Das Pilgern ist der Polen Lust

Jahr für Jahr gehen fünf bis sieben Millionen Polen auf Wallfahrt. 

Pilgern, eine Art der Volksfrömmigkeit, die sich längst überlebt hat? Nicht in Polen. Die Polen wallfahren ständig: zu kleinen Kapellen, wichtig nur für die Dörfer der Region, und zu heiligen Stätten in Europa.

Am liebsten jedoch besuchen sie die Pilgerstätten, die sie am besten kennen, ihre polnischen „locus sacer“, allen voran Jasna Góra, den Lichten Berg mit der Ikone der Muttergottes von Częstochowa, auch bekannt als die Schwarze Madonna. Hier, in Polens nationalem Heiligtum, beten sie, tun Buße, danken Gott und bitten ihn um Gnade.

Polizei- und Hobby-Reiter in polnischen Ulanenuniformen von vor 1939 im Anmarsch auf den Lichten Berg in Częstochowa.

Allein im August 2022 werden in Częstochowa etwa sechzig Wallfahrten erwartet. Darunter sind auch Rad- und Motorradfahrergruppen. Hobby-Reiter aus ganz Polen, teilweise in Ulanenuniformen aus der Vorkriegszeit, haben sich traditionell bereits Anfang Juli bei der Schwarzen Madonna „gemeldet“. Am 15. August wird in Częstochowa auch die alljährliche kaschubische Wallfahrt zu Fuß eintreffen. Die Pilger haben dann die längste Strecke von allen hinter sich gebracht. Von der Halbinsel Hela aus werden sie in neunzehn Tagen 638 Kilometer zurückgelegt haben.

Viele Wallfahrten erreichen den Lichten Berg am 15. August, dem Hochfest Mariä Himmelfahrt, einem gesetzlichen Feiertag und zugleich dem Tag der polnischen Armee. Dieses Datum hat für polnische Katholiken eine besondere Bedeutung. Polen gedenkt an diesem Tag des „Wunders an der Weichsel“, als es 1920 gelang, die gerade wiedergewonnene Unabhängigkeit zu retten. Lenins bolschewistische Truppen wurden vor Warschau vernichtend geschlagen und in die Flucht getrieben.

Krankenschwestern bei ihrer alljährlichen landesweiten Wallfahrt zum Lichten Berg.

Ob Polizisten, Lehrer, Krankenschwestern, Metzger, Landwirte oder Schornsteinfeger, es gibt keine Berufsgruppe in Polen, die nicht an einem festen Tag des Jahres, begleitet von ihren Seelsorgern, eine nationale Pilgerfahrt nach Częstochowa veranstalten würde. Hunderte von Bussen füllen dann die riesigen Parkplätze und in den Auen vor dem Kloster erstreckt sich, soweit das Auge reicht, das Blau der Polizeiuniformen oder das Weiß der Krankenschwesternhauben. Tag für Tag strömen zudem Hunderte, manchmal Tausende einzelne Pilger oder Familien herbei, um vor dem Gnadenbild der Schwarzen Madonna innezuhalten.

Eine Läufer-Wallfahrt, der Pfarrer auf dem Fahrrad vorneweg, begleitet von einer Motorradstaffel der Polizei, nähert sich dem Lichten Berg.

Jahr für Jahr gehen fünf bis sieben Millionen Polen, d. h. zwischen 15 und 18 Prozent der Bevölkerung, auf Wallfahrt. Wallfahrten zu Fuß, auch bekannt als Exerzitien auf dem Weg, gibt es seit Jahrhunderten. Zunächst verliefen sie unorganisiert, allein oder in kleinen Gruppen. Seit dem 16. Jahrhundert bildeten sich zunehmend die uns heute bekannten Wallfahrten heraus. Die Pilger brachen in immer größeren Scharen auf und immer öfter war ein Priester dabei.

Die Polen haben im eigenen Land einige hundert „heilige Orte“. Es wurde berechnet, dass 430 der 500 polnischen Pilgerstätten marianisch sind; darunter sind 180 durch einen Papst gekrönte Darstellungen der Muttergottes. 96 von ihnen sind Wallfahrtszentren, am liebsten aufgesucht werden 37 davon.

Woher kommt das?

Auch wenn die Verweltlichung fortschreitet und die Zahl der Priesterberufungen sinkt, wobei sie lange nicht den katastrophalen Stand von Deutschland erreicht hat, bleibt die religiöse Mobilität der Polen sehr hoch. Woher kommt das?

Der Pfarrer ist immer dabei.

Einst war die Antwort auf diese Frage einfach: Man pilgerte aus Dankbarkeit fürs Überleben, in einem Akt der Buße oder im Zusammenhang mit persönlichen Bitten. Als Polen zwischen 1795 und 1918 dreigeteilt war, pilgerte man zu den Gnadenstätten auch, um dafür zu beten, dass der eigene Staat wieder auf die Landkarte Europas zurückkehren möge.

In der Zeit des Kommunismus wiederum waren Wallfahrten zweierlei: Ausdruck der Zugehörigkeit zu der von den kommunistischen Machthabern bekämpften katholischen Kirche. Zugleich ein Manifest des Missfallens gegen das moskautreue Regime in Warschau. Eine Art politisch-religiöse Demonstration gegen den Kommunismus. Angesichts dessen versuchten die Behörden in jener Zeit gerade die Fußwallfahrten nach Tschenstochau zu unterbinden oder zumindest massiv zu behindern.

Feierlichkeiten auf dem Lichten Berg in Częstochowa 1966 zur Tausendjahrfeier der Taufe Polens, vom Kirchturm aus gesehen.

Dennoch versammelten sich, etwa im August 1957, bis zu einer halben Million Gläubige auf dem Lichten Berg in Częstochowa, damals eine Rekordzahl. Mehr als eine halbe Million Menschen fanden sich 1966 zur Tausendjahrfeier der Taufe Polens ein. Damals hatten die Kommunisten Papst Paul VI. verboten, ins Land zu kommen. Ein leerer Papstthron legte Zeugnis davon ab. Hunderttausende lauschten in den Częstochower Auen den Predigten Johannes Pauls II. bei sechs (1979, 1983, 1987, 1991, 1997 und 1999) von seinen insgesamt acht Pilgerreisen nach Polen. Eine halbe Million Menschen bereiteten im Mai 2006 auch Benedikt XVI. einen begeisterten Empfang.

Papst Johannes Paul II. auf dem Lichten Berg 1991.

Warum aber wallfahren die Polen heute ebenso gern wie vor vielen Jahren? Zum einen hängen sie weiterhin sehr an den Traditionen und heimischen Werten. Auf die Wallfahrten gingen die Großmütter, sie nahmen ihre Töchter mit, jetzt pilgern die Enkelinnen.

Das Gefühl von Gemeinschaft und Solidarität ist sehr wichtig.

Zum anderen ist der Glaube für die Polen weiterhin wichtig, viele suchen darin Zuflucht vor den Problemen, die mit der Moderne auf sie eingestürmt sind. Ermüdet vom immer schnelleren Leben, suchen sie auf den Wallfahrten zu den heiligen Stätten eine andere Welt, Reflexion, Erholung.

Drittens pilgern die Polen, weil sie beisammen sein wollen. Die Wallfahrt gibt ihnen, was den Menschen im sozialen Leben fehlt: Vertrauen, Sicherheit, tiefgehende Erlebnisse, Nachdenklichkeit. Das Gefühl von Gemeinschaft und Solidarität. Die religiöse Komponente ist aber, gerade in Polen, immer noch das Wichtigste. 80 Prozent der polnischen Pilger sind aus religiösen Gründen unterwegs.

80 Prozent der polnischen Pilger sind aus religiösen Gründen unterwegs.

Die große Mehrheit der Pilger erreicht glücklich ihr Ziel. Trotz Schmerzen, Regen, Hitze und sogar Verletzungen oder sonstiger Pilgerabenteuer. Viele von ihnen sind Veteranen, die zum fünften, zehnten oder sogar vierzigsten Mal mitlaufen. Aber jedes Jahr kommen auch neue Teilnehmer hinzu. Zunächst erschrocken von der Vorstellung, jeden Tag 35 bis 40 Kilometer weit zu laufen, überwinden sie ihre Bedenken und machen sich auf den Weg. Wie bereitet man sich auf seine erste Wallfahrt zu Fuß vor, um sie erträglicher zu machen?

Ein Rucksack, der wächst

Ein Pilger ist wie… eine Schildkröte. Er trägt sein Hab und Gut auf dem Rücken. Und zwar buchstäblich.

Der Wanderrucksack, den er mitnimmt, sollte die notwendigsten Pilgerutensilien enthalten. Aber das Wort „Wesentliches“ wird von manchen Pilgern eher frei interpretiert. Vor allem die Neulinge packen ein großes Mineralwasser, eine Thermoskanne Kaffee, fünf belegte Brötchen (sonst ist die Oma böse), vier Schokoriegel, eine warme Jacke, einen Regenschutz sowie einen Teller, Löffel, Schüssel und Becher ein. Am besten gleich einen Zwei-Liter Wasserbehälter, damit man nicht dehydriert. Zu Beginn der Wanderung scheint der Rucksack leicht zu sein. Nach ein paar Stunden gibt der Rücken stärker nach als die Beine. Bis der Pilger schließlich bei einer Rast demütig wird und wirklich weiß, was er braucht.

Je leichter der Rucksack, desto weniger schmerzen die Beine.

„Als ich das erste Mal zu Fuß unterwegs war, nahm ich einen großen Rucksack mit“, erinnert sich in der katholischen Wochenzeitung „Niedziela“ („Der Sonntag“) ein junger Pilger, der mit der Goralen-Wallfahrt von Zakopane zum Lichten Berg unterwegs war. „Jetzt werde ich wahrscheinlich nur einen Rosenkranz, das Portemonnaie, ein Taschenmesser, einen dünnen Einweg-Regenmantel und ein paar Schuhe zum Wechseln mitnehmen. Und vielleicht ein paar Notfallmedikamente. Als Faustregel gilt: Je leichter der Rucksack, desto weniger schmerzen die Beine. Ach ja, und die Bibel muss man mitnehmen. Aber ich empfehle die elektronische Version, im Mobiltelefon. Die ist viel leichter.“

Natürlich hat jeder neben dem Tagesrucksack auch einen großen Reiserucksack dabei oder eine Tasche und ein zusammengefaltetes Zelt, falls die Pilger nicht bei Privatleuten übernachten. Das große Gepäck fährt in Kleintransportern oder in LKW ’s und wartet auf die Pilger beim nächsten Zwischenstopp. Es sollte warme Kleidung, eine Jacke, einen Vorrat an Unterwäsche und Hygieneartikel enthalten. Ein Hut ist ebenfalls ein Muss.

Die Pilger erhalten bei der Anmeldung ein Pilgerheft mit dem Verlauf der Strecke und weiteren nützlichen Hinweisen sowie eine Identifikationsmarke. Diese Gegenstände sind stets mitzuführen. Die Marke sollte an einer sichtbaren Stelle angebracht werden, und das Pilgerheft gehört in den Tagesrucksack. Darüber hinaus sollte man die Broschüre vor der Wanderung sorgfältig studieren. Darin sind die Haltestellen markiert und die Regeln und Vorschriften detailliert beschrieben. Denn während einer Wallfahrt …

…  müssen die Regeln beachtet werden!

Manchmal kommt es, vor allem jungen Pilgern so vor, als seien die Vorschriften dazu da, die Wallfahrt zu erschweren. Sie betrachten sie als ein notwendiges Übel und die besonders religiösen unter ihnen als eine zusätzliche Buße.

Die Vorschriften und Regeln während der Wallfahrt sind jedoch eine Voraussetzung dafür, das Ziel wohlbehalten zu erreichen. „Die Regeln sind keine Erfindung eines böswilligen Priesters, sondern eine Art weise Disziplin, die es ermöglicht, manchmal Tausende von Menschen zu steuern und deren Sicherheit zu gewährleisten“, so ein freiwilliger Ordner in der kaschubischen Pilgerfahrt gegenüber der Zeitschrift „Niedziela“. „Wenn in den Vorschriften steht, dass „wir kein Eis essen“, dann nicht, um jemanden zu ärgern, sondern um Lebensmittelvergiftungen und Mandelentzündungen vorzubeugen.

Freiwillige Ordner sorgen für Verkehrssicherheit und die Einhaltung der Regeln.

Und wenn wir hartnäckig darauf pochen, dass in der Pilgergruppe auf einer Wegestrecke keine „Löcher“ (d.h. Freiräume) entstehen, dann nur, um den reibungslosen Ablauf zu gewährleisten, denn an uns fahren ständig Autos vorbei, die uns überholen müssen.“

Das Gleiche gilt für die Nachtruhe. Sie dauert normalerweise von 22 bis 4.30 oder 5 Uhr. Und Ruhe bedeutet ein echtes Gebot der Stille und Ruhe, alle Handys werden ausgeschaltet. Der gesamte Körper muss sich regenerieren, damit der anstrengende Marsch über viele Tage hinweg nicht zu Lasten der Gesundheit geht. Ein Pater erinnert sich in „Niedziela“, wie er einst als Seminarist eine Fußwallfahrt von Lubawa aus unternahm. Er war der Quartiermeister und hat damals gelernt, dass das Verhalten der Pilger, die Einhaltung der Regeln, darüber entscheidet, ob Privatleute sie gerne aufnehmen.

