Haubitzen, Kampfjets, Panzer. Polens Jahrhundertkauf in Südkorea

Viel Kriegsgerät für fünfzehn Milliarden Dollar.

Entsprechende Verträge wurden Ende August 2022 unterzeichnet, aber es dauerte noch eine Zeit lang, bis sich die Öffentlichkeit, aus den nach und nach durchsickernden Einzelheiten, ein Bild von dem gewaltigen Umfang des Geschäfts machen konnte.

Für die polnischen Einkäufer waren bei der Auswahl südkoreanischer Rüstungsgüter die beinahe sofortige Verfügbarkeit (die ersten 180 Panzer sollen bis Ende 2022 eintreffen, die ersten Flugzeuge Mitte 2023), der neueste Stand der Technik, die Leistungsfähigkeit, die Zuverlässigkeit und der nachweislich effiziente Service ausschlaggebend. Nur Südkorea war in der Lage, so schnell, so viel gutes Gerät zu liefern: knapp 1.000 Panzer des Typs K2 Black Panther, fast 700 Panzerhaubitzen des Typs K9 und 48 leichte FA-50 Kampfflugzeuge. Hinzu kam, dass ein Großteil der Panzer und Geschütze in Polen gebaut werden soll.

Deutschland ausgestochen

Deutsche Rüstungskonzerne wie Rheinmetall oder Krauss-Maffei Wegmann (KMW) erhielten keine Aufträge aus Warschau. Zu lang seien, so polnische Stellen, deren Lieferzeiten angesichts der russischen Bedrohung. Zu unberechenbar zudem die deutsche Politik und Öffentlichkeit. Zu groß das Risiko bei einem russischen Angriff auf Polen, wie dem auf die Ukraine heute, Opfer des deutschen Zauderns und Hamletisierens zu werden, während Munition und Ersatzteile an der Abwehrfront sofort benötigt werden.

Zudem zeigt das Korea-Geschäft erneut, wie realitätsfern die Ringtauschkonzepte der deutschen Regierung sind. Polen hat bereits 250 schwere amerikanische Abrams-Panzer gekauft, die nach und nach geliefert werden. Jetzt sollen 1.000 hochmoderne, leichtere Kampfpanzer aus Südkorea hinzukommen. Gleichzeitig gingen alle etwa 250 T-72 und PT-91 Twardy Panzer (eine rundum modernisierte Version des T-72) aus polnischen Beständen in die Ukraine. Dafür bot Berlin Polen, im Ringtausch, 100 uralte Leopard 1 an. Ein Modell aus der Mottenkiste, welches dem sowjetrussischen T-72 unterlegen ist. Und auch die deutsche Idee, Warschau mit 20 halbwegs modernen Leopard 2 (lieferbar nach und nach innerhalb von fünf Jahren) unter die Arme zu greifen, wirkte so befremdlich, dass sie von Polen verworfen wurde.

Leopard 2 Panzer der polnischen Armee.

Die polnische Initiative dürfte Berlin zudem unter Druck setzen. Wenn Polen mit seinen knapp 40 Millionen Einwohnern seine Streitkräfte mit 1.500 Kampfpanzern (Leopard 2, Abrams und die K2 aus Südkorea) sowie etwa 800 eigenen und koreanischen Panzerhaubitzen aufrüstet, wird die Bundesrepublik weiterhin, zumindest theoretisch, nicht mit nur etwa 300 Kampfpanzern und 119 Haubitzen operieren können. Die Verbündeten, allen voran die USA, werden von Deutschland eine vergleichbare Anstrengung erwarten. Berlin hat solchen Erwartungen in der Vergangenheit zumeist wenig Beachtung geschenkt, wovon der heutige Zustand der Bundeswehr zeugt.

Jedenfalls, bezogen auf die doppelte Einwohnerzahl und die höhere Wirtschaftskraft im Vergleich zu Polen, wären es dann weit über 2.000 Kampfpanzer, über die die deutschen Streitkräfte verfügen müssten. Das ist, unter den heutigen in Deutschland herrschenden politischen Verhältnissen, ein schwer vorstellbares Szenario.

Sobald der K2 in großer Stückzahl in Polen einsatzfähig ist, wird er in Ostmitteleuropa vieles in der sicherheitspolitischen Landschaft verändern. Der K2-PL ist dem russischen Standardpanzer T-72 weit überlegen. Nur die modernste Variante des russischen T-90 und der immer noch nicht einsatzfähige T-14 Armata sind ihm gewachsen. Von beiden Modellen müsste Moskau große Mengen beschaffen, wollte es den 1.500 modernen Kampfpanzern Polens entgegentreten. Eine für einen Angriff erforderliche Überlegenheit von 3 zu 1 oder gar 4 zu 1, wäre von Moskau nicht finanzierbar.

Der K2-Panzer. Verlockendes Angebot aus Korea

Der Zeitdruck ist groß. Die erste Lieferung der 180 Panzer wird in der „normalen“ K2 Ausführung erfolgen. Danach werden die Modelle den polnischen Bedürfnissen angepasst. Die polnische Variante nennt sich dann K2-PL. Davon sollen ab 2026 weitere 820 Stück gebaut und die bereits gelieferten K2 modernisiert werden.

Der Hersteller Hyundai Rotem, eine Tochtergesellschaft der Hyundai Motor Group, hat den Bau einer neuen Fabrik für deren Produktion in Polen angekündigt. Dort sollen ebenfalls gemeinsam mit der Polnischen Rüstungsgruppe (PGZ), neue Fahrzeuge, einschließlich Infanterietransporter, entwickelt werden.

K-2 ist der weltweit modernste Kampfpanzer im Nato-Standard, der bereits gebaut wird und tatsächlich lieferbar ist.

Wie die „PL“ Ausführung letztendlich genau aussehen wird, ist derzeit nicht bekannt. Es wurde aber bereits ein K2 PL „Wolf“ gezeigt. Bei ihm fiel auf, dass die Wanne des Panzers um einen Satz Laufräder verlängert wurde. Zusammen mit einem neuen kompakteren Antrieb könnte diese Erweiterung dazu dienen, im Panzer ein von der Besatzung komplett getrenntes Munitionsdepot einzurichten und die Mannschaft in einer besonders geschützten Zelle unterzubringen.

Polen hat auch 250 amerikanische Abrams-Panzer gekauft.

Auf der polnischen Wunschliste stehen ebenfalls eine verstärkte Panzerung, ein 360-Grad-Beobachtungssystem und ein verbessertes aktives Schutzsystem gegen Raketen und Artilleriegeschosse. Als gewiss gilt, dass der K2 über ein polnisches Kommunikationssystem und ein Gefechtsführungssystem verfügen soll, beides wird mit anderen in der polnischen Armee verwendeten Systemen kompatibel sein.

Modernster westlicher Panzer

Mit dem „normalen“ K2 hat sich Warschau für den weltweit modernsten Kampfpanzer im Nato-Standard entschieden, der bereits gebaut wird und tatsächlich lieferbar ist. Der K2 stammt nicht aus dem Kalten Krieg, er wird seit 2014 hergestellt und gehört zur Standardausrüstung der südkoreanischen Armee. Er ist mit einer automatisch geladenen 120-mm-Glattrohrkanone sowie einem 12,7-mm-Maschinengewehr ausgerüstet und verfügt über Selbstverteidigungssysteme, die unter anderem in der Lage sind, in seine Richtung abgefeuerte Geschosse zu zerstören oder zu „blenden“. Er ist dieselbetrieben, kann bis zu 4,10 Meter tiefe Wasserhindernisse überwinden und wiegt 55 Tonnen.

Der K2 ist kein revolutionärer Wurf, aber weit moderner als die Modelle aus dem Kalten Krieg. Gerade vom Leopard 2 hat der K2 viel übernommen, insbesondere die Bordwaffe. Es ist jedoch der einzige Panzer in der westlichen Welt, der über einen Autolader für die Kanonen verfügt. Der Ladeschütze an Bord entfällt. Die Mannschaft besteht aus drei Personen. Bei den neuesten Modellen des K2 Black Panther wird wiederum eine vierte Person eingeplant, die Luftdrohnen oder unbemannte Unterstützungsfahrzeuge steuern könnte.

Verteidigungsminister Mariusz Błaszczak unterzeichnet den K2-Kaufvertrag am 26. August 2022.

Der K2 verfügte von Beginn an über Innovationen, die der deutsche Leopard erst jetzt, im Zuge von Modernisierungen erhält und das auch nur teilweise. Abgesehen von dem schon erwähnten aktiven Selbstschutzsystem, das angreifende Raketen abwehrt, kann der K2 durch sein hydropneumatisches Fahrwerk eine unterschiedliche Bodenfreiheit herstellen.

Mit einem Gewicht von nur 55 Tonnen folgt der K2 eher den russischen Vorbildern und ist wesentlich leichter als die westlichen Modelle. Mit 1.500 PS verfügt er daher über ein exzellentes Verhältnis von PS zu Gewicht. Motor, Getriebe und Kanone der ersten Baugruppe stammen aus Deutschland beziehungsweise wurden in Lizenz hergestellt und werden jetzt auf modernere koreanische Entwicklungen umgestellt.

Eine weitere Besonderheit ist das offene Konzept des Hyundai-Konzerns. Es ermöglicht Weiterentwicklungen des Panzers von Baugruppe zu Baugruppe, ebenso kundenspezifische Lösungen für den Export. Das Angebot von Hyundai ist aufgrund des Technologietransfers und der Schulung der Mitarbeiter vor Ort  für die Bestellländer attraktiv.

Das enorme Volumen des polnischen Auftrags hat eine Signalwirkung. Letztlich wollen alle Länder im östlichen Europa ihre Panzerflotten modernisieren. Für sie wird der K2 jetzt noch interessanter. Die entscheidenden Gründe, die Polen für den K2 haben votieren lassen, gelten auch für andere. Die deutsche Industrie kann nur dann wieder ins Spiel kommen, wenn sie in der Lage ist, schnell eine deutliche Weiterentwicklung des Leopard 2 anzubieten, zusammen mit einem Konzept, wie dieser Panzer in großer Stückzahl im Land der Abnehmer gebaut werden kann.

In Warschau heißt es, was die Einführung eines weiteren Panzertyps in der polnischen Armee angeht, dass, entsprechend der angestrebten Struktur der polnischen Panzertruppe, sich die schweren amerikanischen Abrams operativ mit dem leichteren K2-Modell ergänzen sollen. Der K2 Panzer verfügt gegenüber dem amerikanischen Abrams über eine größere Geländegängigkeit und Manövrierfähigkeit sowie die Fähigkeit, Wasserläufe zu überqueren. Zusätzlich besitzt er wirksamere Elemente der Feuerleitanlage.

Die K9-PL-Haubitzen

Die südkoreanische Panzerhaubitze K9 Thunder ist mit einer 155-mm-Kanone bewaffnet und hat eine Reichweite von 40 Kilometern. Es ist ein rein südkoreanisches Produkt und keine Kombination von Bestandteilen aus mehreren Ländern, wie die vergleichbare, in Polen hergestellte Panzerhaubitze Krab. Ihr Turm kommt aus England, das Fahrgestell aus Südkorea, Motor und Getriebe aus Deutschland, der Rest ist polnisch. Die Geschützreichweite der Krab beträgt 4,5 bis 40 Kilometer und die maximale Geschwindigkeit 60 km/h. Sie feuert zwei bis drei Schuss pro Minute. Die polnische Armee hat 92 Krabs bestellt, wovon bis Mitte 2022 80 Stück geliefert wurden.

Panzerhaubitze K9 Thunder.

18 Krab Haubitzen hat Polen der Ukraine geschenkt, woraufhin die Ukrainer 54 Stück für umgerechnet ca. 640 Millionen Euro in Polen in Auftrag gegeben haben. Sie sind voll des Lobes über deren hohe Mobilität und Treffsicherheit. Dennoch, so ist in polnischen Fachkreisen zu hören, die sehr gute Kanonenhaubitze Krab, die jetzt die ukrainischen Streitkräfte bei der Aggressionsabwehr unterstützt, besteht aus vielen Komponenten, die unter verschiedenen Lizenzen hergestellt werden. Dies bringt Komplikationen mit sich.

Für die Haubitze K9-PL, die in Polen, in polnisch-koreanischer Zusammenarbeit produziert werden soll, wird es nur eine ausländische Quelle geben – Südkorea. Der große Vorteil der K9 ist das automatische Ladegerät, das in polnischen Haubitzen nicht vorhanden ist.

Polnische Panzerhaubitze Krab.

Die ersten K9 sollen noch 2022 geliefert werden, auch, um die Lücke nach dem Rüstungstransfer in die Ukraine zu schließen. Die geplante PL-Variante soll ebenfalls eine automatische Nachladevorrichtung haben und eine höhere Feuerrate aufweisen als die der Krabs.

Der Kaufvertrag sieht in der ersten Stufe die Lieferung von 48 Kanonenhaubitzen vor, die nächste Stufe beinhaltet die Lieferung von mehr als 600 Geschützen ab 2024. Ab 2026 sollen die K9 in Polen gefertigt werden. Alle K9 sollen von Anfang an mit polnischen Kommunikationssystemen ausgestattet und an das integrierte Kampfmanagementsystem Topaz angeschlossen sein.

Der Kampfjet FA-50

Polen ist 2022 eines von nur noch drei Nato-Ländern mit MiG-29-Kampfflugzeugen (23 Maschinen) und das einzige, das noch die Su-22 (18 Flugzeuge) einsetzt. Die in die Jahre gekommenen Jets aus der Sowjet-Ära wurden mehrfach aufwendig aufgerüstet, um ihre Systeme Nato-kompatibel zu halten. Es wird jedoch zunehmend schwieriger, dafür zu sorgen, dass sie auch kampftauglich bleiben, zumal eine schrumpfende Nutzerzahl und Sanktionen gegen Russland die Verfügbarkeit von Ersatzteilen einschränken.

Der staatliche Rüstungskonzern Polska Grupa Zbrojeniowa (PGZ) stellt MiG-29 Ersatzteile im eigenen Land her, wartet auch die polnischen MiG-29 und Su-22. Allerdings kann das Unternehmen keine MiG-29 Triebwerke produzieren. Außerdem wurden im Inland hergestellte Komponenten mit einem tödlichen Absturz im Jahr 2018 in Verbindung gebracht, der zur vorübergehenden Stilllegung der polnischen MiG-29-Flotte führte.

FA-50 beim Start.

Polen verfügt bereits über 36 F-16 aus US-amerikanischer Produktion und hat bei den USA 32 F-35A Tarnkappenjets bestellt. Die 48 Flugzeuge des Typs FA-50 aus Südkorea sollen Warschau helfen, die Modernisierung voranzutreiben.

Die FA-50 ist ein leichtes Kampfflugzeug. Es kann Überschallgeschwindigkeiten von Mach 1,5 erreichen und verschiedene Bomben sowie Luft-Luft- und Luft-Boden-Raketen mit bis zu vier Tonnen Gewicht tragen. Die maximale Flughöhe beträgt 16.800 Meter. Polen wird das verbesserte Block-20-Modell erhalten, das mit Nato-Systemen kompatibel ist.

In Warschau entschied man sich für die FA-50 jedoch nicht nur wegen ihrer Kampffähigkeit, sondern wiederum auch  wegen der Schnelligkeit, mit der sie beschafft werden konnte. Man hatte auch andere Flugzeuge in Betracht gezogen, darunter weitere F-16, aber keines konnte schnell genug geliefert werden. Die polnischen Luftstreitkräfte sollen die ersten zwölf FA-50 bis Mitte 2023 erhalten.

Außerdem basiert die FA-50 auf dem südkoreanischen Trainings- und leichten Kampfflugzeug T-50, das Korea Aerospace Industries in Zusammenarbeit mit Lockheed Martin, dem Hersteller der F-16, entwickelt hat. Ein Pilot, der auf einer F-16 ausgebildet wurde, braucht daher wenige Trainingsstunden, um auch eine FA-50 selbständig fliegen zu können. Die Kosten für die Ausbildung als solche sind dadurch viel geringer, und man kann mehr Piloten ausbilden.

Staatspräsident Andrzej Duda (Bildmitte) und Verteidigungsminister Mariusz Błaszczak begutachten ein FA-50 Modell während der Militärtechnikmesse in Kielce am 5. September 2022.

Gemäß dem Vertrag mit Südkorea wird es bis 2026 eine FA-50 Wartungs- und Serviceeinrichtung in Polen geben. Auf diese Weise erhält das Land eine verlässliche Option für Ersatzteile, was besonders im Falle von Konflikten mit hoher Intensität wichtig ist, wenn Lieferketten unterbrochen werden können. Auf diese Weise kann die Einsatzbereitschaft von Kampfflugzeugen auf höchstem Niveau gehalten werden. Zudem haben die amerikanischen F-16 und südkoreanischen FA-50 viele identische Bauteile, sodass zwei Lieferketten bestehen, eine koreanische und eine amerikanische, die sich im Falle von Störungen gegenseitig ergänzen können.

Die polnischen FA-50 Kampfflugzeuge sollen in ihrer endgültigen Konfiguration FA-50PL das AESA-Radar, die hochmodernen AIM-9X Sidewinder Kurzstreckenraketen und längerfristig auch die AIM-129 AMRAAM Mittelstreckenraketen erhalten. Da das Flugzeug mit einem Scharfschützenzielgerät ausgestattet sein wird, können die Raketen nicht nur per Radar, sondern auch durch Laser gelenkt werden.

Damit werden die FA-50PL die Fähigkeiten der MiG-29 Kampfflugzeuge deutlich übertreffen und eine vollwertige Ergänzung zu den F-16 Flugzeugen sein.

Die Folgen

Der Südkorea-Großeinkauf, gepaart mit weiteren Anschaffungen in den USA, soll Polen innerhalb kurzer Zeit in den Rang der militärisch stärksten europäischen Nato-Partner hieven und einen Abschreckungseffekt erzielen, der Russland dauerhaft von einem Überfall abhält. Diesem Ziel dient auch die amerikanische Militärpräsenz in Polen.

Sollte es Russland dennoch wagen Polen, anzugreifen, will das Land hartnäckigen Widerstand leisten können und, das Schicksal der ukrainischen Bevölkerung in den russisch besetzten Gebieten vor Augen, dem Angreifer möglichst keine Geländegewinne gestatten. Mit einem unsicheren Kantonisten wie Deutschland im Rücken, gilt es vielleicht sogar den Russen einige Wochen lang Widerstand zu leisten, bis der amerikanische Entsatz kommt.

Eine so schnelle und umfangreiche Neubewaffnung stellt Staat und Armee vor riesige Aufgaben. Kampfpersonal und Wartungsdienste müssen erheblich aufgestockt und ausgebildet werden. Angesichts des gewaltigen Material- und Munitionsverbrauchs in der Ukraine, gilt es große Reserven anzulegen und die Munitionsherstellung im Land deutlich zu erhöhen. Umfangreiche Baumaßnahmen sind unumgänglich. Das alles ist sehr teuer, aber immer noch viel billiger als die Folgen eines von Russland entfachten Vernichtungskrieges auf eigenem Territorium.

Lesenswert auch: „Leistungsstark, sicher, umstritten. Abrams-Panzer für Polen“ 

@ RdP




Durchstich zur Freiheit. Von A bis Z

Der Kanal durch die Frische Nehrung wurde Wirklichkeit.

Polen baggerte am Frischen Haff, dicht an der Grenze zu Russland, einen Zugang zu seinem bis dahin weitgehend abgeschnittenen Hafen in Elbląg und beseitigte mit der Eröffnung des Durchstichs am 17. September 2022 die seit 1945 andauernde russische Blockade.

Auf den ersten Blick – die Frische Nehrung und das Frische Haff

Die Frische Nehrung (polnisch Mierzeja Wiślana, fonetisch Mescheja Wislana – „Weichsel-Nehrung“, russisch Baltijskaja Kossa – „Baltische Nehrung“) ist eine schmale, sandige Landzunge von rund 70 Kilometern Länge und einigen hundert Metern Breite (maximal 1,8 Kilometer). Sie verläuft in nordöstlicher Richtung und trennt das Frische Haff von der offenen Ostsee (Danziger Bucht) ab.

Quer über die Frische Nehrung und das Frische Haff führt die Grenze zwischen Polen und Russland (Kaliningrader Gebiet). Alle Siedlungen auf der polnischen Seite waren einst Fischerdörfer. Heute sind es Erholungsorte.

Mit einer Fläche von 838 Quadratkilometern ist das Frische Haff etwa anderthalbmal so groß wie der Bodensee. Zu Polen gehören 328, zu Russland 510 Quadratkilometer des Haffs. Bei 90 Kilometern Länge ist das Haff 7 bis 15 Kilometer breit und nur 3 bis 6 Meter tief (tiefste Stelle auf polnischem Gebiet: 4,40 Meter).

Pillauer Seetief. Luftaufnahme.

Das Pillauer Seetief, die einzige Verbindung zwischen dem Frischen Haff und der offenen Ostsee, befindet sich auf der russischen Seite der Frischen Nehrung. Das Pillauer Seetief ist 2 Kilometer lang, zwischen 450 und 750 Meter breit und 12 Meter tief. Über den Kaliningrader/ Königsberger Seekanal mit einer Fahrrinnentiefe von ungefähr 9 Metern gelangen die Schiffe nach einer knapp 45 Kilometer langen Fahrt nach Kaliningrad. Die Entfernung nach Elbląg durch die Pillauer Rinne beträgt knapp 85 Kilometer.

Vor allem bei Stürmen über der Ostsee dringt durch das Pillauer Seetief Meerwasser ins Frische Haff ein. Salzwasser macht zwei Drittel der gesamten Wasserzufuhr ins Haff aus. Der Rest wird gespeist durch die ins Haff mündenden Flüsse. Zu den gröβten zählen Szkarpawa/Elbinger Weichsel, Nogat, Elbląg/Elbing, Pasłęka/Passarge in Polen und der Pregel in Russland.

Das Brackwasser im Haff weist bei Baltijsk/Pillau einen Salzgehalt von 5,5 Promille aus. Auf der polnischen Seite, bei Frombork/Frauenburg und Krynica Morska/Kahlberg, sind es nur noch 2,2 Promille. Im Haff leben sowohl Süß- als auch Salzwasserfische: u. a. Aale, Barsche, Brassen, Dorsche, Heringe, Lachse, Meerforellen, Rotaugen, Stichlinge und Zander.

Polnische Fischer im Frischen Haff.

Im Jahr 2017 waren im polnischen Teil 123 Fischerboote zugelassen, mit denen gut 1.850 Tonnen Fisch gefangen wurden. Entsprechende Angaben aus dem russischen Teil des Haffs sind lückenhaft und oft widersprüchlich. Zwar legt jedes Jahr die Gemischte Polnisch-Russische Fischwirtschaftskommission Fangquoten im Haff fest, Russland weigert sich jedoch, gegenseitige Kontrollen zuzulassen.

