14.12.2022. Monsieur le Russlandversteher

„Dumme Gedanken hat jeder, nur der Weise verschweigt sie“. Wilhelm Buschs klugen Ratschlag vermag der französische Staatspräsident leider bis heute nicht zu beherzigen. Im April 2022 nur noch deshalb ein zweites Mal in den Élysée-Palast gewählt, weil er nicht Marine Le Pen heißt, legt der ansonsten zu Recht als sprunghaft geltende Emmanuel Macron eine eiserne Beharrlichkeit an den Tag, wenn es darum geht, im Ukrainekrieg Verständnis für Russland aufzubringen.

Seit Beginn des russischen Überfalls am 24. Februar 2022 ließ Monsieur le Président wissen, dass Putin kein „Schlächter“ sei und die russischen Gräuel in der Ukraine kein „Völkermord“ sind. Er machte sich Putins Behauptung zu eigen, dass es sich bei den Russen und Ukrainern um zwei „Brudervölker“ handelt. Er warnte dringend davor, Russland am Ende künftiger Friedensverhandlungen zu „erniedrigen“.

Kürzlich (am 3. Dezember 2022) sattelte Macron im französischen Fernsehen noch einmal drauf. Nach mehr als zehn Monaten des russischen Vernichtungsfeldzugs und der russischen Kriegsverbrechen in der Ukraine verwies er auf Wladimir Putin, der noch vor dem Einmarsch Russlands in die Ukraine „Sicherheitsgarantien“ für sein Land gefordert hatte. Wenn Russland sich zu Friedensgesprächen bereit erkläre, müsse der Westen, so Macron, auf diese Forderungen „eingehen“.

Konkret gelte es, Russlands Widerstand gegen den Nato-Beitritt der Ukraine und die Stationierung von Waffen, „die Russland bedrohen könnten“, zu respektieren. So, als würde ein kriegslüsterner Westen nur davon träumen, seine Raketen auf Moskau zu richten. Doch die Wahrheit sieht anders aus, und Macron tut nur so, als würde er es nicht wissen: Der Westen erlaubt der Ukraine nicht einmal, Raketen auf russische Militärziele jenseits der ukrainischen Grenze abzufeuern, obwohl sie von dort aus angegriffen wird.

Mit anderen Worten, Macron vertritt die These, dass man dem Urheber des größten bewaffneten Konfliktes in Europa seit dem Zweiten Weltkrieg brav zuhören und bei der Umsetzung seiner erfundenen Bedenken folgsam zur Hand gehen sollte.

Der französische Präsident ist zu seinen russlandfreundlichen Ideen zurückgekehrt, ausgerechnet in einer Zeit, in der Russland kaltblütig versucht, die Ukrainer durch Kälte und Hunger in die Knie zu zwingen. Ohne ein Wort über die Bestrafung des Kriegstreibers Putin zu verlieren und darüber, dass Russland für die Zerstörungen in der Ukraine aufkommen und den Opfern Entschädigungen zahlen muss, will er es erneut in die europäische Sicherheitsarchitektur einbeziehen.

Damit frönt Macron, als wäre nichts geschehen, einer alten französischen Vorstellung, die seit Charles de Gaulles Zeiten vor allem auf dem Unmut über die amerikanische Führung in der Nato fußt und durch die Ausblendung von Befürchtungen und Interessen der Bündnisländer, die an der Nato-Ostflanke liegen, ergänzt wird.

Der Krieg hat Macron nicht verändert. Für Polen ist das eine sehr ernüchternde Erfahrung. Und sie gibt Warschau recht, wenn es eine enge Anlehnung an Amerika sucht, massiv aufrüstet und seine Armee zahlenmäßig aufstockt. Alles um bloß nicht „verbündeten“ Politikern vom Schlage eines Emmanuel Macron ausgeliefert zu sein.

Lesenswert auch: ♦ „Lassen Sie ab von Polen“. Ein Franzose schreibt Staatspräsident Macron.“ „23.05.2022. Emma, Macron, New York Times & Co. Polen stellt sich quer“„28.04.2022. Macron ist nicht gut für Polen“.

RdP




5.12.2022. Deutscher Hochsprung, polnischer Fußball. Eine WM-Nachlese

Ohne Überschwang der Freude, aber auch ohne dem Katzenjammer zu erliegen, verabschiedete sich Polen am Sonntag, dem 4. Dezember vor den Fernsehschirmen von der Fußball-WM in Katar. Die polnische Nationalmannschaft verlor 1 : 3 gegen Frankreich, den Weltmeister von 2018.

Eine Blamage war es nicht, denn die Elf konnte das ungleiche Duell mit dem großen Favoriten über weite Strecken besser als angenommen gestalten. Vorher, mit einer Prise Glück und bei eher mittelprächtigem Können, war es dem polnischen Team gelungen, zum ersten Mal seit 1986, in die K. o.-Runde einer Fußball-WM zu gelangen. Wenigstens „wyjść z grupy“ („aus der Vorrunde herauskommen“) lautete der millionenfach wiederholte, hoffnungsvolle Stoßseufzer, seitdem sich Polen für diese WM qualifiziert hatte. So gesehen kann von Enttäuschung keine Rede sein.

Und sonst?

Vor der WM wurde beklagt, dass durch die Zulassung von vielen „Schwächlingen“ das Turnier nur unnötig verlängert wird, und dass es zu viele Spiele auf nur ein Tor geben würde. Es wäre am besten, so der Tenor, fünf Top-Mannschaften aus Europa und fünf aus Südamerika gegeneinander antreten zu lassen. Der Rest der Welt zähle ohnehin nicht.

Die erste Runde der Meisterschaft hat das widerlegt. Die Teams, die den besten Eindruck machten, waren genau diejenigen, die im Vorfeld als Punktelieferanten abqualifiziert worden waren: Saudi-Arabien, die USA, Kanada oder Japan. Und es geht nicht nur um die sensationellen Ergebnisse, wie Japan gegen Deutschland 2 : 1, sondern um den Stil, den Kampfeswillen, die Freude am Spiel, die sie gezeigt haben.

Ansonsten lassen sich die Überlegungen zur WM und diejenigen, die sie formulieren, in zwei Gruppen einteilen. Den einen geht es um Fußball, den anderen um Katar.

Nach dem Spiel Deutschland-Japan verkündete Moderatorin Monika Olejnik, die Oberfurie des linksradikalen polnischen Journalismus, in ihrer Sendung auf dem Fernsehkanal TVN, dass Deutschland zwar gegen Japan verloren, aber abseits des Spielfeldes gewonnen habe, weil das DFB-Team gegen die Geschehnisse in Katar zu protestieren wagte. „Danke Deutschland!“, platzte es auf Deutsch emphatisch aus ihr heraus, und sie hielt sich, zusammen mit ihren Talk-Gästen, ausschließlich Politikern der Linken, die Hand vor den Mund.

Diese groteske Szene zeigt die Scheinheiligkeit der linksliberalen Medien, der großen Politik und nicht zuletzt des großen Kapitals, die viele Jahre lang Zeit hatten die Fußballweltmeisterschaft in Katar zu verhindern, es aber, aus bekannten Gründen, nicht getan haben. Was blieb, waren leere Gesten.

In Polen überwog einfach die Vorfreude darauf, endlich wieder einem Festival des Spitzenfußballs beiwohnen zu können. Unsere deutschen Nachbarn, soweit man das aus der Ferne überblicken konnte, vermittelten eher den Eindruck, sich auf eine Weltmeisterschaft im Hochsprung vorzubereiten und sich damit zu beschäftigten, ihre moralische Messlatte so hoch zu legen, wie es nur geht. Nicht dabei, sondern dagegen zu sein schien ihr wichtigstes Anliegen zu sein. Schmerzhaft mussten sie auf dem Spielfeld erfahren, dass Haltung keine Leistung ersetzen kann.

Die deutsche Innenministerin trug in Katar stolz die „One-Love“-Binde. Kurz zuvor hatte ihr Kabinettskollege Habeck beim katarischen Scheich um Gas gefleht. Seinem Drängen und Bitten wurde stattgegeben. So war für beides gesorgt, was den Deutschen wichtig ist: die überlegene ethische Gesinnung und die warme Stube für den Winter. Notgedrungen haben die beiden ein triple pack geschnürt, denn eine ungebetene „Gästin“, die Doppelmoral, gesellte sich hinzu und wollte partout nicht enteilen.

