debatte im Sejm werden und ein Mandat der Abgeordneten erhalten. Dann kann die polnische Regierung eine diplomatische Note mit der offiziellen Aufforderung zur Aufnahme von Gesprächen über Reparationen vorlegen. Ich würde zu einer Argumentation raten, die aus zwei grundlegenden Punkten besteht: dass Polen nie auf seine Reparationsansprüche gegenüber Deutschland verzichtet hat, und dass der volle Umfang der entstandenen Schäden und deren Bewertung, d. h. der gerade veröffentlichte Bericht, der Note beigefügt werden. Die Ablehnung dieser Forderung durch die Bundesregierung ist natürlich zu erwarten.

In den letzten Jahren habe ich das Thema Reparationen mehrfach in Gesprächen mit deutschen Politikern angesprochen. Daher weiß ich, dass es eine Gruppe bei den Grünen gibt, die sich für das Thema interessiert und die sogar mit den Reparationsforderungen Griechenlands sympathisiert. Doch die Reaktion auf die Bemerkung, dass in erster Linie Polen in die Reparationsdebatte einbezogen werden sollte, war von Unverständnis geprägt. Solche Gespräche wurden sehr schnell abgebrochen.

Nach der Bundestagsdebatte über Reparationen an Griechenland am 25. März 2021 haben wir uns an Politiker der Grünen gewandt, die höflich, aber bestimmt ausschlossen, über Reparationen an Polen zu sprechen. Man konnte spüren, dass selbst die Politiker, die mit den Forderungen Griechenlands sympathisierten, eine völlig andere Haltung gegenüber Polen einnahmen. Wie erklären Sie sich diese Diskrepanz?

Es ist schlicht und einfach absurd. Zugleich ist das ein Hinweis für die polnische Regierung, dass ihre Forderungen höchstwahrscheinlich auf Ablehnung stoßen werden. Wichtig in der ganzen Angelegenheit ist die klare Position Warschaus, ohne Zweifel und Missverständnisse. Sobald die polnischen Forderungen von Deutschland abgelehnt werden, sollte Warschau den internationalen Weg einschlagen. Und das bedeutet nicht, dass man gleich Deutschland vor dem Internationalen Gerichtshof in Den Haag verklagt.

Zerstörung des Adam-Mickiewicz-Denkmals auf dem Krakauer Hauptmarkt (Adolf-Hitler-Platz) am 17. August 1940.

Zunächst einmal sollte die Angelegenheit vor die UNO gebracht werden, und dann gibt es auch noch die OECD, die Europäische Kommission und das Europäische Parlament. Ich würde mich nicht scheuen, die Frage der Wiedergutmachung auf mehreren internationalen Ebenen vorzubringen. Zumal Polen Verbündete gewinnen konnte. Ich habe vor einigen Tagen mit einem griechischen Diplomaten gesprochen, dem ich eine englischsprachige Version des polnischen Berichts über die Kriegsverluste geschickt habe, und ich stelle ein reges Interesse an den polnischen Berechnungen fest. 

Überreste des Chopin-Denkmals aus dem Warschauer Łazienki-Park vor dem Abtransport zur Einschmelzung in Deutschland. Es wurde am 31. Mai 1940 gesprengt.

Angenommen, Polen und Griechenland würden ihre Kräfte bündeln und gemeinsam ihre Rechte einfordern, sogar vor EU-Institutionen, um dem Thema auch die notwendige Öffentlichkeit zu verschaffen. In einem solchen Bündnis könnte man viel mehr erreichen als im Alleingang. Natürlich spielt Polen die wichtigere Rolle, weil es am meisten unter der deutschen Besatzung und der deutschen Zerstörungspolitik gelitten hat. Deshalb ist es gut, dass nach dem ersten offiziellen Bericht von 1947 („Bericht über Polens Kriegsverluste und- Schäden 1939-1945“. Die letzte Ausgabe mit einem Kommentar von Prof. Dr. Krzysztof Miszczak wurde 2017 veröffentlicht – Anm. RdP) endlich ein neuer Rapport, versehen mit der Summe der Forderungen, 2022 erschienen ist.