Im polnischen Teil des Haffs spielt die Fischerei mittlerweile eine dem Fremdenverkehr untergeordnete Rolle. Die Versorgung mit frischem Fisch gehört jedoch zweifelsohne zu den regionalen touristischen Hauptattraktionen. Die gesamte Ausbeute wird direkt am Haff verspeist.

Die Ausschreibung 

Zum Bau eines Kanals reichten 2018 sieben Unternehmen Angebote ein. Dabei sprengten sie jedoch die 2016 kalkulierten Kosten von insgesamt 205 Millionen Euro, denn die Baupreise waren inzwischen deutlich gestiegen. Der Urząd (fonetisch Uschond) Morski w Gdyni (Seeamt in Gdingen) öffnete am 22. Mai 2019 die eingereichten Offerten, von denen er sechs in Betracht zog. Sie bezogen sich auf die erste Bauphase, für die 167 Millionen Euro angesetzt waren.

Seeamt in Gdynia. Sitz und Emblem.

Am kostengünstigsten waren mit je 231 Millionen Euro die Angebote der belgischen Gesellschaft BESIX gemeinsam mit zwei polnischen Firmen aus der NDI-Gruppe und das Angebot des polnischen Bauunternehmens Budimex S.A. gemeinsam mit der spanischen Ferrovial Agroman SA. Die teuerste Offerte stammte mit 267 Millionen Euro von einem Konsortium bestehend aus der polnischen Firma Polbud-Pomorze Sp. z o.o. und zwei chinesischen Gesellschaften. Zu den übrigen Bietern zählten weitere chinesische Akteure und Energopol-Szczecin S.A. aus Szczecin/Stettin.

Den Zuschlag bekam das belgisch-polnische Konsortium. Die Bauarbeiten begannen im Herbst 2019 und wurden im Sommer 2022 planmäßig beendet.

Das Bauvorhaben in toto

Neben dem Kanal mit einer Schleuse beinhaltete die Projektplanung den Bau eines zur Ostseeseite hin durch weit ausholende Wellenbrecher gesicherten Hafens, sowie Ankerplätze für wartende Schiffe an beiden Enden des Kanals und eine künstliche Insel (→ Insel) im Frischen Haff.

Weit ausholende Wellenbrecher schützen den Kanal von der Ostseeseite her.

Die zweite Bauphase sieht Arbeiten an den Ufern des Flusses Elbląg auf dem Gebiet der gleichnamigen Stadt sowie am sechs Kilometer weiter im Landesinneren liegenden Elbinger Hafen vor. Eine entsprechende Ausschreibung fand 2019 statt. Diese Arbeiten sollen bis Ende 2023 verwirklicht sein.

Bisher hat das Hafenbecken von Elbląg eine Tiefe von 2,5 Metern, was Schiffen mit einem Tiefgang von maximal 2 Metern das Anlegen erlaubt. Die fünf Kaianlagen, gut ausgerüstet und gepflegt, haben eine Gesamtlänge von 2,5 Kilometern.

Der dritte und letzte Projektabschnitt beinhaltet die Aushebung einer 10 Kilometer langen, 100 Meter breiten und 5 Meter tiefen Fahrrinne vom Kanal zum Hafen in Elbląg. Die Ausschreibung dafür hat im ersten Halbjahr 2021 stattgefunden. Diese Arbeiten sollen bis Mitte 2024 dauern. Erst dann ist das gesamte Vorhaben voll funktionsfähig.

Das Bauwerk nach Fertigstellung

Der Kanal hat eine Länge von 1,3 Kilometern, eine Breite von 40 Metern am Grund und 80 Metern an der Oberfläche, die Tiefe beträgt 5 Meter. Ihn können Schiffe von und nach Elbląg mit einem Tiefgang von bis zu 4 Metern, einer Länge von 100 Metern und einer Breite von 20 Metern durchqueren . Die Durchfahrt dauert maximal zwanzig Minuten.

Das  verkürzt den Wasserweg von Gdańsk/Danzig und Gdynia/Gdingen nach Elbląg um über 90 Kilometer und die Transportzeit um zwölf Stunden . (→ Chancen für Elbląg)

Bernstein am Bau

Die deutliche Beschleunigung der Vorbereitungsmaβnahmen für den Kanalbau ab 2016 wurde immer wieder von Sensationsmeldungen begleitet. Angeblich sollten riesige Mengen an Bernstein beim Ausheben der Kanaltrasse zum Vorschein gekommen sein. Damit könne man einen erheblichen Teil des Vorhabens finanzieren, hieβ es damals.

Groβe Erwartungen, wenig Bernstein.

Die im Sommer 2019 bekanntgegebenen Untersuchungsergebnisse jedoch waren mehr als ernüchternd. Ausgemacht wurden nur zwei Vorkommen mit jeweils 900 und 500 Kilogramm Bernstein. Ihr Wert insgesamt: umgerechnet etwa 350.000 Euro. Das waren etwa 0,17 Prozent der ursprünglich auf 205 Millionen Euro veranschlagten und zwischenzeitlich um bis zu 50 Prozent nach oben korrigierten Baukosten.

Blockade durch Russland. Die Fakten

Das Schicksal des Hafens in Elbląg war von 1945 bis zur Eröffnung des neuen Kanals auf Gedeih und Verderb von Russland abhängig.

Ob und wie viel Schiffsverkehr es auf dem Haff von Elbląg nach Kaliningrad gab, das entschieden russische Behörden willkürlich . Lang war die Liste polnischer Unternehmen, die sich auf eine regelmäβige Beförderung von Passagieren und Waren zwischen den beiden Häfen eingerichtet hatten und dann über Nacht aus Kaliningrad erfuhren, dass das nicht mehr geht.

Frische Nehrung. Polnische Grenzpolizei.

Noch rigoroser schnitten die Russen Elbląg von der offenen See ab.

Schon am 16. August 1945 unterschrieben die Sowjets und die von ihnen in Warschau eingesetzte kommunistische Vasallenregierung ein Zusatzprotokoll zum Abkommen über den Verlauf der neuen sowjetisch-polnischen Grenze. Das Abkommen sanktionierte die Abtrennung von etwa 45 Prozent des polnischen Vorkriegsterritoriums zugunsten der UdSSR. Es waren weitgehend jene Gebiete, die Moskau infolge des Hitler-Stalin-Paktes beim Überfall auf Polen am 17. September 1939 erobert hatte und nach dem deutschen Angriff auf die UdSSR am 22. Juni 1941 vorläufig räumen musste.

Das Zusatzprotokoll legte in Artikel 1 fest: „In Friedenszeiten bleibt das Pillauer Seetief offen für Handelsschiffe unter polnischer Flagge, von und nach Elbląg.“ Entgegen dieser sowjetischen Verpflichtung blieb das Pillauer Seetief zwischen 1945 und 1990 für polnische Handelsschiffe ausnahmslos gesperrt.

Über das Pillauer Seetief gelangte in diesen 45 Jahren  kein einziges Schiff nach Elbląg. Nach Kaliningrad lieβen die Sowjets in diesem Zeitraum ausschließlich eigene Handelsschiffe, aber kein einziges ausländisches durfte dort einlaufen. Das gesamte Gebiet Kaliningrad war eine für Ausländer unzugängliche Militärzone. Auch Sowjets aus anderen Teilen der UdSSR durften nur in Ausnahmefällen in das Gebiet reisen. In Baltijsk/Pillau errichteten die Sowjets die U-Boot-Basis ihrer Baltischen Kriegsflotte.

Ab 1991 begannen russische Behörden polnische Schiffe durch das Pillauer Seetief durchzulassen. Da sie jedoch zuvor jahrzehntelang die Pillauer Seerinne in Richtung Elbląg hatten versanden lassen, war und bleibt das bis heute ein riskantes Unterfangen. Hinzu kommt, dass es auf der russischen Seite der Haffgrenze keinen Winterdienst gibt, der mit Eisbrechern die Fahrrinne nach Elbląg offen hält.

Frische Nehrung. Russische Grenzpatrouille.

Polnische Reeder oder Kapitäne mussten zudem mindestens 15 Tage im Voraus einen Antrag auf Durchfahrt beim Hafenamt Kaliningrad stellen. Die Erlaubnis wurde erst einen Tag vor der Durchfahrt erteilt oder auch nicht: „aus Gründen der nationalen Sicherheit, des Umweltschutzes oder sonstiger.“

Die Einschränkung, dass nur Handelsschiffe unter polnischer Flagge das Pillauer Seetief von und nach Elbląg passieren dürften, traf Polen in doppelter Hinsicht schmerzhaft. Zum einen fuhren seit 1990 die meisten polnischen Handelsschiffe unter den Billigflaggen der Bahamas, Zyperns usw. Zum anderen waren ausländische Handelsschiffe, darunter die anderer EU-Staaten, von der Durchfahrt ausgeschlossen. Es sei denn, sie unterzogen sich noch komplizierteren Einreiseprozeduren als polnische Handelsschiffe.

Schiffe der polnischen Marine und des Grenzschutzes hatten bis zur Eröffnung des Durchstichs im September 2022 keinen Zugang zum polnischen Hafen in Elbląg.

Zudem schlossen die Russen erneut nach Gutdünken die Durchfahrt durch das Pillauer Seetief für polnische Handelsschiffe. In den Jahren 2003 und 2004 wurde der Durchgang von heute auf morgen für mehrere Monate gesperrt. Eine im Mai 2006 verkündete Schlieβung dauerte bis Juli 2009.

Am 1. September 2009 wurde im Beisein von Polens Ministerpräsident Donald Tusk und Wladimir Putin (damals gerade russischer Regierungschef) in Sopot/Zoppot, am Rande der Feierlichkeiten zum 70. Jahrestag des Kriegsausbruchs, ein polnisch-russisches Abkommen über den Seeverkehr auf dem Frischen Haff unterzeichnet. Das Abkommen schrieb im Grunde die existierende Willkür fest, an der Handhabung der russischen Seite änderte sich nichts.

Aus heutiger, polnischer Sicht gibt es keinen Zweifel daran, dass die Russen das Abkommen von 2009 und die mit ihm verbundenen polnischen Hoffnungen nur dazu benutzt haben, den immer wieder in Betracht gezogenen Kanalbau zu verzögern oder ihn am besten zu stoppen. (→ Völkerrecht)

Chancen für Elbląg

Die Stadt Elbląg verspricht sich von der Verwirklichung des Projekts eine Vervierfachung oder sogar Verfünffachung des bisherigen Güterumschlags ihres Hafens. Dieser war, nach Angaben der Hafenverwaltung, zwischen 2014 von 358.300 Tonnen auf nur noch 99.100 Tonnen im Jahr 2017 drastisch gesunken. Zwei Drittel dieses Umschlags machte russische Steinkohle aus, die aus Kaliningrad kam.

Elbląg. Polnische Briefmarke von 1954.

Von den 660 Schiffen, die 2017 in den Hafen von Elbląg eingelaufen sind, gehörten 470 zur Weiβen Flotte (Sommerfahrten nach Krynica Morska/Kahlberg auf der polnischen Seite der Frischen Nehrung und zurück, mit insgesamt ca. 40.000 Passagieren). Nur 190 Schiffe transportierten Güter. Von ihnen gelangten nicht einmal zehn von der Ostsee über das russische Pillauer Seetief nach Elbląg.

Der Hafen von Elbląg führte bis September 2022 ein Schattendasein. Nicht einmal zwanzig Prozent seiner Kapazität wurden genutzt. Vor dem Zweiten Weltkrieg, zur deutschen Zeit, mit uneingeschränktem Zugang, betrug der Warenumschlag im Elbinger Hafen mehr als 500.000 Tonnen (1936). Dabei beschränkte sich damals sein Hinterland, das er sich zudem mit Königsberg teilte, lediglich auf das vom Reich abgetrennte Ostpreuβen.

Elbing. Schichau-Werft und Hafen in den Dreiβigerjahren.

Diese Zahl wurde nach dem Krieg nur einmal, 1997, überboten, als der Hafen von Elbląg einen Rekordumschlag von 641.000 Tonnen bekannt gab, dank des Imports russischer Steinkohle aus Kaliningrad über das Frische Haff. Es war ein einmaliger Ausreiβer. Um die oberschlesische Kohleförderung nicht zu gefährden, wurden diese Einfuhren schon im Jahr darauf mit Zöllen und Kontingenten belegt. Die Russen antworteten mit ähnlichen Maβnahmen für polnische Baustoffe. Der Warenumschlag stürzte im Folgejahr 1998 auf knapp 50.000 Tonnen ab.

Nach der Fertigstellung des Kanals soll der Elbinger Port, nun uneingeschränkt zugänglich, als ein Feederhafen fungieren, der Zulieferdienste für die beiden großen Meereshäfen von Gdansk und Gdynia leistet und diese entlastet. Das erfordert weitere Investitionen, was zum Beispiel auch deutschen Anbietern von Hafentechnik Zulieferchancen eröffnet.

Die Ausbaumaßnahmen werden der gesamten Region Auftrieb geben, zumal viele Firmen wie Speditionen, Verladebetriebe, die Bahn, Tankstellen oder direkt im Hafen von Elbląg angesiedelte Akteure davon profitieren werden.

Nicht viel los. Hafen in Elbląg vor 2022.

Zu den im Hafen bereits vertretenen Firmen, denen der Kanal einen neuen Verkehrsweg direkt vor ihren Toren eröffnet, zählt General Electric. Ihr Werk in Elbląg (die einstigen Schichau-Werke) produziert Groβturbinen und groβe Stahlkonstruktionen, u. a. Brückenpfeiler, die  bis zur Eröffnung des Kanals die Stadt umständlich auf dem Landweg verlassen mussten.

Auch der Tourismus soll durch die Nehrungsdurchfahrt neuen Auftrieb erhalten. Sie soll schwedische Jachtbesitzer locken, ihre Boote preiswert in Polen zu überwintern.

Deutsche Kanalpläne vor 1945

Als Erster hatte Friedrich II. den Kanalbau erwogen. Nach der ersten polnischen Teilung 1772 kam Elbing zu Preuβen, während Gdańsk bei Polen blieb. Der König wollte Elbing zu einem gewichtigen Konkurrenten der Stadt an der Motlau machen. Friedrich II. starb 1786, und 1793, nach der zweiten polnischen Teilung, kam auch Danzig zu Preuβen. Ein Kanalbau wurde überflüssig.

Im Jahre 1874 machte der damals sehr einflussreiche Danziger Stadtarchitekt Julius Albert Licht den Vorschlag, das Frische Haff weitgehend trockenzulegen und als fruchtbares Polderland landwirtschaftlich zu nutzen. Diesen Gedanken griff Ende der zwanziger Jahre der Elbinger Stadtrat auf und stellte 1932 eine „Denkschrift über die Trockenlegung des Frischen Haffs und den Durchstich durch die Frische Nehrung bei Kahlberg“ vor.

Frisches Haff trockenlegen. Denkschrift von 1932.

Etwa 65 Prozent des Haffs sollten trockengelegt werden. Auf rund 540.000 Hektar Neuland könnten anschlieβend  bis zu 13.000 angeworbene Siedlerfamilien wirtschaften, geschützt durch Deiche, Pumpwerke und Meliorationsgräben. Bestehen bleiben sollten nur die Gewässer am Pillauer Seetief mit der Fahrrinne nach Königsberg. Elbing würde ein 6 Meter tiefer Kanal zum Nehrungsdurchstich bei Kahlberg mit der Ostsee verbinden. Ein zweiter Kanal durch die trockengelegte Nehrung war nach Königsberg geplant. Nach Hitlers Machtübernahme 1933 geriet der Plan schnell in Vergessenheit.

                                                          Die Eröffnung

Der Durchstich wurde feierlich am 17. September 2022 freigegeben. Das Datum wurde mit Bedacht gewählt. Genau 83 Jahre zuvor, am 17. September 1939, hatte die Sowjetunion das seit dem 1. September 1939 gegen den deutschen Überfall kämpfende Polen vom Osten her angegriffen.  Die vierte Teilung Polens war vollbracht.

Die ersten Schiffe passieren am 17. September 2022 den Kanal. An der Spitze das Flaggschiff des Seeamtes Gdynia „Zodiak II“.

An dem Festakt nahmen die Spitzen aus Politik, Militär und Wirtschaft teil. Die Ansprachen hielten u. a. Staatspräsident Andrzej Duda, Ministerpräsident Mateusz Morawiecki und der Vorsitzende der Regierungspartei Recht und Gerechtigkeit Jarosław Kaczyński, einer der wichtigsten Befürworter des Kanalbaus (—> Kaczyński, Tusk, der Kanal und die polnische Politik).

Als erstes passierte das Flaggschiff des Seeamtes Gdynia „Zodiak II“ den Kanal. Einige Zehntausend Menschen beobachteten das Eröffnungsgeschehen.

Der Durchstich by night.

Die EU und der Kanal 

Anfang März 2019 meldeten polnische Medien, die EU-Kommission habe Polen aufgefordert, alle Arbeiten am Kanalbau so lange einzustellen, bis man sich in Brüssel eine endgültige Meinung über die Zweckmäβigkeit der Investition gemacht habe, die ja auf einem Natura 2000-Gebiet vorgenommen würde.

Kanaltrasse ohne Bäume.

Ausgelöst wurde die angebliche Brüsseler Unmutsäuβerung seinerzeit dadurch, dass am 15. Februar 2019, kurz vor Beginn der Vogelbrutzeit (am 1. März), die Behörden die Erlaubnis erteilt hatten, den zum Bau vorgesehenen Streifen zu roden. In der 200 Meter breiten Schneise wurden knapp 25 Hektar Wald (0,5 Prozent der Waldfläche auf dem polnischen Teil der Nehrung) gefällt und dabei 6.500 Kubikmeter Holz gewonnen.

Kanalbaustelle im April 2021.

Der mediale Wirbel um den „EU-Baustopp“ rief Anfang April 2019 Marek Gróbarczyk, den polnischen Minister für Seewirtschaft und Binnenschifffahrt, auf den Plan, der in einer längeren Erklärung eine Klarstellung vornahm und die Wogen glätten konnte.

Marek Gróbarczyk, Minister für Seewirtschaft und Binnenschifffahrt.

Gróbarczyks damalige Äuβerungen kann man wie folgt zusammenfassen:

1. Die EU-Kommission erwägt keinen Baustopp, sondern bat um Beantwortung einiger Detailfragen zum Bau im Rahmen eines Dialogs, der seit längerer Zeit zwischen Warschau und der EU-Kommission geführt wird. Anlass war der Vorstoβ des russischen stellvertretenden Landwirtschaftsministers Ilja Schestakow, der in Brüssel um einen Baustopp nachgesucht hatte.

2. Polen finanziert den Kanal ausschlieβlich aus eigenen Mitteln.

3. Polen beruft sich bei dieser Investition auf Art. 4 des Vertrages über die Europäische Union: „Die Union achtet … die grundlegenden Funktionen des Staates, insbesondere die Wahrung der territorialen Unversehrtheit, die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und den Schutz der nationalen Sicherheit. Insbesondere die nationale Sicherheit fällt weiterhin in die alleinige Verantwortung der einzelnen Mitgliedsstaaten.“ Die Schaffung eines ungehinderten Zugangs zu einem Teil seines Staatsgebietes wird eindeutig durch die Bestimmungen des Art. 4. abgedeckt. Die EU-Kommission teilt diese Meinung.

4. Obwohl es dazu in diesem Fall nicht verpflichtet sei, wendet Polen bei der Planung und Vorbereitung des Kanalbaus alle im EU-Recht vorgesehenen restriktiven Bestimmungen an. Das gilt insbesondere für die Umweltverträglichkeitsprüfung. Die EU-Kommission nimmt das anerkennend zur Kenntnis, so Gróbarczyk.

Gdańsk und Gdynia

Der Güterumschlag der polnischen Meereshäfen nimmt rasant zu. Polen, im Zentrum Europas gelegen, wird zu einer zunehmend wichtigen Logistikdrehscheibe. Allein der Tiefwasser Container Terminal (TCT) in Gdańsk hat 2019 erstmals über 2 Millionen Standard-Container TEU (Twenty Foot Equivalent Unit) verladen. Diese Anzahl stieg 2021 auf bis zu 3 Millionen Stück an.

Mittelfristig könnte der TCT seine Kapazität auf 4 Millionen Container pro Jahr erhöhen. Den Terminal übernahmen im Mai 2019 der zu einem Investment Fonds in Singapur gehörende globale Hafenbetreiber PSA, der Polski Fundusz Rozwoju (PFR, Polnischer Entwicklungsfonds) und der australische IFM Global Infrastructure Fund.

Gdynia will einen Außenhafen bauen mit einer jährlichen Verladekapazität von 2 Millionen Containern, die noch um weitere 500 Tausend Stück aufgestockt werden könnte. Ende 2018 wurde ein sogenannter technischer Dialog mit am Bau dieses Außenhafens interessierten Firmen abgeschlossen.

Eine schnelle Verbindung über den geplanten Durchstich nach Elbląg ist beiden Häfen sehr willkommen. Sie wird den Einzeltransport von Containern nach Elbląg und dessen Umland von der Straβe nehmen, bündeln und beschleunigen.

                                                        Die Insel

Eine 2 Kilometer lange und 1,2 Kilometer breite künstliche Insel ist aus dem Schlick und Sand entstanden, die beim Ausheben des Kanals gewonnen wurden. Sie liegt etwa 2 bis 3 Meter über dem Meeresspiegel  und hat eine Fläche von 181 Hektar. Diese Insel dient als Vogelreservat und ist unzugänglich für Touristen. Sie entstand im Frischen Haff, in linker Fahrtrichtung nach Elbląg.

Künstliche Insel auf dem Satellitenfoto des Frischen Haffs als weiβer Kreis eingezeichnet.

Kaczyński, Tusk, der Kanal und die polnische Politik

Als erster polnischer Politiker wollte König Stefan Bathory 1576 den Kanalbau durch die Frische Nehrung in Angriff nehmen. Bathory führte zu jener Zeit Krieg gegen Danzig. Die mächtige und reiche Stadtrepublik, die im polnischen Staatsverband über erhebliche Autonomierechte verfügte, wollte die durch Bathory beabsichtigte Einschränkung nicht hinnehmen. Der Kanal sollte Elbing wirtschaftlich aufwerten und Danzig schwächen. Nach einem Jahr war der Konflikt beigelegt, die Idee des Kanalbaus wurde  verworfen.

König Stefan Bathory. Polnische Briefmarke von 1998.