Es gibt noch viele Staaten, in denen die Ehe das ist, was sie eigentlich ist: eine dauerhafte Verbindung zwischen Mann und Frau. Dazu gehören u. a. Polen, Griechenland, Japan (wo das vor wenigen Tagen bestätigt wurde), Russland, die Slowakei, Bulgarien, Lettland, die Ukraine, Ungarn usw., usf. Werden deutsche Politiker, Herr Scholz, Herr Habeck, Frau Baerbock, Herr Lindner u. a. jetzt klein beigeben oder konsequenterweise auch bei ihren Besuchen in diesen „Zeichen setzen“ und trotzig die „One-Love“-Binden tragen?

Jedenfalls ist für Abermillionen von Menschen auf der ganzen Welt die WM in Katar das, was sie für große Teile der deutschen Öffentlichkeit nicht mehr zu sein scheint: ein großes Fest des Fußballs. Auch weil die Duelle zwischen den Nationalmannschaften die letzten Bastionen eines Fußballs sind, den es sonst nicht mehr gibt. Hier werden Spieler nicht für Millionenbeträge ge- und verkauft, sie können höchstens eingebürgert werden, aber das ist eher nebensächlich. Man feuert die eigenen Landsleute an, schwingt die eigene Nationalfahne. Nur bei den Weltmeisterschaften besiegt David den Goliath.

Die Begeisterung in Polen (und anderswo) nach der Niederlage Deutschlands gegen Japan war kein antideutscher Reflex, sondern einfach die Freude darüber, dass der Fußball offensichtlich noch nicht verloren ist, wenigstens so lange so etwas passieren kann.

Zwar weiß und macht man in Deutschland gemeinhin alles besser, dennoch sei von dieser Warte aus die Bemerkung erlaubt, dass man den Sportlern nicht die Aufgaben von Politikern zumuten sollte. Fußballer verdienen viel Geld mit ihrem Sport, weil sie vor allem das machen, was sie am besten können: Fußball spielen. In anderen Dingen sind sie oft eher blauäugig und unwissend. Wäre es also nicht besser, die Fußballprofis Fußball spielen und die deutschen Polit-Profis ihre Arbeit verrichten zu lassen, allerdings weit weg von den Stadien, wenn möglich? Nur so machen sich beide nicht lächerlich.

RdP




Kein Pardon 1. Polens Strafrecht wird verschärft

Täter sollen sich fürchten.

Die vom Sejm verabschiedete Änderung des Strafgesetzbuches sieht unter anderem die Einführung einer absoluten lebenslangen Freiheitsstrafe mit feststehender Strafverbüßung bis zum Tode, die Abschaffung der Verjährungsfrist für bestimmte Sexualstraftaten und die Beschlagnahmung von Fahrzeugen, deren Fahrer Alkohol oder Drogen konsumiert haben, vor.

Besserer Schutz durch höhere Strafen

Wie die Verfasser der Strafrechtsnovelle betonen, besteht das Hauptziel der Änderungen darin, den Schutz vor schwersten Straftaten zu verstärken: Gegen die sexuelle Freiheit, insbesondere zum Nachteil von Minderjährigen, bei Verkehrsdelikten, die im Alkoholrausch oder unter dem Einfluss von Betäubungsmitteln begangen werden. Der Weg zu mehr Schutz führt über höhere Haftstrafen. In erster Linie durch die Anhebung der Strafobergrenze von 15 auf 30 Jahre, die Abschaffung der gesonderten Haftstrafe von 25 Jahren und die Einführung einer absoluten lebenslangen Haftstrafe. Bis jetzt galt ein dreistufiges System: Haftstrafen bis zu 15 Jahren, dann 25 Jahre und anschließend die Höchststrafe lebenslänglich.

Die Verschärfung der strafrechtlich auferlegten Verantwortung stößt auf Kritik derjenigen, die Haftstrafen auch als eine erzieherische Maßnahme betrachten. Sie betonen, dass beides, sowohl die Unvermeidlichkeit von Strafen als auch die Resozialisierung von Gefangenen, wichtig ist. Aus diesem Grund halten sie beispielsweise die Herabsetzung des Strafmündigkeitsalters für Jugendliche von 15 auf 14 Jahre für einen Fehler. Sie argumentieren, dass die Inhaftierung eines Straftäters in einem so jungen Alter nicht sicherstellt, dass er in Zukunft keine Straftaten mehr begeht. Die Gefahr bestehe, dass er, wenn er unter älteren Straftätern lebt, deren Verhaltenskodex übernimmt.

Das Justizministerium entgegnet, dass die Änderungen nur für schwerste Straftaten und Wiederholungstäter vorgesehen sind, und in solchen Fällen müsse das Wohl der Bevölkerung an erster Stelle stehen. Dementsprechend beginnt die Vorstellung der neuen Regelungen auf der Website des Ministeriums mit zwei Aussagen, die gleichsam das Motto der Reform darstellen: „Kriminelle müssen sich fürchten“ und „Die Polen müssen sich sicher fühlen“. Das Ministerium beruft sich dabei auf eine Umfrage des Meinungsforschungsinstituts CBOS, die zeigt, dass 69 Prozent der Polen strengere Strafen für Straftäter befürworten.

Die absolute lebenslange Freiheitsstrafe

Vor einigen Jahren erlangte der Fall des Serienmörders und Pädophilen Mariusz Trynkiewicz Berühmtheit. Er wurde 1989 zu viermal lebenslänglich verurteilt. Nach einer Amnestie hat man das Urteil jedoch in 25 Jahre Gefängnis umgewandelt. Im Jahr 2014 sollte Trynkiewicz nach Verbüßung seiner Strafe entlassen werden. Das Gericht befand jedoch, dass der Mann immer noch eine Gefahr für die Allgemeinheit darstelle, und ordnete eine Sicherheitsverwahrung in der Sonderanstalt in Gostynin an. In den folgenden Jahren wurde er wiederholt wegen Besitzes von Kinderpornografie zu insgesamt sechs Jahren Gefängnis verurteilt, zuletzt im Jahr 2021.

Die Novelle ändert diese absurde Situation. Sie sieht eine lebenslange Freiheitsstrafe, ohne die Möglichkeit sie auf Bewährung auszusetzen, vor, wenn die Umstände der Tat sowie das Verhalten und der Charakter des Täters darauf hindeuten, dass seine Entlassung eine ständige Gefahr für das Leben, die Gesundheit, die Freiheit oder die sexuelle Freiheit anderer darstellt. Die lebenslange absolute Haft droht auch Wiederholungstätern, die erneut einen Mord, eine schwere Sexualstraftat oder einen Terroranschlag begehen.

Die Frist, nach der „einfach“ lebenslänglich Verurteilte eine bedingte Entlassung beantragen können, wurde von 25 auf 30 Jahre verlängert. Die Bewährungszeit bei einer bedingten Entlassung währt dann bis zum Tode. Aktuell sind es noch 10 Jahre. Die Verjährungsfrist für Mord wird ebenfalls heraufgesetzt: von 30 auf 40 Jahre.

Straftaten ohne Verjährungsfrist

Sexualstraftaten haben sehr oft tragische Folgen für das Leben der Opfer. Ein Beitrag zur Überwindung solcher traumatischen Situationen ist die Bestrafung des Täters, die es dem Opfer leichter macht, sich nicht mehr selbst die Schuld am Erlebten zu geben. Bislang war diese Möglichkeit durch die Verjährungsfrist eingeschränkt. Bei Pädophilen beispielsweise waren es fünf Jahre, in besonders schweren Fällen 10 Jahre. Da es sich bei den Opfern um Kinder handelt, ist die Straftat oft schon verjährt, wenn sie das Erwachsenenalter erreicht haben und psychisch reif genug sind, Anzeige zu erstatten.

Nach Inkrafttreten der Novelle wird der Katalog der Straftaten, die nicht verjähren, um die Vergewaltigung eines Minderjährigen unter 15 Jahren erweitert. Andere pädophile Straftaten verjähren erst, wenn das Opfer das Alter von 40 Jahren erreicht hat. Das Strafmaß für Pädophilie wird verschärft: Die Vergewaltigung eines Kindes wird mit 5 bis 30 Jahren Gefängnis oder lebenslänglicher Haft bestraft. Gegenwärtig geht ein Verurteilter für 3 bis 15 Jahre ins Gefängnis.