„Privatleute, die Vertrauen in die guten Manieren der Pilger hatten, nahmen uns bereitwillig auf. Diejenigen, die eine gewisse Aufsässigkeit bemerkten, behandelten uns vorsichtiger. Ich erinnere mich an einen Gastgeber, der uns nicht aufnehmen wollte, er war sehr aufgeregt. Es stellte sich heraus, dass im Jahr zuvor einer der Pilger, die in seiner Scheune übernachtet hatten, eine Nadel hatte liegen lassen. Und die Kuh hatte dafür mit ihrem Leben bezahlt. Da die Nacht nahte und es immer noch zu wenig Unterkünfte gab, kam er dann doch noch selbst zu uns und nahm die letzten obdachlosen Pilger bei sich auf.

Und wie steht es um die Gesundheit?

Neulinge (oder auch potenzielle Pilger) fürchten sich wahrscheinlich am meisten vor den Blasen an den Füßen, mit denen erfahrene Pilger ihnen ständig Angst einjagen. Die Vorstellung, mit schmerzenden Beinen erschöpft am Straßenrand zu sitzen, macht vielen, die mit dem Gedanken spielen, an einer Wallfahrt teilzunehmen, Angst.

Pfarrer Tomasz Roda aus Koszalin/Köslin hat nur dank seiner eingelaufenen Sandalen etliche Wallfahrten wohlbehalten überstanden.

„Ich hatte schreckliche Angst vor Blasen, erinnert sich eine ehemalige Einsteigerin. „Das Einzige, was mir dazu einfiel, war, die uralte Pilgerregel zu brechen, dass der Schuh über den Knöchel reichen und eingelaufen sein muss. Also habe ich in brandneue Sandalen aus einem Markensportgeschäft investiert. Das Wichtigste war die Sohle. Sie durfte nicht zu hart sein, weil sonst beim langen Asphaltlaufen Prellungen am Fuß entstehen. Schließlich entschied ich mich für Sandalen mit einer weichen Schaumstoffsohle, die die Schritte abfedert. Der Preis spielte keine Rolle. Schließlich werden die Schuhe jahrelang halten.“

Sie behielt recht. Während andere sich mit Blasen herumplagten, hatte sie während der gesamten Wallfahrt gesunde Füße.

Wunde Füße werden verarztet.

Es ist natürlich auch ratsam, sich entsprechend den Wetterverhältnissen zu kleiden. Bei Hitze auf leichte, luftdurchlässige Sachen zu achten. Das bedeutet nicht, dass man sich bis auf die nackte Haut entkleiden sollte. Schließlich ist eine Wallfahrt kein Freibad und es ist auf die Kleiderkultur zu achten. Außerdem schützt längere Kleidung vor Sonnenbrand und dem Asphaltfieber, einer lästigen Allergie gegen heißen Asphalt.

Luftdurchlässig und zugleich bedeckt sollte der Pilger gekleidet sein.

Generell wird die Gesundheit der Pilger von freiwilligen Sanitätern überwacht. Es sind erfahrene Pilger mit medizinischer Ausbildung, die während der Ruhepausen und in den Unterkünften beratend zur Seite stehen, verletzte Beine verbinden und auch kranke Pilger professionell untersuchen können. Bei jeder Wallfahrt ist mindestens ein Arzt mit dabei. Wenn ein Pilger wirklich nicht weitergehen kann, fährt er in einem der Begleitfahrzeuge so viele Etappen mit, bis seine Füße wiederhergestellt sind. Wenn es nicht anders geht, muss er nach Hause, aber das passiert wirklich selten.

Es ist immer ratsam, eine kleine Reiseapotheke dabei zu haben: Wasserstoffperoxid, Pflaster, elastische Binden. Denn meistens haben die Pilger zwar Angst um ihre Füße, aber es sind oftmals die Kniegelenke, die versagen. Wenn man Kopfschmerzen hat, lohnt es sich manchmal nicht, deshalb beim Arzt Schlange zu stehen, besser ist es seine eigene Tablette zur Hand zu haben.

Die Freude, den Lichten Berg erreicht zu haben, macht selbst den größten Schmerz wett.

Der Pilger ist ein Mensch der Tat, unabhängig. Er versucht, allein zurechtzukommen. Und das Wichtigste bei einer Wallfahrt sind der innere Antrieb und der Glaube! Geht man mit einer Bitte zur Muttergottes, erträgt man alle Widrigkeiten. Die Freude, den Lichten Berg erreicht zu haben, macht selbst den größten Schmerz wett.

© RdP




21.08.2022. Russen, EU, deutsche Willkommenskultur à rebours

Als Monogenese bezeichnet man eine ungeschlechtliche Vermehrung, bei der die Nachkommen als identische Kopien der Vorfahren entstehen. Laut Bundeskanzler Olaf Scholz hat sich Wladimir Putin diese Fortpflanzungsmethode im gigantischen Ausmaß zu eigen gemacht. Zehntausende von Putins rauben, morden, stürmen und sterben seitdem in der Ukraine. Es ist ja, so Scholz, „ein Krieg Putins und nicht des russischen Volkes“. Folglich gibt es keinen Grund, den Russen die Freude am Bummeln durch das Berliner KaDeWe und am Geldverprassen an den Spieltischen von Baden-Baden zu verderben.

Deutschland ist dagegen, russischen Touristen fortan keine (Schengen) Einreise-Visa in die EU auszustellen. Angesichts der Tatsache, dass in Russland bisher größere Proteste gegen den Krieg ausgeblieben sind und man die spontane Unterstützung für die Aggression auf Schritt und Tritt erleben kann, ist die Behauptung von „Putins Krieg“ mehr als gewagt.

Das zweite deutsche Argument, man wolle Dissidenten und Fluchtwilligen die Ausreise nicht erschweren, wirkt überdies mehr als gekünstelt. Niemand schlägt vor, das Asylrecht ausgerechnet für Russen außer Kraft zu setzen. Wer an der Außengrenze der EU um Asyl bittet, hat ein Recht auf Einreise; dazu braucht er kein Touristenvisum.

Nach dem Eiertanz um Waffenlieferungen, geplatzen Ringtauschen, dem Veto Berlins Warenlieferungen von Russland in die Enklave Kaliningrad über EU-Gebiet (Litauen) zu unterbinden, lässt die deutsche Politik wieder einmal Umsicht im Umgang mit dem Aggressor walten. Argumente, wie das des ukrainischen Außenministers Dmytro Kuleba, lässt sie nicht gelten. „Die Russen unterstützen mit überwältigender Mehrheit den Krieg gegen die Ukraine. Ihnen muss das Recht genommen werden, internationale Grenzen zu überschreiten, bis sie lernen, sie zu achten.“

Seitdem die Luftverbindungen zwischen Europa und Russland im Rahmen der Sanktionen größtenteils gekappt sind, führt der Weg nach Westen für russische Reisende größtenteils über die Landgrenzen Russlands zur EU, also über Finnland, Lettland oder Estland. Es sind nur in den allerwenigsten Fällen Menschen, die Probleme mit Putin haben. Sie kommen, um sich mit Waren einzudecken, die sie aufgrund westlicher Boykottmaßnahmen in Russland nicht mehr kaufen können.

Die betroffenen Staaten wollen das nicht länger hinnehmen. Estland stellt vom 18. August an keine Schengen-Visa für russische Staatsbürger mehr aus. Lettland und Litauen wollen sich anschließen. Finnland kündigte an, die Zahl seiner Touristenvisa für Russen auf zehn Prozent zu drosseln.

Russen jedoch, die an der estnischen Grenze das Schengen-Visum (Gebühr 35 Euro) eines anderen EU-Landes vorweisen, etwa ein von Deutschland ausgestelltes, dürfen nicht abgewiesen werden. Darum drängen die Staaten mit einer Landgrenze zu Russland, unterstützt von Polen und Dänemark, auf europäische Solidarität. Sollte es keinen verbindlichen Beschluss europäischer Gremien geben, so die Vorpreschenden, müssten sich so viele einzelne Mitgliedsländer wie möglich dem Boykott anschließen.

Polen hat seine Grenze zur russischen Enklave Kaliningrad bis auf wenige Ausnahmen komplett geschlossen. Zudem gehört das Land zu den wenigen, die seit dem russischen Überfall auf die Ukraine keine Touristenvisa für Russen ausstellen. Trotzdem sind zwischen dem 24. Februar und Mitte August knapp 65.000 russische Staatsbürger nach Polen eingereist. Etwa ein Drittel von ihnen besaß ein nichtpolnisches EU-Schengen-Visum.

Gewiss, eine im Vergleich zur russischen Gesamtbevölkerung sehr kleine Gruppe hat sich in der Vergangenheit Demonstrationen und Protesten gegen Putin angeschlossen oder diese unterstützt und befindet sich seither in einer Art fortwährender innerer Emigration.

Doch die meisten haben ihren Frieden mit einem Regime gemacht, das Ordnung schuf, sie ihre Geschäfte machen ließ, Löhne und Renten pünktlich zahlte und im Gegenzug lediglich politische Enthaltsamkeit verlangte. Diejenigen, die es sich leisten können, frequentieren gern Luxusläden in Berlin, Paris und London oder mondäne Ski- und Badeorte im Westen, den sie gleichzeitig zumeist als naiv, dekadent, käuflich und russlandfremd verachten.

Es liegt auf der Hand, dass es sinnvoll wäre, sie spüren zu lassen, dass die Loyalität zu Putin ihren Preis hat. Erst wenn die Einkaufstour auf der Kö in Düsseldorf oder, weniger fein, in den gut bestückten Supermärkten an der finnisch-russischen Grenze nicht mehr möglich ist, könnte sich bei dem einen oder anderen Putin-Freund die Frage regen, ob der Preis für den Ukraine-Krieg nicht doch zu hoch ist.

In Deutschland sieht man das anders.

RdP




Der Freiherr hatte es schwer. Das Fiasko des deutschen Warschau-Botschafters

Von Loringhoven war der falsche Mann am falschen Ort.

Nach nur achtzehn Monaten musste der deutsche Botschafter in Warschau seinen Posten räumen. Die Abberufung markierte für Arndt Burchard Ludwig Freiherr Freytag von Loringhoven zweifelsohne einen Tiefpunkt in seiner bisher glanzvollen diplomatischen Karriere. Als gäbe es nicht schon genug Probleme in den polnisch-deutschen Beziehungen, wurde auch noch der deutsche Botschafter von Loringhoven zu einem polnisch-deutschen Problem.

Und so müssen dieser Betrachtung unbedingt zwei Fragen vorangestellt werden: Musste das alles wirklich sein? Mussten sich die Verantwortlichen in Berlin darauf versteifen, ausgerechnet den Freiherrn nach Warschau zu entsenden?

Nach sechs Jahren Amtszeit an der Spitze der deutschen Botschaft in Warschau wurde Ende Juni 2020 der ebenso liebenswürdige wie betuliche Rolf Nikel nach Deutschland abberufen. Zum Abschied bekam er noch mit auf den Heimweg von Staatspräsident Andrzej Duda einen polnischen Orden verliehen.

Deutsche Botschaft in Warschau.

Die Neugier darauf, wer Nikel nachfolgen werde, wich bei den offiziellen Warschauer Stellen bald einem wachsenden Unbehagen. Hie und da war sogar von Bestürzung und Empörung die Rede. Die Bekanntgabe der Kandidatur von Loringhovens warf sofort Fragen auf.

Hätte Berlin es gewagt, jemanden mit seiner Familiengeschichte Israel zuzumuten? Gab es in einem Land mit 80 Millionen Einwohnern wirklich niemanden, der keine Verbindung zu Hitlers Krieg hat? Hätte Berlin nicht eine Person benennen können, die Polen und die Polen gut kennt, sich für den Dialog einsetzt? Handelte es sich hier um eine eingefädelte Provokation mit dem Ziel, die ungeliebte Warschauer Regierung und den für seine Abneigung gegenüber Deutschland bekannten Jarosław Kaczyński in eine missliche Lage zu bringen?

Das Problem mit dem Baron

Einiges sprach in den Augen der Warschauer Offiziellen für Letzteres. „Einerseits haben sie tatsächlich einen ihrer besten Leute geschickt, und das sollte zeigen, dass sie Polen ernst nehmen“, konnte man damals, im Hochsommer 2020, in Warschau off the record aus manchem berufenen Munde hören.

Tatsächlich ist von Loringhovens Lebenslauf beeindruckend. Geboren 1956, studierte er Geschichte, Philosophie und Chemie in Deutschland und in Oxford. Im Herbst 2019 beendete er seine Tätigkeit als Beigeordneter Generalsekretär der NATO, wo er für den gesamten Nachrichtendienst des Bündnisses zuständig war. Drei Jahrzehnte lang war er in der deutschen Diplomatie tätig, zweimal in Moskau (u.a. als Leiter der politischen Abteilung) sowie in Paris und Prag, wo er als Botschafter fungierte. Zwischendurch war er von 2007 bis 2010 stellvertretender Chef des deutschen Spionagedienstes BND.

Am Ende seiner Kurzmission in Warschau behauptete von Loringhoven in einem Interview: „Zuvor war ich als Diplomat in drei weiteren Nachbarländern Deutschlands tätig: Frankreich, Belgien und der Tschechischen Republik. Aber nirgendwo habe ich eine ähnliche Allgegenwärtigkeit der Geschichte erlebt.“

Angenommen, was eher unwahrscheinlich klingt, er war sich dieser nicht zu übersehenden polnischen Spezifik nicht bewusst, so war sie denjenigen, die von Loringhoven nach Warschau schickten, auf jeden Fall wohlbekannt. Dennoch machten sie ihn zum Botschafter in Warschau und taten anschließend beleidigt, überrascht und ahnungslos, als die braune Familiengeschichte den Baron (so wird der Titel Freiherr in Polen übersetzt) sofort nach seiner Ernennung einholte. Hier beginnt das „Andererseits“.