Nachdem sich Preuβen während der ersten polnischen Teilung 1772 Elbląg genommen hatte, geriet der Kanal bis 1945, bis zum Ende der deutschen Herrschaft, völlig aus dem Blickwinkel der polnischen Politik. Nach 1945 brachten polnische kommunistische Vertreter einige Male den Gedanken zaghaft ins Gespräch, dem setzte jedoch jedes Mal ein schroffes sowjetisches „Njet“ ein Ende.

Nach 1989 wurde Jarosław Kaczyński zum führenden polnischen Verfechter des Kanalbaus. Das begann bereits mit den ersten halbfreien Wahlen im Frühjahr 1989. Der damals vierzigjährige konservative Bürgerrechtler und enge Mitarbeiter Lech Wałęsas, deren Wege sich bald trennen sollten, kandidierte für Solidarność in den Senat, die obere Parlamentskammer. Sein Wahlkreis: Elbląg.

Symbolisch. Jarosław Kaczyński stellt am 16. Oktober 2018 den letzten Markierungsstab zur Vermessung der Kanaltrasse auf.

Der Warschauer Jarosław Kaczyński kam so mit der russischen Blockade Elblągs in Berührung. Der Gedanke, sie mittels eines Kanalbaus zu durchbrechen, lieβ ihn seither nicht mehr los. Als seine Partei, Recht und Gerechtigkeit, im Herbst 2005 zum ersten Mal die Parlamentswahl gewann, leitete er als Ministerpräsident den Bau in die Wege. Der vorzeitige Sturz seiner Koalitionsregierung im Sommer 2007 und die in der Folge vorgezogenen Wahlen im Herbst desselben Jahres, die er verlor, setzten dem Vorhaben für die acht folgenden Jahre ein Ende.

Der kühne Plan wurde damals von den anderen Akteuren der polnischen Politik entweder ignoriert oder abgelehnt. Die bis 2005 einflussreichen Postkommunisten, die Polen 1993 bis 1997 sowie 2001 bis 2005 regiert hatten, wie auch ihr Staatspräsident Aleksander Kwaśniewski (1995 bis 2005) wollten sich mit Moskau  nicht anlegen.

Ebenso wie Ministerpräsident Donald Tusk (2007 bis 2014). Dessen Karriere-Traumziel, mit Hilfe seiner politischen Ziehmutter Angela Merkel, Präsident des Europäischen Rates zu werden, wäre unerreichbar geblieben , wäre ihm der Ruf vorausgeeilt, er sei ein antirussischer Politiker. Daher die zahlreichen Versuche Tusks, sich Wladimir Putin geradezu anzudienen, bis hin zu der Entscheidung. den Russen die Untersuchung der Smolensk-Flugzeugkatastrophe zu überlassen.

Eintracht hat groβe Macht. Donald Tusk zwischen Putin und Merkel, den künftigen EU-Spitzenjob vor Augen.

Lange Zeit versuchte Tusk als Regierungschef dem Thema Kanal so gut es ging aus dem Wege zu gehen, behauptete, man müsse „prüfen“, „untersuchen“, „nachdenken“, „dürfe nichts überstürzen“. Als aber das Finale seiner EU-Karrierebemühungen nahte, bezog Tusk im Juni 2013 bei einem Besuch in Elbląg klar Stellung:

„Wir haben heute in Polen eine riesige Zahl vorrangiger Investitionen zu tätigen. Bei einem solchen sehr teuren Kanalvorhaben von zweifelhaftem ökonomischen Nutzen handelt es sich nur um einen wahltaktischen Trick. Es graust einem geradezu, wenn man überlegt, was alles unsere Opponenten (gemeint sind Kaczyński und seine Partei Recht und Gerechtigkeit – Anm. RdP) noch alles durchgraben werden, welchen Fluss sie in die umgekehrte Richtung fließen lassen werden, welches Meer sie trockenlegen wollen, um Wahlen zu gewinnen. Ich empfehle ihnen, ein Bad im Haff zu nehmen. Das Wasser ist noch recht frisch und könnte vielleicht diese Ideen ein wenig abkühlen.“

Es wäre interessant zu erfahren, ob Donald Tusk diese Worte, beispielsweise in den Niederlanden, offiziell wiederholen würde.

Nach den gewonnen Parlamentswahlen im Herbst 2015 begann die nationalkonservative Regierung das Vorhaben mit Nachdruck umzusetzen. Am 24. Februar 2017 verabschiedete der Sejm mit 401 Stimmen, bei 9 Gegenstimmen und 18 Enthaltungen das Kanalbau-Gesetz. Beinahe die gesamte Opposition war damals dafür. Danach, vor allem im Wahlkampf vor den für den 13. Oktober 2019 angesetzten Parlamentswahlen, wetterten sie wiederum heftig dagegen.

Konsultationen mit Russland nicht erforderlich

Russische Politiker forderten Polen immer wieder auf, über russische Bedenken zum Kanalbau zu diskutieren. Polen sei als Unterzeichnerstaat der „Konvention zur grenzüberschreitenden Umweltverträglichkeitsprüfung“ (UVP), die 1991 im finnischen Espoo ausgehandelt worden war, dazu verpflichtet.

Briefmarke von 2022 zur Eröffnung des Durchstichs.

Die Konvention sieht vor, dass Vorhaben, die voraussichtlich erhebliche grenzüberschreitende Auswirkungen zum Nachteil der Umwelt haben werden, den betroffenen Vertragsparteien angekündigt werden müssen. Es sei zudem eine UVP durchzuführen und eine UVP-Dokumentation zu erstellen. Auch die Öffentlichkeit des möglicherweise betroffenen Gebietes muss über das geplante Projekt informiert werden. Sie soll eine Möglichkeit zur Stellungnahme im selben Umfang haben, wie die Öffentlichkeit des Urheberstaates.

Polen lehnte das ab und verwies darauf, dass Russland als einziger Ostseeanrainer die Espoo-Konvention nicht ratifiziert hat. Das erlaubte den Russen seinerzeit, jegliche ernsthaften Konsultationen über den Bau der Nord Stream 2-Gasleitung von Russland nach Deutschland unter der Ostsee abzulehnen. Genauso verhält es sich mit dem gerade stattfindenden Bau eines Kernkraftwerkes nordöstlich von Kaliningrad.

Des Weiteren lehnt Russland jegliche Gespräche über die ständige Verschmutzung des Frischen Haffs durch schlecht funktionierende Kläranlagen in der Fünfhundertausend-Einwohner-Stadt Kaliningrad ab.

Die Kosten

Als 2016 die ersten Bauvorbereitungen getroffen wurden, hieß es, die Errichtung des Kanals werde umgerechnet 205 Millionen Euro kosten. Anfang 2021 waren die Kosten bei umgerechnet  knapp 450 Millionen Euro angelangt. Schuld daran waren die zwischen 2016 und 2021 um etwa 30 Prozent gestiegenen Arbeits- und Materialkosten. Zudem wurde das Projekt erweitert.

Hinzugekommen ist der Bau einer neuen Brücke über dem Elbing-Fluss in Nowakowo, auf der Zufahrt vom Haff zum Hafen von Elbląg.  Außerdem sind über dem Kanal,  anstelle von zwei Hebebrücken zwei  funktionellere, aber auch teurere Drehbrücken entstanden. Teurer, weil, wie es sich erwies, notgedrungen aufwendiger, wird auch die Befestigung der Ufer des Elbing-Flusses auf der Zufahrt vom Haff in den Elbinger Hafen werden.

Proteste

Der gröβte Widerstand regte sich in Krynica Morska/Kahlberg, einem 1.300 Einwohner zählenden Ort am Ende des polnischen Teils der Frischen Nehrung, direkt an der russischen Grenze. Der schöne Ort lebt vom Tourismus. Immer wieder kam dort die Befürchtung zur Sprache, der Kanal werde den Ort in eine Insellage versetzen, die Zufahrt erschweren, Touristen wegen Staubildung verprellen.

Krynica Morska/Kahlberg (o). Einwohnerprotest.

Ein Film des Seeamtes in Gdynia zeigt jedoch, dass der Autoverkehr durch die Nehrung nach und von Krynica Morska, dank des Drehbrückensystems, zu keiner Zeit unterbrochen sein wird.

Der Link befindet sich am Ende des Beitrags.

Immer wieder wurde auch hervorgehoben, der Durchstich werde eine höhere Versalzung des Haffwassers im polnischen Teil verursachen. Das Gegenargument: Eine Schleuse im Kanal soll dauerhaft das Ökosystem des Haffs vom Ökosystem der offenen Ostsee trennen, so wie es jetzt auch umgesetzt wurde.

Völkerrecht

Im internationalen Seerecht existiert das verbriefte Prinzip der friedlichen Durchfahrt, das insbesondere für Meerengen gilt, wo unter Umständen das weitergehende Recht der Transitdurchfahrt Anwendung findet. Dieses Prinzip greift auch, wenn innerstaatliche Gewässer eines anderen Landes durchquert werden müssen, um eigene Gewässer zu erreichen. Beides trifft auf die polnische Situation im Frischen Haff zu. Im Gegensatz zum gewöhnlichen Küstenmeer darf hier, so die Bestimmungen, das Recht der friedlichen Durchfahrt auch nicht zeitweise eingeschränkt werden.

Das Konzept der freien Nutzung der Meere durch die Schiffe aller Staaten, häufig unter dem Schlagwort „Freiheit der Meere“ zusammengefasst, erwähnte 1609 erstmals Hugo Grotius als anerkanntes Prinzip des internationalen Rechts. 1958 hat man das Recht der friedlichen Durchfahrt im „Übereinkommen über das Küstenmeer und die Anschlusszone“ erstmals kodifiziert und 1982 im Seerechtsübereinkommen der Vereinten Nationen weiter ausgestaltet.

Dieses Prinzip wird zum Beispiel zwischen Belgien und den Niederlanden angewandt. Der Zugang zum belgischen Hafen Antwerpen an der Schelde führt teilweise über holländisches Gebiet, was völlig problemlos abläuft. Doch so verhielt es sich nicht im Frischen Haff.

Zum Schluss

Der Kanal ist nicht nur ein wichtiges wirtschaftliches Projekt. Es ist auch ein durch und durch politisches Vorhaben. Es soll, so der Ansatz seiner Befürworter, eine Maβnahme sein, die eine viel zu lange andauernde, konfliktträchtige und von Russland gewollte Unwägbarkeit endlich beheben soll.

Sehenswert:

Der Kanalbau in der Animation des Seeamtes in Gdynia

Keine Staus. Der Autoverkehr auf der Frischen Nehrung nach der Fertigstellung des Kanals. Animation des Seeamtes in Gdynia.

Lesenswert: Kaliningrads Probleme mit Kläranlagen. 

© RdP




28.09.2022. Die Italo-Schelte oder das Elend der Arroganz

Polens Staatspräsident Andrzej Duda hat es auf Twitter auf den Punkt gebracht: „Wie viel Überlegenheitsgefühl, Hochmut, Arroganz und Verachtung für demokratische Regeln muss man in sich tragen, um über das Ergebnis der Wahlen in einem anderen Land zu sagen: „Es gewannen nicht die, die gewinnen sollten! Es wurde falsch gewählt! Jetzt muss man dieses Land und seine Behörden an der Kehle packen!“?

Die vielen alarmistischen, oft geradezu hysterischen Reaktionen auf den Ausgang der italienischen Parlamentswahlen am 25. September 2022 waren vorhersehbar. Schließlich wiederholt sich seit Langem dieses Ritual jedes Mal, wenn sich irgendwo in Europa die Mehrheit der Bürger in einer demokratischen Wahl für konservative Parteien entscheidet. Und dennoch darf man danach nicht gleich zur Tagesordnung übergehen.

Schon wenn sich eine konservative Mehrheit anbahnt, beginnt mittlerweile das Ritual mit Einschüchterungsversuchen. Einen solchen Übergriff gestattete sich dieses Mal EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen bei ihrem Auftritt in der Princeton Universität in New Jersey. Drei Tage vor der Italien-Wahl drohte sie präventiv mit Rechtsstaatsverfahren gegen das Land: „Wir werden sehen, wie die Abstimmung in Italien ausgeht. Auch in Schweden fanden Wahlen statt. Wenn sich die Dinge in eine schwierige Richtung entwickeln, haben wir die Instrumente, wie im Fall von Polen und Ungarn.“

Die Wählerstimmen waren noch nicht ganz ausgezählt, da meldeten sich schon Politiker in Deutschland und in Frankreich (dort gleich die Premierministerin) zu Wort und verlangten die Beachtung von Menschenrechten und Demokratie. Es gibt jedoch keine Hinweise, dass solche Appelle berechtigt seien. Die Koalitionsregierung ist noch nicht einmal gebildet und es war bisher nicht vernehmbar, welche Menschenrechte sie einzuschränken gedenkt.

In Wirklichkeit ist die angeblich „ultrarechte“ „Postfaschistin“ und Wahlsiegerin Giorgia Meloni mit einem gemäßigt nationalen Programm angetreten. Dennoch wirkte es wie ein rotes Tuch auf die sich im Lauf der Jahre immer weiter radikalisierenden Linksliberalen in Berlin, Paris, in der Brüsseler EU-Zentrale und anderswo. Glauben sie wirklich, in Italien entsteht bald ein faschistisches Regime, oder tun sie nur so?

Dabei fordert Meloni weder den EU-Austritt noch will sie sich Putin an den Hals werfen. Ihr eindeutig transatlantischer Kurs in Richtung auf einen Schulterschluss mit Amerika und ihre Unterstützung für die Ukraine-Sanktionen sind, gerade in Italien, alles andere als selbstverständlich. Eigentlich müssten sie in der EU, besonders in der jetzigen, kritischen Phase des Krieges willkommen sein.

Meloni äußerte auf ihren Kundgebungen, sie sei eine Frau, eine Mutter, eine Italienerin und eine Christin. Solche Bekundungen passen eindeutig nicht in die Vorstellungen von einer modernen Gesellschaft, die dem heute meinungsführenden linken und linksliberalen Lager in Europa vorschweben. Wer sich so definiert, ist kein politischer Gegner mehr. Er ist ein Feind.

Dieser Begriff wird inzwischen ausgedehnt auf alle, die ihre nationale Identität wichtig finden, die die Wichtigkeit der traditionellen Familie betonen, aber auch die des Schutzes des ungeborenen Lebens, der Begrenzung der überbordenden Migration, einer solidarischen Sozialpolitik, die auch in Italien sehr vonnöten ist. Es sind Themen, die, als Auftrag formuliert, einst zum Grundsatzprogramm solcher Parteien, wie der CDU/CSU in Deutschland, gehörten. Damals galt das noch nicht als „populistisch“, „extrem rechts“ oder „postfaschistisch“.

Doch die Zeiten haben sich geändert. Die einst christlich-demokratischen Parteien in Europa haben längst diese politischen Positionen verlassen und sich weltanschaulich dem linksliberalen Lager ganz und gar angepasst. Solche Themen, wie sie heute Giorgia Meloni anspricht, sind für sie nur noch eine heiße Kartoffel, die sie nicht mehr anfassen wollen.

Doch die Themen sind geblieben. Sie bewegen Millionen von Menschen, die, wie gerade jetzt in Italien, damit leben müssen, u. a. als die Epigonen Mussolinis diffamiert zu werden.

RdP




Frankreich, Südkorea, USA. Wer wird Polens Atomkraftwerke bauen?

Wahrscheinlich doch die Amerikaner.

In den Betrachtungen und Analysen, wer Polen, das bis jetzt kein einziges AKW besitzt, mit ziviler Nukleartechnologie beliefern soll, wird eher ein verengter Blickwinkel gewählt: wer liefert was, zu welchem Preis und zu welchen Bedingungen. Doch in diesem Fall geht es nicht nur um eine rein technische oder wirtschaftliche Entscheidung. Es ist ein Schritt, der weitreichende Auswirkungen auf dem Gebiet der Sicherheits- und Außenpolitik haben wird.

Das erste polnische AKW wird wahrscheinlich in der Gegend von Gdańsk/Danzig entstehen und soll 2033 ans Netz gehen. Insgesamt sind sechs AKWs geplant. Nach 2033 soll alle zwei Jahre ein Atomkraftwerk fertiggestellt werden. Um die polnischen Nuklearaufträge ringen seit einigen Jahren drei Bieter. Wo liegen die Vor- und Nachteile bei einer Entscheidung für einen von ihnen?

Südkorea

Die Koreaner waren die Ersten, die ein konkretes Angebot in Warschau abgaben. Südkorea ist für Polen geradezu ein Vorbild dafür, wie sich ein sehr armes Land, das zudem einen unberechenbaren Nachbarn hat, in ein wirtschaftliches Kraftzentrum verwandeln kann. Der gefährliche Nachbar Seouls ist Nordkorea, für Polen ist es Russland.

Polen und Südkorea arbeiten bereits im Bereich der Verteidigung eng zusammen. Der Kauf von 1.000 südkoreanischen Panzern, annähernd 650 Panzerhaubitzen und 50 FA-50-Kampfjets ist der größte Auftrag in der Geschichte der polnischen Armee. Sehr wichtig aus polnischer Sicht ist bei diesem Projekt der Technologietransfer sowie die Vereinbarung, dass ein Teil der bestellten Ausrüstung in Polen von einheimischen Rüstungsunternehmen hergestellt werden soll.

Die Koreaner locken bei dem Bau von Kernkraftwerken ebenfalls mit großen Vorteilen. Das von Korea Hydro & Νuclear Power unterbreitete Angebot bezieht sich nämlich nicht nur auf den AKW-Bau, sondern auch auf die Zusammenarbeit bei der Produktion von Halbleitern und der Wasserstofftechnologie. Zudem wollen sich die Koreaner mit einem Anteil von 49 Prozent an dem gemeinsamen Projekt begnügen und beabsichtigen, koreanische Banken in die Finanzierung miteinzubeziehen.

Von einer zuverlässigen Vertragserfüllung kann man ausgehen. Die Koreaner haben bereits Erfahrung mit ähnlichen Projekten in den Vereinigten Arabischen Emiraten gesammelt. Das koreanische Angebot wäre das finanziell günstigste mit etwa 3 Milliarden Euro pro Gigawatt.

Die bisherigen Erfahrungen mit koreanischen Investitionen in Polen sind sehr gut. Korea ist jedoch kein NATO-Staat, liegt geographisch weit entfernt, und beide Länder verbinden keine gemeinsamen geostrategischen Interessen. Für Seoul ist Polen ein rein kommerzieller Kunde.

Die Koreaner zeigen sich sehr offen für eine Zusammenarbeit. Selbst dann, wenn Polen ihr Angebot nicht annehmen sollte, stünden sie als Lieferant von AKW-Ersatzteilen und Kernbrennstoff zur Verfügung. Ebenso enthält das Angebot eine Unterstützungszusage für die Entsorgung des atomaren Abfalls, was bei der Planung einer solchen Investition ebenfalls zu berücksichtigen ist

Frankreich

Paris lockt Polen mit seinen Angeboten und Versprechungen zur Nukleartechnologie seit über einem Jahrzehnt. In der Anfangsphase war der Adressat dieser Bemühungen die Regierung von Donald Tusk, die jedoch, trotz vieler vollmundiger Ankündigungen, den AKW-Bau nie in Angriff genommen hat. Eine Weile nach dem Wahlsieg der Nationalkonservativen im Herbst 2015 eröffnete der französische Staatsmonopolist Électricité de France (EdF) erneut sein Büro in Warschau und begann nun die Regierung von Recht und Gerechtigkeit zu umwerben. Frankreich ist zweifellos das europäische Land mit der größten Erfahrung auf diesem Gebiet. Es bezieht zudem mehr als 70 Prozent seiner eigenen Energie aus dieser Quelle.

Eine Zusammenarbeit mit den Franzosen wäre sinnvoll, wenn Paris und Warschau durch eine strategische Allianz in Europa verbunden wären. Paris jedoch arbeitet hauptsächlich mit Berlin zusammen und schließt eine politische Zusammenarbeit mit der Regierung in Warschau aus. Wenn es nichts zu verkaufen gibt, „würdigen“ die Franzosen Polen, wie auch ganz Ostmitteleuropa, mit Nichtachtung.

Zudem muss man davon ausgehen, dass Paris, nach dem Ende des Ukraine-Krieges, unabhängig von dessen Ausgang, erneut, wie wahrscheinlich Berlin auch, auf eine enge Zusammenarbeit mit Russland setzen wird. Staatspräsident Macrons lange Telefongespräche mit Putin und die vielen französischen Firmen, denen, trotz Sanktionen, ihr Russland-Geschäft wichtiger ist als das Leben der Ukrainer, sind deutliche Indizien dafür.

EdF hat im Oktober 2021 ein erstes Angebot für Kernkraftwerke in Polen abgegeben. Die Regierung in Paris würde eine finanzielle Unterstützung für diese Investition garantieren. Die französischen Reaktoren des Typs EPR haben eine Betriebsdauer von 65 Jahren und würden zwischen 35 und 50 Milliarden Euro kosten, bei einer Leistung von 6,5 Gigawatt. Mindestens die Hälfte der Investitionen würde ausführenden polnischen Unternehmen zufließen, versichert die französische Seite.

Auch EdF hat Erfahrung mit der Durchführung internationaler Investitionen, z. B. im Vereinigten Königreich oder in Finnland. Im letztgenannten Fall kam es allerdings zu Verzögerungen und erheblichen technischen Problemen. Paris eilt inzwischen den Fakten voraus und unterzeichnet Kooperationsvereinbarungen mit zahlreichen polnischen Unternehmen, die sich an dem Projekt beteiligen könnten. Es ist eine Form der Druckausübung auf die polnische Regierung.

Vereinigte Staaten

Die Amerikaner sind von Anfang an die Favoriten in diesem Rennen. Sie setzen auf die Technologie von Westinghouse, das sichere und effiziente Anlagen vom Typ AP1000 herstellt. Eine erste Entscheidung wird für Ende Oktober 2022 erwartet. Finanziell liegt das Angebot in der Mitte der drei Gebote. Polen soll für Kraftwerke mit einer Gesamtkapazität von 6,7 Gigawatt rund 4,3 Milliarden Euro pro Gigawatt bezahlen, was weniger ist, als die Franzosen verlangen. Die Amerikaner garantieren auch eine höhere Beteiligung polnischer Unternehmen an diesem Projekt als die Koreaner.

Allerdings halten die Amerikaner nicht immer ihre Versprechungen ein. Ein Beispiel dafür sind die ersten sogenannten Offset-Abkommen für amerikanische Rüstungsgüter im Jahr 2003. Damals wurden lediglich 500 Millionen von den versprochenen mehreren Milliarden Dollar investiert. Nur 20 Prozent der 44 mit der polnischen Regierung eingegangenen Verpflichtungen wurden erfüllt. Der Vertrag über die Lieferung von 48 F-16 Kampfjets entpuppte sich in dieser Hinsicht damals als ein einziger Skandal.