Ebenfalls erhöht wird die Strafe bei Sexualdelikten gegen Erwachsene. Wurden sie mit besonderer Grausamkeit begangen, gibt es keine Verjährungsfristen mehr. Eine Vergewaltigung, bei der der Täter besondere Grausamkeit an den Tag legte, wird mit 5 bis 30 Jahren Gefängnis oder lebenslänglicher Haft bestraft (heute sind es bis zu 15 Jahre Gefängnis). Die gleiche Strafe gilt, wenn auf die Vergewaltigung eine schwere Körperverletzung folgt (derzeitiges Strafmaß liegt zwischen 2 und 12 Jahren).

Die Novelle enthält des Weiteren neue qualifizierte Vergewaltigungstatbestände, z. B. Vergewaltigung einer Schwangeren, Vergewaltigung unter Bedrohung mit einer Waffe oder Vergewaltigung mit Bild- und Tonaufzeichnung der Tat. Diese werden derzeit mit 2 bis 12 Jahren Haft bestraft, nach der Änderung mit 3 bis 20 Jahren.

Bei Trunkenheit am Steuer wird das Auto konfisziert

Für viel Aufregung sorgt die neue Bestimmung, die neben dem Entzug der Fahrerlaubnis vorsieht, dass ein Fahrzeug ab 1,5 Promille Alkohol im Blut des Fahrers beschlagnahmt werden muss. Das geschieht unabhängig davon, ob er einen Verkehrsunfall verursacht hat oder nicht. Die Polizei beschlagnahmt den Wagen umgehend für bis zu sieben Tage. In dieser Zeit entscheidet der Staatsanwalt über die Sicherstellung des Fahrzeugs und das Gericht muss die Beschlagnahme sanktionieren.

Kritiker weisen darauf hin, dass sich die Rolle des Gerichts in diesem Fall darauf beschränkt, die Entscheidung der Staatsanwaltschaft automatisch zu akzeptieren, ohne dass es zu einem Prozess kommt. Unter besonderen Umständen kann das Gericht jedoch von der Anordnung des Entzugs des Fahrzeugs abweichen.

Für Wiederholungstäter im Straßenverkehr, die unter Alkoholeinfluss fahren, gibt es kein Pardon. Sie verlieren das Fahrzeug bereits, wenn der Test einen Blutalkoholgehalt von mehr als 0,5 Promille ergibt. Ist ein Wagen nicht das alleinige Eigentum eines Fahrers, ordnet das Gericht die Hinterlegung des Fahrzeuggegenwertes durch den Fahrer an. Die Wertermittlung des Fahrzeugs erfolgt ohne Einbeziehung von Sachverständigen. Sollte das Fahrzeug zusätzlich in einen Unfall verwickelt gewesen sein, wird der Wert vor diesem Ereignis angesetzt.

Die Strafen für das Fahren unter Alkoholeinfluss werden ebenfalls verschärft, z. B. bei schweren Verletzungen oder dem Tod eines Unfallopfers drohen bis zu 16 Jahre Gefängnis (derzeit bis zu 12 Jahre). Auch Mehrfachtäter bei solchen Unfällen müssen mit einer schweren Strafe rechnen. Bei wiederholter Trunkenheit am Steuer droht ihnen automatisch eine Gefängnisstrafe ohne Bewährung, bei Todesfolge sind es mindestens 5 Jahre.

Das Ministerium verteidigt diese Bestimmungen und weist darauf hin, dass Betrunkene am Steuer eine tödliche Gefahr für andere Verkehrsteilnehmer darstellen. Es präsentiert auch eine Liste von EU-Ländern, in denen Fahrzeuge wegen Trunkenheit am Steuer beschlagnahmt werden. Dazu gehören Dänemark, die Schweiz, Frankreich, die Slowakei, Belgien, Finnland. Überall dort hat diese Maßnahme zu einem deutlichen Rückgang bei der Anzahl dieser Delikte geführt.

Protestierende Strafrechtler wurden nicht erhört

Mehr als 170 Strafrechtswissenschaftler appellierten an Staatspräsident Andrzej Duda, sein Veto gegen die Änderung einzulegen. Ihrer Ansicht nach „führt dieser Gesetzentwurf das polnische Strafrecht in die kommunistische Ära zurück“, da er die Resozialisierung als eines der Ziele der Bestrafung ausschließt und eine absolute lebenslange Freiheitsstrafe einführt, „die nach der Europäischen Menschenrechtskonvention verboten ist“. Die Verfasser weisen auch darauf hin, dass die Novelle Verfahrensmängel aufweist, da die Änderungen einiger Bestimmungen erst nach der ersten Lesung des Entwurfs in einer Sejm-Sitzung eingebracht wurden.

Der Staatspräsident teilte diese Einwände nicht und hat die Strafrechtsnovelle am 2. Dezember 2022 unterzeichnet. Sie wird am 3. März 2023 in Kraft treten.

© RdP




Kein Pardon 2. Polens Strafrechtsreform – die Gründe

Schwerverbrecher prüfen sehr wohl, was ihnen nach einer geplanten Straftat blühen kann.

Gespräch mit Marcin Warchoł, seit 2015 stellv. Justizminister, Jahrgang 1980, Strafjurist (Studium an der Warschauer Universität), Sejm-Abgeordneter der Partei Solidarna Polska (Solidarisches Polen), des Koalitionspartners von Recht und Gerechtigkeit im Rahmen der regierenden Vereinigten Rechten.

Marcin Warchoł.

Den Appell an den Staatspräsidenten, die Änderung des Strafgesetzbuches nicht zu unterzeichnen, haben 173 Strafrechtswissenschaftler unterschrieben. Sie sind der Meinung, dass es sich um eine Umkehrung des Strafrechts, hin zu dem der kommunistischen Zeit handelt. Sie erklären, dass es ihnen „schwerfällt zu verstehen, dass im 21. Jahrhundert, in einem Land, dessen Verfassung sich auf christliche und humanistische Werte beruft, die Resozialisierung als eines der Ziele der Strafe ausgeschlossen, und die nach der Europäischen Menschenrechtskonvention verbotene absolute lebenslange Freiheitsstrafe eingeführt wurde“. Offensichtlich sind die Strafjuristen in Polen über die Erhöhung der Freiheitsstrafen empört.

Der Staatspräsident, von Hause aus übrigens ebenfalls Jurist, ist darauf nicht eingegangen. Er hat die Strafrechtsnovelle unterzeichnet. In Polen gibt es etwa einhundert juristische Hochschulen. Allein an der juristischen Fakultät der Warschauer Universität lehren und forschen ca. 370 Rechtswissenschaftler. Die 173 Personen aus ganz Polen, die den Aufruf unterzeichnet haben, sind also in Wirklichkeit ein sehr kleiner Teil der juristischen Akademikerzunft. Die Vordenker dieses Vorhabens sind daher offensichtlich gescheitert. Tausende, wie von ihnen erwartet, schlossen sich ihrem Aufruf nicht an.

Ihr Ziel war es den Ist-Zustand beizubehalten und natürlich waren dabei auch Politik und Ehrgeiz mit im Spiel. Viele der Unterzeichner standen und stehen an vorderster Front der politischen Aktivitäten der „totalen Opposition“, wie sie sich selbst nennt: die Teilnahme an Straßenprotesten, das Anschwärzen polnischer Justizbehörden im Ausland, das Eintreten für den Erhalt und die Ausweitung des Richterstaates, den wir teilweise in Polen schon haben. Viele von ihnen äußerten und äußern sich strikt politisch, sehr oft in einer extremen, aggressiven und unwürdigen Weise. Ihre Eintragungen auf Twitter und Äußerungen anderenorts sind diesbezüglich leicht zu überprüfen.

Die Autoren des Protestbriefes sind zweifelsfrei Teilnehmer des politischen Konfliktes, den Polen seit dem Herbst 2015 und dem damaligen doppelten Wahlsieg der Nationalkonservativen (Staatspräsident und Parlament) erlebt, aber sie tragen auch juristische Gegenargumente vor.