Sein Vater, Bernd Freytag von Loringhoven trat 1933 in die Reichswehr ein. Im September 1939 war er Stabsoffizier bei der 1. Panzerdivision, die am Überfall auf Polen teilnahm. Sie beteiligte sich unter anderem am Angriff auf Częstochowa/Tschenstochau. Einheiten der 1. PD ermordeten polnische Zivilisten u. a. in den Dörfern Stobiecko Miejskie, Krzyżanów, Siomki und Cekanów. Anschließend nahmen sie an der Erstürmung Warschaus teil. Für seine Leistungen im „Polen-Feldzug“ bekam Bernd von Loringhoven das Eiserne Kreuz zweiter Klasse verliehen. Ein Jahr später das Kreuz Erster Klasse (für den Überfall auf Frankreich) und 1942 das Deutsche Kreuz in Gold (u. a. für die Schlacht um Stalingrad).

Als Adjutant des Generalstabschefs des Heeres Heinz Guderian und anschließend Hans Krebs, war Major von Loringhoven ab Februar 1945 an den täglichen Lagebesprechungen bei Hitler anwesend. Am Tag vor dem Selbstmord des „Führers“ floh er mit dessen Einverständnis aus dem „Führerbunker“. Deswegen wurde er am Ende seines Lebens immer wieder gebeten, von seinen Erlebnissen in Hitlers Betonbau zu berichten, und war an der Vorbereitung des Films „Der Untergang“ beteiligt.

Der neue Botschafter, sein Vater Bernd, der „Führer“. Bebilderung eines der Berichte über den neuen deutschen Botschafter in den polnischen Medien im Sommer 2020.

Natürlich, so seine Behauptung, wusste er nichts vom deutschen Völkermord. Und glaubt man dem Sohn, so hat der Vater „niemals den Nationalsozialismus unterstützt und war zugleich davon überzeugt, dass es seine Pflicht war, für sein Land zu kämpfen“. Später hat der Vater „natürlich“ den Nationalsozialismus verurteilt. All das tat der neue Botschafter im September 2020 in seinem ersten Presseinterview in Polen, kund. Es war kein guter Einstieg.

Es sollte kein Zurück geben

Man mag es akzeptieren oder ablehnen, aber die Verwurzelung des polnischen Denkens in der Geschichte ist nun einmal eine Tatsache und eine wichtige polnische Eigenart. Es würde sich besonders für die deutsche Diplomatie ziemen, das zu respektieren. Wäre die Ernennung von Loringhovens ausgerechnet nach Warschau, und nicht nach Stockholm oder Antananarivo auf Madagaskar, wo kein Hahn nach seinem Vater krähen würde, nur ein Versehen gewesen, man hätte es noch rechtzeitig sang- und klanglos korrigieren können.

In der diplomatischen Praxis wird es so gehandhabt, dass die Kandidatur des neuen Botschafters dem Empfängerstaat diskret mitgeteilt wird. In 99 Prozent der Fälle weltweit gibt es nach kurzer Zeit ein Okay des Gastgeberlandes und die Kandidatur wird publik gemacht.

Wenn das Land, das den Botschafter aufnehmen soll, innerhalb von drei Monaten nicht antwortet, sollte das Entsendeland die Kandidatur überdenken und der Anwärter von sich aus zurücktreten. Dann muss das Gastland nichts erklären. Schweigen ist eine Verneinung. Alle haben das Gesicht gewahrt.

Berlin muss die Ernennung von Loringhovens so wichtig gewesen sein, dass es sich an diese Regel nicht hielt. Vorgänger Nikel hatte seine Koffer in Warschau noch nicht fertiggepackt, da wurde bereits am 29. Mai 2020 der Name des Nachfolgers von Loringhoven öffentlich gemacht. Nicht direkt vom deutschen Auswärtigen Amt, sondern mittels eines kontrollierten Lecks im Internetportal Onet.pl, das dem deutsch-schweizerischen Konzern Ringier Axel Springer gehört.

Geringschätziger ging es kaum: Warschau sollte Berlins Willen aus den Medien erfahren und offensichtlich vor vollendete Tatsachen gestellt werden. Im ersten Wirrwarr machte zudem die Tatarenmeldung die Runde, der Sohn eines Hitler-Adjutanten soll die Bundesrepublik in Polen vertreten.

Warschau behält die Nerven

Im offiziellen, nationalkonservativen Warschau, das Deutschland ohnehin nicht traut, fühlte man sich in dieser Einstellung voll und ganz bestätigt. Doch was tun?

Die Kandidatur ablehnen konnte man nicht. Die Meinungs- und Interessenunterschiede zwischen Polen und Deutschland sind zwar groß, aber Deutschland ist kein Feindstaat. Und abgesehen von Situationen, die an einen Krieg grenzen, ist es nicht üblich, einem designierten Botschafter öffentlich das Agrément zu verweigern. Tut man das, muss man mit erheblichen Verwerfungen rechnen: Medienkrawall, Einschränkung der offiziellen Kontakte, Megafondiplomatie bestehend aus einem lautstarken Austausch von Vorwürfen, Dementis und Bissigkeiten.

Anders als vielleicht in Berlin gehofft, ließ man sich in Warschau in diese Spirale nicht hineinziehen. Die Antwort auf die deutsche Überrumpelung war, dass man während der gewöhnlicherweise vorgesehenen Frist von maximal drei Monaten die deutsche Seite in der Ungewissheit darüber ließ, ob man von Loringhoven akzeptieren wird oder nicht. Der Kandidat harrte derweil der Dinge in der Botschaft, zutiefst frustriert, wie es hieß, denn ohne das Agrément konnte er nicht seines Amtes walten.

Die ungewöhnliche Verzögerung im Agrément-Verfahren sollte zum Ausdruck bringen, welche Unruhe und Verwerfungen die Ernennung von Loringhovens und die Art, wie sie Warschau unterbreitet wurde, verursacht hatte. Der Botschafter-Anwärter seinerseits gab sich Mühe, Einsicht an den Tag zu legen. Er absolvierte einen ausgedehnten Rundgang durch das Museum des Warschauer Aufstandes und fuhr nach Berlin, um dem dortigen polnischen Pilecki-Institut einen Besuch abzustatten.

Das ersehnte Agrément erhielt von Loringhoven am 31. August 2020. Der 1. September, der Tag des deutschen Überfalls auf Polen vor 81 Jahren, war sein erster offizieller Arbeitstag in Warschau.

Der blockierte Botschafter

Erst hingehalten, dann hingenommen befand sich der Freiherr bei seinem Amtsantritt in einer lähmenden Defensive, die er im Grunde nie verlassen hat.

Die Familiengeschichte ließ sich nicht ausblenden. Immer wieder darauf angesprochen, stand er, was man menschlich gut verstehen kann, zu seinem Vater. Doch mit seinen bereits erwähnten Beteuerungen, dass Wehrmacht-Major von Loringhoven, obwohl er in Hitlers engster Umgebung verkehrte, „niemals den Nationalsozialismus unterstützt hat“, brachte er das polnische Publikum oft in Verlegenheit, manchmal in Rage.

Um zu zeigen, dass er es mit dem Nationalsozialismus genauso hält wie der Vater, widmete sich der Botschafter geradezu hyperaktiv dem Gedenken der Opfer. Glaubt man seinem Twitteraccount, besuchte er im Durchschnitt alle zehn Tage irgendwo in Polen eine Gedenkstätte, ein dem Kriegsgeschehen gewidmetes Museum, legte Kränze und Blumengebinde vor Gedenktafeln und Denkmälern nieder, nahm teil an Feierstunden, hielt Ansprachen und sprach mit Veteranen.

Diese ausgesprochen löbliche Tätigkeit, mit der er vor allem sein familiäres Handicap zu kompensieren suchte, stand im Widerspruch zu seinen ausgesprochen geringen Erfolgen, sich im politischen Warschau als deutscher Botschafter Geltung zu verschaffen.

Die regierenden Nationalkonservativen beschränkten die Kontakte mit ihm auf das protokollarisch korrekte Minimum. Die Art, wie er Warschau aufgedrängt worden war, wirkte nach. Doch noch schwerer wog, dass der Freiherr einen Bundeskanzler in Warschau vertrat, der seinen Drang, ständig mit Putin zu telefonieren, nicht bändigen konnte. Eine Regierung, die der kämpfenden Ukraine große Versprechungen machte, sie aber meistens nicht hielt. Einen friedens-, klima-, öko- und genderbegeisterten Verbündeten, der Polen gegen Putin nicht zur Hilfe kommen würde, mangels Willen und mangels einer funktionierenden Armee. Da gab es mit dem Botschafter nicht viel zu besprechen.

Des Botschafters Stolz. Deutsche Diplomaten auf der Warschauer Schwulenparade 2021.

Frustriert wandte sich von Loringhoven der polnischen „totalen“, wie sie sich selbst nennt, Opposition zu und wurde zunehmend deren Sprachrohr. Dort standen ihm alle Türen offen, dort fand er Trost, Zuspruch und Gehör. Die Politiker, die seit fast acht Jahren erfolglos gegen die Nationalkonservativen ankämpfen, und der ihretwegen ebenso erfolglose deutsche Botschafter verstanden sich auf Anhieb.

Stolz präsentierte der Freiherr auf Twitter Mitarbeiter der Botschaft, die im Mai 2021 in der Warschauer Schwulenparade mitmarschierten, vereint mit allen anderen Teilnehmern unter der gemeinsamen Losung und zudem dem wichtigsten Schlachtruf der totalen Opposition „PiS ficken!“.

Neben Zuspruch Kritik. Einer der vielen kritischen Kommentare auf Twitter: „Wenn der deutsche Botschafter nicht versteht, dass es unangemessen ist, dass deutsche Diplomaten an der Förderung einer Revolution der Sitten in einem benachbarten, kulturell anders gearteten Land teilnehmen, dann ist er entweder ungeeignet für sein Amt oder die Absichten Deutschlands gegenüber Polen sind offen feindlich.“

„Jetzt ist die Opposition komplett!“, lautete der Untertitel in einem Tweet, in dem ein Gruppenbild zu sehen ist mit führenden Politikern der totalen Opposition sowie dem deutschen Botschafter von Loringhoven. Gemacht wurde es, als Tausende von Warschauern Ende März 2022 vor dem Königsschloss auf die Rede des US-Präsidenten Joe Biden warteten.

Wenn der deutsche Botschafter (im Kreis) dabei ist, ist die totale Opposition komplett.

Auch bei seinen Huldigungen für die letzten noch lebenden Veteranen des antideutschen Widerstandes blieb der Freiherr seinen politischen Vorlieben treu. Nicht zufällig war seine wichtigste Ansprechpartnerin in diesem Kreis die hochbetagte Kämpferin im Warschauer Aufstand, Frau Wanda Traczyk-Stawska. Die Dame hat, wie sie sagt, den Deutschen und Deutschland längst vergeben. Niemals vergeben will sie dagegen Jarosław Kaczyński und meidet deswegen keine Gelegenheit, zornige Tiraden an die Adresse des Politikers und seiner Partei öffentlich von sich zu geben.

Nicht mehr zu gebrauchen

Die politischen Kommentare, die er öffentlich von sich gab, waren ein Abbild dessen, was in den Medien der Opposition zu lesen und zu hören war. Kaczyński sei im Grunde ein Verbündeter von Putin. Die Vorbehalte der Nationalkonservativen gegen Deutschland seien völlig unbegründet und dienten nur der Stimmungsmache. Deutsche Investoren, die sich normalerweise um Arbeitslager in China nicht scheren und bis zuletzt in Putins Russland, trotz aller Menschenrechtsverletzungen munter agierten, seien „äußerst besorgt“, so der Freiherr, wegen des Berufungsmodus von Richtern in Polen und erwägten gar, Polen zu verlassen. Man sah, der einst angeblich brillante Analytiker ist inzwischen in die Jahre gekommen und hatte, tief verbittert, nichts außer den sattsam bekannten Anti-PiS-Agit-Prop-Gemeinplätzen zu vermelden.

Menschlich lädiert, beruflich frustriert, vom polnischen Regierungslager isoliert, war der einst mit aller Gewalt der Diplomatie von Berlin forcierte Arndt Burchard Ludwig Freiherr Freytag von Loringhoven als Botschafter in Warschau nicht mehr zu gebrauchen. Wäre dem nicht so, hätte ihm die Berliner Ampel-Regierung die Anstandsfrist von drei Jahren auf seinem dortigen Posten in Warschau gegönnt, auch wenn er zum Nachlass von Angela Merkel gehörte.

Berlin hat mit viel Druck auf Warschau im Sommer 2020 seinen Willen durchgesetzt und einen Sieg errungen. Es sollte ein Pyrrhussieg werden.

RdP




15.08.2022. Populismus als Alibi

Sollen wir wirklich daran glauben, dass das Grundproblem in Europa
heute wieder die soziale Unzufriedenheit und der Rechtspopulismus sind und nicht etwa unfähige oder einfach nur korrupte Politiker?