Doch die USA sind sich heute darüber im Klaren, dass man in Europa vor allem mit Warschau in Sachen Ukraine-Krieg konstruktiv zusammenarbeiten kann, während sich Berlin und Paris als unsichere Kantonisten entpuppt haben. Es ist daher davon auszugehen, dass sie dieses Mal ihre Verpflichtungen ernst nehmen werden. Es gibt von polnischer Seite aber auch keinen Grund, mit einer Vorzugsbehandlung zu rechnen. Das amerikanische Angebot sollte ebenfalls sehr gründlich analysiert werden.

Das Fundament der polnischen Außen- und Sicherheitspolitik ist die strategische Zusammenarbeit mit den Vereinigten Staaten. Ein politisch-militärisches Bündnis mit der größten Macht der Welt, riesige polnische Rüstungsaufträge an die USA sowie eine ständige und kontinuierlich erweiterte amerikanische Truppenpräsenz an der Ostflanke der NATO spannen einen Schutzschirm über Polen.

Auf dem Energiemarkt sind Polen und die USA bereits durch die Einfuhr von amerikanischem Flüssiggas verbunden. Warschau geht davon aus, dass die Amerikaner Energieanlagen, die ihnen langfristig Gewinn bringen, militärisch schützen werden.

Die von Westinghouse angebotenen Druckwasserreaktoren sind eine bewährte und sichere Konstruktion, die in vielen Teilen der Welt in Betrieb ist. Die Amerikaner bieten ein komplettes Paket an, einschließlich technischer Unterstützung und Finanzierung. Für Letzteres sollen die staatliche EXIM-Bank und die Development Financial Corporation zuständig sein. Die Amerikaner sind in diesem Fall daher auch ein guter Verbündeter, sollten Deutschlands AKW-Gegner in Regierung und Öffentlichkeit die Investitionen behindern wollen.

Auf der anderen Seite befürchtet man in Warschau, dass die Amerikaner die Kosten zu hoch ansetzen und den Termin für die Inbetriebnahme hinauszögern könnten. Das ist etwas, was sich Polen in Zeiten der Energiekrise nicht leisten kann und will.

Westinghouse argumentiert, dass es bereits vorläufige Kooperationsvereinbarungen mit mehr als 500 polnischen Unternehmen unterzeichnet hat und dass mehr als umgerechnet 21 Milliarden Euro, die für den Bau des Kraftwerks ausgegeben wurden, nach Polen zurückfließen sollen . Im Moment sind das Versprechungen. Wie viel sie wert sind, wird sich erst während der Vertragsverhandlungen zeigen.

© RdP




Ein Jude, der Polen liebte

Am 22. September 2022 starb Edward Mosberg.

Das polnische Verdienstkreuz am Band trug er mit aufrichtigem Stolz bei jedem öffentlichen Auftritt. Edward Mosberg war Jude, Holocaustüberlebender, amerikanischer Geschäftsmann und ein unverbrüchlicher polnischer Patriot. 

Unverbrüchlich heißt nicht, unkritisch. Im Januar 2018 verabschiedete der Sejm eine Novelle zum Gesetz über das Institut des Nationalen Gedenkens (IPN, in etwa vergleichbar mit der deutschen Gauck-Behörde). Die Novelle sah sinngemäß vor, dass jeder, der öffentlich und faktenwidrig unterstellt, die deutschen Naziverbrechen seien vom polnischen Staat oder Volk begangen worden, zu einer Geld- oder einer Freiheitsstrafe von bis zu drei Jahren verurteilt werden kann.

Edward Mosberg beim Marsch der Lebenden im ehemaligen Stammlager Auschwitz im Mai 2019.

Nie um ein deutliches Wort verlegen

Dazu ein Fragment eines Interviews mit Mosberg im polnischen Wochenmagazin „Sieci“ („Netzwerk“) im Frühjahr 2018:

„Letzte Woche haben Sie sich mit Premierminister Mateusz Morawiecki getroffen.

Es war ein sehr angenehmes Treffen. Er ist ein sehr netter Mann. Ich erzählte ihm mein Leben, meine Geschichte. Ich habe ihm auch meine Meinung über das IPN-Gesetz mitgeteilt. Ich habe gesagt, dass mit diesem Gesetz Spannungen zwischen Polen und der ganzen Welt aufgebaut wurden. Es sollte geändert werden, damit Frieden herrscht.

Mit diesem Gesetz wollte Polen gegen das ständige Gerede von „polnischen Todeslagern“ vorgehen. Das war das wichtigste und im Grunde einzige Ziel.

Es gab keine „polnischen Todeslager“, es waren alles deutsche! Trotz des Geredes war dieses Gesetz nicht zwingend notwendig.

Wie hat der Premierminister auf Ihre Worte reagiert?

Er hat sie zur Kenntnis genommen. Er hat mehr Zeit mit mir verbracht, als geplant war. Ich habe dem Premierminister erklärt, dass es notwendig ist, aus der Sache herauszukommen und etwas zu unternehmen.“

Mosbergs geliebtes Polen nahm Schaden, also musste er unbedingt etwas dagegen unternehmen. Das Gesetz war nicht sinnvoll und wurde letztendlich aufgehoben, wozu auch er seinen kleinen Beitrag geleistet hat.

Doch auch darüber hinaus gab es für ihn viel Anlass, offen zu sagen, was Sache ist. So unter anderem im Februar 2019. Damals hatte sich der israelische Außenminister Israel Katz dazu verstiegen, die Worte des israelischen Premierministers Yitzhak Shamir aus dem Jahr 1989 öffentlich zu zitieren, die Polen hätten „den Antisemitismus mit der Muttermilch aufgesogen“. Mosbergs Kommentar dazu in der „Times of Israel“: Katz sei ein „dummer Idiot“, weil er Polen beleidigt. „Leider“, so Mosberg, „gibt es gegen Dummheit keine Medizin“.

Der Entschluss Warschaus, daraufhin alle offiziellen Kontakte mit Israel einzufrieren, war in seinen Augen das einzig Richtige, was die Polen tun konnten. „Das soll andauern, bis Katz sich entschuldigt oder aus der Regierung geworfen wird“. Jetzt ist Mosberg gestorben und das mühsame Aufräumen des vielen damals zerschlagenen politischen Porzellans in den israelisch-polnischen Beziehungen ist lange noch nicht beendet.

Edeks Martyrium

Edward Mosbergs Geburtsstadt war Kraków, wo er 1926 in einer vermögenden, weitgehend polonisierten jüdischen Kaufmannsfamilie zur Welt kam. Edwards Eltern betrieben ein Kaufhaus. Die sorgenfreie, glückliche Kindheit in der ehrwürdigen polnischen Königsstadt prägte ihn bis an sein Lebensende. Polen war seine Heimat, die polnische Kultur und Tradition sein Milieu.

Familie Mosberg vor dem Krieg in Kraków. Nur Edek (l.i.B) hat überlebt.

Nach dem deutschen Einmarsch begann auch für den 13-jährigen Edek das Martyrium. Der gesamte Familienbesitz ging an einen deutschen „Treuhänder“ über. Vater Mosberg wurde eines Tages auf offener Straße aus nichtigem Grund von einem uniformierten Deutschen ermordet. Die übrige Familie, darunter die Großeltern, die Mutter und zwei Schwestern, musste im September 1941 ins Krakauer Ghetto. Während der stufenweisen brutalen Auflösung des „Jüdischen Wohnbezirks“ wurde die Familie durch Deportationen auseinandergerissen. „Außer mir“, so Mosberg, „wurden alle Übrigen von den Deutschen in den deutschen Todeslagern ermordet. Meine Großeltern in Bełżec, meine Mutter in Auschwitz, die Schwestern in Stutthof“.

Er selbst kam ins Konzentrationslager Plaszow vor den Toren Krakaus. Es war vor allem eine Durchgangsstation für Juden aus Krakau und Kleinpolen zur weiteren Deportation, deren Ziel meist Auschwitz-Birkenau war. „Ich habe in Plaszow im Büro des Lagerkommandanten, des SS-Hauptsturmführers Amon Göth, gearbeitet“, berichtete Mosberg. „Ich kann von großem Glück sprechen, dass ich überlebt habe, denn vor der Bestie Göth war niemand sicher“.

Das Konzentrationslager Plaszow 1942.

Das heute wenig bekannte Lager umfasste 80 Hektar und beherbergte zeitweise zwanzigtausend Häftlinge. Etwa einhundertachtzig Baracken waren von einem Stacheldrahtzaun umgeben. Ungefähr 8.000 Menschen wurden in diesem Lager ermordet, die überwiegende Mehrheit von ihnen Juden, aber auch eine kleine Gruppe von Polen.

Göth wohnte in einer Villa auf dem Gelände des Lagers. Er hatte mehrere Pferde und Autos. Mosberg berichtete, wie Göth es genoss, durch das Lager zu reiten, oder wie er mit seinem BMW rasend schnell durch die Gegend fuhr. Seinen beiden Hunden hatte er beigebracht, auf Kommando nach Menschen zu schnappen. Göth verwaltete nicht nur das Lager, er ermordete selbst auf grausame Weise Häftlinge und nutzte jede Situation, um Menschen zu töten.

Mosberg sah wie er eine ausgehungerte Gefangene erschoss, als er bemerkte, dass sie Kartoffeln aus dem Schweinefutter herauslas. Es sind Fälle bekannt, in denen Göth die Hinrichtung ganzer Arbeitskommandos anordnete, nur weil man bei ihnen Essen von außerhalb des Lagers fand. Mosberg war Zeuge, wie Göth seine Schießkünste vervollkommnete, indem er aus dem Autofenster oder vom Balkon seiner Villa auf Gefangene schoss. Er brachte eigenhändig mindestens 500 Menschen um.

Plaszow-Lagerkommandant Amon Göth mit seinem „Jagdgewehr“.

Anfang 1944 wurde Mosberg nach Österreich verlegt und arbeitete als Zwangsarbeiter im KZ Mauthausen-Gusen und in den Hermann-Göring-Stahlwerken in Linz. Während seiner Inhaftierung trug er die Lagernummer 85454. Beim dortigen Kriegsende, am 5. Mai 1945, brachte man ihn mit einigen Hundert anderen Häftlingen in eine Höhle, die durch Dynamitladungen gesprengt werden sollte, was jedoch nicht geschah.

Mosberg kehrte zurück nach Krakau. Der einzige Mensch aus dem jüdischen Milieu, den er aus der Vorkriegszeit kannte und den er dort traf, war die junge Cesia Storch, die mit Edeks Schwestern nach Stutthof deportiert worden war. Auch sie hatte alle Angehörigen verloren. Die beiden heirateten und blieben ein Ehepaar bis zu ihrem Tod im Jahr 2020. 

Flucht vor dem Kommunismus

Das Nachkriegselend, die Vereinsamung und der von den Sowjets nach Polen gebrachte und immer weiter um sich greifende kommunistische Terror bewegten das Paar zur Ausreise. Mosberg hatte wegen seiner „bürgerlich-kapitalistischen“ Herkunft, als ein „klassenfremdes Element“, ohnehin keine guten Chancen in der neuen, sozialistischen Gesellschaft Fuß zu fassen. Zudem wollte er Geschäftsmann werden, was in der kommunistischen Planwirtschaft, die keine „Privatinitiative“ duldete, nicht zu verwirklichen war.

Edward Mosberg mit Ehefrau Cesia (später Cecile).

Die beiden entschlossen sich auszureisen. Noch hatte sich der Eiserne Vorhang nicht endgültig über Osteuropa gesenkt, noch wurde die Tätigkeit verschiedener jüdischer „Auswandererkommitees“ mit Verbindungen nach Westeuropa und in die USA toleriert. Die Mosbergs gelangten 1947 nach Belgien. 1951 machten die kommunistischen Behörden die Grenzen endgültig dicht.

Mit zehn Dollar in der Tasche gingen die Mosbergs im selben Jahr in den USA an Land. Dort ließen sie sich zuerst in Harlem, New York, nieder und dann in Union County, New Jersey. Sie bekamen drei Töchter. In den USA arbeitete Edward Mosberg in verschiedenen Berufen, hatte schließlich in der Immobilienbranche Erfolg und wurde wohlhabend. Er besaß die polnische und die US-amerikanische Staatsbürgerschaft.

Die Großfamilie Mosberg in den USA. Edward hatte drei Töchter, sechs Enkelkinder und vier Urenkel.

„Ich weiß wie es war“ 

Die letzten etwa dreißig Jahre seines Lebens widmete der pensionierte Unternehmer dem Gedenken an den Holocaust. Seine starke Persönlichkeit und eine geradezu eiserne Kondition trugen wesentlich dazu bei, dass seine Stimme gut hörbar war. Seine ungebrochene Bereitschaft Polen und die Polen vor ungerechten, verallgemeinernden Anschuldigungen in Bezug auf den Holocaust, die in der jüdischen Diaspora in den USA, in Israel und in Deutschland erhoben wurden, in Schutz zu nehmen, machten ihn in Polen bekannt, sorgten für Respekt und Anerkennung.

Staatpräsident Andrzej Duda begleitet Edward Mosberg beim Marsch der Lebenden im April 2022. Hier im Innenhof des Todesblocks von Auschwitz, wo Massenerschießungen stattfanden.

„Ich habe vor dem Krieg in Polen gelebt, ich habe den Krieg in Polen erlebt, ich weiß wie es war. Es war so…“. So begannen meistens seine Klarstellungen, Kommentare und Appelle, die er vor den Medien, stets an seiner Jacke und Mütze als Holocaustüberlebender zu erkennen, preisgab. Glaubwürdigkeit konnte man ihm nicht absprechen.

Edward Mosberg war ein großer polnischer Patriot. Ich kenne keine andere Person aus der Gemeinschaft der Holocaustüberlebenden, die die Polen und Polen mit solcher Entschlossenheit verteidigen würde. Trotz der Tatsache, dass er Angriffen aus verschiedenen Kreisen ausgesetzt war, hat er sich immer für Polen eingesetzt, davor habe ich den größten Respekt“, sagte Staatspräsident Andrzej Duda, als ihn die Nachricht von Mosbergs Tod in New York, während er an der UN-Vollversammlung teilnahm, erreichte.

Edward Mosberg und Staatspräsident Andrzej Duda pflegten einen sehr herzlichen Umgang. Hier beim Treffen im Präsidentenpalast im September 2021.

Andrzej Duda und seine Ehefrau Agata unterbrachen ihr offizielles Programm in New York und fuhren nach New Jersey, um an den Trauerfeierlichkeiten teilzunehmen. Dort gab Duda bekannt, Mosberg posthum das Großkreuz des Verdienstordens der Republik Polen verliehen zu haben. Das Kommandeurskreuz desselben Ordens hatte er bereits 2019 erhalten.

„Die Türen des Präsidentenpalastes“, so Duda am Sarg des Verstorbenen, „standen Edward Mosberg immer offen.“ Er erinnerte daran, dass er Mosberg 2022, bei seinem letzten Marsch der Lebenden in Auschwitz begleitet hatte. „Er bat mich Anfang dieses Jahres, mit ihm am Marsch der Lebenden in Auschwitz teilzunehmen. Ich habe sofort zugesagt, weil ich befürchtete, dass das sein letzter Marsch der Lebenden sein könnte.“

Er habe geplant, so Duda weiter, Mosberg während seines Besuchs in den USA zu treffen. „Wir waren im polnischen Generalkonsulat in New York verabredet, wir hatten einen Termin. Leider hat ihn die Verschlechterung seines Gesundheitszustands daran gehindert zu kommen. (…) Seine letzten Worte, die er vor zwei Tagen mit sehr schwacher Stimme am Telefon an uns richtete, waren: »Ich liebe Polen«“.

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Polen im Leben der Queen

Margaret Thatcher ebnete den Weg.

Jahrelang distanzierte sich die am 8. September 2022 verstorbene Königin Elisabeth II., wie die meisten britischen Politiker, von Kontakten mit kommunistischen Ländern, darunter auch mit der Volksrepublik Polen. Nach dem Ende des Kommunismus änderte sich die Situation. Die Königin empfing drei aufeinanderfolgende polnische Staatspräsidenten, beehrte Polen mit einem Staatsbesuch und traf dreimal mit dem polnischen Papst Johannes Paul II. zusammen.

Begegnungen zwischen der britischen Monarchin und den Inhabern der wichtigsten Ämter in Polen wurden erst nach der politischen Wende von 1989 möglich. Eine Ausnahme von dieser Regel gestattete sich ihr Ehemann Philip, Herzog von Edinburgh, der im August 1975 nach Sopot kam, wo er als Teilnehmer eines Wettbewerbs im Gespannfahren und gleichzeitig als Präsident des Internationalen Reitsportverbandes (FEI) auftrat. Im Rahmen dieser Reise besuchte er auch Warschau und den Białowieża-Urwald. Zweifellos jedoch wurde der Weg nach Polen von der britischen Premierministerin Margaret Thatcher geebnet, die im November 1988 Warschau und Gdańsk besuchte.

Ein Bankett zu Ehren von Lech Wałęsa und der Staatsbesuch in Polen

Im April 1991 empfing Elisabeth II. den wenige Monate zuvor gewählten polnischen Staatspräsidenten Lech Wałęsa und seine Frau Danuta, auf Schloss Windsor. Ihm zu Ehren gab die Königin ein feierliches Bankett.

Polen besuchte die britische Monarchin ein paar Jahre später, am 25. bis zum 27. März 1996. Es herrschte denkbar schlechtes Frühlingswetter mit viel Regen und heftigem Wind.

Offizielle Begrüßungszeremonie im Innenhof des Präsidentenpalastes am 25. März 1996.

Am 25. März wurde Elisabeth II. im Innenhof des Präsidentenpalastes von Staatspräsident Aleksander Kwaśniewski und seiner Frau offiziell begrüßt. An der Zeremonie nahmen die Spitzen des polnischen Staates teil. Die Königin wurde auf ihrem Staatsbesuch von vierzig Personen begleitet, darunter u. a. von Außenminister Malcolm Rifkind. Zu ihrem engen Gefolge gehörten zwölf Personen, darunter der persönliche Sekretär der Königin, Hofdamen, der königliche Stallmeister, ein Leibarzt, Garderobieren und ein Friseur.

Nach der Begrüßungszeremonie führte die Königin ein kurzes Gespräch mit Präsident Kwaśniewski. Orden und Geschenke wurden ausgetauscht. Die Königin verlieh dem Präsidenten den Bathorden. Aleksander Kwaśniewski überreichte Elisabeth II. die höchste Auszeichnung Polens, den Orden des Weißen Adlers.

Am selben Tag legten Elisabeth II. und der Herzog von Edinburgh einen Kranz am Grabmal des Unbekannten Soldaten nieder. Die Königin pflanzte symbolisch einen  Baum (Stieleiche) in der Nähe, um so des 400-jährigen Bestehens Warschaus als Hauptstadt zu gedenken.

Entlang eines dichten Spaliers von Warschauern und Touristen, mit denen sie mehrfach kurze Gespräche führte, machte Elisabeth II. einen Spaziergang durch die Altstadt. Anschließend besuchte sie das königliche Schloss. Dort eröffnete sie in Anwesenheit von Präsident Aleksander Kwaśniewski die Ausstellung „Adler und Löwe“ über die polnisch-britischen Beziehungen. Die Königin betonte, dass damit der 900-jährigen Kontakte zwischen den beiden Ländern gedacht werde.

Staatspräsident Aleksander Kwaśniewski gab ein offizielles Abendessen zu Ehren des britischen Königspaares.

Königin Elisabeth II. und Prinz Philip gedachten ebenfalls der Opfer des Holocausts und legten einen Kranz am Mahnmal am Umschlagplatz nieder, von wo aus die Juden des Warschauer Ghettos in die Gaskammern von Treblinka abtransportiert worden waren. Am Abend fand im Präsidentenpalast ein offizielles Abendessen statt, das von Präsident Kwaśniewski zu Ehren des Königspaares gegeben wurde.

Elisabeths II. denkwürdige Sejm-Rede

Am zweiten Tag ihres Staatsbesuches hielt die Königin eine Rede vor den beiden Kammern des polnischen Parlaments.

Elisabeth II. spricht am 26. März 1996 vor dem polnischen Parlament.

„Ich bin mir bewusst, dass ich hier im Herzen der polnischen Demokratie stehe“, begann die Königin ihre Ansprache von der Rednertribüne des Sejm aus. Die Monarchin erinnerte an die reichen dynastischen, handelspolitischen und politischen Kontakte zwischen den beiden Ländern, die mit ihrem Vorfahren König Knut dem Großen begannen, der ein Neffe des polnischen Königs Bolesław des Tapferen war. Sie erinnerte auch an die Zeit des Zweiten Weltkriegs. „Wer weiß“, sagte sie, „ob die Flamme der Freiheit nicht erloschen wäre, wenn Polen uns in jenen Tagen nicht beigestanden hätte“ und gedachte so der polnischen Einheiten, die zu Lande, zu Wasser und in der Luft an der Seite der Briten gekämpft hatten.

„Der Krieg hat uns geeint, aber auch gespalten, denn das Jahr 1945 hat nicht allen die Freiheit gebracht“, erinnerte Elisabeth II. „Umso mehr freut es uns, dass Polen seine volle Souveränität wiedererlangt hat und dass Sie die Entscheidung getroffen haben, sich um die Mitgliedschaft in den europäischen und westlichen Institutionen zu bewerben“, betonte sie. „Wir unterstützen nachdrücklich die Erweiterung der Europäischen Union und der NATO, wir sind solidarisch mit Ihrem Bestreben, diesen Organisationen beizutreten, und wir sind fest davon überzeugt, dass dieses Bestreben von keinem Land mit einem Veto belegt werden kann“, so ihre Erklärung. (Polen trat1999 der Nato und 2004 der EU bei).

„Polen braucht Europa. Aber Europa braucht auch Polen“, sagte Elisabeth II. Die Sejm-Abgeordneten und die Senatoren antworteten mit Ovationen, als sie auf Polnisch sagte: „Polen soll Polen sein“.

Der Sprecher des Buckingham Palastes, Charles Anson, eröffnete an diesem Tag vor der Presse, dass die Königin ein wichtiges Teilstück ihrer Rede ausgelassen hatte. Laut dem Text, der den Journalisten zuvor übergeben worden war, handelte es sich um den folgenden Absatz: „Wir werden auch nie das Leiden des polnischen Volkes während der Nazi-Besatzung und das schreckliche Schicksal der polnischen Juden vergessen können.“ Anson behauptete, der Grund für die Auslassung sei ein „menschlicher Fehler“ gewesen. Er fügte hinzu, dass die Königin, wie sie es bereits früher geäußert hat, sich des Leidens der polnischen Nation und der jüdischen Gemeinschaft voll bewusst sei.