Die Lösungen, die wir einführen, sind gleichbedeutend mit einer weitgehenden Änderung der polnischen Strafrechtsphilosophie. Das jetzt geltende Strafgesetzbuch von 1997 ist eindeutig täterorientiert ausgestaltet, es berücksichtigt in erster Linie deren Interessen.

Wie äußert sich das?

Nehmen wir die Urteile im Prozess gegen die Teilnehmer einer brutalen Schlägerei, bei der dem Opfer ein Tritt gegen den Kopf versetzt wurde, wobei die Absicht eindeutig darin bestand den Angegriffenen umzubringen. Das Opfer lag fast drei Monate lang im Krankenhaus und wurde anschließend über ein Jahr lang rehabilitiert, ohne dass es sein Sprechvermögen wiedererlangen konnte. Und wie hat es geendet? Einer der Täter wurde freigesprochen, ein anderer zu einer Bewährungsstrafe verurteilt und der dritte kam nur deshalb ins Gefängnis, weil er zuvor bereits eine andere Strafe erhalten hatte.

Oder ein weiteres Beispiel. Kürzlich hat ein Appellationsgericht die Strafe für den Mittäter einer Vergewaltigung, die mit dem Tod einer Frau endete, umgewandelt. Das Opfer wurde brutal vergewaltigt, blutend in der Kälte zurückgelassen und starb. Das Gericht reduzierte die Strafe von 25 auf 15 Jahre Haft. Es gibt viele, wie wir meinen, zu viele, solcher Fälle.

Diejenigen, die sich gegen eine Änderung des Strafgesetzbuches aussprechen, wollen, dass alles so bleibt. Das Krakauer Juristenmilieu hatte bisher praktisch ein Monopol auf die Gestaltung und Auslegung des Strafrechts in Polen. Sie sind Vertreter der linksliberalen Schule des Strafrechts, die in den letzten Jahren in Polen dominierte. Sie sind nicht in der Lage zu akzeptieren, dass jemand neue Lösungen vorschlagen und eine andere Vision haben kann.

Der erste, der sich einer solchen Vorstellung vom Strafrecht widersetzte, war (der 2010 in der Smolensk-Flugzeugkatastrophe umgekommene Staatspräsident – Anm. RdP) Lech Kaczyński, als er das Amt des Justizministers bekleidete (Juni 2000 bis Juli 2001 – Anm. RdP). Sein Stellvertreter war damals der heutige Justizminister Zbigniew Ziobro. Als Professor Lech Kaczyński Justizminister und Generalstaatsanwalt wurde (in Polen sind diese beiden Ämter vereint – Anm. RdP), schlug er Alarm, dass das Strafgesetzbuch von 1997 zu ungerechten, übermäßig milden Strafen führt.

Wie soll man den Begriff „mild“ verstehen?

Lech Kaczyński wies darauf hin, dass nur 13 Prozent der damals für schwere Straftaten verhängten Strafen Freiheitsstrafen ohne Bewährung waren und dass jeder fünfte Mörder in den Genuss einer außerordentlichen Strafmilderung kam. Er kündigte Änderungen an, die vor allem darauf abzielten, die Strafuntergrenzen zu erhöhen. Er konnte dieses Vorhaben jedoch nicht umsetzen, weil er (2002 – Anm. RdP) die Wahl zum Oberbürgermeister von Warschau gewann. Im Jahr 2005 wurde er dann Staatspräsident.

Im Jahr 2007, fast am Ende der durch einen Koalitionsbruch und vorgezogene Parlamentswahlen unterbrochenen Amtsperiode der ersten nationalkonservativen Regierung (2005 bis 2007 unter Jarosław Kaczyński – Anm. RdP) brachte der damalige Justizminister Zbigniew Ziobro einen entsprechenden Entwurf im Sejm ein. Er konnte nicht mehr verabschiedet werden.

Die jetzige Änderung beruht auf der gleichen Philosophie. Nach 25 Jahren des Wartens ist in Polen endlich eine umfassende Reform des Strafrechts in Kraft getreten. Wir bewegen uns weg von einer Strafphilosophie, die den Täter schützt, hin zu einer Philosophie, die die Interessen des Opfers in den Mittelpunkt stellt und potenzielle Täter von der Begehung von Straftaten abhält. Die Strafen müssen nicht nur unvermeidbar, sondern auch schwerwiegend sein, wobei die Notwendigkeit einer Entschädigung des Opfers zu berücksichtigen ist und dazu führen muss, dass den Tätern der aus der Straftat gezogene Nutzen entzogen wird.

Stimmt es, dass eine lebenslange Freiheitsstrafe ohne die Möglichkeit einer vorzeitigen Entlassung gegen die Europäische Menschenrechtskonvention verstößt? Könnte es sein, dass aufgrund dieser Verschärfung andere Länder gefährliche Kriminelle nicht mehr an Polen ausliefern werden?

Nein. Erstens hat sich der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in einer Reihe von Urteilen zu diesem Thema geäußert und eine vielfältige Rechtsprechung vorgelegt. Im Falle Griechenlands hat er beispielsweise die Verhängung einer absoluten lebenslangen Freiheitsstrafe für zulässig erachtet, sofern es im Rechtssystem eine Lösung gibt, um die Vollstreckung dieser Strafe ausnahmsweise zu verkürzen, wie etwa den Gnadenakt des Staatspräsidenten. In Polen ist der Akt der Begnadigung ein verfassungsmäßiges Vorrecht des Staatsoberhauptes, so dass diese Bedingung vollständig erfüllt ist.

Zweitens gibt es beispielsweise im Vereinigten Königreich eine lebenslange Haftstrafe ohne Möglichkeit auf Freilassung. Dieses Land ist Mitglied des Europarates, und niemand will es aus dem Europarat hinauswerfen.

Drittens ist die absolute lebenslängliche Freiheitsstrafe auf die brutalsten Gewaltverbrecher beschränkt.

Es geht um zwei Fälle. Der erste ist, wenn wir es mit einem Straftäter zu tun haben, der dauerhaft extrem gefährlich ist. Schließlich erinnern wir uns an die „Lex Trynkiewicz“, als man befürchtete, dass dieser wegen brutaler pädophiler Verbrechen verurteilte Straftäter freikommen würde. Der zweite Fall ist der eines Wiederholungstäters, der wegen eines schweren Verbrechens gegen das Leben, die Gesundheit oder wegen einer terroristischen Straftat bereits zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe oder zu einer Freiheitsstrafe von 20 Jahren verurteilt wurde und erneut ein schweres Verbrechen begangen hat, für das eine weitere lebenslange Freiheitsstrafe verhängt wurde. In beiden Fällen kann das Gericht die Möglichkeit einer bedingten Entlassung ausschließen, muss es aber nicht.

Bei der „normalen“ lebenslangen Haftstrafe gibt es mehr Veränderungen. Die Bewährungszeit nach einer bedingten Entlassung wird von 10 Jahren auf bis zum Lebensende verlängert. Was bedeutet das eigentlich?

Wir verlängern diese Bewährungszeit, weil wir eine sehr hohe Rückfallquote haben. Etwa 40 Prozent der Straftäter werden innerhalb von fünf Jahren nach ihrer Tat wieder kriminell. Es handelt sich oft um sehr gewalttätige Verbrecher, und die Justiz sollte in solchen Fällen eine lebenslange Kontrolle ausüben.

Der allgemeine Einwand der protestierenden Strafrechtler richtet sich gegen die Erhöhung der Strafen an sich. Sie halten es für ein Dogma, dass die Höhe der Strafe keine Rolle spielt und dass alles durch die magische „Unvermeidlichkeit“ geregelt wird. Ich denke, wir haben in Polen einen neuen Beweis dafür, dass sich dieses Dogma bei Verkehrsdelikten als unwahr erwiesen hat. Es reichte aus, die Bußgelder im Straßenverkehr nach 30 Jahren der heutigen Einkommenslage anzupassen, damit die Autofahrer vorsichtiger fahren und 30 Prozent weniger tödliche Unfälle verursachen als vor der Pandemie.