Die Aussicht auf schwerwiegende wirtschaftliche und soziale Probleme durch die von Russland verursachte Energiekrise, hat in einigen europäischen Medien das Gespenst einer populistischen Revolte aufkommen lassen. In der deutschen öffentlichen Debatte, die sich sowieso zumeist aus dem Thema Angst speist, warnen Vertreter staatlicher Institutionen bereits vor sozialen Unruhen, die
natürlich von rechtsradikalen Kreisen ausgehen werden.

Solche Katastrophen-Fantasien werden auch durch die
instabile Lage in Italien beflügelt. Dort ist nach dem Zusammenbruch der Regierungskoalition von Mario Draghi die Partei Fratelli d’Italia (Brüder Italiens) der Favorit bei den anstehenden Wahlen. Von ihren hysterischen Kritikern wird sie mit Adjektiven, wie „postfaschistisch“, „rechtsnational“, „rechtsextrem“, „populistisch“ und „souveränitistisch“, bedacht. Mit der Wirklichkeit hat das, weiß Gott, nicht viel zu tun.

Berücksichtigt man zudem die wachsende soziale Unzufriedenheit in Frankreich nach der Wiederwahl von Staatspräsident Emmanuel Macron, ergibt sich, aus der Sicht der Populismus-Beschwörer, ein sehr besorgniserregendes Bild von Europa.

Doch haben wir es nicht vielleicht mit einem Versuch zu tun, zu der
sattsam bekannten Strategie des letzten Jahrzehnts, dem „Unternehmen Angst“, zurückzukehren? Der ausgesprochen kluge dritte US-Präsident Thomas Jefferson hat einmal gesagt, dass es nichts gibt, was die Menschen so sehr schmerzt und wovor sie sich mehr fürchten als all die schlimmen Dinge, die nie geschehen werden.

Die Aufrechterhaltung des sozialen Friedens in den europäischen Ländern ist zweifellos ein sehr wichtiges Thema. Das andere ist die Neigung von Politikern und Medien, Emotionen, vor allem Angst, zu schüren. Dahinter verbirgt sich der Wunsch, sich aus der eigenen Verantwortung zu stehlen und sich den politischen und geistigen Machterhalt zu sichern.

Es kann sein, dass der kommende Winter für viele europäische Nationen sehr schwierig wird, aber für die Ukrainer wird er unvergleichlich schwieriger werden. Doch warum sollten wir glauben, dass das Grundproblem in Europa heute wieder einmal die soziale Unzufriedenheit und der Rechtspopulismus sind, und nicht inkompetente oder einfach nur korrupte Politiker?

Seit Jahren betreiben einige von ihnen eine leichtsinnige
Finanzpolitik und stürzen ihre Staaten in Schulden. Andere wiederum haben in ihrer Unverantwortlichkeit ihre Länder komplett vom russischen Gas abhängig gemacht. Und wer hat die meisten Armeen in der EU kaputtgespart? Wer hat mit Erfolg den Glauben verbreitet, mit Sonne, Wind und russischem Erdgas könne man riesige Volkswirtschaften problemlos am Laufen halten?

Sie haben versagt und dennoch sollen wir uns erneut um sie scharen, aus Angst vor dem Populismus, dessen Gespenst sie wieder einmal an die Wand malen. Man kann sich zudem des Eindrucks nicht erwehren, dass das Schüren von Ängsten vor einer Energiekrise im Winter dazu dienen könnte, die Öffentlichkeit für eine schnelle Einigung mit dem Kreml, auf Kosten der Ukraine, zu gewinnen.

RdP




Beruhigen oder verteidigen?

Wozu werden US-Truppen in Polen stationiert.

In Europa befinden sich bereits 100.000 amerikanische Soldaten. Die meisten von ihnen sind jedoch immer noch in Ländern stationiert, die der Gefahr eines russischen Überfalls am wenigsten ausgesetzt sind.

Polnisch-amerikanischer Soldatenhandschlag.

Die Angaben über die wachsende Anwesenheit der US-Armee in Europa kann man auf zweierlei Weise darstellen. Ist das Glas halb voll oder halb leer? In diesem Fall geht es jedoch nicht darum, ob man die Wirklichkeit optimistisch (halb voll) oder pessimistisch (halb leer) wahrnimmt. Gefragt ist eine nüchterne Analyse der (Un-)Möglichkeiten, die durch eine sinnvolle Kräfteverteilung entstehen.

Aufteilung der Kräfte

Etwa 100.000 amerikanische Soldaten, die insgesamt in Europa stationiert sind, das ist in der Tat die höchste Zahl seit zwei Jahrzehnten. Auf den ersten Blick vermittelt sie den Eindruck, dass sich der Alte Kontinent in Sicherheit wähnen kann. Vor allem wenn man bedenkt, dass sich die USA noch vor wenigen Jahren langsam aus Europa zurückziehen wollten, was die europäischen Staaten dazu zwingen sollte, mehr für ihre eigene Verteidigung auszugeben.

Ehrlicherweise muss man auch eingestehen, dass gut 12.000 von den in diesem Jahr neu entsandten 20.000 US-Soldaten in Mittel- und Osteuropa angekommen sind, die meisten davon (etwa 10.000) in Polen. Doch die verstärkte amerikanische Präsenz an der Nato-Ostflanke hebt das bestehende Missverhältnis noch immer nicht auf. Gut 80 Prozent der amerikanischen Truppen sind nach wie vor in westeuropäischen Ländern stationiert, die einen russischen Angriff am wenigsten zu befürchten haben.

Nato- und US-Army-Stützpunkte in Polen.

Warum hat sich an diesem Missverhältnis, trotz der wachsenden Bedrohung durch Russland im Laufe der Jahre, nichts geändert? Das entscheidende Übergewicht der amerikanischen Truppenpräsenz in Deutschland oder Italien lässt sich nicht mehr allein mit historischen Gründen erklären. Und wenn Washington noch vor zehn oder gar fünf Jahren zögerte, das US-Militärkontingent in Polen und in den baltischen Staaten erheblich (nicht nur symbolisch) zu erhöhen, so ist heute jegliche „Vorsicht“ in dieser Angelegenheit einfach nicht mehr zeitgemäß.

Wenn es so gut ist…

Doch kann man von Vorsicht sprechen, wo sich doch die militärische Präsenz der USA in Mittel- und Osteuropa allein seit Januar 2022 mehr als verdoppelt hat? Sind Zweifel angesagt, wenn neben den Amerikanern die Ostflanke durch die Anwesenheit von fast 10.000 NATO-Soldaten aus anderen Mitgliedstaaten zusätzlich verstärkt wird?

Warum sollte man sich auf den leeren Teil des Glases konzentrieren, wenn die Amerikaner, ungeachtet der weiteren Verstärkung ihrer ständigen Brigaden in Deutschland und Italien, gleichzeitig eine Luftlandebrigade in Polen und zwei gepanzerte Brigaden mit Raketenartillerieunterstützung, aufgeteilt auf Deutschland, Polen und Litauen, aufgestellt haben?

US-Präsident Joe Biden mit Soldaten der 82. Luftlandedivision bei seinem Besuch in Polen am 25. März 2022.

Gibt es Gründe sich zu beschweren, wenn wir sogar von der Verlegung amerikanischer Streitkräfte aus Deutschland profitiert haben? Die Amerikaner haben zwei Patriot-Raketen-Batterien von Deutschland nach Polen gebracht, 1.000 Soldaten wurden nach Rumänien verlegt und gleichzeitig sind mehrere Hundert amerikanische Soldaten von Italien in die baltischen Staaten geschickt worden.

Hinzu kommen zahlreiche amerikanische Übungen gemeinsam mit polnischen Truppen und die Verstärkung der Luftpatrouillen in der gesamten Region. Ist das nicht genug, um gut zu schlafen und keinen Angriff aus Russland zu befürchten?

Schwäche in der Stärke?

Die Antwort finden wir in den Zahlen und in den Erklärungen der amerikanischen Regierung. Um es klar zu sagen: 20.000 amerikanische Soldaten in Polen, von denen die meisten, und das ist wichtig, nicht in der Nähe der Ostgrenze stationiert sind, reichen nicht aus, um Russland abzuschrecken. Denn es geht um Abschreckung und nicht darum, einen Angriff hinzunehmen in der Hoffnung, dass die polnische Armee mit Unterstützung der Verbündeten den Gegner besiegt. Die furchtbaren Zerstörungen und die russischen Verbrechen in der Ukraine sprechen eine deutliche Sprache.

Zweitens gibt es immer noch kein klares Signal aus Washington, dass die Stützpunkte, die in Polen eingerichtet werden, auf Dauer bestehen bleiben werden, so wie in Deutschland. Bislang beschränken sich die Erklärungen von Leuten aus dem Umfeld von Joe Biden (und davor Donald Trump) eher auf Aussagen, dass alle jüngsten Verlegungen von US-Truppen nach Europa nur vorübergehend seien, um „die Verbündeten zu beruhigen“.

In diesen Erklärungen ist Schwäche erkennbar: Das Ziel ist die „Beruhigung“ der Länder an der Ostflanke der NATO. Und das ist definitiv etwas anderes als die echte Abschreckung eines Aggressors.

Die Maßnahmen der Amerikaner mögen uns zwar „beruhigen“, aber in Wirklichkeit ändern sie nicht viel an der Verteidigungsfähigkeit, geschweige denn an der Abschreckung. Die erwähnte Verlegung von ein paar Hundert Soldaten aus Italien in die baltischen Staaten mutet wie ein Scherz an.

Dabei haben die in den letzten Jahren von führenden europäischen und US-amerikanischen Think Tanks veröffentlichten Berichte deutlich gezeigt, dass Litauen, Lettland und Estland im Falle eines Angriffs sehr lange auf starke Unterstützung durch die Verbündeten warten müssten, um diesen erfolgreich abwehren zu können.

US-Interessen

Auch wenn die Situation in Polen theoretisch etwas besser zu sein scheint, fehlt es an den verwundbarsten Stellen an einer wirklichen Abschreckungsstreitmacht. Es ist schwer zu verstehen, warum die sogenannte Suwałki-Lücke, deren Besetzung es den Russen ermöglichen würde, von weißrussischem Territorium aus eine Verbindung nach Kaliningrad herzustellen, heute nicht zu den am besten geschützten Gebieten in Europa gehört, obwohl die Nato in ihren eigenen Analysen diese Region als eine der sensibelsten der Welt bezeichnet.

Um es unverblümt zu sagen: Wenn amerikanische Truppen wirklich eine abschreckende Wirkung auf den Feind haben sollen, dann müssten 100.000 Soldaten der US-Armee heute nicht über ganz Europa verstreut sein, mit dem Schwerpunkt im sicheren Deutschland oder Italien, sondern sie müssten entlang der östlichen Nato-Grenze von Estland über Polen bis Rumänien stehen. Und im „alten“ Europa müsste es zusätzliche 50.000 Mann geben.

Solche Größenverhältnisse sind sinnvoll. Nicht nur für die polnische Sicherheit. Schließlich haben auch die Amerikaner ein Interesse daran, dass Europa nicht noch einmal zum Schauplatz eines Weltkrieges wird. Es liegt ebenso im Interesse der USA, dass die amerikanische Luft- und Seeverteidigung Orte wie z. B. das Flüssiggas-Terminal in Świnoujście/Swinemünde schützt, das unter anderem mit Gas aus den USA beliefert wird.

Auf wessen Kosten?

Auf dem Nato-Gipfel in Madrid am 29. und 30. Juni 2022 haben sich die Amerikaner durchgerungen zu verkünden, dass die Kommandozentrale des V. US-Korps, das die amerikanischen Streitkräfte an der Nato-Ostflanke befehligen soll, dauerhaft in Polen stationiert wird. Die in Polen angesiedelten US-Truppen sollen jedoch wie bisher weiterhin regelmäßig ausgetauscht werden.

Polen wird also weiterhin nichts anderes übrig bleiben, als auf die Amerikaner einzuwirken, damit sie endlich ständige US-Militärstützpunkte im Land einrichten. Natürlich gibt es hier viele Probleme, denen das Weiße Haus Rechnung tragen muss. Die logistische Herausforderung wäre enorm. Es müssten bedeutende Truppenkontingente von Deutschland nach Polen verlegt werden. Dabei ist zu bedenken, dass es sich um eine Aufgabe handelt, die nicht nur die Soldaten, sondern auch deren Familien betrifft und somit die Errichtung einer enormen Infrastruktur erfordert.

Amerikanische Soldaten in Krakau.

Polen müsste in diesem Fall einen erheblichen finanziellen Beitrag leisten. Südkorea und Japan zahlen für die Anwesenheit amerikanischer Soldaten enorme Summen. In Polen herrscht diesbezüglich die Meinung vor, dass die Aufrechterhaltung ständiger US-Stützpunkte auf polnischem Territorium eine gute Investition in die Sicherheit darstellt, ebenso wie der Kauf von modernster Waffentechnik.

Atomwaffen an der Weichsel?

Vieles hängt davon ab, wie sich die Lage an der Frontlinie des russischen Krieges gegen die Ukraine entwickelt. Vielleicht werden die Amerikaner beschließen, dass es ausreicht, die Ukrainer schwer zu bewaffnen und Russland weiterhin mit Sanktionen zu schwächen, um die Gefahr einer Ausbreitung des Krieges auf ganz Europa wirksam hinauszuschieben. Und dann wäre das Thema ständiger US-Stützpunkte in Polen auch in den Vereinigten Staaten vom Tisch.