Geräucherter Lachs in Dillsauce

Noch vor ihrer Rede im Parlament besuchte die Königin am 26. März 1996 das Stefan-Batory-Gymnasium in Warschau. Sie sah sich eine Aufführung eines Fragments von „Pan Tadeusz“ an, das von den Schülern aufgeführt wurde. Sie sprach mit den Jugendlichen und Lehrern. Sie besuchte eine Ausstellung über die Geschichte der Schule, die speziell für ihren Besuch vorbereitet worden war. Anschließend traf sie mit einer Gruppe von Lehrern und mehreren Dutzend Schülern zusammen, die sich in ihren schulischen Leistungen besonders hervorgetan hatten.

Im Warschauer Schloss Belvedere empfing Elisabeth II. den damals schon ehemaligen Staatspräsidenten Lech Wałęsa, Er hatte sie nach Polen eingeladen, war aber zwischenzeitlich abgewählt worden.

Während ihres Aufenthalts in Warschau wohnte die Königin im Schloss Belvedere. Dort empfing sie am zweiten Tag ihres Besuchs den damals schon ehemaligen Staatspräsidenten Lech Wałęsa, auf dessen Einladung sie nach Polen gekommen war. Nach dem Treffen wiederholte Wałęsa eine Äußerung, die er bereits während seines Besuchs in Großbritannien im Jahr 1991 gemacht hatte, als er die britische Königin als Mutter der Nation bezeichnet hatte, die diese in schwierigen Situationen aufzurichten weiß. „In Demokratien wird gezögert und debattiert, und es gibt keine Kontinuität und niemanden, der den Emotionen der Wähler nicht nachgibt“, sagte Walesa.

Die Königin besuchte an diesem Tag auch den British Council. Sie enthüllte eine Gedenktafel zur Erinnerung an ihren Besuch und die Eröffnung der neuen Büros, der Bibliothek und des Sprachzentrums. Sie wohnte dem Englischunterricht bei. Im Palast auf dem Wasser im Lazienki-Park traf die Königin mit Mitarbeitern der britischen Botschaft zusammen.

Am 26. März gab das Königspaar außerdem ein Mittagessen im Hotel Bristol zu Ehren von Präsident Aleksander Kwaśniewski und seiner Frau. Anwesend waren die wichtigsten polnischen Persönlichkeiten aus Politik, Wirtschaft, Wissenschaft und Kultur. Den Gästen wurde geräucherter Lachs in Dillsauce, gebratenes schottisches Lammfleisch in Minzsauce mit Dariole-Kartoffeln und eine delikate Ahornmousse serviert. Ausgeschänkt wurden Weiß- und Rotweine sowie drei Sorten Whisky.

Am Nachmittag legte die Königin einen Kranz am Denkmal für die im August 1944 gefallenen Piloten der Royal Air Force nieder, die Versorgungsflüge für das schwer umkämpfte Warschau absolviert hatten.

Zur gleichen Zeit besuchte Prinz Philip das Zentrum für britisches und europäisches Recht an der Universität von Warschau. Er führte Gespräche mit dem Rektor sowie mit Mitgliedern des Senats der Universität und mit Studenten. Zwischen der Universität Warschau und der Universität Cambridge (der Herzog war Kanzler der Universität) wurde ein Kooperationsabkommen unterzeichnet.

Am Abend folgte das Königspaar im Nationaltheater der Balett-Aufführung „Die unbehütete Tochter“ mit der Musik von Ferdinand Hérold. Zu diesem Anlass fand ebenfalls ein Treffen zwischen der Königin und geladenen Kulturschaffenden statt.

Ein Tag in Krakau

Am dritten Tag ihres Besuchs in Polen, dem 27. März 1996, flogen Elisabeth II. und ihr Ehemann Prinz Philip nach Krakau. Sie besuchten die Sehenswürdigkeiten der Stadt, das Königsschloss Wawel, die Kathedrale, in der Elisabeth II. mit dem Metropoliten von Krakau, Kardinal Franciszek Macharski, zusammentraf. In der Krypta der Kathedrale legte sie Blumen an den Gräbern von General Władysław Sikorski und Marschall Józef Piłsudski nieder.

Im Schneetreiben vor den Tuchhallen. Elisabeth II.  am 27. März 1996 in Krakau.

Begleitet von einer Polizeieskorte schlenderte Königin Elisabeth trotz des Schneefalls über den Krakauer Markt, wo sie von zahlreichen Einwohnern der Stadt, Pfadfindern und Studenten begrüßt wurde. Auf dem Programm standen die Tuchhallen, das Anhören des Hejnals, der zu jeder vollen Stunde vom Turm der Marienkirche geblasen wird, sowie die Besichtigung des Veit-Stoss-Altars aus dem 15. Jahrhundert in der Marienkirche. Prinz Philip besuchte parallel das ehemalige jüdische Viertel Kazimierz, das jüdische Kulturzentrum und die Remuh-Synagoge.

Von Krakau aus flog das Königspaar zurück nach Großbritannien.

Der Besuch von Lech Kaczyński

Der dritte polnische Präsident, der sich mit der britischen Monarchin traf, war Lech Kaczyński. Er und seine Frau Maria trafen am Nachmittag des 6. November 2006 zu einem offiziellen Besuch auf Einladung von Premierminister Tony Blair in London ein. Am 7. November 2006 wurden Lech und Maria Kaczyński von Königin Elisabeth II. bei einer Privataudienz im Buckingham Palast empfangen.

Staatspräsident Lech Kaczyński und Ehefrau mit Elisabeth II. bei der Privataudienz im Buckingham Palast am 7. November 2006.

„Mit tiefer Trauer habe ich vom Tod des Präsidenten Lech Kaczyński und der First Lady, Frau Kaczyński, erfahren. Aus diesem traurigen Anlass erinnere ich an die lange und achtungsvolle Karriere von Präsident Kaczyński im Dienste des Staates und an seine Rolle in der Solidarność-Bewegung. Der Tod vieler anderer führender polnischer Persönlichkeiten, darunter der des ehemaligen Staatspräsidenten im Exil Ryszard Kaczorowski, macht diese Tragödie noch einschneidender. Ich möchte dem gesamten polnischen Volk mein tiefstes Mitgefühl aussprechen“, schrieb die britische Monarchin am 10. April 2010, kurz nach der Katastrophe von Smolensk, in einem Beileidsbrief.

Begegnungen mit Johannes Paul II.

Elisabeth II. traf dreimal mit dem polnischen Papst Johannes Paul II. zusammen. Es sei daran erinnert, dass Großbritannien, nach dem Bruch mit Rom durch Heinrich VIII. im 16. Jahrhundert, die Beziehungen zum Vatikan erst 1914 wieder aufnahm und erneut eine Gesandtschaft beim Vatikan einrichtete.

Elisabeth II. war die erste britische Monarchin, die dem Vatikan einen Staatsbesuch abstattete. Das geschah am 5. Mai 1961 während des Pontifikats von Papst Johannes XXIII. Ihre erste Audienz bei Johannes Paul II. fand am 17. Oktober 1980 im Vatikan statt. Die Königin wurde dabei von ihrem Ehemann begleitet.

Viel wichtiger jedoch war das zweite Treffen, das am 28. Mai 1982 im Buckingham Palast stattfand. Der Papst besuchte Elisabeth in einer für die Briten schwierigen Zeit. Der Krieg mit Argentinien um die Falklandinseln und der interne Konflikt in Nordirland, der religiös motiviert war, dauerten noch an. Sowohl die IRA als auch die protestantischen Milizen schreckten nicht vor Gewalt zurück. Die Pilgerreise von Johannes Paul II. nach Großbritannien im Jahr 1982 war der erste Besuch eines Oberhaupts der katholischen Kirche in diesem Land seit der Reformation. Im selben Jahr wurde Sir Mark Evelyn Heath zum ersten britischen Botschafter beim Heiligen Stuhl seit 1534 ernannt.

Der Vatikan am 17. Oktober 2000. Elisabeths II. letztes Treffen mit dem polnischen Papst.

Elisabeth II. traf den polnischen Papst ein letztes Mal am 17. Oktober 2000 in der päpstlichen Privatbibliothek des Vatikans. Die Audienz dauerte etwa zwanzig Minuten. Die Königin hielt sich zu dieser Zeit zu einem viertägigen Staatsbesuch in Italien auf.

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20.09.2022. Frau von der Leyen und die polnischen Russlandversteher

Späte Reue ist besser als keine. In ihrer Rede „Zur Lage der Union“ am 14. September 2022 in Straßburg hat sich die EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen zu einer Selbstkritik durchgerungen, die einigen von uns in Polen Momente der Genugtuung beschert hat. Sie sagte:

„Wir hätten auf die Stimmen hören sollen, die innerhalb unserer Union erhoben wurden: in Polen, in den baltischen Staaten und in den Ländern Mittel- und Osteuropas. Diese Stimmen sagten uns schon seit Jahren, dass Putin nicht aufhören wird.“

Doch was Polen angeht, hat von der Leyen geflissentlich darauf verzichtet, auch nur mit einem Halbsatz zu erwähnen, welche Polen jahrelang beharrlich vor Putin gewarnt haben. Ihre politischen Freunde waren es nicht.

Es war nicht Donald Tusk, der scheidende Vorsitzende, den Frau von der Leyen am 1. Juni 2022 beim Kongress der Europäischen Volkspartei in Rotterdam mit dem klaren Brüsseler und Berliner Auftrag verabschiedete: „Donald, vergiss nicht, wenn wir uns wiedersehen, wollen wir Dich als den (neuen polnischen – Anm. RdP) Ministerpräsidenten begrüßen“. Im Herbst 2023 finden in Polen Parlamentswahlen statt.

Als polnischer Ministerpräsident (2007 bis 2014) hat Donald Tusk, der politische Ziehsohn Angela Merkels, deren Russlandpolitik auf internationalem Parkett nach Kräften unterstützt und in Polen selbst mit beispiellosem Eifer nachgeahmt. Knapp drei Monate im Amt, ignorierte er demonstrativ Kiew und flog im Februar 2008 als Erstes zu Putin nach Moskau. Die polnische Wende hin zu Russland nahm ihren Lauf.

Einer Einladung nach Warschau folgend, belehrte Russlands Außenminister Lawrow am 2. September 2010, beim alljährlichen Treffen, die polnischen Botschafter aus aller Welt in Sachen Russlandpolitik. Ein Erdgaslieferabkommen sollte Polen bis 2037 zu horrend hohen Preisen an Russland fesseln. Nur durch eine Intervention Brüssels konnte die Laufzeit im letzten Augenblick auf 2022 verkürzt werden.

Tusks Polen ernannte sich durch seinen Außenminister Sikorski gar zum Wegbereiter der russischen Nato-Mitgliedschaft. Die Zentralen Wahlausschüsse, die Nationalen Sicherheitsräte, sogar die Auslandsspionagedienste u. v. a. polnische und russische Institutionen mehr pflegten, auf Tusks Geheiß, einen intensiven „freundschaftlichen“ Austausch. Nach dem russischen Einfall in Georgien im August 2008, genauso wie nach der russischen Besetzung der Krim im Februar 2014, lag Tusks Polen ganz auf der deutschen „Business as usual“-Linie und er selbst wurde nicht müde zu bekunden, dass eine „normale Zusammenarbeit mit Russland gerade jetzt“ notwendiger sei denn je. Im April 2010 legte Tusk, der einen herzlichen Umgang mit Putin und Medwedew pflegte, vertrauensvoll die Untersuchung der Smolensk-Flugzeugkatastrophe vollends in die Hände der Russen.

Für all das, und noch vieles mehr, belohnte ihn Frau Merkel mit dem Posten des EU-Ratsvorsitzenden (2014-2019) und dem Vorsitz der Europäischen Volkspartei (2019-2022).

Bis zu seinem tragischen Tod durch die Smolensk-Flugzeugkatastrophe am 10. April 2010 begleitete Staatspräsident Lech Kaczyński drei Jahre lang das Tun des Regierungschefs Tusk und sparte nicht mit Kritik.

Es war Lech Kaczyński, der im August 2008 die Staatschefs der drei baltischen Staaten und der Ukraine bat, mit ihm nach Tiflis zu fliegen, in die georgische Hauptstadt, auf die russische Panzerkolonnen vorrückten. Er hielt dort, vor Zehntausenden von Menschen, eine denkwürdige Rede über den Willen Russlands zu imperialer Ausdehnung. „Heute Georgien, morgen die Ukraine, übermorgen die baltischen Staaten, und dann ist vielleicht auch mein Land, Polen, an der Reihe.“ Damals kehrten die russischen Panzer um. Diese Worte muten 14 Jahre später fast prophetisch an. Tusk und seine Leute hatten für sie nur beißenden Spott übrig.

Erstarrt und missmutig lauschten Tusk, Putin und Frau Merkel, als derselbe Staatspräsident am 1. September 2009, auf der Westerplatte, bei den Feierlichkeiten zum 70. Jahrestag des Kriegsausbruchs, vom Sowjetimperialismus und seinem Anteil (Hitler-Stalin Pakt) am Entfachen des Krieges sprach.

Im September 2010 veröffentlichte sein Bruder, Jarosław Kaczyński, damals Oppositionsführer, einen viel beachteten Artikel, in dem er dringend vor der „neoimperialistischen“ Politik Russlands warnte. Tusks Außenminister Sikorski, heute EVP-Europaabgeordneter und, wie Frau von der Leyen, EVP-Mitglied, fragte daraufhin höhnisch, welche Drogen der Autor des Artikels denn wohl genommen haben muss. Tusks Sprecher Nowak forderte Jarosław Kaczyński auf, den Artikel „sofort zurückzuziehen, denn er widerspricht der polnischen Staatsräson“.

All die jahrelangen Warnungen vor Russlands aggressiver Politik, alle Appelle und Vorschläge, die Energieabhängigkeit von Russland zu beenden, die Nato-Ostflanke zu stärken, die aus dem polnischen nationalkonservativen Lager kamen, wurden in den Wind geschlagen. Sie ernteten bei Tusk und seinen deutschen Förderern Hohn und Spott, wurden als „russophob“ gebrandmarkt.

Hätte es 2015 keinen Regierungswechsel von Tusk zu den Nationalkonservativen gegeben, wäre das heutige Polen, wie Ungarn, wie Deutschland, energiepolitisch extrem abhängig von Russland. Die polnische Regierung würde bei weitem nicht so effektiv wie jetzt mithelfen, Putin zu zähmen, sondern gemeinsam mit Deutschland die Hilfe für die Ukraine auf Sparflamme halten und, wie ihre deutschen Gönner, auf Telefondiplomatie mit dem Kreml setzen.

Heute zollt Frau von der Leyen den polnischen Warnern, ohne sie beim Namen zu nennen, ihre Anerkennung. Gleichzeitig tut sie alles in ihrer Macht Stehende, um deren politischen Sturz herbeizuführen. Sie behauptet im Namen der EU, die Ukraine mit aller Kraft unterstützen zu wollen, und bekämpft eine polnische Regierung, die wie kaum eine andere der Ukraine beisteht. Sie verurteilt Putin und wünscht sich die alten Russlandversteher in Warschau zurück an die Macht. So gesehen war ihr Lob schlicht unaufrichtig.

RdP




Warschau 1927. Das Attentat auf den Zarenmörder

Pjotr Woikow war der sowjetische Gesandte in Polen.

Ein junger Russe erschoss auf dem Bahnhof in Warschau den sowjetischen Gesandten in Polen, der das Blut der russischen Zarenfamilie an seinen Händen hatte.

Jekaterinburg am 17. Juli 1918

„Nikolai Alexandrowitsch, das Uraler Exekutivkomitee hat beschlossen, Sie hinzurichten“, verlas der Tschekist Jakow Jurowski hastig das Urteil, das auf einem fettigen, zerknitterten Blatt Papier stand.

Der Zar, der auf einem Stuhl saß und seinen Sohn, den vierzehnjährigen Thronfolger Alexei auf dem Schoß hatte, wurde blass. Er blickte unsicher auf die um ihn versammelte Familie. „Wie bitte, wie bitte?“, fragte er.

Zar Nikolai II. und die Zarenfamilie. Russische Briefmarken von 1998.

Er versuchte aufzustehen, aber in diesem Moment stürmten die Henker, die bis dahin im Korridor gewartet hatten, in den Keller. Der Zar verstand. In einer letzten verzweifelten Geste versuchte er, seine Frau, die neben ihm saß, zu schützen. Jurowski schoss dem wehrlosen Nikolai II. eine Kugel direkt in die Brust. Der Zar sank mit einem Ausdruck des Entsetzens auf den schmutzigen Boden. Dann zielte der Henker ein zweites Mal und schoss dem Zarensohn aus kurzer Entfernung in den Kopf.

Die Ermordung der Zarenfamilie. Zeitgenössische Darstellung.

Im Keller brach die Hölle aus. Betrunkene Tschekisten schossen wie wild auf die kaiserliche Familie und mehrere Diener. Sie stachen mit Bajonetten auf ihre Opfer ein, schlugen sie mit Gewehrkolben, traten und bespuckten sie. Der Lärm der Schüsse in dem kleinen Raum war so ohrenbetäubend, dass den Mördern fast die Trommelfelle platzten. Die vier Zarentöchter, die Prinzessinnen Olga (23 Jahre), Tatjana (21 Jahre), Maria (19 Jahre) und Anastasia (17 Jahre), hatten am meisten zu leiden. Da sie Familienschmuck in ihre Kleidung eingenäht hatten, prallten die Kugeln der Folterknechte an den verängstigten Mädchen ab, die an der Wand standen. Sie bluteten, schrien und versuchten, ihre Köpfe mit den Händen zu bedecken. Die Tschekisten stachen mit Bajonetten auf sie ein.

Auch der erste Schuss, der auf den Zarensohn Alexei abgefeuert wurde, war nicht tödlich. Jurowski stand mit einem schweren Stiefel auf dem Hals des stöhnenden, sich am Boden windenden Jungen. Er hielt die Waffe an sein Ohr und drückte ab. In einem sadistischen Rausch erschlugen die Tschekisten den geliebten Hund des Zaren mit ihren Gewehrkolben.

Nach ein paar Minuten war das Blutbad in dem kleinen Keller vorbei. Auf dem festgestampften Boden lagen die Leichen von sieben Mitgliedern der kaiserlichen Familie, des kaiserlichen Leibarztes Jewgeni Botkin und ihrer drei treuen Diener. Der Raum war erfüllt von beißenden Rauchwolken und dem Gestank von Schießpulver. Der Boden, die Wände und sogar die Decke waren mit Blut bespritzt. In diesem Moment betrat ein kleiner, dunkelhaariger Mann in einer Lederjacke den Raum. Er sah sich gleichgültig im Keller um und fragte: „Fertig?

Der Keller nach der Ermordung der Zarenfamilie.

Jurowski, der von der harten Henkersarbeit erschöpft war und kaum zum Atem kam, nickte.

Jetzt müssen wir sie loswerden“, sagte der Neuankömmling und trat gegen die Leiche, die am nächsten bei ihm lag.

Jakow Jurowski.

Bei dem neu Eingetretenen handelte es sich um Pjotr Lasarewitsch Woikow, einen jungen bolschewistischen Kommissar, der sich im Ural bereits durch seine unglaubliche Grausamkeit gegenüber „Weißgardisten“ und Bauern „einen Namen gemacht hatte“. Bei Letzteren beschlagnahmte er erbarmungslos Nahrungsmittel und Saatgut, und verurteilte sie damit zum Hungertod. Er war ein rücksichtsloser Fanatiker, der der Partei blindlings ergeben war.

Woikow hatte das Haus des pensionierten Hauptmanns der Zarenarmee Nikolaj Ipatiew in Jekaterinburg als Ort für die Inhaftierung der Zarenfamilie ausgewählt. Das Gebäude war in den 1880er Jahren erbaut worden. Es bestand aus zwei Flügeln: der vordere, östliche Flügel war einstöckig und 30 Meter lang. Der Westflügel hingegen bestand aus zwei Stockwerken. Das Gebäude war für russische Verhältnisse sehr modern, verfügte über fließendes Wasser, Kanalisation, einen Strom- und Telefonanschluss.

Das Ipatiew-Haus in Jekaterinburg. Woikow ließ es mit einem hohen Bretterzaun umgeben, um die Zarenfamilie vollends zu isolieren.

Es war auch Woikow, der ein Komplott organisierte, um die Romanows zu diskreditieren. Er gab sich als weißer Offizier aus, schmuggelte Briefe an den inhaftierten Zaren und gab vor, die Flucht der Zarenfamilie organisieren zu wollen. Diese Briefe und die hoffnungsvollen Antworten der ahnungslosen kaiserlichen Familie dienten Lenin als Vorwand und Rechtfertigung für den Mord an Nikolai II. und seinen Angehörigen.

Der Abriss des Ipatiew-Hauses 1978. Die Erinnerung an den Zaren-Mord sollte endgültig getilgt werden.

Woikows Decknamen in der Partei waren „Der Intellektuelle“ und „Chemiker“. Letzteres kam daher, dass er sich nach der Flucht aus Russland 1907, während seines Mathematik- und Physikstudiums an der Genfer Universität, auch einige Kenntnisse in Chemie angeeignet hatte. Aus diesem Grund überließ man ihm auch die Vernichtung der Leichen nach der Hinrichtung.

Woikow beschaffte 400 Pfund Schwefelsäure aus den örtlichen Apotheken, 150 Gallonen Benzin aus den Beständen der Roten Armee und eine große Menge an Kalk.

Einige Tote der kaiserlichen Familie und ihrer Diener ließ Woikow mit Säure übergießen. Andere wurden mit Benzin übergossen und verbrannt. Die Gesichter der Leichen befahl Woikow mit Gewehrkolben zu massakrieren. Die sterblichen Überreste des Zarensohns und einer seiner Schwestern wurden mit Schaufeln gevierteilt. Die beiden Schächte, in die die Leichen hineingeworfen wurden, hat man mit gelöstem Kalk geflutet.

Als die makabre Prozedur beendet war, wischte sich der junge Kommissar mit dem Ärmel den Schweiß von der Stirn und sagte: „Jetzt wird die Welt nie erfahren, was wir mit ihnen gemacht haben.“

Warschau am 7. Juni 1927

Pjotr Woikow hatte nichts mehr an sich von dem ausgemergelten Bolschewiken mit den brennenden Augen aus den blutigen Tagen der Revolution. Statt einer Lederjacke und Militärstiefeln trug er nun teure Anzüge und polierte Schuhe. Er hatte einen Bauch, und seine Stirn war leicht gewölbt.