So ist es. Die Verbesserung der Straßenverkehrssicherheit nach der Änderung der Rechtsvorschriften ist enorm. Es funktioniert einfach. Die Wirkung einer rationalen Erhöhung der Strafen auf die Verringerung der Kriminalität wurde wiederholt und überzeugend durch die sogenannte ökonomische Analyse der Straffälligkeit nachgewiesen, die insbesondere von Kriminologen in den angelsächsischen und skandinavischen Ländern angewandt wurde. Lassen wir also die linksliberalen Märchen beiseite, dass der Verbrecher nur die Unausweichlichkeit der Strafe im Auge hat. Er prüft auch, was ihm nach der geplanten Straftat blüht. Es lohnt sich also, das Strafgesetzbuch in einer vernünftigen Weise zu ändern.

Hat die Erhöhung der Strafen in anderen Bereichen zur Verringerung der Fallquoten geführt?

Ja. Nehmen wir zum Beispiel die Erhebung von Unterhaltszahlungen. Als Zbigniew Ziobro 2015 zum zweiten Mal Justizminister wurde, lag Polen in dieser Hinsicht an vorletzter Stelle in Europa. Gegenwärtig haben wir bereits eine Verbesserung von über 230 Prozent bei der Eintreibung von Unterhaltszahlungen, dank der Gesetzesänderungen.

Das zweite Beispiel ist der gigantische Anstieg der Mehrwertsteuereinnahmen. Alles, was wir tun mussten, war, Dinge, wie die Ausstellung einer gefälschten Rechnung, in die neuen Straftatbestände aufzunehmen und sie mit sehr harten Sanktionen zu versehen. Und schon funktionierte es. Nachdem diese Änderungen im März 2017 in Kraft traten, betrug die Steigerung der Steuereinnahmen auf Anhieb fast über 30 Milliarden Zloty (ca. 6,3 Milliarden Euro – Anm. RdP). Tendenz steigend!

Das dritte Beispiel sind die Designerdrogen. Wir haben eine Haftstrafe von bis zu 3 Jahren für deren Besitz und bis zu 12 Jahren für den Handel damit eingeführt. Zusätzlich haben wir eine Regelung eingeführt, die verhindert, dass Kriminelle, die den Designerdrogen neue Substanzen beimischen, sich der Verantwortung entziehen können. Damals versuchte der sogenannte „Designerdrogen-König“ durch Auftragsmörder den Justizminister zu beseitigen. Das zeigt am besten, dass Straftäter die Dimensionen der Strafe berechnen und berücksichtigen.

Die Beschlagnahmung von Fahrzeugen betrunkener Fahrer, die in der Strafrechtsnovelle enthalten ist, ist ein interessantes Thema. Sie ist bei den Juristen für Strafrecht nicht so stark umstritten. Wissen Sie warum?

Es handelt sich leider mehrheitlich um von der Wirklichkeit losgelöste Theoretiker. Sie kommen mit kriminellen Praktiken zumeist nur im Straßenverkehr in Berührung. Wenn sie über eine hypothetische Gefahr sprechen, die sie nicht bedroht, halten sie sich vornehm zurück und sehen vor allem die Probleme der Verbrecher.

Wenn sie jedoch ihr Büro an der Universität verlassen und sich auf der Straße wiederfinden, ist der betrunkene Fahrer auch für sie eine echte Bedrohung, die sie fürchten. Und sie sehen, dass eine solche Bedrohung wirksam verringert werden kann. Deshalb akzeptieren sie in diesem Fall unsere Lösungen oder nehmen sie wenigsten schweigend in Kauf.

Schade jedoch, dass sie sich nicht mit der Angst der normalen Bürger identifizieren, die, wie diese Professoren, Angst vor betrunkenen Autofahrern, aber ebenso vor anderen Verbrechern haben. Das ist der beste Test für die Ehrlichkeit der Absichten dieser Akademiker. Ich kann nur hinzufügen, dass die Beschlagnahme der Autos betrunkener oder durch Rauschgift betäubter Fahrer von etwa 65 Prozent der Öffentlichkeit unterstützt wird.

Das neue Strafgesetzbuch sieht 2 bis 15 Jahre für die Annahme eines Tötungsbefehls oder die Vorbereitung einer Tötung vor. Die Gegner der Änderung behaupten, dass damit „Gedankenverbrechen“ bestraft werden, weil man ja noch nichts getan hat.

Das ist doch Unsinn! Heute gibt es eine Strafe für die Vorbereitung von Geldfälschungen. Mord ist ein viel schwereres Verbrechen. Stellen Sie sich vor, ein Rückfalltäter, der ein schweres Verbrechen begangen hat, ist gerade aus dem Gefängnis entlassen worden. Und unsere liberalen Gesetze führen dazu, dass 40 Prozent der Menschen wie er wieder in die Kriminalität zurückkehren. Und dann wird er mit einem detaillierten Plan der Wohnung einer Person festgenommen, mit Fotos der Kinder, mit einer Liste, wer im Haus ein- und ausgeht und wann die Kinder von der Schule zurückkommen. Was ist das also? Das ist Vorbereitung. Soll sie weiterhin straffrei bleiben? Sollten wir das einfach so lassen? Auf keinen Fall!

Dr. Mikołaj Małecki, Strafjurist an der Jagiellonen-Universität in Kraków, weist im Internet darauf hin, dass die Novelle eine Haftstrafe von insgesamt bis zu 30 Jahren für Bagatelldiebstahl vorsieht.

Ich weiß natürlich nicht, ob der von Ihnen zitierte Wissenschaftler sich nur so anstellt oder wirklich so schwer von Begriff ist. Hier handelt es sich doch eindeutig um Täter, die ihr Leben auf zynische Weise so geplant haben, dass sie es durch Kriminalität bestreiten, Häuser, Wohnungen und Autos anderer Leute in Serie ausrauben oder stehlen. Es gibt Rekordhalter, die Hunderte solcher Straftaten auf dem Buckel haben.

Die bisherige Gesetzeslage war so, dass jede weitere Straftat stärker belohnt wurde, weil der Täter auch bei mehreren hundert Diebstählen, die in kurzen Abständen begangen wurden, so bestraft wurde, als hätte er eine einzige Straftat begangen. Eine unvernünftigere und zugleich ungerechtere Lösung lässt sich nur schwer finden.

In der Novelle haben wir auch einen neuen Straftatbestand eingeführt, den „besonders dreisten Diebstahl“, wenn zum Beispiel jemandem auf der Straße das Telefon oder die Handtasche entrissen oder Taschendiebstahl begangen wird. Nichts untergräbt bei Opfern und Strafverfolgungsbeamten mehr den Glauben an die Gerechtigkeit, als zu sehen, wie ein Taschendieb am nächsten Tag, nachdem er gefasst wurde, wieder seinen kriminellen Aktivitäten nachgeht. Heute erhält ein solch dreister Dieb oft nur eine Geldstrafe, die geringer ist als der Wert seiner Beute, und seine Tat wird oft als Ordnungswidrigkeit behandelt. Es zahlt sich für ihn aus, weiter zu stehlen. Unsere Lösung tritt dieser Situation wirksam entgegen.

Bei all diesen Verschärfungen im Strafgesetzbuch gibt es eine Änderung, die nicht damit zusammenhängt, und den Eindruck vermittelt, als wäre sie genau das Gegenteil der bisher geschilderten Maßnahmen. Sie haben die Schwelle, bis zu der eine Handlung eine Ordnungswidrigkeit darstellt, von 500 Zloty (ca. 105 Euro – Anm. RdP) auf 800 Zloty (ca. 170 Euro – Anm. RdP) angehoben. Diebe können nun für 300 Zloty mehr stehlen, ohne sich strafbar zu machen. Wie kam es zu dieser Idee?

Ab dem 1. Januar 2023 wird der Mindestlohn 3.490 Zloty (ca. 740 Euro – Anm. RdP) betragen. Das bedeutet eine Erhöhung um 480 Zloty (ca. 102 Euro – Anm. RdP) gegenüber dem 2022 geltenden Betrag, d. h. eine Anhebung um ganze 15,9 Prozent. Das ist viel. Es war schon immer so, dass ein Viertel des vorgeschriebenen Mindestlohnes die Grenze zwischen einem Vergehen zu einem Verbrechen bildete. Wenn also der Mindestlohn gestiegen ist, muss auch der Schwellenwert steigen, damit die Täter unabhängig vom Zeitpunkt ihrer Tat vergleichbar behandelt werden.