Das jedoch, würde das Problem lediglich verschieben. Denn selbst wenn es den Ukrainern gelingen sollte, den Aggressor zu vertreiben, denkt im Westen niemand an eine echte Niederlage Russlands. Und das bedeutet, dass das Problem Russland in den nächsten Jahren und Jahrzehnten wachsen wird. Es könnte ein weiterer Krieg drohen. Die Ukrainer mögen für Europa ein paar Jahre Frieden erkämpfen, aber bei der strategischen Planung denkt man Jahrzehnte voraus.

Das erfordert eine Neudefinition der amerikanischen Präsenz in Europa, ständige Stützpunkte in Litauen, Polen oder Rumänien. Atomwaffen auf polnischem Gebiet? Das ist keine Science-Fiction mehr, sondern ein Szenario, das von militärischen und politischen Strategen ernsthaft in Betracht gezogen werden muss. Und vieles deutet darauf hin, dass solche Überlegungen eine gute Chance haben, in die Tat umgesetzt zu werden.

@ RdP




9.08.2022. Wie der gute Wolfgang Schäuble Polen zu zähmen gedenkt

Im Prinzip lag Wolfgang Schäuble richtig und doch lag er falsch, als er vor Kurzem in einem „Welt am Sonntag“-Interview sagte: „Polen muss endlich als gleichberechtigter und gleich wichtiger Mitgliedsstaat wie Frankreich und Deutschland in die Führungsrolle der europäischen Integration aufgenommen werden. Polen sollte so schnell wie möglich so behandelt werden, das hat es immer verdient. Diese Chance dürfen wir uns nicht entgehen lassen.“

Wolfgang Schäuble ist kein mächtiger Innen- bzw. Finanzminister und kein Bundestagspräsident mehr, er ist heute ein MdB und ein Oppositionspolitiker, dessen Ruhestand kurz bevorsteht. Doch er genießt Ansehen, weil sich seine persönlichen Überzeugungen, Maßstäbe, Wertvorstellungen und seine Charakterstärke stets in seinem Verhalten ausdrücken. Integre Persönlichkeiten, wie Schäuble, die oft gegen den Strom andenken und Debatten mit gesundem Menschenverstand bereichern, sind rar geworden in der europäischen Politik. Deswegen hört man auch heute noch mit Interesse hin, was er zu sagen hat.

Das Interview ist am 23. Juli 2022 erschienen, aber dieses Mal verhallten Schäubles Worte ohne Echo. Die Ansicht, dass die politische Architektur Europas von den drei großen Ländern in dessen Mitte: Deutschland, Frankreich und Polen getragen werden sollte, ist zwar nicht neu, aber inzwischen fast völlig in Vergessenheit geraten. Das 1991 gegründete, fruchtlose Weimarer Dreieck, ein loses Gesprächs- und Konsultationsforum der drei Staaten zur Stärkung der europäischen Integration, wurde auf dieser Idee aufgebaut.

Doch angenommen, das Angebot käme von offizieller Seite aus Paris und Berlin, und das heutige Polen würde dieses Angebot ernst nehmen? Das müsste bedeuten, dass Polen die europäische Politik mitgestaltet und dass seine Vorstellungen in dieser europäischen Politik einen angemessenen Platz finden würden, so wie die französischen und die deutschen. Als Frankreich mit seinen vielen AKWs die Kernenergie als nachhaltig eingestuft haben wollte, wurde Paris dieser Wunsch erfüllt. Ebenso im Bereich des Urheberrechts haben die Franzosen von der EU das bekommen, was sie wollten.

Die polnischen Anschauungen sind sattsam bekannt: härtester Widerstand gegen den russischen Neoimperialismus, eine auf christlichen Werten basierende EU, eine klare Abgrenzung der Kompetenzen zwischen EU-Institutionen und den Mitgliedsstaaten, eine Einschränkung der Zuständigkeiten von EU-Institutionen, Gleichheit der Mitgliedsstaaten vor dem Gesetz, ein Verbot der Einmischung der Europäischen Kommission in Bereiche, die in den Verträgen eindeutig und allein den Nationalstaaten vorbehalten sind, wie Justiz, Familie oder Kultur. Eine Neubewertung der Energiepolitik, eine kritische Überarbeitung des Green Deal, Beibehaltung der fossilen Energieerzeugung.

So sollte eine echte Beteiligung Polens an der Führung der EU aussehen. Warschau würde ein solches Angebot sicher nicht ablehnen. Es will Einfluss auf die europäische Politik nehmen, Europa mitgestalten.

Nur ist leider zu befürchten, dass Wolfgang Schäuble etwas anderes im Sinn hatte. Er schlug genau das vor, was im Weimarer Dreieck geschah. Ja, tretet bei, aber ihr müsst tun und sagen, was wir wollen. Unser Auf-die-Schulter-Klopfen ist euch gewiss, aber Sonderwünsche sind unerwünscht.

Wie damals, als Polen vorgeschlagen hatte, sich am Bau eines neuen europäischen Panzers zu beteiligen. Es wurde abgelehnt. Oder als es gefordert hat, Nord Stream 1 und dann Nord Stream 2 aufzugeben. Es wurde nicht beachtet. Oder als es mahnte, dass der fast sofortige Verzicht auf Kohle und Atomstrom zugunsten von Wind, Sonne und russischem Erdgas gefährlich sei. Man hat es überhört.

Das Problem liegt also nicht bei Polen. Schäubles Angebot, so ist zu befürchten, bedeutet keine echte Partnerschaft. Es ist der Versuch, ein Land, das sich gegen die Verwandlung der EU in einen föderalen Staat sperrt, auf eine andere Art zu zähmen als normalerweise üblich: mit Abmahnungen, Drohungen und Geldentzug.

Oder glaubt jemand im Ernst, dass man in Berlin, Paris oder Brüssel bereit wäre, sich aufrichtig auf eine von Polen gewünschte Diskussion über eine EU, die auch christliche Werte respektiert, einzulassen? Schwer vorstellbar in einer Zeit, in der sich das Europäische Parlament und die EU-Kommission bemühen, die Tötung ungeborener Kinder als ein „Menschenrecht“ auszulegen, die immer weiter um sich greifende und enthemmte Euthanasiepraxis in Holland und Belgien stillschweigend als richtungsweisend befürworten, ebenso wie die Begleitung beim Selbstmord. Die Zivilisation des Todes kommt in die EU-Fahne gehüllt daher.

Diskutieren über ein Europa der Vaterländer? Wie soll das geschehen, wenn der aktuelle deutsche Koaltionsvertrag die Verwandlung der EU in einen europäischen Bundesstaat zwingend vorschreibt?

Sich ernsthaft aussprechen über freiwillige und nicht erzwungene Solidarität? In einer Zeit, in der die EU-Kommission, sobald Deutschland, durch eigenes Verschulden („Wir schaffen das“ 2015 und Putins Gasstop 2022), in Bedrängnis gerät, sofort zu Zwangsmaßnahmen bei der Migrantenverteilung und beim Gassparen greift, ohne auch nur nachzufragen,?

Die Polen haben ein Beispiel für echte Solidarität mit Millionen von tatsächlichen Kriegsflüchtlingen aus der Ukraine gegeben. Niemand musste sie dazu zwingen. Das Land hat auch gezeigt, dass es bereit ist, seine Sicherheit zu riskieren, indem es der Ukraine uneingeschränkt mit eigenen Waffenlieferungen hilft und sein Territorium für den Waffentransit aus der ganzen Welt zur Verfügung stellt.

Es wäre gut, wenn eine solche Haltung, ein solches Politikverständnis, zu einem Grundsatz der europäischen Politik würde. Zweifellos wäre die EU dann in einem besseren Zustand.

RdP




1.08.2022. Führungsmacht Deutschland sollte sich schonen

Jahrzehntelang haben sich Frankreich und Deutschland als die natürlichen Führer der europäischen Integration betrachtet. Um diese Stellung zu behaupten, haben sie sich oft einer Politik bedient, die die Mitsprache und Mitwirkung der Vereinigten Staaten in europäischen Belangen in Frage stellte, und es wurden enge wirtschaftliche Allianzen mit Russland und China geschmiedet.

Nach dem Überfall Russlands auf die Ukraine ist der Glaubwürdigkeitsverlust der beiden Staaten zu einem wichtigen Bestandteil der europäischen Politik geworden. Sie haben, unbekümmert um die russsische Gefahr, nach 2008, also seit dem russischen Angriff auf Georgien, die EU-Sicherheits- und Energiepolitik geprägt. Die Folgen sind, wie wir es gerade erleben, katastrophal: für Europa und für die beiden Staaten selbst.

Wie wird das heute in Berlin wahrgenommen? Von echter Demut ist kaum eine Spur erkennbar. Man übt sich in Selbstmitleid, behauptet stets das Beste gewollt zu haben, gibt sich bemitleidenswert ahnungslos und hintergangen und flüchtet sich in liebgewonnene, aufgewärmte Wunschträume, will das Ruder nicht aus der Hand geben.

So Bundeskanzler Olaf Scholz in seinem kürzlich erschienenen Artikel in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“. Nach der bewährten deutschen „kohl-merkelschen“ Methode: Einsicht vortäuschen, im Kern hart bleiben, aussitzen und möglichst weitermachen wie bisher, tut Scholz so, als wäre nichts gewesen.

Er will die EU „festigen, effizienter machen“. Doch die Gedanken an eine strategische Souveränität der EU, an Sicherheitsgarantien aus Paris und Berlin oder der Vorschlag, die Einstimmigkeit in der europäischen Sicherheitspolitik durch Mehrheitsentscheidungen zu ersetzen und so das französisch-deutsche Entscheidungsmonopol zu stählen, klingen heute aus dem Munde eines deutschen Politikers wie ein schlechter Scherz. Niemand in Polen und in ganz Mittel- und Osteuropa sollte sich davon täuschen lassen.

Ohne Glaubwürdigkeit gibt es keine echte Führung. Und es dauert Jahre, bis die verlorene Glaubwürdigkeit wiederhergestellt ist.

Deutschland steht diesbezüglich heute ein langer Weg bevor. Mindestens drei Dinge sind dafür notwendig: Erstens eine ehrliche Analyse der eigenen Fehler, allen voran des Nord Stream-Projektes. Zweitens der Wiederaufbau der eigenen militärischen Fähigkeiten. Eine schlagfertige Bundeswehr muss ein fester Bestandteil der Verteidigung der Ostflanke der NATO sein und den Verdacht ausräumen, im Ernstfall den Russen lieber eine gemeinsame Therapie in „Konfliktmanagement und Deeskalation“ anzubieten. Drittens, eine echte Wende in der Energieabhängigkeit der deutschen Wirtschaft von Russland. Ohne diese Voraussetzungen kann man nicht von der Glaubwürdigkeit der deutschen Politik in Europa sprechen.

Ein vierter Punkt kommt inzwischen hinzu. Die Schwankungen der deutschen Politik im Ukraine-Krieg zwischen bombastischen Versprechungen („Zeitenwende“) und einer Wirklichkeit, die von mehr als schleppenden Waffenlieferungen, geplatzten „Ringtauschen“, Scholz-Putin Telefonaten und mit aller Konsequenz durchgesetzten Sanktionsaufweichungen zu Gunsten Russlands (Beispiel: Transit nach Kaliningrad) geprägt wird, untergraben diese Glaubwürdigkeit noch weiter.

Und leider kann man mit jedem weiteren, raren, Medienauftritt von Altkanzlerin Angela Merkel sehen, wie die Chancen deutscher Politiker, die Fehler in den Beziehungen zu Russland ehrlich aufzuarbeiten, schwinden.

Wir in Polen können das nur zur Kenntnis nehmen und versuchen daraus unsere Schlüsse zu ziehen. Der wichtigste ist: Es ist an der Zeit, das paternalistische Modell der EU, die französisch-deutsche Bevormundung, auch „Führung“ genannt, die, europäisch verpackt, vor allem der Pflege eigener Interessen dient, abzulegen. Sein Fortbestehen wäre fatal.

Der Niedergang dieser Art von Führung, den wir gerade erleben, wird unweigerlich zu einem neuen Kräftemessen zwischen den Mitgliedstaaten der EU führen. Eine demokratischere EU der Nationalstaaten sollte das Resultat sein.

RdP




Leistungsstark, sicher, umstritten. Abrams-Panzer für Polen

Werden die US-Riesen die Sicherheit des Landes ausreichend stärken?

 In der Wüste hat er sich bewährt. Wird er sich in Ostpolen bewähren? Der Abrams übertrifft, zumindest auf dem Papier, die russischen Panzer um Längen.

Lesenswert auch: „Haubitzen, Kampfjets, Panzer. Polens Jahrhundertkauf in Südkorea“ 

Die erste Lieferung von 28 Geräten soll noch in diesem Jahr in Polen eintreffen. Es werden Schulungspanzer sein. Anschließend sollen nach und nach 220 vollwertige Kampfpanzer geliefert werden. Der Auftrag im Wert von über 23 Milliarden Zloty (gut 5 Milliarden Euro) soll bis 2026 abgeschlossen sein. Danach wird die polnische Armee mit einem der modernsten Panzer ausgestattet sein, die es heute gibt. Das heißt aber nicht, dass der Abrams nur Vorzüge hat.

Der Name des Panzers erinnert an General Creighton Abrams, der im Zweiten Weltkrieg ein Panzerbataillon und gut zwanzig Jahre später das gesamte amerikanische Truppenkontingent in Vietnam befehligte. Das Fahrzeug wurde von der Firma Chrysler Defense entwickelt, die später von General Dynamics übernommen und in General Dynamics Land Systems umbenannt wurde. Die Konstruktion entstand bereits in den 1970er-Jahren, die Serienproduktion begann 1980. Anfangs war die Leistung des Panzers seinen europäischen Konkurrenten unterlegen, doch später wurde das Kampffahrzeug wiederholt verbessert. Insgesamt gibt es inzwischen mehr als ein Dutzend Abrams-Versionen. Über zehntausend Stück wurden produziert.