Es würde auch nicht schaden, die Aufmerksamkeit der Juristen in der ganzen Welt, die sich auf das Völkerrecht spezialisiert haben, auf dieses Thema zu lenken. Auch in den Vereinigten Staaten, wo ja eine zwar nicht sehr lautstarke, aber immerhin, eine Debatte über die Entschädigung der Familien von Opfern der Sklaverei geführt wird. Das mag alles heute abstrakt klingen, aber solche Diskussionen finden in mehreren Teilen der Welt statt, und ihre Teilnehmer interessieren sich dafür, was diesbezüglich in Polen geschieht.

Die Warschauer Altstadt 1945.

Einige Kommentatoren sowohl in Polen als auch in Deutschland haben gesagt, dass Polen sich in Sachen Reparationen an Moskau statt an Berlin wenden sollte. Verstehen Sie diese Argumentation?

Auch das ist absurd. Die Sowjets haben zahlreiche Verbrechen an den Polen begangen, daran besteht kein Zweifel, und auch die sowjetischen Verbrechen dürfen nicht vergessen werden, aber der Hauptakteur des Zweiten Weltkriegs war Nazideutschland, und deshalb ist Berlin der Hauptadressat in Bezug auf die Forderungen.

Es wird viel über die deutsche Erinnerungskultur gesprochen, aber über die im besetzten Polen begangenen Verbrechen weiß man in Deutschland sehr wenig. Kann der Bericht das ändern?

Ja, so ist es in der Tat. Beim Lesen des Berichts fiel mir auf, dass die Autoren auch Beispiele anführten, die auf den Aussagen der Zeitschrift „Medical Review“ beruhen. In den 1980er Jahren beschäftigte ich mich intensiv mit medizinischen Experimenten an Menschen während des Zweiten Weltkriegs und den Nachkriegstraumata. Damals arbeitete ich noch nicht als Historiker, sondern als Arzt mit polnischen Wissenschaftlern zusammen, darunter Professor Józef Bogusz aus Krakau. Jahrzehntelang hatten ich und andere Wissenschaftler versucht, den Deutschen von den polnischen Opfern deutscher Verbrechen zu erzählen, aber diese Geschichte war nicht auf fruchtbaren Boden gefallen.

Die Erinnerungskultur in Deutschland wird sozusagen administrativ gesteuert. Sie ist zudem so konstruiert, dass das Thema der Wiedergutmachung vermieden wird und die Opfer zu Bittstellern degradiert werden. Das ist inakzeptabel. Ich möchte aber zusätzlich auf drei Aspekte der Erinnerungskultur in Deutschland aufmerksam machen.

Es ist, erstens, die Nichtaufarbeitung der deutschen Kriegsverbrechen im besetzten Polen.

Zweitens, Polen ist aus der Erinnerungskultur weitgehend gelöscht, trotz Initiativen wie der Schaffung eines Dokumentationszentrums für Verbrechen an Polen in Berlin. Die Umstände, unter denen dieses Zentrum entsteht, der endlose, kleinliche innerdeutsche Streit um den Sinn der Einrichtung, den Ort, an dem sie entstehen soll, über die Inhalte. Das alles ist sehr bezeichnend und geradezu beschämend.

Drittens die Heuchelei der Erinnerungskultur als solcher, weil sie instrumentalisiert wird. Einerseits Erklärungen über die Scham und das Bewusstsein der Verantwortung für begangene Verbrechen, andererseits die strikte Weigerung, finanzielle Wiedergutmachung für die begangenen Taten zu leisten.

Sowjets zwingen deutsche Kriegsgefangene, die Krematorien des Vernichtungslagers Majdanek in Lublin zu besichtigen.

Ein deutscher Kommentator erklärte, man könne nicht verlangen, dass Generationen, die nach dem Krieg geboren wurden, für die Verbrechen anderer aufkommen, das sei moralisch inakzeptabel. Wie verhält sich das zu der viel beschworenen deutschen Kultur des Erinnerns?

Eine Erinnerungskultur setzt voraus, dass den folgenden Generationen die Ausmaße der Verbrechen des Zweiten Weltkriegs bewusst gemacht werden. So etwas wie ein „kollektives Vergessen“ gibt es nicht. Das kann es nicht geben. Während wir uns mit der Frage der Wiedergutmachung beschäftigten, stellten meine Mitarbeiter und ich uns gleichzeitig die Frage nach der Aufrechterhaltung dieser Erinnerungskultur. Das eine hängt mit dem anderen zusammen.