RdP

Das Interview erschien im Wochenmagazin „Do Rzeczy“ („Zur Sache“) vom 7. Dezember 2022.




Stiefkind Kriegsmarine. Polens Verwundbarkeit an der Ostsee

Windparks, die Baltic Pipe, Öl- und Gastanker, Handelsrouten und Häfen stehen auf dem Spiel.

Von Russland abgekoppelt, hat sich Polens  Energieversorgung in den letzten Jahren zu einem beachtlichen Teil auf die Ostsee verlagert. Auch wenn das Baltische Meer durch den Nato-Beitritt Finnlands und Schwedens zu einer (beinahe) Nato-See geworden ist, gibt die Verwundbarkeit der polnischen Energieanlagen in und an der Ostsee Anlass zur Sorge, vor allem wenn man seinen Blick auf die Schwäche der polnischen Marine richtet.

Die Sabotage-Sprengungen an den Erdgasleitungen Nord Stream 1 und 2 Ende September 2022 haben die bis dahin in der Ostsee herrschende Ruhe empfindlich gestört und die polnische Freude über die mit viel Aufwand betriebene energiepolitische Loslösung von Russland gedämpft.

Gemeinsamer Nenner

Erdölterminal im Nordhafen von Gdańsk.

Erreicht wurde dieses Ziel durch den Ausbau des Ölterminals in Gdańsk/Danzig, der pro Jahr bis zu 36 Millionen Tonnen Erdöl aufnehmen kann. Dadurch wird der polnische Erdölverbrauch von rund 30 Millionen Tonnen pro Jahr vollständig abgedeckt. Die noch verbleibende Menge kann für den Export verwendet werden, auch für Lieferungen an Raffinerien in Deutschland.

LNG-Terminal Lech Kaczyński in Świnoujście/Swinemünde.

Eine weitere, weitaus größere, teurere und aufwendigere Maßnahme war die vollständige Loslösung Polens vom russischen Erdgas. Um das zu erreichen, wurde zunächst der Bau des 2016 in Betrieb genommenen LNG-Terminals Lech Kaczyński in Świnoujście/Swinemünde in Angriff genommen. Im Oktober 2022 kam die Erdgasleitung Baltic Pipe hinzu, die die Gasvorkommen auf dem norwegischen Schelf mit Polen verbindet. Inzwischen laufen die Vorbereitungen für die Errichtung eines schwimmenden LNG-Terminals in der Danziger Bucht auf Hochtouren.

Erdgasleitung Baltic Pipe.

In jüngster Zeit sind große Steinkohleeinfuhren aus Übersee, etwa 10 Millionen Tonnen, hinzugekommen. Durch die EU-Klimapolitik gezwungen, den eigenen Steinkohlebergbau zu reduzieren, importierte Polen in den vergangenen zehn Jahren auf der Schiene eine ständig wachsende Menge Steinkohle aus Russland. Im Jahr 2021 waren es gut 10 Millionen Tonnen, die ausschließlich in Privathaushalten und in der kommunalen Fernwärmeversorgung verfeuert wurden. Die gesamte polnische Steinkohleförderung (ca. 55 Millionen Tonnen) ging an die großen Kraftwerke.

Kohleterminal im Hafen von Gdynia.

Mit der Verhängung von Sanktionen gegen Russland, zu denen auch ein Kohle-Importstopp gehört, musste sich das Land innerhalb kürzester Zeit, vor Beginn des Winters, auf Kohleimporte aus Asien, Afrika und Australien umstellen. Die Versorgung der Privathaushalte mit genügend Kohle musste gesichert sein. Dieses gigantische Vorhaben wird ausschließlich über die polnischen Ostseehäfen abgewickelt.

Bauarbeiten am Windpark in der Ostsee.

Spätestens in zehn Jahren werden, dank des gerade beginnenden Baus von Offshore-Windparks in der Ostsee, mehr als 25 Prozent der in Polen verbrauchten Energie von dort kommen. Auch diese Anlagen müssen geschützt werden.

Getreideterminal im Hafen von Gdańsk.

Seit Neuestem, fast unbemerkt von der Weltöffentlichkeit, die vor allem auf die von Russland genehmigte Transportroute zwischen Odessa und der türkischen Schwarzmeerenge schaut, läuft der Abtransport des sich angestauten ukrainischen Weizens auch über die polnischen Ostseehäfen. Bis Ende 2022 sollen auf diesem Weg etwa eine Million Tonnen umgeschlagen werden. Der gemeinsame Nenner all dieses Tuns ist die Ostsee.

Zudem wird der größte Teil des polnischen Außenhandels über polnische Häfen abgewickelt. Auch ist die Endstation für den Seetransport von Waren aus Asien nach Osteuropa nicht mehr, wie früher, ausschließlich Hamburg, wo das Löschgut auf kleinere Schiffe, die Bahn und LKWs umgeladen wurden, um nach Polen zu gelangen. Die größten Containerschiffe der Welt, die in die Ostsee einfahren können, beenden heute immer öfter ihre Fahrt in Polen. Die drei führenden Häfen Gdańsk, Gdynia und Szczecin-Swinoujście haben im Jahr 2021 mehr als 114 Millionen Tonnen Fracht umgeschlagen und dem Staat umgerechnet etwa 11 Milliarden Euro an unterschiedlichen Steuereinnahmen gebracht.

Ein erschüttertes Gefühl der Sicherheit

All das bedeutet, dass Polen durch seine Unabhängigkeit von Russland abhängig geworden ist… von der Ostsee. Russland ist sich dessen bewusst, und man kann sicher sein, dass Putin und der russische Staatsapparat keine Gelegenheit auslassen werden, um Polen auch hier Probleme zu bereiten.

Dabei geht es keineswegs allein um direkte Angriffe. Um die Gefahr zu steigern, müsste nicht gleich Sabotage an Energie- und Hafeninfrastruktur verübt werden. Da könnte eine vor Jahren auf einem versunkenen Schiff zurückgelassene Seemine in die Luft gehen. Es können auf dem Grund des Bornholmer Beckens liegende Behälter aus dem Zweiten Weltkrieg mit chemischen Waffen entsiegelt werden. Man kann auch die Ladung des seit dem Zweiten Weltkrieg in der Danziger Bucht liegenden deutschen Tankers „Franken“ zum Auslaufen bringen.

In der Ostsee vor der polnischen Küste versenkte Giftgasbehälter aus dem Zweiten Weltkrieg.

Jede dieser Maßnahmen würde das Gefühl der Sicherheit erschüttern. Und Russland ist dazu in der Lage. Es hat „Forschungsschiffe“, Miniatur-U-Boote, Tauchboote, unbemannte Fahrzeuge oder speziell ausgebildete Taucher. Solche Angriffe könnten das tägliche Funktionieren der polnischen Wirtschaft nachhaltig beeinträchtigen und die Ostsee in den Augen der Energie-, Schifffahrts- und Versicherungsunternehmen zu einem gefährlichen Gewässer machen. Eine sich anschließende Erhöhung der Versicherungsprämien für den Transport von LNG oder Öl würde den Preis für diese Rohstoffe anziehen lassen.

 

Wir brauchen Schiffe

Deshalb muss das polnische Sicherheitskonzept für die Offshore-Energieinfrastruktur, die Baltic Pipe, die Hafenanlagen angemessene Schutzmaßnahmen vorsehen. Vor allem eine tiefgreifende Modernisierung der polnischen Marine tut not. Seit 1990 hat sie kein einziges neu produziertes Kampfschiff erhalten. Zwei gebraucht erworbene amerikanische Fregatten (Baujahr 1978 und 1979) sowie norwegische U-Boote der Kobben-Klasse sind in den letzten Jahren am Limit ihrer Einsatzfähigkeit angelangt, mussten ausgemustert werden oder stehen kurz davor. Das einzige sich noch im Dienst befindliche U-Boot dient im Grunde nur noch zu Ausbildungszwecken, damit qualifiziertes Personal bereitsteht, wenn neue U-Boote angeschafft werden. Doch wann das passieren wird, ist nicht bekannt. Die erste der drei in Zusammenarbeit mit den Briten gebauten Fregatten soll erst 2028 in Dienst gehen.