Außer in den Vereinigten Staaten werden sie von den Armeen Marokkos, Kuwaits, Iraks, Ägyptens, Australiens, Saudi-Arabiens und bald auch Taiwans eingesetzt. Die Amerikaner nutzen sie in Europa, u. a. auch in ihrem Stützpunkt in Powidz, ungefähr einhundert Kilometer östlich von Poznań/Posen. Polen wird das neueste Modell, die M1A2 SEP v3, erhalten, das 2020 in Dienst gestellt wurde.

Schwer zu knacken

Ende der 1980er-Jahre war unklar, ob der Abrams auf dem modernen Schlachtfeld noch etwas ausrichten kann. Dann hat er sich jedoch während der Befreiung Kuwaits zwischen Januar und März 1991 (Operation Wüstensturm) sehr gut bewährt und war dem T-72 aus der Sowjetzeit, der von den Irakern eingesetzt wurde, haushoch überlegen. Die geringen Verluste gaben Anlass zu Optimismus. Nach Angaben des Rüstungs-Fachportals Defence24 wurden von den 1.800 M1, die damals in den Kampf fuhren, nur 23 zerstört oder schwer beschädigt, zwei davon von den eigenen Besatzungen, um zu verhindern, dass die Fahrzeuge in feindliche Hände fallen.

Im Dritten Golfkrieg, gegen Saddam Hussein, im Frühjahr 2003 erwies sich der Abrams erneut als schwer zerstörbar. Bis 2005 waren 1.100 dieser Panzer im Irak im Einsatz. Siebenhundert von ihnen wurden getroffen, aber im Allgemeinen entstanden minimale Schäden. Nur achtzig mussten in den Vereinigten Staaten überholt werden.

Nach dem Krieg rüsteten die Amerikaner die neue irakische Armee mit Abrams-Panzern aus. Bei den Kämpfen gegen den Islamischen Staat verloren die Iraker über fünfzehn von ihnen. Etliche weitere wurden von den Dschihadisten erbeutet und dann gegen die irakische Armee eingesetzt. Nun waren es die Amerikaner, die mit der Jagd auf den Abrams aus der Luft begannen und viele zerstörten.

Nach 2015 kam er im Krieg im Jemen durch die saudi-arabische Armee zum Einsatz. Hier wurden durch die Huthi-Rebellen mindestens dreiundzwanzig Panzer außer Gefecht gesetzt. Nach offiziellen Angaben wurden in all den erwähnten Konflikten nur fünfzig bis sechzig Abrams vollständig zerstört. In Wirklichkeit waren die Verluste höher, denn einige Maschinen, die lediglich als beschädigt eingestuft wurden, mussten fast von Grund auf neu gebaut werden. Ausgerechnet russische Granatwerfer, darunter die uralte Kornet und der noch ältere RPG-29, können den amerikanischen Panzern etwas anhaben.

Auf den ersten Blick

Dennoch ist der Abrams auf den ersten Blick ein sehr guter, wenn nicht der beste Panzer der Welt. Sehr wenige Schwachstellen, ein allgemein gelungenes Konstruktionssystem mit isolierten Magazinen zur sicheren Aufbewahrung der Munition, dicke Kammern der Spezialpanzerung und in der Version M1A2 SEP v.3, die Polen erwerben will, auch die modernsten Lösungen im Bereich der zur Panzerung verwendeten Materialien (NGAP-Verbundpanzerung), ein verbessertes Feuerleitsystem (SKO) und ein Hilfsenergiesystem. Diese und andere Vorteile ließen sich lange aufzählen.

Verteidigungsminister Mariusz Błaszczak und der stellv. Ministerpräsident Jarosław Kaczyński bei der Verkündung der Entscheidung, Abrams-Panzer für die polnische Armee zu kaufen, in der 1. Warschauer Panzerbrigade in Wesoła bei Warschau am 14. Juli 2021.

In der Kabine ist Platz für vier Soldaten. Die Hauptbewaffnung ist eine 120-mm-Kanone aus deutscher Produktion. Sie kann u. a. mit Panzerabwehrraketen aus abgereichertem Uran und Munition für den Abschuss von Tieffliegern bestückt werden. Kleinere Ziele werden mit Kanonen des Kalibers 12,7 mm oder 7,62 mm und einer ferngesteuerten Kanone, die zum TUSK-Set für den Stadtkampf gehört, beschossen.

Vorerst wird der polnische Abrams nicht mit einem aktiven Schutzsystem ausgestattet, aber die Armeeführung erwägt die Anschaffung. Hier könnten das israelische Trophy oder das amerikanische MAPS-System zum Einsatz kommen. Das Gefechtsführungssystem, die sogenannte Joint Battle Command Platform, gilt als sehr modern, und die Kommunikation der Abrams soll mit dem polnischen System Jaśmin synchronisiert werden.

Wie General Maciej Jabłoński, Inspekteur der Bodentruppen im Generalkommando der Streitkräfte, in einem Interview mit der Monatszeitschrift „Polska Zbrojna“ („Bewaffnetes Polen“) betonte, schätzt die NATO das Potenzial des Abrams im Vergleich mit dem in Russland beliebten T-80, der sich heute in der Ukraine im Einsatz befindet, als doppelt so hoch ein.

Ein Nichtschwimmer

Einer der größten Nachteile des Abrams ist sein Gewicht von mehr als 60, bei einigen Modellen sogar bis zu 70 Tonnen. Das ist der Preis einer soliden Panzerung. Zum Vergleich: Russische Panzer wiegen nicht mehr als 45 Tonnen.

Leopard-Panzer der polnischen Armee.

In der Wüste kann ein Panzer schwer sein. In dem von Flüssen durchzogenen Mitteleuropa ist das anders. Viele polnische Brücken halten nicht einmal dem Gewicht des Leopard stand, der ohnehin etwas leichter ist als der Abrams. Außerdem kann der deutsche Panzer, ebenso wie die russischen, über den Grund eines Flusses fahren. Der amerikanische Konkurrent benötigt schon eine spezielle Ausrüstung, um bis auf die Höhe der Einstiegsluken abtauchen zu können.

Daher würde er bei Einsätzen im Nordosten Polens, dem Ausgangspunkt eines möglichen Konflikts mit Russland und Weißrussland, nicht von Nutzen sein. Das russische Gerät würde es ebenfalls in den Unwägbarkeiten Masurens und der Suwałki-Seenplatte nicht leicht haben, aber auf die Abrams würde es wahrscheinlich erst im Vorfeld von Warschau stoßen.

Ein weiterer Nachteil des M1 ist der Kraftstoffverbrauch. Er kann mit Diesel, Flugbenzin JP-8 oder niederoktanigem Benzin angetrieben werden. Für 100 Kilometer benötigt er fast 150 Liter Öl. Der Leopard braucht nur 70 Liter, der polnische PT-91 50 Liter. Der Abrams kann mit einer Betankung 420 Kilometer weit fahren, in schwierigem Gelände sogar nur 150 Kilometer. Die Motorleistung unterscheidet sich nicht von den Möglichkeiten der modernen Konkurrenz. Er hat 1.500 PS und erreicht damit eine Geschwindigkeit von 70 km/h in leichtem Gelände und weniger als 50 km/h in ungünstigerem Terrain. Ein Vorteil ist seine gute Beschleunigung.

Die Art und Weise, wie die Munition in die Bordkanone geladen wird, hat Vor- und Nachteile. Während viele Hersteller den Vorgang automatisiert haben, setzen die Amerikaner bis heute auf die manuelle Beladung. Die Feuerrate des Panzers beträgt maximal zwölf Schuss pro Minute, realistisch sind etwa neun.

Die Russen verwenden einen Mechanismus, bei dem die Granaten im Turm wie die Speichen eines Rades angeordnet sind. Die Besatzungen zahlen jedoch einen hohen Preis für diesen Komfort. Wird der Turm getroffen, explodieren die Geschosse, töten alle und zerstören den Panzer vollständig. Beim Leopard befindet sich die Geschützmunition teilweise in abgeschotteten Magazinen, beim Abrams vollständig. Nur die Besatzungen der Abrams haben dadurch gute Chancen, den Treffer in den Munitionsvorrat zu überleben.

Eile ist ratsam

Wie bei der Bundeswehr zu Zeiten des Kalten Krieges soll in Polen eine bewegliche und kampfstarke Vorwärtsverteidigung durch Panzer eine russische Attacke bereits in Grenznähe abfangen. Das jenseits der Grenze liegende Weißrussland ist hierbei in der polnischen Wahrnehmung ausschließlich das perfekte Einfallstor für den Gegner.

Bei der Wahl eines Panzers für die Armee musste Polen jahrelange Vernachlässigungen ausgleichen. Zu Beginn des Jahrhunderts verfügten die polnischen Streitkräfte über 1.500 Panzer, doch ein großer Teil davon waren sowjetische T-55, die an die Zeit von Chruschtschow erinnerten und entsorgt werden mussten.

Später wurden deutsche Leopard gekauft, aber ansonsten passierte nicht viel. Heute verfügt die Armee über 250 Panzer aus Deutschland, die recht gut sind, aber modernisiert werden müssen, was nur sehr langsam geschieht. Darüber hinaus gab es bis vor Kurzem etwas weniger als dreihundert T-72, die allesamt der Ukraine übergeben wurden. Außerdem gibt es 230 Stück der in Polen modifizierten Version des T-72, die als PT-91 Twardy bekannt ist.

Der PT-91 Twardy, eine in Polen modifizierte Version des sowjetischen T-72.

Panzer ähnlicher Kategorie wie der des Abrams, die heute weltweit produziert werden, sind der koreanische K2, die neueste Version des Leopard, der britische Challenger 3 und der russische T14 Armata (letzterer wird noch nicht in Serie produziert). Neben dem Kauf neuer Maschinen wurde auch erwogen, die polnischen Geräte durch einheimische Ingenieure modernisieren zu lassen oder sogar eine eigene Konstruktion zu entwickeln.

Kritiker der Entscheidung, Abrams zu kaufen, weisen darauf hin, dass die polnische Rüstungsindustrie nichts von diesem Kauf haben wird, außer vielleicht der Möglichkeit, eigene Munition zu entwickeln. Polen erhält von den Amerikanern fertige Fahrzeuge und die Amerikaner werden diese auch warten.

Die Pläne für den Bau eines polnischen Panzers kann man getrost vergessen, denn wenn erst einmal 23 Milliarden Zloty für den amerikanischen Panzer ausgegeben sind, wird es schwierig sein, weiteres Geld für einen ähnlichen Zweck zu beschaffen. Die Entscheidung über den Kauf wurde durch die Situation hinter der polnischen Ostgrenze beschleunigt. Ein eigenes polnisches Programm würde sich über Jahre erstrecken. Derweil können Panzer schon bald benötigt werden.

Lesenswert auch: „Haubitzen, Kampfjets, Panzer. Polens Jahrhundertkauf un Südkorea“

@ RdP

 




26.07.2022. »Schmuddelkind« Polen bleibt bei der Kohle

Dieses Ereignis darf man, gerade aus polnischer Sicht, nicht einfach so, kommentarlos verstreichen lassen. Angesichts der von Putin ausgelösten Energiekrise und der Befürchtung von Engpässen bei der Gasversorgung besinnen sich Deutschland, Holland, Österreich, die größten Eiferer des Klimatismus, der Kohle.

Ja, sagen sie, das ist aus klimapolitischer Sicht schmerzhaft, aber notwendig. Schließlich können wir nicht riskieren, unsere Industrie zu beschädigen, wir können keinen wirtschaftlichen Zusammenbruch, keinen sinkenden Lebensstandard, keinen Winter ohne Heizung hinnehmen.

Es ist eine verständliche Haltung. Als jedoch Polen, wo immer noch drei Viertel der Energie aus Stein- und Braunkohle gewonnen werden, jahrelang das Argument der Kosten der Energiewende vorbrachte, wurde nur mit den Schultern gezuckt. „Das ist euer Problem“, hieß es, und es wurde die Nase gerümpft. „Nehmt euch ein Beispiel an uns. Kaum Kohle, kaum Kernkraft. Bald werden wir unsere Wirtschaft, die drittgrößte der Welt, nur noch klimaschonend mit Wind, Sonne und russischem Erdgas am Laufen halten“, tönte es aus Deutschland.

Die Schrittmacher des Klimatismus hörten nicht hin, als sie aus Polen darauf hingewiesen wurden, dass das nicht so einfach geht, dass die Wirtschaft zusammenzubrechen und die Lebenshaltungskosten in die Höhe zu schießen drohen. Das „Kohle-Schmuddelkind“ Polen wurde von seinen europäischen Erziehern in die Ecke geschickt und sollte sich schämen. Seine Probleme waren nicht ihre Probleme und so sahen die Klimaverfechter keine Notwendigkeit, die Energiewende zu verlangsamen, um sie mit den tatsächlichen Möglichkeiten der einzelnen Länder in Einklang zu bringen. Es galt das Prinzip: Am liebsten CO2-Nullemission, sofort!