Der Gesandte Woikow (r. i. B.) begleitet im September 1925 den sowjetischen Außenminister Georgi Tschitscherin bei seinem Besuch in Warschau.

Wojkow war jetzt Diplomat. Er lebte in Warschau, wo er als außerordentlicher und bevollmächtigter Gesandter der Sowjetunion tätig war. Als Vertreter der roten Großmacht glänzte er in den Salons, speiste in den besten Restaurants und verbrachte die Nächte mit schönen Schauspielerinnen. Er wurde in einer Limousine chauffiert und war Mitglied der neuen roten Elite, der Parteinomenklatura.

Arkadi Rosenholz.

Der Tag versprach keine großen Sensationen. Woikow fuhr zum Hauptbahnhof, wo er, in Begleitung eines anderen Beamten der Gesandtschaft, den aus London zurückkehrenden hochrangigen sowjetischen Diplomaten Arkadi Rosenholz begrüßen sollte. Dieser war wegen Spionage aus London ausgewiesen worden.

Rosenholz musste in Warschau umsteigen; der Zug nach Moskau fuhr um 9.55 Uhr ab. Als Woikow und Rosenholz an den Stufen des Schlafwagens standen, kam ein junger Mann auf sie zu. Es kam zu einem kurzen Wortwechsel auf Russisch, woraufhin der Fremde einen Revolver in der Hand hielt.

„Stirb für Russland!“, der Ruf des Attentäters vermischte sich mit dem Knall des Schusses.

Woikow, der ein tierisches Quieken ausstieß, versuchte wegzulaufen. Der junge Mann begann ihm hinterherzuschießen. Als der Diplomat sah, dass er nicht entkommen konnte, blieb er nach ein paar Schritten stehen und drehte sich um. Eine Pistole blitzte nun auch in seiner Hand auf.

Es begann eine Schießerei, die an ein Duell im Wilden Westen erinnerte. Die Männer standen sich gegenüber und schossen aufeinander. Nach einem kurzen Moment taumelte Woikow und fiel direkt in die Arme eines herbeilaufenden polnischen Polizisten.

Der Angreifer, der nicht einmal einen Kratzer abbekommen hatte, hob seinen Revolver über den Kopf und begann sich langsam vom Bahnsteig zu entfernen. Zwei Polizeibeamte stürmten auf ihn zu. Er wehrte sich nicht und ließ sich widerstandslos entwaffnen.

Boris Kowerda nach seiner Verhaftung.

„Mein Name ist Boris Kowerda“, sagte er. „Ich habe es getan, um Russland und die Millionen ermordeter Menschen zu rächen.“

Sofort wurde ein Krankenwagen zum Bahnhof gerufen, der Woikow in das Jesus-Krankenhaus brachte. Es gab jedoch keine Rettung mehr. Der Sowjet-Diplomat starb um 10.40 Uhr.

Eine Obduktion durch den renommierten Gerichtsmediziner Professor Wiktor Grzywo-Dąbrowski ergab, dass der Verstorbene zwei Schusswunden aufwies.

Die erste Kugel hatte die Weichteile seiner rechten Schulter durchschlagen. Diese Wunde war harmlos. Erst die zweite Kugel, die die linke Seite seiner Brust durchschlug, führte zum Tod des Mannes. Sie zerriss beide Lappen des linken Lungenflügels und verursachte eine große Blutung in die Pleurahöhle.

Rache für Millionen

Als Boris Kowerda Woikow tötete, war er 19 Jahre alt. Bereits am 15. Juni 1927 stand er in Warschau vor Gericht. Vier renommierte Warschauer Anwälte hatten sich unentgeltlich seiner Verteidigung angenommen. Um das Verfahren zu beschleunigen, machten die polnischen Behörden von den Bestimmungen über Schnellgerichte bei schweren Straftaten gegen polnische Beamte Gebrauch. Die Urteile dieser Gerichte waren nicht anfechtbar. Die Anhörung begann um 10.45 Uhr. Als erster Zeuge wurde der Polizeimeister Marian Jasiński vernommen.

Der damalige Warschauer Hauptbahnhof (vormals Wiener Bahnhof) im April 1928 vor der Ankunft des afghanischen Königs Amanullah Khan zum Staatsbesuch in Polen. Das Gebäude musste Mitte der 30er Jahre einem modernen Bahnhof weichen.

„Ich habe mehrere Schüsse gehört“, sagte der Polizist aus. „Als ich über die Gleise lief, bemerkte ich, dass die Menschen vom Bahnsteig 8-9 wegliefen. In der Mitte des Bahnsteigs waren zwei Personen, die mit Revolvern aufeinander schossen. Einer lief auf das Bahnhofsgebäude zu, der andere schoss auf ihn. Der Flüchtende gab zwei Schüsse in Richtung des Angreifers ab. Ich lief auf ihn zu und packte ihn am Arm. Er schwankte und fiel hin. Ich fragte den Verwundeten, wer er sei, aber er antwortete nur mit einem unverständlichen Wort, und sofort wurden seine Lippen blau und er wurde leichenblass.“

Der Warschauer Hauptbahnhof Mitte der 20er Jahre. Der Bahnsteig 8-9, auf dem Woikow erschossen wurde, ist der fünfte von links, ganz in der Ferne.

Danach trat Wachtmeister Konstanty Dąbrowski in den Zeugenstand. Er sagte aus: „Ich sah eine Person mit einem Revolver in der Hand, die auf den Bahnsteig fiel. Reisende in den Waggonfenstern riefen, dass sich auf dem Bahnsteig ein weiterer Schütze befinden würde. Ich bemerkte noch einen Mann auf dem Bahnsteig, der einen Revolver in der Hand hielt. Wir liefen ihm hinterher. Er blieb stehen, das Gesicht zu uns gewandt, und hielt einen Revolver in der Hand. Auf Anruf legte er ihn auf den Boden. Bei der Durchsuchung fand ich vier Revolverpatronen in seiner Hosentasche. Kowerda war völlig ruhig, als wir ihn festnahmen.“

Zu diesem Zeitpunkt wurde dem Gericht die bei Kowerda sichergestellte Tatwaffe gezeigt. Es handelte sich um einen Mauser-Revolver mit sieben Schuss und einer unleserlichen Seriennummer. An diesem unseligen Tag des Attentats hatte der Mörder sechs Schüsse abgegeben. Woikow hingegen hatte mit einer Browning-Pistole mit der Seriennummer 80481 geschossen. In seiner Tasche wurden außerdem zwei volle Magazine gefunden.

Das Gericht befragte auch Kowerdas Verwandte und Freunde. Aus ihren Aussagen ging hervor, dass Woikows Mörder das Gymnasium der Russischen Gesellschaft in dem damals polnischen Wilno besucht hatte. Er war ein glühender russischer Patriot und ein angehender Journalist. Er arbeitete als Expedient in der Redaktion der Wilnaer Zeitung „Białoruskie Słowo“ („Weißrussisches Wort“) und verdiente sich nachts mit Korrekturlesen und Schriftsetzen etwas dazu. Er verdiente 170 Zloty im Monat.

Sein mageres Gehalt gab er seiner arbeitslosen, kranken Mutter. Vier Personen mussten davon leben. Er, seine Mutter und zwei minderjährige Schwestern. Die ganze Familie war von dem jungen Kowerda abhängig. Der Vater hatte sich von ihnen getrennt. Als der junge Kowerda an Scharlach und Diphtherie erkrankte und sechs Wochen lang im Krankenhaus lag, hungerte die Familie. Und ein weiteres wichtiges Merkmal des jungen Mannes: Kowerda war sehr religiös und ging regelmäßig in die orthodoxe Kirche, wo er die Kommunion empfing.

„Boris war sehr sensibel, ruhig und bescheiden“, sagte seine Mutter aus. „Er unterstützte die Familie, weil ich krank war und keine Arbeit hatte. Boris war mein Helfer und Beschützer. Er war fürsorglich gegenüber seinen Schwestern. Er war ein sehr guter Sohn. Er wollte alles in seiner Macht Stehende tun, damit seine Mutter nicht leidet. Er sorgte dafür, dass mir kein Leid zugefügt wurde.“

Der Vater des Mörders, Sofronius Kowerda, äußerte sich ebenfalls in diesem Sinne. „Er war von Kindesbeinen an sensibel“, sagte der Vater aus. „Und ich verstehe jetzt die Tragödie seiner Seele. Seine ganze Abneigung brach hervor. Als Kind war Boris Augenzeuge der bolschewistischen Barbarei geworden, die für immer ihre Spuren hinterlassen hat.“

Als die Revolution ausbrach, hielt sich die Familie Kowerda in Samara auf. Der Junge sah mit eigenen Augen die bolschewistischen Massenmorde, Plünderungen, die Schändung orthodoxer Kirchen. Die Leichen der Ermordeten wurden unter das Eis des Flusses geworfen. Die Geheimpolizei Tscheka ermordete seine Verwandten und viele seiner Freunde. Er selbst wurde als „bürgerliches Kind“ Opfer von Schikanen und Verfolgung.

Alle Bekannten Kowerdas, die vor Gericht aussagten, schilderten ihn als einen Mann mit guten Eigenschaften: bescheiden, edel, rechtschaffen. Und ein überzeugter Anti-Bolschewik. Kowerda konnte nicht hinnehmen, dass die Bolschewiki in dem von ihnen kontrollierten Gebiet Millionen von Menschen ermordeten und verfolgten, während die ganze Welt gleichgültig zusah.

„Ich kenne den Angeklagten seit 1921“, sagte Szymon Zachoronak. „Ich halte ihn für einen sehr ehrlichen und zuverlässigen Mann. Ich hielt Kowerda für einen Gegner des Kommunismus. Kowerda wies auf die Lebensumstände in Sowjetrussland hin, zeigte auf, was dort geschah, und sagte, es sei eine Abscheulichkeit. Das russische Justizsystem, die Strafen haben ihn sehr berührt.“

Der Direktor des Russischen Gymnasiums in Wilno, Leonid Bielewski, sagte: „Ich wusste, dass Kowerda in sehr schwierigen materiellen Verhältnissen lebte, dass er arbeiten musste, um seine Familie zu unterstützen. Das gesamte Lehrpersonal war gegenüber Kowerda sehr freundlich eingestellt. Er war ruhig, gehorsam, sanftmütig, konzentriert und selbstbewusst. Es gab nie Auseinandersetzungen mit Lehrern oder Kollegen. Als Direktor einer Mittelschule kann ich sagen, dass Kowerda einen sehr angenehmen Eindruck hinterlassen hat.“

Schließlich ergriff Kowerda selbst das Wort: „In Samara sah ich demoralisierte Soldaten. Ich wurde Zeuge, wie an einem Bahnhof bolschewistischer Mob den Bahnhofsvorsteher verprügelte und der Lokführer angeblich in einen Ofen geworfen wurde. Häuser wurden geplündert und Eigentum wurde geraubt. Menschen wurden verhaftet und misshandelt.

Auf dem Weg nach Polen wurde ich mehrmals von den Roten aus dem Zug geworfen. In Russland herrschte Chaos. Ich war zwar klein, aber ich erinnere mich, dass vorher Ordnung geherrscht hatte, und als es mir gelang, aus diesem „Paradies“ auszubrechen, holte ich tief Luft. Eine innere Stimme sagte mir, dass ich kämpfen müsste. Dass hier niemand etwas unternehmen wird, während sich in Russland eine Partei von blutigen Schlägern breit gemacht hat. In mir kam der Wille auf, sie zu bekämpfen. Ich begann zu überlegen, was ich tun könnte, um meinem Heimatland zu dienen.

Ich beschloss, Woikow als den Vertreter der Bande bolschewistischer Kommissare zu töten. Es tut mir sehr leid, dass ich dies auf polnischem Boden getan habe, der für mich eine zweite Heimat ist. Doch die Bolschewiki setzen auf den Terror, nicht nur in Russland, sondern auch in Polen. Indem ich Woikow tötete, wollte ich Millionen rächen.“

Kowerda sagte, dass er allein gehandelt habe, „ohne dass ihn jemand überredet hat oder mitschuldig wurde“. Er kam zwei Wochen vor dem Attentat in Warschau an und wohnte in einem gemieteten Zimmer im Haus einer alten Jüdin, Sura Fenigsztajn, der er sagte, er wolle in der Hauptstadt „Prüfungen ablegen“. Er kannte Woikows Gesicht aus der Zeitung. Aus den Zeitungen erfuhr er auch, dass der Gesandte am 7. Juni am Bahnhof sein würde.

Bei den Ermittlungen der polnischen Polizei ging es vor allem darum, herauszufinden, ob Kowerda die Wahrheit gesagt hatte. Denn es wurde vermutet, dass das Attentat das Werk einer Organisation russischer Monarchisten war. Die Polizei führte in Wilno eine Durchsuchung in Kowerdas Wohnung durch. Die Suche führte jedoch zu keinem Ergebnis. Es wurde lediglich ein verdächtiges Dokument gefunden: eine Quittung des Komitees von Großfürst Nikolai Nikolajewitsch. Kowerda hatte einen Dollar gespendet.

Die Besänftigung der Sowjets

Die Anhörung vor Gericht dauerte nur einen Tag. Obwohl alles für eine milde Bestrafung sprach, verhängte das Gericht am 15. Juni 1927 ein drakonisches Urteil. Boris Kowerda wurde zu lebenslanger Zwangsarbeit verurteilt, die später in 15 Jahre Gefängnis umgewandelt wurde. Als das Urteil am späten Abend verlesen wurde, soll Kowerda traurig und melancholisch gelächelt haben.

„Der Mord auf polnischem Territorium“, so die Urteilsbegründung, „wurde von einem Emigranten unter Verletzung der Dankbarkeit für das Asylrecht begangen und darüber hinaus an der Person des Vertreters eines fremden Staates, d.h. unter erheblicher Schädigung des moralischen Ansehens der Republik Polen und ihrer politischen Interessen. Das erfordert eine härtere strafrechtliche Verfolgung.“ Das Urteil sollte zudem die wütenden Bolschewiken besänftigen.

Sowohl Polen als auch die Sowjets hatten ein großes Interesse daran, die Sache so schnell wie möglich zu beenden. Die Polen wollten die Beziehungen zu ihrem großen Nachbarn, mit dem sie erst vor wenigen Jahren einen heftigen Krieg beendet hatten, nicht verschlechtern.

Andererseits drohte ein längerer Prozess, unbequeme Tatsachen über die Sowjetunion sowohl in Bezug auf die Ermordung der Zarenfamilie als auch über andere bolschewistische Verbrechen ans Licht zu bringen. Die Sowjets befürchteten die Wiederholung einer Situation aus dem Prozess gegen einen anderen russischen Emigranten, Moritz Konradi, der 1923 den Sekretär der sowjetischen Delegation, Wazlaw Worowski, in Lausanne erschossen hatte. Aufgrund von Zeugenaussagen und des Vorgehens der Verteidiger verwandelte sich das Gerichtsverfahren in einen Prozess über den Bolschewismus und die Folgen der Oktoberrevolution von 1917 für Russland und Europa.

Nach Woikows Tod sandte der sowjetische Außenminister Maxim Litwinow eine äußerst harsche Note an die polnische Regierung, in der er Warschau die Verantwortung für den Mord an dem Gesandten zuschrieb. Er warf ihr vor, ihre Pflicht zum Schutz eines ausländischen Diplomaten vernachlässigt zu haben und „weiße“ russische Emigranten auf ihrem Hoheitsgebiet zu dulden. Litwinow zufolge waren die polnischen Geheimdienste an dem Attentat beteiligt.

Wütende, „spontane“ Kundgebungen mit Fäusten drohender „arbeitender Massen“ wurden von der kommunistischen Partei in den Straßen der sowjetischen Städte organisiert. Die Zeitungen waren voll mit wütenden Angriffen auf Polen, Briefen von Arbeitern und Kolchosbauern, die über den Mord schockiert waren, und in „Protest-Zusammenkünften“ gefassten Entschließungen, die eine harte Bestrafung des Täters forderten. Im Moskauer Lubjanka-Gefängnis ermordete die Geheimpolizei GPU Berichten zufolge zwanzig Geiseln aus der Elite des vorrevolutionären Russlands als Teil der Repression.

Der aufgebahrte Leichnam Woikows in der sowjetischen Gesandtschaft in Warschau.

Nach dem Tod Woikows schickte Józef Piłsudski seine Visitenkarte an die sowjetische Gesandtschaft, um seine Anteilnahme auszudrücken. Und Staatspräsident Ignacy Mościcki übermittelte Stalin und anderen Mitgliedern des sowjetischen Politbüros sein Beileid. Die Polen erklärten sich gegenüber den Bolschewiki und versicherten ihnen, dass sie mit der Tat Kowerdas nichts zu tun hätten.

Woikows Leichnam wird zum Bahnhof in Warschau gebracht.

Woikows Leichnam wurde in einem großen Trauerzug zum Bahnhof gebracht, an dem auch Regierungsmitglieder, Innenminister Felicjan Sławoj-Składkowski sowie Wirtschafts- und Handelsminister Eugeniusz Kwiatkowski teilnahmen. Ein Spalier von Soldaten säumte den Weg vom Gesandtschaftsgebäude zum Bahnhof. Der Sonderzug mit der Leiche des Zarenmörders wurde mit einem Ehrensalut und von Offizieren mit blanken Säbeln verabschiedet. Der Sarg versank in Blumen, die von polnischen Behörden geschickt worden waren.

Kowerda wurde 1937, nach Verbüßung von zehn Jahren Haft, aus dem Gefängnis entlassen. Er ging nach Jugoslawien und ließ sich nach dem Krieg in New York nieder. Dort arbeitete er für russische Emigrantenzeitungen. Er starb 1987. Jahre später stellte sich heraus, dass er nicht allein gehandelt hatte.

Das Attentat auf Woikow war von Esaul Michail Jakowlew geplant worden, einem tapferen Kosakenoffizier, der während des Krieges 1920 an der Seite der polnischen Armee gegen die Bolschewiki gekämpft hatte.

Sowjetische Briefmarke von 1988 zum 100. Geburtstag von Pjotr Woikow.

Währenddessen wurde Woikow in Moskau als Märtyrer für den Bolschewismus „heiliggesprochen“. An seiner Beerdigung an der Kremlmauer nahm eine große Menschenmenge teil. Nach Woikow wurden mehrere Straßen, ein Kohlebergwerk in der Ukraine, ein Stadtteil Moskaus und eine Metrostation, die Woikowskaia, benannt.

Letztere trägt diesen Namen bis heute. Und das, obwohl die orthodoxe Kirche, die die Mitglieder der kaiserlichen Familie als Heilige anerkennt, die Regierung seit Jahren auffordert, den Namen zu ändern. Der vor kurzem aufgelöste Verein Memorial und demokratische Oppositionskreise nehmen eine ähnliche Haltung ein. Die Moskauer Behörden gaben dem Druck nach und führten 2015 eine Online-Umfrage durch. 300.000 Moskauer nahmen daran teil. 53 Prozent der Befragten sprachen sich gegen die Umbenennung aus. Nur 35 Prozent waren dafür, sodass der Name beibehalten wurde. Denn bekanntlich hören die Behörden in Russland ja auf die Öffentlichkeit.

RdP




12.09.2022. EU-Reform. Mehrheitsentscheidungen. Scholzes falsche Lehren

Der deutsche Bundeskanzler wünscht sich noch mehr Mehrheitsentscheidungen in der EU und beschwört damit Geister herauf, die eines Tages deren Untergang besiegeln könnten.

Als eine der Lehren, die aus dem Ukrainekrieg zu ziehen seien, so Scholz in einer Grundsatzrede in Prag am 29. August 2022, gelte es, die Einstimmigkeit in der EU, allen voran in der Außenpolitik, abzuschaffen. Die EU erweist sich nicht nur in seinen Augen umso stärker, je mehr Macht die nationalen Regierungen an die Brüsseler Institutionen abgeben. Dass dort vor allem Berlin in allererster Reihe die Register zieht, wird von den selbstlosen deutschen EU-Enthusiasten dabei gerne unterschlagen.

Im EU-Ministerrat, um den es hier geht, werden schon seit Jahren in vielen Politikfeldern Entscheidungen mit Stimmenmehrheiten getroffen, vor allem wenn es um den Außenhandel oder die Agrarpolitik handelt, wo die meisten Zuständigkeiten ohnehin in Brüssel liegen. Das geschieht entweder mit einfacher (14 Mitgliedsstaaten stimmen mit Ja) oder mit qualifizierter Mehrheit (55 Prozent der EU-Länder, die mindestens 65 Prozent der EU-Bevölkerung vertreten, geben ihre Zustimmung).

In der viel beschworenen „Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik“, wie sie amtlich heißt, hat Brüssel hingegen nicht viel zu vermelden. Die wichtigsten Instrumente halten weiterhin die Mitgliedsstaaten. Es gibt zwar einen Auswärtigen Dienst der EU, aber der kann nicht einmal Visa ausstellen. Und eine europäische Armee existiert schon gar nicht.

Anders als Scholz es darstellt, ist das kein überkommenes Festhalten an nationalem Eigensinn, sondern eine vernünftige Regelung. Auf keinem Politikfeld ist der Einsatz so hoch wie in der Außenpolitik. Letztendlich geht es um Krieg und Frieden, wie gerade wieder in der Ukraine zu beobachten ist. Die Vorstellung, man könne die Regierung eines oder mehrerer Mitgliedsländer bei Fragen von solcher Tragweite einfach überstimmen, ist befremdlich. Die Folgen eines solchen EU-Beschlusses müssen alle tragen.

Das gilt auch für die Sanktionspolitik, die Scholz im ersten Schritt in eine Mehrheitsentscheidung überführen möchte. Wenn die EU zum Beispiel mehrheitlich für die Einstellung des Handels mit einem Drittstaat stimmen sollte, dann müssten auch die Mitgliedsstaaten ihre Geschäftstätigkeit beenden, die dagegen waren. Eine Vergeltung träfe wiederum alle 27 EU-Länder. In einem gar nicht mehr so undenkbaren Szenario ist es vorstellbar, dass ein Land wie Russland auf europäische Sanktionen militärisch reagiert. Kann die EU solche Risiken wirklich eingehen, ohne dass alle Regierungen zugestimmt haben? Und wo soll das enden? Sollen eines Tages auch Militäreinsätze per Mehrheit beschlossen werden? In der NATO gibt es das aus gutem Grund nicht.