Polen braucht keine Hochseeflotte mit Zerstörern oder gar Kreuzern. Gefragt sind maßgeschneiderte Schiffe, die Windparks auf hoher See, Pipelines, Containerterminals, Gas- und Ölhäfen, sowie in der Zukunft auch das erste polnische Kernkraftwerk und die Nachschubrouten in der Ostsee schützen.

Anders als die Luftwaffe und das Heer, die in der letzten Zeit durch massive Einkäufe amerikanischen und südkoreanischen Geräts erheblich verstärkt und modernisiert werden, bleibt die Marine ein Stiefkind des nachkommunistischen Polens. Alle reden darüber, aber Taten lassen bis jetzt auf sich warten. Das kann böse Folgen haben.

© RdP




19.11.2022. KoKoPol. Die Vernunft bezwingt Deutschland

Eine Schwalbe macht bekanntlich noch keinen Sommer. Dennoch sollte man einen Lichtblick in dem seit einigen Jahren ansonsten ausgesprochen getrübten deutsch-polnischen Verhältnis nicht unerwähnt erlöschen lassen. Wie aus Berlin zu erfahren ist, soll es zum ersten Mal staatliches Geld für die Errichtung und den Betrieb eines Kompetenz- und Koordinierungszentrums für die Polnische Sprache (KoKoPol) auf Bundesebene in Deutschland geben. Das jedenfalls sieht der Entwurf des Bundeshaushalts vor, über den der Bundestag Ende November 2022 abstimmen soll.

Damit dürfte ein Konflikt beigelegt werden, der über dreißig Jahre hinweg anschwoll und sich vor knapp einem Jahr deutlich verschärfte. Damals hat die nationalkonservative Regierungsmehrheit die jährliche staatliche Subvention für den muttersprachlichen Unterricht an den Schulen der deutschen Minderheit in Polen, in den Woiwodschaften Opole/Oppeln und Śląsk/(Ober)Schlesien, um umgerechnet knapp 9 Millionen Euro gekürzt. Die Summe verringerte sich dementsprechend auf umgerechnet ca. 42,5 Millionen Euro und die etwa 50.000 Schüler erhalten nun, statt bisher drei, nur noch eine Stunde Deutschunterricht pro Woche.

Die erste Reaktion Berlins war helle Empörung. Der Bund der Vertriebenen protestierte, einige deutsche Politiker meldeten sich in dramatischem Ton zu Wort und schließlich verurteilte sogar der Europarat die Entscheidung der polnischen Behörden. Doch nach einiger Zeit hat diese Entscheidung endlich den von Polen erhofften Wandel in der Berliner Politik ausgelöst.

In dem 1991 unterzeichneten polnisch-deutschen Vertrag über gute Nachbarschaft und freundschaftliche Zusammenarbeit verpflichteten sich beide Staaten u. a. dazu, „sich zu bemühen, die ethnische, kulturelle, sprachliche und religiöse Identität der Angehörigen der deutschen Minderheit in Polen (…) und der Personen in der Bundesrepublik Deutschland, die polnischer Abstammung sind (…), auf ihrem Hoheitsgebiet zu schützen und (…) entsprechende Möglichkeiten für den Unterricht ihrer Muttersprache oder in ihrer Muttersprache in öffentlichen Bildungseinrichtungen (…) zu gewährleisten.“

Seither wurden in Warschau Jahr für Jahr wachsende Summen für den muttersprachlichen Deutschunterricht in den Minderheitenschulen automatisch im Staatshaushalt bewilligt. Auf der deutschen Seite gab es jedoch von Anfang an Probleme.

Zwar unterzeichnete Polen den Vertrag von 1991 gemeinsam mit der deutschen Bundesregierung, die aber erklärte sich jahrzehntelang für nicht zuständig und verwies auf die Bildungshoheit der Bundesländer.

Bildlich gesprochen wäre es Berlin am liebsten gewesen, wenn der polnische Botschafter die sechzehn Bundesländer abgeklappert hätte, um dort immer wieder von Neuem wegen einer Verpflichtung, die die deutsche Zentralregierung eingegangen ist, zu   antichambrieren. In jedem Bundesland sollten zudem die dort lebenden Polen zusehen, wie sie die Behörden dazu bringen können, Polnisch als Muttersprache unterrichten zu lassen. Überall wurde natürlich Wohlwollen bekundet, doch bekanntlich gilt: „Herrengunst und Lerchensang klinget wohl und währt nicht lang“.

In manchen Bundesländern, wie in Brandenburg, war die „Herrengunst“ von Dauer und der Polnischunterricht an den dortigen Schulen kann sich sehen lassen. In vielen anderen nicht. Vor Ort wurde blockiert und wer in Berlin intervenierte, wurde wegen „Nichtzuständigkeit“ abgewiesen. Die deutschen Behörden haben dieses Katz-und-Maus-Spiel perfekt einstudiert und es funktionierte auch jahrzehntelang bestens. Deutschlandhörige Regierungen in Warschau, wie die des Postkommunisten Leszek Miller oder des Angela-Merkel-Zöglings Donald Tusk, und die von ihnen nach Berlin entsandten Botschafter haben das brav hingenommen. Auch die Nationalkonservativen warteten sechs Jahre lang, bis, wie man in Polen sagt, „die Sense den Stein traf“ und Warschau endlich die Reißleine zog.

Druck, wie man sieht, macht Sinn. Nicht polnische Minister und Botschafter, sondern der Bund soll die von ihm im Namen Deutschlands eingegangenen Verpflichtungen im eigenen Land durchsetzen, und der Vertragspartner Polen soll eine zentrale Kontaktbehörde bekommen, bei der er vorsprechen kann. Die gestrichenen neun Millionen Euro werden in diesem Fall, so das Versprechen Warschaus, wieder bewilligt.

Eine solche Entwicklung bahnt sich an und es ist zu hoffen, dass sie so umgesetzt wird. Wenn ja, dann hat nicht Polen, sondern die Vernunft den Sieg davongetragen.

RdP




12.11.2022. Prima Klima

Es gibt Schreckensnachrichten, die sich beim genaueren Hinschauen als gar nicht so schlecht entpuppen. Gerade wurde bekanntgegeben, dass der Oktober 2022 in Europa der wärmste in der Geschichte der Temperaturaufzeichnungen auf unserem Kontinent gewesen ist.

Der längst zum Ritual gewordene Klimaerwärmungsaufschrei war wieder einmal groß. Doch ist dieser warme Oktober 2022 in Wirklichkeit nicht eher ein echter Beweis dafür, dass unser Herrgott über uns wacht?

Angenommen, Europa würde gerade jetzt einen sehr kalten Herbst erleben. Womöglich mit Frost, Schneeverwehungen oder gar zufrierenden Häfen. Die Prediger der CO2-Apokalypse wären untröstlich und müssten sich wieder einmal in die Ausflüchte retten: Es sei eine klirrend kalte Ausnahme, die die „menschenverursachte Erderwärmung“ umso eindringlicher bestätigt.

Doch die seelischen Leiden der Klimatisten sind noch das kleinste Übel. Viel schwerer vorstellbar, die Lage von Millionen von Europäern, die schon jetzt, anstatt in einer leichten Jacke draußen herumlaufen zu können, ihre Öl- und Gasheizungen voll aufdrehen müssten. Nicht auszudenken, die Höhe der Heizkosten in Privathaushalten, die Lage der Bäcker und die Folgen für die Brotpreise, das Drama der deutschen Chemieindustrie und der polnischen Kunstdüngerhersteller, die vor allem Erdgas verbrauchen, um nur einige Auswirkungen zu nennen.

Wenn der warme Herbst jemandem zum Nachteil gereicht, dann sind es die Russen. Sehnsüchtig warten sie auf die eisigen Temperaturen, um die Kriegsmüdigkeit in Europa zu schüren und Hunderttausende auf die Straßen zu treiben, mit der Forderung, sich mit Putin zu versöhnen und endlich die Ukraine fallen zu lassen. Die Energiepreise sollen steigen, damit Russland noch mehr Munition in Nordkorea und Kampfdrohnen im Iran kaufen, noch mehr Ukrainer töten und noch größere Zerstörungen in der Ukraine anrichten kann.