Doch in Wirklichkeit geht es hier um viel mehr, um ein grundsätzliches Problem. Ob Klimapolitik, Genderismus, Asyl- und Flüchtlingspolitik oder Energie. Es ist der Westen, mit Deutschland an der Spitze, der in all diesen Fragen, in seinem Sinne, „die europäischen Interessen und Werte“ vorgibt. Anschließend werden sie an die ohnehin durch die westlichen Staaten beherrschten EU-Institutionen „weitergegeben“.

Diese wiederum, gut geübt in der Finanzpolitik von „Zuckerbrot und Peitsche“, zwingen die „Neuerungen“ allen anderen Mitgliedern der „Gemeinschaft“, als die angeblich „gemeinsame und notwendige »europäische« Position“, auf. Sie setzen sich dabei, wenn nötig, rücksichtslos durch, indem sie den ärmeren, oft von EU-Geldern abhängigen Nationen, solche Lasten wie den Emissionshandel mit seinen horrend teuren CO2-Zertifikaten aufbürden.

Wenn aber plötzlich den Klimavorreitern, wie Deutschland, das Wasser bis zum Halse steht, dann stehen all die angeblich noch so unumstößlichen EU-Prinzipien der Klimapolitik sofort zur Disposition. Ohne auch nur anstandshalber in Brüssel nachzufragen, baut Deutschland holterdiepolter Flüssiggasterminals in Stade und Lubmin, wo das noch vor Kurzem so verfemte amerikanische Fracking-Gas angeliefert werden soll. Die geradezu diabolisierte Kernkraft, die verpönte Braun- und Steinkohle werden wieder kleinlaut zugelassen. Legionen von Klimaaktivisten, auch die Fanatiker, die sich aufopferungsvoll auf den Autobahnen festkleben, erkennen, wie naiv sie waren, und fühlen sich für dumm verkauft.

Deswegen muss man den Augenblick, in dem die Masken so unmissverständlich fallen, unbedingt festhalten. Auch, um sich in der Zukunft vom Sofortismus und der Hysterie der Klimaideologen nicht mehr einschüchtern zu lassen.

Kohle ist und bleibt eine wertvolle Energiequelle. Sie kann schon heute, dank modernster Technologien, äußerst umweltschonend verstromt werden. Polen mit seinen enormen Kohlevorkommen darf sich in Zukunft kein zweites Mal den Verzicht auf Kohle in einem für das Land desaströsen Hauruckverfahren aufdrängen lassen.

Erneuerbare Energien, die heute bereits etwa 18 Prozent des polnischen Energiemixes ausmachen, sind gut, aber warme Wohnungen im Winter und funktionierende Industrieanlagen sind noch besser. Eile mit viel Weile, dieses Prinzip muss beim Umstieg auf erneuerbare Energien absoluten Vorrang haben.

Deshalb ist es einerseits notwendig, den polnischen Bergbau ständig zu modernisieren und zu schützen, und andererseits große Vorräte an Kohle bereitzuhalten, die in schwierigen Zeiten eingesetzt werden können. Der russische Überfall auf die Ukraine und seine Folgen bestätigen eine Binsenwahrheit: Was man hat, das hat man. Alles andere sind ideologische Wolkenschiebereien.

RdP




20.07.2022. Für Polen liegt Sri Lanka zwischen Brüssel und Amsterdam

Vor einigen Tagen gingen Bilder aus Colombo um die Welt, die zeigten, wie ein verzweifelter Mob den Palast von Präsident Gotabaya Rajapaksa stürmte, dem es in letzter Minute gelang, mit dem Flugzeug auf die Malediven zu entkommen. In Sri Lanka herrscht Chaos. Die Inflation hat 54 Prozent überschritten, es gibt keinen Treibstoff an den Tankstellen, der Strom wird nur ab und an eingeschaltet, in den Geschäften fehlen Lebensmittel und in den Apotheken Medikamente. Der Staat hat Konkurs angemeldet, kann seine Schulden von mehr als 50 Milliarden Dollar nicht begleichen.

Bei der Beschreibung der Ereignisse in Sri Lanka wird in den Medien weltweit eine der Hauptursachen der derzeitigen Krise geflissentlich ausgelassen oder nur vage angesprochen. Es geht um die Entscheidung von Präsident Rajapaksa im Jahr 2019, Sri Lanka innerhalb von zehn Jahren zu einem der weltweit führenden Länder in der ökologischen Landwirtschaft zu machen. Rajapaksa hielt Wort: Im April 2021 verbot er die Einfuhr und den Gebrauch von chemischen Düngemitteln.

Das Ergebnis war dramatisch. Entgegen der Behauptung, dass mit ökologischen Methoden vergleichbare Erträge wie in der konventionellen Landwirtschaft erzielt werden können, ging die heimische Reiserzeugung in den ersten sechs Monaten um 20 Prozent zurück. Sri Lanka, das sich bis dato selbst mit Reis versorgen konnte, war gezwungen, Reis im Wert von 450 Millionen Dollar zu importieren. Die Inlandspreise für dieses Grundnahrungsmittel stiegen dadurch um etwa 50 Prozent.

Durch das Verbot wurde auch die Teeernte vernichtet, ein wichtiges Exportgut und damit eine wichtige Devisenquelle. Die aufgrund des Rückgangs der Teeproduktion verursachten wirtschaftlichen Verluste werden auf 425 Millionen Dollar geschätzt.

Vor dem Ausbruch der Pandemie war Sri Lanka stolz darauf, den Status eines halbwegs wohlhabenden Landes erreicht zu haben. Heute ist eine halbe Million Menschen wieder in die Armut abgestürzt. Die rasant ansteigende Inflation und die rapide Schwächung der Währung zwangen Sri Lanka, die Einfuhr von Lebensmitteln und Treibstoff einschneidend zu drosseln.

Obwohl die Insel im Indischen Ozean weit von uns entfernt liegt und ihre Wirtschaft sich von der europäischen unterscheidet, bringen die Erfahrungen des Landes wichtige Lehren mit sich.

Das ökologische Ziel, gesunde Lebensmittel zu erzeugen, ist an sich lobenswert. Das Problem beginnt, wenn dieses Ziel ohne Berücksichtigung der wirtschaftlichen und sozialen Realitäten umgesetzt wird. Wenn diese als unerheblich angesehen werden, weil sie ideologischen Annahmen im Wege stehen.

Vielleicht wäre die Verwirklichung des Planes zur Schaffung einer ökologischen Landwirtschaft in Sri Lanka möglich, aber er würde eine längere Übergangszeit und die Suche nach ebenso wirksamen, natürlichen Ersatzstoffen für Kunstdünger erfordern. Das ist bisher nicht gelungen. Stattdessen wurde ein ehrgeiziges Ziel rücksichtslos in Angriff genommen. Und ausgerechnet während der Wirtschaftskrise, die die Pandemie verursacht hat. Das musste mit einer Katastrophe enden.

Ein Vergleich mit dem New Green Deal, der von der Europäischen Kommission verbissen vorangetrieben wird, bietet sich an. Die geplanten oder bereits eingeleiteten brachialen Maßnahmen können in den Ländern Mittel- und Südeuropas zu einer echten wirtschaftlichen und sozialen Katastrophe führen. In Polen, einem bedeutenden Agrarproduzenten, werden sie mit Sorge und Zorn beobachtet und kommentiert.

Man könnte meinen, dass die Pandemie, die Inflation, der Krieg in der Ukraine und die Energieengpässe, die Europa inzwischen heftig zusetzen, Grund genug seien, den New Green Deal zu verschieben. Doch Frans Timmermans, der bei der EU-Kommission für das Programm „Fit for 55“ zuständig ist, hat nicht die Absicht, das Tempo zu drosseln.

Derweil zeigt die Entschlossenheit, mit der die holländische Regierung ihren radikalen „Stickstoffplan“ in die Tat umsetzt, dass der Zweck die Mittel heiligt, wie z. B. auch die Keulung von 30 Prozent des holländischen Viehbestandes, das Schießen auf protestierende Landwirte oder die Androhung der Zwangsenteignung derjenigen, die sich der Politik der Behörden widersetzen. Premierminister Mark Rutte scheint Präsident Gotabaya Rajapaksa in nichts nachzustehen.

Auch im Energiebereich geht die EU einen ähnlichen Weg wie Sri Lanka in der Landwirtschaft. Sie gibt bewährte und effiziente Methoden als umweltschädlich auf und ersetzt sie durch umweltfreundlichere, aber unerprobte und unsichere Versorgungssysteme. Sie tut das ohne ausreichende Übergangsfristen, in denen eine tragfähige Alternative zum aufgegebenen Modell hätte geschaffen werden können. Darüber hinaus führt sie radikale Veränderungen in einer denkbar ungeeigneten Zeit durch.

Wer weiß, ob Timmermans und Rutte nicht gut beraten sind, sich rechtzeitig um Fluchtflugzeuge zu kümmern.

RdP




Polens Territorialverteidigung, der Ukraine-Krieg, die Schlüsse

Gut aufgestellt, aber mit 32.000 Mann zu klein.

  Der Verteidigungskrieg in der Ukraine hat bewiesen, wie falsch es war, mathematischen Modellen zu vertrauen, die die Potenziale der Gegner berechnen und so den Verlauf eines Konflikts in Computersimulationen vorhersagen, sagt General Wiesław Kukuła, Kommandeur der Territorialen Verteidigungskräfte.

Oberst Wiesław Kukuła (Jahrgang 1972) wurde am 23. September 2016 zum Kommandeur der Territorialen Verteidigungskräfte berufen und nachfolgend im November 2016 zum Brigadegeneral, im August 2018 zum Divisionsgeneral und im November 2021 zum Waffengeneral befördert. Damit bekleidet Kukuła den zweithöchsten (nach dem Armeegeneral) Dienstgrad, zu dem ein Offizier der polnischen Armee in Friedenszeiten befördert werden kann. Der Rang ist mit dem Generalleutnant in anderen Nato-Staaten vergleichbar.

Wiesław Kukuła.

Kukuła ist Diplomingenieur für Fernmeldewesen (Studium an der Warschauer Militärtechnischen Akademie WAT) und stieg zwischen 1996 und 2016 vom Zugführer zum Kommandeur des Fallschirmjägerregiments 4101 auf. Während dieser Zeit leistete er Dienst beim polnischen Truppenkontingent im Irak (2003 – 2004), des Weiteren absolvierte er Nato- und US-Schulungen für Kommandeure von Spezialeinheiten.

Frage: Wie lauten Ihre wichtigsten Schlussfolgerungen mit Blick auf den Krieg in der Ukraine?

„Immer bereit, stets in der Nähe“. Truppen der Territorialen Verteidigung. Briefmarke von 2021.

General Wiesław Kukuła: Die erste, für mich sehr naheliegende, lautet: Wir konnten die Art und Weise, wie die Russische Föderation den Krieg führen wird, weitgehend vorhersagen. Die Annahmen, die dem Aufbau der Territorialen Verteidigungskräfte (TV) zugrunde lagen, haben sich somit als richtig erwiesen. Wir sehen in der Ukraine, dass ein solcher militärischer Verband, wie die TV, zusammen mit den operativen Truppen, den Feind wirksam abschrecken und zerstören kann, und zwar dadurch, dass er die Geländebedingungen genau kennt sowie spezifische Waffen, wie Panzerabwehrlenkraketen, schultergestützte Boden-Luft-Raketen oder Artillerie, nutzt.

Werden die Territorialen Verteidigungskräfte ihre eigene Artillerie haben?

Es ist dringend erforderlich, mit der Ausbildung von vorgeschobenen Beobachtern in den leichten Infanteriekompanien der TV zu beginnen. Sie sollen das Feuer der Artillerie lenken.

Wir arbeiten in den Territorialen Verteidigungsbrigaden an der Platzierung von Untereinheiten geschult für hochmobile Haubitzen Kaliber 105 Millimeter mit einer Schussweite von bis zu 20 Kilometern. Ebenso wichtig ist es jedoch, mit der Ausbildung von vorgeschobenen Beobachtern in den leichten Infanteriekompanien zu beginnen. Diese Soldaten werden in der Lage sein, nicht nur das Feuer der eigenen Einheiten, sondern auch die Artillerie der Einsatzkräfte zu lenken.

Soldat der TV mit Aufklärungsdrohne.

Unsere Möglichkeiten in diesem Bereich werden durch Aufklärungsdrohnen erweitert, die wir heute schon recht intensiv nutzen, und durch Kurzstrecken-Kampfdrohnen, die ebenfalls zu unserer Ausrüstung gehören. Nach der Bildung von Panzerjägergruppen ist das ein weiteres Vorhaben in unserem Verband.

Wie lauten die weiteren Schlussfolgerungen aus dem Ukraine-Krieg?

Durch Bürgernähe den Widerstandswillen lokaler Gruppen stärken.

Die zweite, eher strategische Schlussfolgerung ist die Bestätigung, dass sich die sogenannte allgemeine Verteidigung als Modell der Verteidigung des Staates bewährt hat, und die Territorialen Verteidigungskräfte als deren Bestandteil spielen eine wichtige Rolle. Die TV aktivieren durch ihre Bürgernähe den Widerstandswillen lokaler Gruppen und prägen die positive Einstellung der Bürger zur Verteidigung.

Es wäre naiv, an die Einhaltung des Kriegsvölkerrechts durch den russischen Aggressor zu glauben. Deshalb ist es so wichtig, Strukturen des Widerstands vorzubereiten.