Was in solch zugespitzten Lagen passieren kann, kennt man aus der Innen- und Justizpolitik der EU. Dort gibt es keine Einstimmigkeit mehr. Im Jahr 2015 beschloss der Ministerrat mit Mehrheit, Flüchtlinge in der gesamten EU zu verteilen. Obwohl es sich um einen rechtskräftigen Beschluss handelte, weigerten sich mehrere osteuropäische Staaten erfolgreich, ihn umzusetzen, weil er bei ihnen innenpolitisch nicht durchsetzbar war. Auch in der Außenpolitik wäre das, bei starken Auffassungsunterschieden im Rat, eine wahrscheinliche Folge. Und der Schaden wäre sicherlich größer als der bei den manchmal unbefriedigenden Kompromissen, die heute in Brüssel eingegangen werden müssen.

Da die Einwohnerzahl berücksichtigt wird, begünstigen die Mehrheitsregeln im Rat die Großen. Scholz (und Macron) geht es letztlich darum, kleineren EU-Ländern das Vetorecht zu nehmen. Der deutsche Kanzler begründet seinen Vorschlag ausdrücklich mit künftigen Erweiterungen in Richtung Süden und Osten (Balkan sowie Ukraine), auch wenn niemand weiß, ob diese in absehbarer Zeit stattfinden werden.

Das ist genau die falsche Lehre, die aus den vielen politischen Fehlentscheidungen, die in Europa vor dem Krieg gefallen sind, gezogen wird. Es lag nicht an den Abstimmungsregeln, dass die Brüsseler Institutionen Putins Überfälle (Georgien, Krim, Donbass) immer wieder hingenommen haben und dass vor allem Westeuropa in eine verhängnisvolle Abhängigkeit von russischem Gas geraten ist. Es lag daran, dass Deutschland seine vermeintlichen Wirtschaftsinteressen mit harter Hand, gegen den Willen vor allem der östlichen EU-Mitglieder durchgesetzt hat.

Der Rückschluss daraus darf nicht sein, dass Deutschland, unterstützt von seinen treuen Satelliten (Frankreich, die Benelux-Länder, Österreich u. e. a. m.) diese Staaten künftig nach Lust und Laune überstimmen kann, sondern dass man deren Argumente ernst nimmt und ihre Belange berücksichtigt, so schwer das oft fallen mag.

Ein Konsens, der auf dem kleinsten gemeinsamen Nenner beruht, bringt die EU allemal weiter als der große Dissens in Folge von Kampfabstimmungen, nach denen die Überstimmten rebellieren. Deutschland muss nicht nur so tun als ob, sondern tatsächlich einvernehmlicher werden im Umgang mit Osteuropa. Es ist ernüchternd zu sehen, dass das nach siebzig Jahren „europäischer Einigung“ immer noch keine Selbstverständlichkeit ist.

RdP




Summen, Daten, Fakten. Polnischer Reparationsbericht, deutsche Einschätzung

„Keine einzige Passage, die dazu berechtigen könnte, den Inhalt in Zweifel zu ziehen“.

Deutsche Medien und die deutsche Politik sind sich darin einig: Polen hat, weder juristisch noch moralisch, ein Recht, für die Verwüstung des Landes im Zweiten Weltkrieg Reparationen von Deutschland zu fordern. Am 1. September 2022 wurde in Warschau der lang angekündigte dreibändige Bericht über die polnischen Kriegsverluste vorgestellt. Er soll die Grundlage der polnischen Forderungen sein.

Karl Heinz Roth.

Als einer der wenigen in Deutschland vertritt Dr. Karl Heinz Roth (geb. 1942), ein deutscher Arzt und anerkannter Historiker, der sich mit den Reparationsfragen seit langem beschäftigt, eine andere Meinung. Er ist Mitautor der Buches „Verdrängt – Vertagt – Zurückgewiesen. Die deutsche Reparationsschuld am Beispiel Polens und Griechenlands“ und hat den polnischen Bericht genau gelesen.

Offizielle Vorstellung des Berichtes über die polnischen Kriegsverluste am 1. September 2022 im Warschauer Königsschloss. V. l. n. r.: Jarosław Kaczyński, Parlamentspräsidentin Elżbieta Witek, Ministerpräsident Mateusz Morawiecki und Arkadiusz Mularczyk, Vors. der Parlamentarischen Arbeitsgruppe zur Schätzung der Polen von Deutschland zustehenden Reparationen.

Wir sprechen wenige Tage nach der Veröffentlichung des Berichts über die polnischen Kriegsverluste. Sie haben die englischsprachige Fassung bereits gelesen. Was sind Ihre ersten Eindrücke als Historiker, aber auch als Mitautor eines Buches über deutsche Kriegsreparationen für Polen und Griechenland?

Ich habe ungeduldig auf diesen Bericht gewartet und habe nun den ersten Band in zwei Tagen gelesen und analysiert. Ich muss zugeben, dass ich eine so gute Studie nicht erwartet hatte. Ich bin beeindruckt von dem Bericht und seinem abgeklärten, methodischen Ansatz. Die Autoren entschieden sich für die Anwendung des allumfassenden Konzepts der Wiedergutmachung, was keineswegs typisch ist, d.h. sie berücksichtigten: menschliche Verluste, die schwere Traumatisierung der Bevölkerung, die Folgen körperlicher Gesundheitsschäden, dann die materiellen Verluste, solche im kulturellen Bereich, den finanziellen Raub, die Zwangsarbeit. All diese Bestandteile wurden unter einem Dach zusammengefasst, um eine Ausgangsposition für die Schätzung der Verluste zu schaffen. Das ist eine beeindruckende Methode; auch ich hätte sie gewählt. Und das ist der erste Punkt.

Warschau 1945.

Das zweite betrifft die Struktur des Berichts selbst, sie ist sehr gut und systematisch. Zunächst wird ein Bild der im besetzten Polen begangenen Verbrechen gezeichnet. Danach folgt eine sehr gute Analyse von Professor Konrad Wnęk über die Bevölkerungsverluste. Sie beinhaltet hochqualifizierte Berechnungen, vor allem Basisdaten und deren Umrechnung in aktuelle Werte. Dann haben wir eine Berechnung der materiellen Verluste, der kulturellen Verluste, des finanziellen Raubes. Es folgt ein methodisch hochqualifiziertes Kapitel, das die Teilergebnisse zusammenfasst und die Summe aller Verluste am damaligen Bruttoinlandsprodukt Polens in die heutige Zeit überträgt und entsprechend berechnet.

Von der deutschen Besatzungsverwaltung angeordnete Zerstörung katholischer Kirchen. Hier  in Bydgoszcz (1940) und in Siedlce (1941).

Die Autoren haben die gesamte verfügbare Literatur zu diesem Thema ausgeschöpft, angefangen bei den Werken polnischer Autoren, z. B. Prof. Czesław Łuczaks, Prof. Czesław Madajczyks und vieler anderer, bis hin zu internationalen Quellen wie des U.S. Bureau of Labor Statistics der Weltbank. Der Bericht schließt mit einer Schätzung der Kriegsverluste in Euro ab, und der Betrag ist sehr überzeugend: 1,3 Billionen Euro. Es ist eine Summe, die auf den ersten Blick horrend erscheinen mag. Ich habe etwas weniger berechnet, aber es ist eine völlig legitime Summe. Alles in allem: die Autoren haben sehr gute Arbeit geleistet.

Erschossene polnische Kriegsgefangene am 9. September 1939 bei Ciepielów südlich von Warschau.

Hinzu kommt, dass der Anhang des Berichts eine Kurzstudie von Dr. Robert Jastrzębski enthält. Sie legt die Hauptthesen von Rechtsgutachten über die Möglichkeit Polens dar, von Deutschland Reparationen für die im Zweiten Weltkrieg verursachten Schäden in Verbindung mit internationalen Abkommen zu fordern. Sie beschäftigt sich auch mit dem angeblichen Verzicht der Volksrepublik Polen auf Reparationsforderungen gegenüber Deutschland im Jahr 1953. Im Anhang findet man den Wortlaut der Erklärung der Regierung der Volksrepublik Polen an die UNO aus dem Jahr 1969.

Polnischen Zivilisten wird das Todesurteil vorgelesen am 21. Oktober 1939 in Szubin unweit von Bydgoszcz

Ich fand es sehr positiv, dass Dr. Jastrzębski, der bereits 2017 in seiner Studie für den Sejm zu diesem Thema Stellung genommen hat, auch in diesem Bericht die Kernpunkte anspricht, die die Falschheit der These belegen, dass Polen 1953 auf Reparationen von Deutschland verzichtet hat. Das stand schon immer im Mittelpunkt meiner eigenen Forschung, und die Widerlegung der These vom polnischen Verzicht halte ich für grundlegend in dieser Angelegenheit.

Haben Sie, als Sie den ersten Band des Berichts lasen, seinen Inhalt mit Ihren eigenen Erkenntnissen zum Thema Kriegsentschädigungen verglichen?

Ja, das war unausweichlich. Allerdings war meine Arbeit weniger detailliert. Ich habe mich von einem globalen Ansatz leiten lassen. Polen trat in dieser Untersuchung als Fallstudie im Zusammenhang mit griechischen Reparationsforderungen auf. Der am 1. September 2022 in Warschau vorgestellte Bericht über die Kriegsverluste ist ein Meilenstein in der historischen Forschung zur Frage der Reparationen. Deshalb sollte man ihn nicht auf die aktuelle Situation beziehen. Umso mehr stören mich die negativen Kommentare deutscher Historiker und Politiker, die dieses Werk von vornherein ablehnen. Ich finde es geradezu beschämend. Ihre Meinung beruht nicht auf der Lektüre des ersten Bandes; sie urteilten, ohne den Inhalt zu kennen.

Gruppenfoto vor der Hinrichtung. In Palmiry bei Warschau wurden zwischen Dezember 1939 und Juli 1941 etwa 2.000 polnische  Politiker, Künstler, Sportler, Geistliche, Wissenschaftler aus Warschau, im Rahmen der Auslöschung (Aktion AB) der polnischen intellektuellen Elite ermordet.

Wir haben diese Kommentare verfolgt. Die meisten waren sehr oberflächlich.

Auch mich haben diese Stellungnahmen erbittert. Aber lassen Sie mich ein Beispiel nennen. Das Deutschlandradio Berlin hat eine Umfrage zum Thema Reparationen durchgeführt. Wenn früher das Thema Wiedergutmachung in den Medien auftauchte, wurde ich in der Regel um einen Kommentar gebeten. Dieses Mal rief niemand an. Ich wurde von der Debatte über diesen Bericht ausgeschlossen.

Vertreibung der polnischen Bevölkerung aus Żywiec im Herbst 1940 (Aktion Saybusch), um deutschen Siedlern Platz zu machen.

Das alles bringt mich in Verlegenheit und ich schäme mich sogar dafür, dass ich einen deutschen Pass besitze. Es gibt nämlich in Deutschland eine unglaubliche Selbstgefälligkeit, Anmaßung und Dummheit, wenn es um Reparationen geht. Historiker, die sofort negativ auf den polnischen Bericht reagierten, hatten es offensichtlich eilig damit, denn sie konnten sich kaum innerhalb von zwei oder drei Stunden mit dem Inhalt vertraut gemacht haben. Zumal es in den ersten Stunden Probleme mit dem Herunterladen der englischen Version gab. Ich musste mich ziemlich beeilen, um in zwei Tagen den Bericht aufmerksam zu Ende zu lesen. Es ist unverantwortlich und absurd, wenn Wissenschaftler ein Dokument ablehnen, bevor sie es überhaupt gelesen haben.

Ich für meinen Teil kann mit voller Überzeugung sagen, dass es in dem polnischen Bericht, einschließlich der Einleitung von Herrn Arkadiusz Mularczyk (Vorsitzender der Parlamentarischen Arbeitsgruppe zur Schätzung der Polen von Deutschland zustehenden Reparationen – Anm. RdP), keine einzige Passage gibt, die dazu berechtigen könnte, dessen Inhalt in Zweifel zu ziehen.

Raub von Kunstgegenständen aus Warschauer Museen.

Ich bin ein Linker, das ist kein Geheimnis, und ich schäme mich, dass sich keine linke polnische Regierung die Mühe gemacht hat, einen solchen Bericht zu erstellen, sondern eine nationalkonservative Regierung. Über alle politischen Grenzen hinweg wurde, objektiv betrachtet, eine große und notwendige Arbeit geleistet. Im Laufe meiner akademischen Laufbahn habe ich mich mehrere Jahre lang mit dem Thema Wiedergutmachung befasst, sodass ich wirklich in der Lage bin, die Qualität des polnischen Berichtes zu beurteilen.

Woher kommt Ihr Interesse an Kriegsreparationen?

Das Thema hat zu einem bestimmten Zeitpunkt in meinem Leben eine gewisse existenzielle Dimension angenommen. Jahrelang hatte ich beobachtet, wie die Ansprüche verschiedener Staaten auf Wiedergutmachung von Deutschland abgelehnt wurden. Das hat mich berührt, aber auch dazu veranlasst, selbst Nachforschungen anzustellen.

Was sollte Warschau Ihrer Meinung nach jetzt tun?

Am 11. Februar 1944 hingerichtete polnische Geiseln am Balkon eines bei der Belagerung Warschaus 1939 ausgebrannten Hauses in der Lesznostraße.

Zunächst sollte der Bericht Gegenstand einer parlamentarischen Debatte im Sejm werden und ein Mandat der Abgeordneten erhalten. Dann kann die polnische Regierung eine diplomatische Note mit der offiziellen Aufforderung zur Aufnahme von Gesprächen über Reparationen vorlegen. Ich würde zu einer Argumentation raten, die aus zwei grundlegenden Punkten besteht: dass Polen nie auf seine Reparationsansprüche gegenüber Deutschland verzichtet hat, und dass der volle Umfang der entstandenen Schäden und deren Bewertung, d. h. der gerade veröffentlichte Bericht, der Note beigefügt werden. Die Ablehnung dieser Forderung durch die Bundesregierung ist natürlich zu erwarten.

In den letzten Jahren habe ich das Thema Reparationen mehrfach in Gesprächen mit deutschen Politikern angesprochen. Daher weiß ich, dass es eine Gruppe bei den Grünen gibt, die sich für das Thema interessiert und die sogar mit den Reparationsforderungen Griechenlands sympathisiert. Doch die Reaktion auf die Bemerkung, dass in erster Linie Polen in die Reparationsdebatte einbezogen werden sollte, war von Unverständnis geprägt. Solche Gespräche wurden sehr schnell abgebrochen.

Nach der Bundestagsdebatte über Reparationen an Griechenland am 25. März 2021 haben wir uns an Politiker der Grünen gewandt, die höflich, aber bestimmt ausschlossen, über Reparationen an Polen zu sprechen. Man konnte spüren, dass selbst die Politiker, die mit den Forderungen Griechenlands sympathisierten, eine völlig andere Haltung gegenüber Polen einnahmen. Wie erklären Sie sich diese Diskrepanz?

Es ist schlicht und einfach absurd. Zugleich ist das ein Hinweis für die polnische Regierung, dass ihre Forderungen höchstwahrscheinlich auf Ablehnung stoßen werden. Wichtig in der ganzen Angelegenheit ist die klare Position Warschaus, ohne Zweifel und Missverständnisse. Sobald die polnischen Forderungen von Deutschland abgelehnt werden, sollte Warschau den internationalen Weg einschlagen. Und das bedeutet nicht, dass man gleich Deutschland vor dem Internationalen Gerichtshof in Den Haag verklagt.

Zerstörung des Adam-Mickiewicz-Denkmals auf dem Krakauer Hauptmarkt (Adolf-Hitler-Platz) am 17. August 1940.

Zunächst einmal sollte die Angelegenheit vor die UNO gebracht werden, und dann gibt es auch noch die OECD, die Europäische Kommission und das Europäische Parlament. Ich würde mich nicht scheuen, die Frage der Wiedergutmachung auf mehreren internationalen Ebenen vorzubringen. Zumal Polen Verbündete gewinnen konnte. Ich habe vor einigen Tagen mit einem griechischen Diplomaten gesprochen, dem ich eine englischsprachige Version des polnischen Berichts über die Kriegsverluste geschickt habe, und ich stelle ein reges Interesse an den polnischen Berechnungen fest. 

Überreste des Chopin-Denkmals aus dem Warschauer Łazienki-Park vor dem Abtransport zur Einschmelzung in Deutschland. Es wurde am 31. Mai 1940 gesprengt.

Angenommen, Polen und Griechenland würden ihre Kräfte bündeln und gemeinsam ihre Rechte einfordern, sogar vor EU-Institutionen, um dem Thema auch die notwendige Öffentlichkeit zu verschaffen. In einem solchen Bündnis könnte man viel mehr erreichen als im Alleingang. Natürlich spielt Polen die wichtigere Rolle, weil es am meisten unter der deutschen Besatzung und der deutschen Zerstörungspolitik gelitten hat. Deshalb ist es gut, dass nach dem ersten offiziellen Bericht von 1947 („Bericht über Polens Kriegsverluste und- Schäden 1939-1945“. Die letzte Ausgabe mit einem Kommentar von Prof. Dr. Krzysztof Miszczak wurde 2017 veröffentlicht – Anm. RdP) endlich ein neuer Rapport, versehen mit der Summe der Forderungen, 2022 erschienen ist.

Es würde auch nicht schaden, die Aufmerksamkeit der Juristen in der ganzen Welt, die sich auf das Völkerrecht spezialisiert haben, auf dieses Thema zu lenken. Auch in den Vereinigten Staaten, wo ja eine zwar nicht sehr lautstarke, aber immerhin, eine Debatte über die Entschädigung der Familien von Opfern der Sklaverei geführt wird. Das mag alles heute abstrakt klingen, aber solche Diskussionen finden in mehreren Teilen der Welt statt, und ihre Teilnehmer interessieren sich dafür, was diesbezüglich in Polen geschieht.

Die Warschauer Altstadt 1945.

Einige Kommentatoren sowohl in Polen als auch in Deutschland haben gesagt, dass Polen sich in Sachen Reparationen an Moskau statt an Berlin wenden sollte. Verstehen Sie diese Argumentation?

Auch das ist absurd. Die Sowjets haben zahlreiche Verbrechen an den Polen begangen, daran besteht kein Zweifel, und auch die sowjetischen Verbrechen dürfen nicht vergessen werden, aber der Hauptakteur des Zweiten Weltkriegs war Nazideutschland, und deshalb ist Berlin der Hauptadressat in Bezug auf die Forderungen.

Es wird viel über die deutsche Erinnerungskultur gesprochen, aber über die im besetzten Polen begangenen Verbrechen weiß man in Deutschland sehr wenig. Kann der Bericht das ändern?

Ja, so ist es in der Tat. Beim Lesen des Berichts fiel mir auf, dass die Autoren auch Beispiele anführten, die auf den Aussagen der Zeitschrift „Medical Review“ beruhen. In den 1980er Jahren beschäftigte ich mich intensiv mit medizinischen Experimenten an Menschen während des Zweiten Weltkriegs und den Nachkriegstraumata. Damals arbeitete ich noch nicht als Historiker, sondern als Arzt mit polnischen Wissenschaftlern zusammen, darunter Professor Józef Bogusz aus Krakau. Jahrzehntelang hatten ich und andere Wissenschaftler versucht, den Deutschen von den polnischen Opfern deutscher Verbrechen zu erzählen, aber diese Geschichte war nicht auf fruchtbaren Boden gefallen.

Die Erinnerungskultur in Deutschland wird sozusagen administrativ gesteuert. Sie ist zudem so konstruiert, dass das Thema der Wiedergutmachung vermieden wird und die Opfer zu Bittstellern degradiert werden. Das ist inakzeptabel. Ich möchte aber zusätzlich auf drei Aspekte der Erinnerungskultur in Deutschland aufmerksam machen.

Es ist, erstens, die Nichtaufarbeitung der deutschen Kriegsverbrechen im besetzten Polen.

Zweitens, Polen ist aus der Erinnerungskultur weitgehend gelöscht, trotz Initiativen wie der Schaffung eines Dokumentationszentrums für Verbrechen an Polen in Berlin. Die Umstände, unter denen dieses Zentrum entsteht, der endlose, kleinliche innerdeutsche Streit um den Sinn der Einrichtung, den Ort, an dem sie entstehen soll, über die Inhalte. Das alles ist sehr bezeichnend und geradezu beschämend.

Drittens die Heuchelei der Erinnerungskultur als solcher, weil sie instrumentalisiert wird. Einerseits Erklärungen über die Scham und das Bewusstsein der Verantwortung für begangene Verbrechen, andererseits die strikte Weigerung, finanzielle Wiedergutmachung für die begangenen Taten zu leisten.

Sowjets zwingen deutsche Kriegsgefangene, die Krematorien des Vernichtungslagers Majdanek in Lublin zu besichtigen.

Ein deutscher Kommentator erklärte, man könne nicht verlangen, dass Generationen, die nach dem Krieg geboren wurden, für die Verbrechen anderer aufkommen, das sei moralisch inakzeptabel. Wie verhält sich das zu der viel beschworenen deutschen Kultur des Erinnerns?

Eine Erinnerungskultur setzt voraus, dass den folgenden Generationen die Ausmaße der Verbrechen des Zweiten Weltkriegs bewusst gemacht werden. So etwas wie ein „kollektives Vergessen“ gibt es nicht. Das kann es nicht geben. Während wir uns mit der Frage der Wiedergutmachung beschäftigten, stellten meine Mitarbeiter und ich uns gleichzeitig die Frage nach der Aufrechterhaltung dieser Erinnerungskultur. Das eine hängt mit dem anderen zusammen.

Außerdem sollten wir von der Tatsache ausgehen, dass weder Reparationen noch Reparationsforderungen verjährt sind. In den letzten Wochen habe ich im Zusammenhang mit meiner Arbeit an einem neuen Projekt viele Dokumente aus den Archiven des Auswärtigen Amtes und des Bundeskanzleramtes gelesen, in denen führende deutsche Politiker, darunter Willy Brandt, in Gesprächen mit ihren polnischen Kollegen immer sagten: „Was erwarten Sie? Unsere junge Generation interessiert sich nicht mehr für den Krieg, man muss die Vergangenheit von der Gegenwart mit einem dicken Strich trennen und in die Zukunft schauen“. Schon damals, in den 1970er Jahren, war das schlicht eine Lüge. Schließlich hat meine Generation Ende der 1960er und Anfang der 1970er Jahre, begonnen die Geschichte Deutschlands, in der wir die Kinder der Täter waren, für sich zu entdecken. So haben wir uns selbst gesehen. Um Ihre Frage zu beantworten: Das Argument der Generationen ist heute mehr als unangebracht.

Appell im Kinder-KZ (Polen-Jugendverwahrlager der Sicherheitspolizei Litzmannstadt) in Łódź.