Außerdem sollten wir von der Tatsache ausgehen, dass weder Reparationen noch Reparationsforderungen verjährt sind. In den letzten Wochen habe ich im Zusammenhang mit meiner Arbeit an einem neuen Projekt viele Dokumente aus den Archiven des Auswärtigen Amtes und des Bundeskanzleramtes gelesen, in denen führende deutsche Politiker, darunter Willy Brandt, in Gesprächen mit ihren polnischen Kollegen immer sagten: „Was erwarten Sie? Unsere junge Generation interessiert sich nicht mehr für den Krieg, man muss die Vergangenheit von der Gegenwart mit einem dicken Strich trennen und in die Zukunft schauen“. Schon damals, in den 1970er Jahren, war das schlicht eine Lüge. Schließlich hat meine Generation Ende der 1960er und Anfang der 1970er Jahre, begonnen die Geschichte Deutschlands, in der wir die Kinder der Täter waren, für sich zu entdecken. So haben wir uns selbst gesehen. Um Ihre Frage zu beantworten: Das Argument der Generationen ist heute mehr als unangebracht.

Appell im Kinder-KZ (Polen-Jugendverwahrlager der Sicherheitspolizei Litzmannstadt) in Łódź.

Und was halten Sie von dem „Antiversöhnungsargument“? Es sind Stimmen laut geworden, dass die polnischen Forderungen die mühsam errungene polnisch-deutsche Aussöhnung dauerhaft stören werden. Andererseits wurde argumentiert, dass die schwierige Diskussion über Reparationen am Ende vielleicht eine Heilung der polnisch-deutschen Beziehungen nach sich ziehen, eine echte Versöhnung einleiten wird und nicht eine kitschige und überzuckerte, wie sie seit Jahren oft praktiziert wird. Wie reagieren Sie auf diese beiden, doch sehr extremen Meinungen?

Ohne deutsche Verhandlungsbereitschaft wird die deutsch-polnische Versöhnung eine Fassade bleiben. Es war eine Fiktion, aber jetzt hat sie die Chance, etwas Dauerhaftes und Reales zu werden. Versöhnung ist möglich, wenn die Nation, die Unrecht getan hat, diejenigen, die sie gedemütigt hat, nicht als Bittsteller betrachtet. Nur gleichberechtigte Partner können sich wirklich versöhnen. Und ich freue mich, zu diesem Prozess beizutragen, indem ich eine englischsprachige Version des Berichts auf der Website der Stiftung, in der ich tätig bin, veröffentliche, und zu gegebener Zeit – sobald eine deutsche Übersetzung vorliegt – auch diese Version veröffentlichen werde. Bisher hat noch keine deutsche Institution dieses Dokument auf ihre Website gestellt. 

RdP

Das Interview erschien in der „Gazeta Polska Codziennie“ („Polnische Zeitung Täglich“) am 7.09.2022. 

Weitere Berichte zum Thema:

„Deutsche Reparationen – polnische Positionen. Teil 1“

„Deutsche Reparationen – polnische Positionen. Teil 2“

„Deutsche Reparationen an Polen. Wie viel und wofür“

„Reparationen für Polen. Ein Deutscher spricht Klartext“




21.08.2022. Russen, EU, deutsche Willkommenskultur à rebours

Als Monogenese bezeichnet man eine ungeschlechtliche Vermehrung, bei der die Nachkommen als identische Kopien der Vorfahren entstehen. Laut Bundeskanzler Olaf Scholz hat sich Wladimir Putin diese Fortpflanzungsmethode im gigantischen Ausmaß zu eigen gemacht. Zehntausende von Putins rauben, morden, stürmen und sterben seitdem in der Ukraine. Es ist ja, so Scholz, „ein Krieg Putins und nicht des russischen Volkes“. Folglich gibt es keinen Grund, den Russen die Freude am Bummeln durch das Berliner KaDeWe und am Geldverprassen an den Spieltischen von Baden-Baden zu verderben.

Deutschland ist dagegen, russischen Touristen fortan keine (Schengen) Einreise-Visa in die EU auszustellen. Angesichts der Tatsache, dass in Russland bisher größere Proteste gegen den Krieg ausgeblieben sind und man die spontane Unterstützung für die Aggression auf Schritt und Tritt erleben kann, ist die Behauptung von „Putins Krieg“ mehr als gewagt.