Drittens. Der Ukraine-Krieg hat uns drastisch vor Augen geführt, dass die Territorialen Verteidigungskräfte lernen müssen, die Selbstverteidigung lokaler Gruppen in vorübergehend verloren gegangenen Gebieten zu unterstützen. Egal welches Verteidigungsmodell wir wählen, es besteht immer die Gefahr, dass der Gegner vorübergehend auf unser Territorium vordringt. Es wäre naiv, an die Einhaltung des Kriegsvölkerrechts durch einen solchen Aggressor in den besetzten Gebieten zu glauben. Deshalb ist es so wichtig, Strukturen des Widerstands vorzubereiten.

Die in den ersten Kriegstagen aufgekommenen Behauptungen, dass die leichte Infanterie die gesamte Verteidigungsarbeit geleistet hat, haben sich als unwahr erwiesen?

Seit dem ersten Tag des Verteidigungskrieges wird die Ukraine von den operativen Streitkräften die dem Verteidigungsministerium unterstehen und den Territorialen Verteidigungskräften, die in der Ukraine dem Innenministerium unterstellt sind, verteidigt. Die leichten Infanterieformationen der TV waren am Anfang, insbesondere in den Städten, sehr sichtbar. Sie und ihre Aktionen wurden mit Handys gefilmt und ins Netz gestellt, die Bilder gingen um die Welt.

Die TV haben die operativen Kräfte, also die reguläre Armee, die sich für einen „Guerillakrieg“ nicht besonders eignet, hervorragend ergänzt. In der Anfangsphase der Operationen, als russische Panzerverbände, ohne Infanteriebegleitung, weit ins ukrainische Gebiet vorstießen und sich in Ortschaften Angriffen aus dem Hinterhalt aussetzten, verkörperten ukrainische Infanteristen der Territorialen Verteidigungskräfte mit Javelin- oder Thunderbird-Flugabwehrraketen in den Augen der Öffentlichkeit den Widerstand.

Einer der größten Nachteile der leichten Infanterie ist jedoch ihre begrenzte Manövrierfähigkeit in größeren Verbänden. Ihre Mobilität ist gering, und sie ist auch nicht in der Lage, sich allein länger in einem zur Verteidigung vorbereiteten Gelände zu halten. Angesichts der Masse der russischen Panzer mussten sich die Verteidigungsoperationen auf massive Truppenbewegungen von Großkampfverbänden stützen. Mechanisierte oder gepanzerte Einheiten und auch die Artillerie begannen auf der ukrainischen Seite eine entscheidende Rolle zu spielen.

Ist die Artillerie immer noch die Königin des Krieges?

Die Kriegsführung ist ein Zusammenspiel von Systemen, von technisch und verfahrenstechnisch miteinander verbundenen Messwertgebern. Es sind viele Umstände, vor allem nichtmaterielle, die ihre Wirkung bestimmen: Kompetenz, Moral, Führungsstärke. In diesem Verständnis gibt es keinen Platz für „Königinnen“. Jeder Soldat hat eine Aufgabe zu erfüllen. Für einen wirksamen Artilleriebeschuss sind beispielsweise gute Aufklärungssysteme und Systeme zum Datenaustausch in Echtzeit unerlässlich. Doch all diese Technologien müssen vom Willen zum Kampf und dem Glauben an den Sieg getragen werden.

Der Verteidigungskrieg in der Ukraine hat bereits bewiesen, wie falsch es war, grenzenloses Vertrauen in mathematische Modelle zu setzen, die die Potenziale beider Seiten berechnen und einen Verlauf in Computersimulationen vorhersagen. Thesen über einen „Drei-Tage-Krieg“ sind genau anhand solch oberflächlicher Berechnungen entstanden.

Auch in Polen hat wahrscheinlich die Mehrheit der Militärs und der Experten so gedacht

Ich kann gar nicht zählen, wie oft ich davon überzeugt werden sollte, dass ein Verband wie die Territorialen Verteidigungskräfte von den russischen „Speznas“-Elitekommandos vernichtet werden würde. Es gab noch vor Kurzem eine große Zahl von Leuten in Polen, die deren Unbesiegbarkeit priesen.

Als ich zusammen mit meinen Untergebenen beschrieb, wie die afghanischen Mudschahedin in den 1980er Jahren die sowjetischen Spezialeinheiten bekämpften, wurde das nicht zur Kenntnis genommen. Als ich sagte, dass Panzerabteilungen ein härterer Gegner für die leichte Infanterie sind als „Speznas“, wurde das als ein Scherz gewertet. Erfahrung und Gespür von Soldaten, die viele Jahre im Irak oder in Afghanistan gedient hatten und so viel Kampferfahrung angehäuft hatten, sie wurden ignoriert .

Heute empfinde ich deswegen keine Genugtuung. Was zählt ist die Vorbereitung auf einen bevorstehenden Krieg. Ihn durch Abschreckung zu verhindern und wenn das nicht hilft, bereit zu sein, siegreich zu kämpfen. Sicherlich wird unser Gegner Lehren aus dem gegenwärtigen Ukraine-Krieg ziehen. Wichtig ist, dass wir ihm immer einen Schritt voraus sind. Die Absichten der Russischen Föderation sind inzwischen wahrscheinlich für jeden offensichtlich.

Zu Beginn des Krieges zählte die ukrainische Territorialverteidigung einige tausend Soldaten, jetzt sind es über einhunderttausend.

Das unterscheidet uns, denn die Ukrainer begannen mit dem Aufbau ihrer Territorialen Verteidigungskräfte, so wie wir sie verstehen, erst sehr spät, kurz vor Kriegsbeginn. Der zweite Unterschied besteht darin, dass sehr viele Soldaten der ukrainischen TV Reservisten sind, die über Erfahrungen aus dem Grundwehrdienst und sogar aus den Kämpfen im Donbass verfügen. Das begünstigt natürlich eine schnelle Rekrutierung ungemein.

Diese Soldaten wissen bereits, dass nicht jede Kugel, die in ihre Richtung abgefeuert wird, trifft, und sie kennen auch die Wirkung ihres eigenen Feuers. Wir haben kaum so erfahrene Reservisten, und der Unterschied zwischen einem guten und einem sehr guten Soldaten macht eben die Erfahrung aus.

Die Ukrainer haben in wenigen Wochen über einhunderttausend Freiwillige aufgenommen. Wie hoch ist das Aufnahmepotenzial in Polen? Wenn fünfzigtausend Menschen über Nacht zu Ihnen kommen und sagen: Wir wollen dienen, werden Sie sie aufnehmen?

Das ist auch in Polen möglich. In unseren TV haben wir eine große Anzahl von Ausbildern, die wir noch ständig vergrößern. Aber es geht darum, vor dem Krieg zu trainieren, um zu verhindern, dass unvorbereitete Menschen in den Krieg ziehen oder Kriegsaufgaben von heute auf morgen übernehmen müssen. Deshalb wollen wir uns jetzt stärker der allgemeinen Kampfausbildung widmen. Das neue Landesverteidigungsgesetz macht das möglich.

Heiratsantrag nach der Übung. Kampftechniken vermitteln, mit minimalen Auswirkungen auf das Familien- und Berufsleben.

Dank dieses Gesetzes können wir das Potenzial der Streitkräfte erweitern, die positive Einstellung zur Landesverteidigung besser gestalten und die Bürger für eine neue Form des Militärdienstes, die aktive Reserve gewinnen. Sie macht die Vermittlung grundlegender Kampftechniken und deren Beibehaltung mit minimalen Auswirkungen auf das Familien- und Berufsleben des Reservisten möglich.

In der Ukraine gibt es genügend sehr taugliche Reservisten, und schließlich konnte man auch die Ausrüstung für sie auftreiben, vor allem dank der Hilfe aus dem Westen. Haben wir in Polen genügend Ausrüstung?

Es gibt nie genug Ausrüstung. Jeder Krieg ist ein Beweis dafür. Die Fähigkeit, sie nicht nur aus eigenen Vorräten und nationaler Herstellung aufzufüllen, ist einer der am meisten unterschätzten Vorteile unserer Nato-Mitgliedschaft. Ich möchte das Beispiel der berühmten Javelin, einer tragbaren Fire-and-Forget-Panzerabwehrlenkwaffe, anführen.

Panzerjäger der TV richten eine Panzerabwehrlenkwaffe

Viele Fachleute waren überrascht, dass wir bei der ersten Beschaffung vor einigen Jahren viel Simulationsausrüstung und verhältnismäßig wenige Raketen gekauft haben. Schon die Tatsache, dass gerade diese Panzerabwehrlenkwaffe gewählt wurde, war für sie überraschend. Doch das ist die am häufigsten verwendete Panzerabwehrwaffe in der Nato. Im Kriegsfall ist sie am schnellsten lieferbar. Deswegen werden Ende 2022 mehr als tausend polnische Soldaten in der Lage sein, Panzer mit diesem Gerät zu zerstören. Wir werden ihre Zahl jedes Jahr vervielfachen. Ich möchte nochmals betonen, dass es am wichtigsten ist, Kampffähigkeiten vor dem Kriegsausbruch zu vermitteln.

Seit Beginn des Ukraine-Krieges rennen euch die Freiwilligen die Türen ein.

Ja, die Zahl der Interessenten ist siebenmal höher als früher, aber wir beobachten auch eine neue Erscheinung. Nicht jeder Interessierte will Soldat werden. Viele Freiwillige wollen lernen, wie man kämpft, ohne in Friedenszeiten dauerhaft an die Streitkräfte gebunden zu sein. Wir spüren auch einen zunehmenden Druck, die Wartezeit für die Einberufung zur Ausbildung so kurz wie möglich zu halten. Das ist heute eine ziemliche Herausforderung, denn die Ausbildungsstätten befinden sich noch im Aufbau.

Derzeit befinden sich zweitausend Soldaten der Territorialen Verteidigungskräfte an der Grenze zu Weißrussland, aber das ist nur ein kleiner Teil der polnischen Streitkräfte, die dort im Einsatz sind. Ist es nicht ein Versagen, dass die TV nicht in der Lage sind, dort die regulären Soldaten vollständig zu ersetzen?

Das ist eine falsche These. Die Territorialen Verteidigungskräfte sollen weder die regulären Truppen ersetzen, noch sind sie deren Reserve, wie einige Experten immer noch fälschlicherweise glauben. Die TV und die Einsatzkräfte sind nicht identisch, sondern ergänzen sich vielmehr.

Viele Soldaten der TV sind Abiturienten und Studenten.

Der Dienst in den TV ist territorialer Natur. Soldaten sollten dort dienen, wo sie leben und arbeiten. Es ist ein sehr spezifischer Dienst, weil er mit dem Familien- und Berufsleben verbunden ist. Viele unserer Soldaten sind Abiturienten und Studenten, und wenn wir sie jetzt an die polnisch-weißrussische Grenze schicken, dann haben sie Probleme mit der Vorbereitung auf Prüfungen.

Das ist ein banales Problem, aber ein wichtiges, denn im Mittelpunkt der Ausbildung steht der Soldat. Für uns ist das eine gute Lehre, um die Verwaltung der Personalressourcen zu verbessern. Interessanterweise gab es während der COVID-19-Pandemie weniger Behinderungen, weil damals viele Arbeitgeber die Tätigkeit ihrer Firmen einschränkten.

Die Leute hatten keine Arbeit, also wollten sie zum Militär gehen?

In gewisser Weise, ja. Ich erinnere mich, dass auch schon behauptet wurde, die Territorialen Verteidigungskräfte seien eine Arbeitslosenarmee, was sich als unwahr erwies. Etwa 90 Prozent unserer Soldaten studieren oder arbeiten, was ihre Verfügbarkeit für einen langfristigen Dienst in Friedenszeiten einschränkt.

Aus nachvollziehbaren Gründen akzeptieren einige Arbeitgeber eine so lange Abwesenheit ihrer Mitarbeiter nicht. Andererseits gibt es erste Arbeitgeber, die beschließen, Programme zur Unterstützung von Mitarbeitern, die Soldaten der Territorialen Verteidigungskräfte sind, zu starten. Dabei nutzen die Firmen ihre eigene Leistungskraft, um in der Arbeitnehmerschaft verteidigungsfreundliche Einstellungen und Kompetenzen zu fördern. Gute Beispiele sind die Polnische Post oder die Staatswälder.

In unserer Gesellschaft steckt ein sehr großes Potenzial, und wir sollten die Voraussetzungen für die Entwicklung der Verteidigungskompetenzen aller interessierten Bürger schaffen. Auf diese Weise bauen wir das Fundament für die allgemeine Verteidigung. Ein solches Modell der Selbstbehauptung gewährleistet nicht nur die Abschreckung, sondern auch eine siegreiche Verteidigung.

Lesenswert auch: „Wie stark ist die polnische Armee“„Pausenlose Feindberührung. Die Cyberverteidigung der polnischen Armee“, „Wohin marschiert die polnische Armee“, „Des Hauses Schwelle eine Festungswehr“ 

RdP

Das Gespräch erschien am 24. April 2022 in der Tageszeitung „Dziennik Gazeta Prawna“ (Tagblatt Juristenblatt“).




Das Wichtigste aus Polen 22. Mai bis 9. Juli 2022

Aleksandra Rybińska und Janusz Tycner diskutieren die wichtigsten Ereignisse der letzten Zeit in Polen ♦ Was brachte Polen der Nato-Gipfel in Madrid? ♦ Weizentransit und Bandera. Zwist zwischen Polen und der Ukraine ♦ Ein Jahr vor den Parlamentswahlen. Kann Recht und Gerechtigkeit zum dritten Mal gewinnen und allein  regieren? Wird es eine gemeinsame Wahlliste der Opposition geben? Donald Tusks Hasstiraden.