Und was halten Sie von dem „Antiversöhnungsargument“? Es sind Stimmen laut geworden, dass die polnischen Forderungen die mühsam errungene polnisch-deutsche Aussöhnung dauerhaft stören werden. Andererseits wurde argumentiert, dass die schwierige Diskussion über Reparationen am Ende vielleicht eine Heilung der polnisch-deutschen Beziehungen nach sich ziehen, eine echte Versöhnung einleiten wird und nicht eine kitschige und überzuckerte, wie sie seit Jahren oft praktiziert wird. Wie reagieren Sie auf diese beiden, doch sehr extremen Meinungen?

Ohne deutsche Verhandlungsbereitschaft wird die deutsch-polnische Versöhnung eine Fassade bleiben. Es war eine Fiktion, aber jetzt hat sie die Chance, etwas Dauerhaftes und Reales zu werden. Versöhnung ist möglich, wenn die Nation, die Unrecht getan hat, diejenigen, die sie gedemütigt hat, nicht als Bittsteller betrachtet. Nur gleichberechtigte Partner können sich wirklich versöhnen. Und ich freue mich, zu diesem Prozess beizutragen, indem ich eine englischsprachige Version des Berichts auf der Website der Stiftung, in der ich tätig bin, veröffentliche, und zu gegebener Zeit – sobald eine deutsche Übersetzung vorliegt – auch diese Version veröffentlichen werde. Bisher hat noch keine deutsche Institution dieses Dokument auf ihre Website gestellt. 

RdP

Das Interview erschien in der „Gazeta Polska Codziennie“ („Polnische Zeitung Täglich“) am 7.09.2022. 

Weitere Berichte zum Thema:

„Deutsche Reparationen – polnische Positionen. Teil 1“

„Deutsche Reparationen – polnische Positionen. Teil 2“

„Deutsche Reparationen an Polen. Wie viel und wofür“

„Reparationen für Polen. Ein Deutscher spricht Klartext“




Ohne Kohle erfriert Polen

Mit der Kohleknappheit ist nicht zu spaßen.

Drei Jahrzehnte lang hat Polen seine Steinkohleförderung fortlaufend verringert. So lange, bis der heimische Bergbau zwar noch den Bedarf der Energiewirtschaft deckte, aber es nicht mehr genug Kohle für die privaten Haushalte gab. Sie mussten ihre Wohnungen und Häuser mit russischer Importkohle heizen. Seit Beginn des Ukraine-Krieges fordert das seinen Tribut.

Der Krieg hat die Energiepreise durch die Decke schießen lassen. Das wichtigste Hinweiszeichen für eine Treibstoffkrise ist in der Regel der Ölpreis. Heute kostet ein Barrel der Sorte Brent annährend 90 Dollar, während er vor fünf Jahren noch halb so viel gekostet hat.

Viel gefährlicher sind jedoch im kommenden Winter die Preissteigerungen beim Erdgas, das aufgrund der selbstmörderischen Abhängigkeit Europas von russischen Lieferungen um mehrere hundert Prozent pro Megawattstunde gestiegen ist. Im August vor einem Jahr wurden an der polnischen Strombörse für eine Megawattstunde knapp über 200 Zloty (ca. 43 Euro) gezahlt, während sich der Gaspreis Mitte Juli 2022 auf 800 Zloty (ca. 170 Euro) zubewegte. Das zeigt, mit welchen Herausforderungen Polen konfrontiert werden wird, wenn draußen die Temperatur unter Null sinkt.

Glücklicherweise dürfte es in Polen nicht an Gas mangeln, vor allem dank der fast zu einhundert Prozent gefüllten Speicher und der geplanten Inbetriebnahme der Baltic Pipe-Pipeline im Herbst.

Verlauf der Baltic Pipe-Erdgasleitung aus Norwegen nach Polen.

Die Regierung hat zudem bereits verschiedene Sicherheitspolster in Form von Steuerbefreiungen und Verbrauchssteuersenkungen vorbereitet, aber mit niedrigen Preisen ist definitiv nicht zu rechnen. In diesem Winter könnten sich die Energie- und Heizkosten für viele Menschen als erhebliche finanzielle Belastungen erweisen.

Flüssiggasterminal in Świnoujście/Swinemünde.

Vor lauter Sorge um die steigenden Gas- und Ölpreise wurde lange Zeit außer Acht gelassen, was zeitgleich mit der Kohle geschah, insbesondere mit der Steinkohle, die von drei Millionen polnischen Haushalten zum Heizen verwendet wird. Deren Preis ist ebenfalls stark angestiegen, und außerdem wurde bald deutlich, dass es einen Engpass geben wird. Der Hauptgrund dafür ist das Embargo für Kohleimporte aus Russland und Weißrussland vom April 2022, das Polen als Reaktion auf die russische Aggression gegen die Ukraine verhängt hat.

Es schien, dass diese politisch korrekte Entscheidung die polnische Energiesicherheit nicht gefährden würde. Schließlich ist Polen der größte Produzent von Steinkohle in der Europäischen Union, und somit sollte es uns daran nicht mangeln. Das Gegenteil ist jedoch der Fall.

Vergeudete Zeit

Das Angebot an Steinkohle in Polen nimmt stetig ab, was nicht verwundert, da die Kohleförderung seit Jahren rückläufig ist: 1979 wurden in Polen 200 Millionen Tonnen Kohle gefördert, 1989 waren es 177 Millionen Tonnen, 2008 nur noch 84 Millionen Tonnen. Danach noch weniger. Im Jahr 2021 belief sich die Steinkohleförderung auf rund 55 Millionen Tonnen, wovon der größte Teil an die Industrie ging: an Stahlwerke, Kraftwerke und Heizkraftwerke. Einige dieser Anlagen verwenden auch Braunkohle, deren Verfügbarkeit, nach der Rettung der Grube Turów im Dreiländereck Polen-Tschechien-Deutschland, kein großes Problem darstellt.

Bergmann. Briefmarke von 1923.

Der Rückgang des Kohlebergbaus steht in direktem Zusammenhang mit der europäischen Politik der Dekarbonisierung, die nach dem EU-Beitritt Polens beschleunigt wurde und nun zu einer Schlüsselstrategie der EU geworden ist. Polnische Bergwerke wurden geschlossen, weil die Kohle durch andere, umweltfreundlichere Energiequellen ersetzt werden sollte.

Daraus ist nicht viel geworden. Obwohl die Verpflichtung zur Dekarbonisierung seit langem bekannt war, verging viel Zeit, in der keine nennenswerten Schritte unternommen wurden, um eine Alternative zur Kohle zu schaffen. Im Jahr 2013 kündigte die Regierung Donald Tusk an, dass Polens erstes Kernkraftwerk 2024 in Betrieb genommen werden soll. Doch die deutschen Atomphobien führten schnell dazu, dass der berlinhörige Donald Tusk, der sich ohne Angela Merkels Unterstützung seinen Traum, EU-Ratspräsident zu werden, hätte abschminken müssen, den Bau des AKWs auf Eis legte.

Bergmann bei der Arbeit. Briefmarke von 1947.

Erst nach 2015, unter der Regierung von Recht und Gerechtigkeit, wurde ernsthaft an konkreten Plänen zum Einsatz der Kernenergie gearbeitet. Die unter Tusk verschwendete Zeit und das anderweitig ausgegebene Geld konnten nun jedoch nicht mehr zurückgeholt werden. Es wird noch ein paar Jahre dauern, bis Polen sein erstes AKW ans Netz anschließen kann.

Auch bei der Entwicklung erneuerbarer Energien (EE) war die Vorgängerregierung nicht besonders eifrig. Im Jahr 2015, zu dem Zeitpunkt, als sie die Macht abgab, betrug die Gesamtkapazität aller erneuerbaren Energien 6.970 MWh, während sie Ende 2020 bei 9.978 MW lag. Und obwohl, wie diese Zahlen zeigen, die Nationalkonservativen entgegen der landläufigen Meinung erneuerbare Energien entwickelt haben, können diese beim derzeitigen Stand der Technik nur eine Ergänzung und nicht die Grundlage des polnischen Energiemixes sein.

Steinkohlebergbau. Briefmarke von 1951.

Zur polnischen Energieversorgung gehört auch Erdgas, auf das die Deutschen eine starke Wette abgeschlossen hatten, deren Ergebnis heute bekannt ist. Glücklicherweise ist es der Tusk-Regierung seinerzeit nicht gelungen, Polen in ähnlicher Weise von russischen Lieferanten abhängig zu machen, obwohl es Bemühungen gab, den Vertrag mit Gazprom bis 2037 zu verlängern. Dessen Laufzeit wurde schließlich, auf Betreiben der EU, auf 2022 begrenzt und ist, statt im Oktober, aufgrund der Embargo-Bestimmungen bereits im April ausgelaufen. Die Fertigstellung des Flüssiggashafens in Świnoujście/Swinemünde und der forcierte Bau der Ostseepipeline von Norwegen über Dänemark nach Polen haben das Land vor der russischen Erpressung durch Einschränkung der Gaslieferungen bewahrt.

Bergmann bei der Arbeit. Briefmarke von 1952.

Die Energiewende der Regierung Tusk beschränkte sich also hauptsächlich auf den Ausstieg aus der Kohle, im Einklang mit den EU-Richtlinien, aber gleichzeitig wurden keine konkreten Maßnahmen ergriffen, um die Kohle zu ersetzen.

Die noch in Betrieb befindlichen Bergwerke in Schlesien und der Region Lublin sind gegenüber ausländischen Importen nicht wettbewerbsfähig. Der Abbau ist teuer, die Kohle befindet sich in großer Tiefe und vielerorts unter städtischen Gebieten. Fast überall besteht auch ein hohes Risiko von Methangasexplosionen. Es ist kein Wunder, dass der polnische Bergbau gegenüber dem kostengünstiger zu betreibenden, ausländischen Tagebau ins Hintertreffen geraten ist. Es ist unmöglich, die Produktion ohne großen finanziellen Aufwand zu steigern. Aber warum sollte man sie auch steigern, wenn, wie geplant, alle Bergwerke bis 2049 geschlossen werden sollen?

In einer Briefmarkenserie zum zehnten Jahrestag der Volksrepublik Polen (1954) durfte das Motiv Steinkohlebergbau auf keinen Fall fehlen.

Kohle-Odyssee

Gegenwärtig deckt die polnische Steinkohle vor allem den Bedarf der heimischen Industrie und der Stromerzeugung. Hier besteht keine Gefahr, dass es zu einem Versorgungsengpass kommen wird, obschon der Preis für die aus dieser Kohle gewonnene Energie natürlich steigen wird. Zum einen aufgrund der von der EU erhobenen Gebühren für Kohlendioxid-Emissionen, zum anderen aufgrund des weltweiten Preisanstiegs infolge der Energiekrise und der gestiegenen weltweiten Nachfrage nach Kohle.

Die derzeitigen Probleme mit der Verfügbarkeit von Kohle in Polen betreffen daher vor allem verschiedene lokale Heizwerke und private Verbraucher, die ihre Wohnungen und Häuser mit Kohleöfen heizen. Dabei handelt es sich zumeist um bedürftige Menschen, die bisher die billigere und leichter zugängliche importierte Kohle kauften. Nach Ansicht von Fachleuten ist diese auch kalorienreicher und außerdem weniger mit Schwefel verunreinigt als polnische Kohle.

Die sozialen, ökonomischen und politischen Ausmaße des Problems sind daran erkennbar, dass 87 Prozent der in der gesamten EU in privaten Haushalten verfeuerten Steinkohle auf Polen entfallen. Etwa 5 Millionen Gebäude werden in Polen mit Steinkohle beheizt.

Eintausend Jahre Bergbau in Polen. Briefmarken von 1961.

Kohleimporte haben sich in den letzten Jahren zu einem sehr lukrativen Geschäft entwickelt. Nach offiziellen Angaben wurden im Jahr 2021 insgesamt 12,55 Millionen Tonnen Steinkohle nach Polen eingeführt. Im Rekordjahr 2018 – sogar 19,3 Millionen Tonnen (gegenüber 3,4 Millionen Tonnen im Jahr 2005). Gleichzeitig fanden nur zwei Prozent der importierten Kohle industrielle Abnehmer wie Kraftwerke und Wärmekraftwerke. Fast die gesamte Importkohle ging in die privaten Haushalte.

Den verfügbaren Daten zufolge verbrauchen sie in Polen jährlich 15 Millionen Tonnen Kohle. Auf diese Weise entstanden zwei parallele Kohlekreisläufe: Die aus dem heimischen Bergbau stammende Förderung ging an die Industrie, während die importierte Kohle die Haushalte versorgte, die schließlich fast vollständig von ihr abhängig geworden sind.

Der größte Teil der importierten Kohle kam aus Russland, mit insgesamt 38 Millionen Tonnen zwischen 2016 und 2019. Das entsprach mehr als 60 Prozent der Importe. Weitere Lieferungen in dieser Zeit kamen aus den USA, Kolumbien, Kasachstan, Tschechien, Mosambik und Australien. Der klare Vorteil der russischen Kohle lag darin, dass sie Polen auf dem Schienenweg erreichte, was viel billiger war als die Lieferungen auf dem Seeweg. Gleichzeitig war, nach Ansicht von Experten, eine bessere Qualität des Rohstoffs garantiert. In den Laderäumen der Schiffe zerbröckelt Kohle angeblich leichter und verliert an Wert.

Fröhlicher Bergmann aus Anlass des 25. Jahrestages des Bestehens der Volksrepublik Polen.

Es überrascht also nicht, dass das Embargo für russische Kohlelieferungen im April 2022 für Aufregung im Markt sorgte. Im Mai 2022, d.h. nachdem das Embargo bereits in Kraft war, wurden noch 640.000 Tonnen Kohle nach Polen importiert, ein Jahr zuvor hingegen waren es 1,5 Millionen Tonnen. Inzwischen gibt es keinen Kohleimport aus Russland mehr. Das bedeutet, dass der relativ billige Rohstoff plötzlich verschwunden ist und nicht mehr genügend Kohle zur Verfügung stand. Haushalte sahen sich plötzlich mit einem ernsten Problem konfrontiert, weil ihnen für den Winter der Brennstoff, den sie sich oft bereits im Frühjahr und Sommer beschaffen, fehlte.

Die Regierung ließ wissen, dass die Lieferung von 8 Millionen Tonnen Steinkohle aus anderen Rohstoffgebieten bereits sichergestellt sei, aber die Auswirkungen dieser Bemühungen werden noch auf sich warten lassen. Das gilt umso mehr, als die Einfuhr von Kohle auf dem Seeweg einen höheren Aufwand erfordert. In erster Linie ist der Transportweg länger. Auch handelt es sich um Lieferungen mit großen Tonnagen, die nicht in jedem polnischen Hafen gelöscht werden können. Anschließend muss die Kohle auf Züge umgeladen werden.

Hinzu kommt, dass die Eisenbahn heute nicht mehr in der Lage ist, Kohle in jeden Winkel Polens zu befördern, vor allem, nachdem unter der Tusk-Regierung mehrere Tausend Kilometer Gleise stillgelegt wurden. Daher muss die Kohle erneut umgeladen, dieses Mal auf Lastwagen, und anschließend verpackt werden. Erst dann kann man sie zum Verkauf anbieten. Dieses Beispiel verdeutlicht im Übrigen, wie schädlich die Politik der Demontage der polnischen Eisenbahninfrastruktur war.

Der Steinkohlebergbau als Stolz der Partei. Briefmarke von 1971 zum 6. Parteitag der regierenden Polnischen Vereinigten Arbeiterpartei.

Jede Etappe dieser Kohle-Odyssee ist mit zusätzlichen Kosten verbunden, die sich natürlich auf den Endpreis auswirken. Heute muss man für eine Tonne Importkohle fast 1.500 Zloty (ca. 320 Euro) bezahlen (vor einem Jahr waren es etwa 300 Zloty, also ca. 64 Euro). Das Problem liegt jedoch nicht nur darin, dass Kohle teuer geworden ist, sondern auch darin, dass der einzelne Kunde sie phasenweise nirgendwo kaufen kann. Denn es gibt immer noch nicht genug davon.

Kampf um die Zukunft

Um die Knappheit zu beheben, hat die Regierung versucht, den Verkauf von Kohle aus polnischen Bergwerken für den Eigenverbrauch zu erhöhen, was aber bisher nicht viel gebracht hat. Obwohl die Minen einen kleinen Teil ihrer Produktion zum freien Verkauf angeboten haben, ist der Rohstoff schnell verschwunden. Medienberichten zufolge wird die Kohle von Spekulanten gekauft, die sie dann zu einem viel höheren Preis weiterverkaufen. Deren Gewinnspanne, so wird geschätzt, könnte dreimal so hoch liegen.

Die von der Regierung vorgeschlagene Kompensation für diejenigen Kohlelager, die den Rohstoff zu einem Höchstpreis von 996 Zloty (ca. 210 Euro) pro Tonne für einen Haushalt verkaufen, scheiterte ebenfalls, da sie sich für viele Händler als unrentabel erwies. Schließlich wurde die sogenannte Kohlebeihilfe in Höhe von 3.000 Zloty (ca. 640 Euro) beschlossen, die als einmalige Leistung an Haushalte ausgezahlt wird, deren Hauptheizquelle ein Festbrennstoffherd (Steinkohle, Briketts usw.) ist. Berechnungen zufolge werden die Subventionen den Staatshaushalt mit insgesamt 11,5 Milliarden Zloty (ca. 2,5 Milliarden Euro) belasten.

Briefmarke von 2006 zum 25, Jahrestag der blutigen Niederschlagung (9 tote Bergleute) des Proteststreiks in der oberschlesischen Grube „Wujek“ gegen die Verhängung des Kriegsrechts und das Verbot der Gewerkschaft „Solidarność“ am 13. Dezember 1981.

Wenn alles gut läuft, könnte das entsprechende Gesetz bald vom Sejm verabschiedet werden, d.h. wenn die Kohlekrise, die für die Opposition ein willkommenes politisches Reizthema ist, die Ausarbeitung der Pläne für die geplanten Subventionen nicht lähmt. Die postkommunistische Linke hat bereits angekündigt, dass sie gegen das Gesetz stimmen wird, weil die Vorschläge der Regierung nicht nur keine Preiserhöhungen verhindern, sondern auch Haushalte, die mit anderen Wärmequellen beheizt werden, benachteiligen würden.

Viele Nutzer von Kohleöfen sind bereit, dem zuzustimmen, denn bei ständig steigenden Preisen sind Subventionen keine Garantie für niedrigere Heizkosten. In der Wintersaison werden durchschnittlich fünf Tonnen Kohle benötigt, um ein Haus zu beheizen, vor allem, wenn das Haus nicht richtig isoliert ist. Solange eine Tonne Kohle 300 Zloty kostete, musste man für den ganzen Winter 1.500 Zloty bezahlen. Inzwischen sind dies die Kosten für eine Tonne Kohle. Wenn die Preise weiter steigen, könnte die Situation für viele Menschen, trotz Subventionen, im Winter sehr schwierig werden.

Das ist eine große Herausforderung für die Regierung, zumal die Krise die Geringverdiener am härtesten trifft, also vor allem die Wählerschaft von Recht und Gerechtigkeit. Es ist zu erwarten, dass die Opposition versuchen wird, die gegenwärtigen Schwierigkeiten für ihren Kampf um die Macht im Lande zu nutzen, auch wenn viele dieser Probleme das Ergebnis früherer Versäumnisse während der eigenen Regierungszeit sind. In diesem Sinne ist der Kampf um die Kohle auch ein weiterer Teil des politischen Kampfes um die Zukunft Polens.
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27.08.2022. Vier Millionen Kriegsflüchtlinge in Polen. Wir haben es geschafft

Auch in Warschaus ältester und schönster Grünanlge, dem Łazienki (Bäder)-Park mit seinem Wasserschloss und dem schwungvollen Chopin-Denkmal, an dem im Sommer jeden Sonntag Pianisten die Musik des Meisters darbieten, hat der Krieg im Osten seine Spuren hinterlassen. Man trifft hier keine Japaner mehr, die, wie alle ausländischen Touristen in diesem Jahr, Polen wegen seiner Nähe zu den Kriegsschauplätzen meiden. Sattdessen wird der Park bevorzugt von ukrainischen Müttern besucht, die mit ihren Kindern im Schatten der alten Bäume Abkühlung finden. Sie füttern Eichhörnchen, bewundern die Schwäne, begleitet von Großmüttern, Tanten, älteren Geschwistern, eher selten von Männern, die zumeist in der Heimat, oft an der Front, geblieben sind. Es geht familiär und fröhlich zu.

Man denkt sofort an Kommentatoren, die sich selbst als „Realisten“ bezeichnen, und die im März, April, Mai stirnrunzelnd vorrechneten, „wie viel uns die Flüchtlinge kosten“, und warnten, dass „selbst das reiche Amerika sich nicht Millionen von Migranten leisten kann“. Sie sollten ihre ominösen Berechnungen bei Seite legen und einen Moment lang darüber nachdenken, wieviel Gutes, angesichts der offensichtlichen demografischen Krise, in der Polen steckt, dieser Zustrom junger Menschen aus einem uns nahen Land bewirken kann.

Die Bevölkerungszahl Polens ist im letzten halben Jahr von knapp 38 Millionen auf fast 42 Millionen angestiegen. Düsteren Prognosen zufolge würde der plötzliche Zustrom von Flüchtlingen nach dem 24. Februar 2022 unser Sozialsystem, in das sie aufgenommen wurden, überfordern. Die Plage der Massenarbeitslosigkeit würde aufleben. Schulen und Kindergärten würden überlastet sein. Der Wohnungsmarkt sollte zusammenbrechen und das nach der Pandemie schwer gestörte Gesundheitssystem würde einen tödlichen Schlag erleiden. Am Ende sollte sich unsere Hilfsbereitschaft verflüchtigen und das Land im Chaos versinken. Nichts dergleichen ist geschehen, und es gibt keine Anzeichen dafür, dass es geschehen wird.

Auf den Straßen der polnischen Städte hört man heute Russisch und Ukrainisch fast so oft wie Polnisch, aber die Sonne scheint wie früher, die Straßenbahnen fahren und die Lehrer und Krankenschwestern sind so unzufrieden wie immer. Die Ukrainer leben sich gut ein. Massenkonflikte bleiben aus. Es gibt Probleme, aber das ist nicht der Weltuntergang.

Zur Überraschung der Skeptiker besteht Polen den Praxistest der sozialen und institutionellen Improvisations- und Anpassungsfähigkeit außerordentlich gut. Das ist eine ermutigende Nachricht, denn die Fähigkeit, neue Mitglieder in die Gesellschaft zu integrieren, kann sich auf das Wirtschafts- und Wohlstandswachstum nur positiv auswirken.

RdP