Das zweite deutsche Argument, man wolle Dissidenten und Fluchtwilligen die Ausreise nicht erschweren, wirkt überdies mehr als gekünstelt. Niemand schlägt vor, das Asylrecht ausgerechnet für Russen außer Kraft zu setzen. Wer an der Außengrenze der EU um Asyl bittet, hat ein Recht auf Einreise; dazu braucht er kein Touristenvisum.

Nach dem Eiertanz um Waffenlieferungen, geplatzen Ringtauschen, dem Veto Berlins Warenlieferungen von Russland in die Enklave Kaliningrad über EU-Gebiet (Litauen) zu unterbinden, lässt die deutsche Politik wieder einmal Umsicht im Umgang mit dem Aggressor walten. Argumente, wie das des ukrainischen Außenministers Dmytro Kuleba, lässt sie nicht gelten. „Die Russen unterstützen mit überwältigender Mehrheit den Krieg gegen die Ukraine. Ihnen muss das Recht genommen werden, internationale Grenzen zu überschreiten, bis sie lernen, sie zu achten.“

Seitdem die Luftverbindungen zwischen Europa und Russland im Rahmen der Sanktionen größtenteils gekappt sind, führt der Weg nach Westen für russische Reisende größtenteils über die Landgrenzen Russlands zur EU, also über Finnland, Lettland oder Estland. Es sind nur in den allerwenigsten Fällen Menschen, die Probleme mit Putin haben. Sie kommen, um sich mit Waren einzudecken, die sie aufgrund westlicher Boykottmaßnahmen in Russland nicht mehr kaufen können.

Die betroffenen Staaten wollen das nicht länger hinnehmen. Estland stellt vom 18. August an keine Schengen-Visa für russische Staatsbürger mehr aus. Lettland und Litauen wollen sich anschließen. Finnland kündigte an, die Zahl seiner Touristenvisa für Russen auf zehn Prozent zu drosseln.

Russen jedoch, die an der estnischen Grenze das Schengen-Visum (Gebühr 35 Euro) eines anderen EU-Landes vorweisen, etwa ein von Deutschland ausgestelltes, dürfen nicht abgewiesen werden. Darum drängen die Staaten mit einer Landgrenze zu Russland, unterstützt von Polen und Dänemark, auf europäische Solidarität. Sollte es keinen verbindlichen Beschluss europäischer Gremien geben, so die Vorpreschenden, müssten sich so viele einzelne Mitgliedsländer wie möglich dem Boykott anschließen.

Polen hat seine Grenze zur russischen Enklave Kaliningrad bis auf wenige Ausnahmen komplett geschlossen. Zudem gehört das Land zu den wenigen, die seit dem russischen Überfall auf die Ukraine keine Touristenvisa für Russen ausstellen. Trotzdem sind zwischen dem 24. Februar und Mitte August knapp 65.000 russische Staatsbürger nach Polen eingereist. Etwa ein Drittel von ihnen besaß ein nichtpolnisches EU-Schengen-Visum.

Gewiss, eine im Vergleich zur russischen Gesamtbevölkerung sehr kleine Gruppe hat sich in der Vergangenheit Demonstrationen und Protesten gegen Putin angeschlossen oder diese unterstützt und befindet sich seither in einer Art fortwährender innerer Emigration.

Doch die meisten haben ihren Frieden mit einem Regime gemacht, das Ordnung schuf, sie ihre Geschäfte machen ließ, Löhne und Renten pünktlich zahlte und im Gegenzug lediglich politische Enthaltsamkeit verlangte. Diejenigen, die es sich leisten können, frequentieren gern Luxusläden in Berlin, Paris und London oder mondäne Ski- und Badeorte im Westen, den sie gleichzeitig zumeist als naiv, dekadent, käuflich und russlandfremd verachten.

Es liegt auf der Hand, dass es sinnvoll wäre, sie spüren zu lassen, dass die Loyalität zu Putin ihren Preis hat. Erst wenn die Einkaufstour auf der Kö in Düsseldorf oder, weniger fein, in den gut bestückten Supermärkten an der finnisch-russischen Grenze nicht mehr möglich ist, könnte sich bei dem einen oder anderen Putin-Freund die Frage regen, ob der Preis für den Ukraine-Krieg nicht doch zu hoch ist.

In Deutschland sieht man das anders.

RdP