Der warme Herbst ist ganz klar unser Verbündeter. Gut, wenn es der Auftakt für den wärmsten Winter seit Beginn der Temperaturmessungen in Europa wäre. Putin zum Verhängnis.

RdP




Ekel Jerzy

Am 3. Oktober 2022 starb Jerzy Urban.

Der Leitfaden all seines Denkens und Tuns war der „Panschweinismus“. Gute Menschen geben nur vor, anständig zu sein, und sind in Wirklichkeit nichts als Meister der perfekten Tarnung. Die Welt bevölkern nämlich ausnahmslos Zyniker, die sich von den primitivsten Trieben leiten lassen. Jerzy Urban verwandte sein Leben darauf, das zu beweisen.

Sein Zynismus, seine Menschenverachtung, die überdurchschnittliche Intelligenz, sein Scharfsinn, die ausgeprägte Beobachtungsgabe und die Leichtigkeit des Schreibstils hatten aus ihm einen brandgefährlichen kommunistischen Rattenfänger gemacht.

Schlammschleuder mit Ladehemmungen

Er war besessen davon, Skandale zu provozieren: moralische, religiöse, politische und soziale. Doch es war, als würde er pausenlos Granaten in Jauchegruben werfen, beseelt von dem Gedanken, dass dadurch auch an den edelsten Menschen, Ideen und Taten dauerhaft Dreck haften bleibt. Er bediente sich der übelsten Gossensprache, wollte schlechthin der Verkünder des Bösen sein, und das ist ihm gelungen.

Polen und die Polen demütigen. Urban mit der polnischen Fahne mit dem „Anker“, dem Symbol des Untergrundkampfes gegen die deutsche Besatzung.

Urban lechzte zudem geradezu danach, Polen und den Polen das alles zu nehmen, worauf sie stolz sein können, was sie positiv verbindet, Vertrauen schafft und sie ermutigt, ihr eigenes und das gemeinschaftliche Leben zu verbessern. In seinem letzten großen Interview für die „Gazeta Wyborcza“ verkündete er: „Ich bin für Vandalismus und Schändung. Mehr Radikalismus. Drescht auf die Katholiken ein! Macht die Weiß-Roten platt!“.

Erniedrigen und verletzen. Urban mimt den zoophilen katholischen Priester.

Keiner schaffte es, den „Meister“ zu überbieten, aber er hat nicht wenige Nachahmer gefunden. Der Neuheitseffekt nutzte sich jedoch ab. Die lange Zeit schockierte Öffentlichkeit ist in den letzten Jahren reifer geworden und reagierte kaum mehr auf seine Eskapaden. Der Name Urban befreite von der Notwendigkeit, Richtigstellungen zu verlangen, zu prozessieren oder auch nur zu polemisieren. So rückte er immer mehr vom Rampenlicht in den Schatten. Am Rande der öffentlichen Debatte zu stehen, hat ihm wehgetan.

Urban gibt den Jesus.

Sein letztes Vorhaben, die ebenso skurrilen wie geschmacklosen Filmchen auf Youtube, in denen er den perversen Opa gab, hatten zwar viele Zuschauer, aber das erwartete große Echo blieb aus. Wenn zündende Ideen rar werden, bekommt auch die leistungsfähigste Schlammschleuder Ladehemmungen.

Bis er im Alter von 89 Jahren starb, war der kleine, kugelrunde Mann mit den großen abstehenden Ohren erst Journalist, dann von 1981 bis 1989 kommunistischer Regierungssprecher, 1989 Chef des Staatsfernsehens, zwischen 1990 und 2022 Begründer und Chefredakteur der Wochenzeitung NIE („Nein“), Autor von 21 Büchern, drei Drehbüchern, Youtuber, Provokateur und Propagandist des Kriegsrechts.

„Mein Judentum baumelt mir zwischen den Beinen“

Alles nahm seinen Anfang 1933 in Łódź, wo Jerzy Urban – eigentlich Jerzy Urbach als Sohn von Jan Urbach, einem Mitglied der damals traditions- und einflussreichen Polnischen Sozialistischen Partei (PPS), geboren wurde. Der Vater war Miteigentümer und Chefredakteur der Tageszeitung „Głos Poranny“ („Morgenstimme“).

Jurek wuchs in einer wohlhabenden, assimilierten jüdischen Familie auf, und zugleich in einem sehr spezifischen Milieu, das er Jahre später so beschrieb: „Es waren vom Judentum entwurzelte Juden, die sich aber von der polnischen Gesellschaft tunlichst fernhielten und als etwas Besseres verstanden. Mit den Polen hatte man nur geschäftlichen Umgang. Ich kannte keine gebürtigen Polen und auch niemanden, der zum Christentum konvertiert wäre. Alle heirateten und feierten innerhalb dieser postjüdischen Gruppe […]. Sie sagten nicht „wir sind Juden“, sondern sie sprachen von den Katholiken als „Polen“. Auf diese Weise grenzten sie sich ab, betonten ihre elitäre Eigenart, obwohl sie sich im Sinne der Kultur, der Sprache, der politischen Interessen, der Wahrnehmung der Literatur oder des Films als Polen fühlten. Sie lasen keine jiddische Presse, sie gingen nicht ins jüdische Theater – sie kannten die Sprache nicht, es war eine Welt, die sie verachtet und verlassen hatten“.

Urban und der Holocaust. Die Zigarette (Zitat) „brennt wie Opa“.

Daher: „Mein Judentum baumelt mir zwischen den Beinen wie ein schrumpeliger Wurm, der keinen Fisch zu locken vermag, geschweige denn eine Frau“, mokierte sich Urban später über seine Herkunft. Es war eine für ihn typische Sottise, mit der er sich als Jude und Antisemit zugleich zu erkennen gab.

Im politisch sehr bewegten Herbst 1956, der das Ende des Stalinismus in Polen markierte, durfte der gerade einmal 23-jährige Journalist Jerzy Urban eine Reportagereise nach Israel unternehmen. Das führte damals Krieg gegen Ägypten. Nach seiner Rückkehr überraschte er mit einem sehr kritischen Bericht, in dem er den Chauvinismus der Zionisten und die antipolnischen Vorurteile der Bewohner des neuen Staates hervorhob. Der Text schockierte viele. Kollegen mit jüdischen Wurzeln fühlten sich durch die Verhöhnung des Zionismus beleidigt, andere mokierten sich über die Darstellung Israels als einer amerikanischen Kolonie im Nahen Osten. Urban schloss sein Leben lang keinen Frieden mit Israel.

Ausgeprägte emotionale Grobheit

Er war gerade einmal sechs Jahre alt, als der Krieg ausbrach. Die Familie floh, kurz bevor deutsche Truppen am 9. September 1939 Łódź eroberten, und gelangte in das gut 400 Kilometer entfernte Lwów (Lemberg, heute Lviv in der Ukraine). Ihren Zufluchtsort haben am 22. September 1939, nach heftigen Kämpfen, die Sowjets besetzt. Die ersten beiden Kriegsjahre verbrachten die Urbachs im sowjetischen Lwów, wo der Vater als Stadtplaner eine ziemlich wichtige Position innehatte. Beide Eltern nahmen die sowjetische Staatsbürgerschaft an.

Jerzy Urban. Foto aus der Kriegszeit.

Später erinnerte sich Urban: „Dadurch wurden wir nicht nach Sibirien deportiert, und wir konnten sogar die Evakuierung nutzen, bevor die Deutschen einmarschierten. Wir schafften es jedoch nicht mehr rechtzeitig zur Abfahrt des Lkws und blieben daher in Lwów, das Ende Juni 1941 von den Deutschen eingenommen wurde.“ Die Familie versteckte sich in der Stadt außerhalb des Ghettos, ging dann in die Provinz. Sie konnten sich falsche, sogenannte arische Papiere beschaffen. Von nun an waren die Urbachs katholische Polen und hießen Urban.

Die enormen Opfer und Nerven, mit denen seine Eltern die langen Jahre des sich Versteckens und Verstellens im Krieg bezahlen mussten waren ihm Jahrzehnte später, nur einen knappen, abschätzigen Kommentar wert: „Mein Vater hat sich nie vom Trauma des Krieges erholt. Meine Eltern waren beklagenswerte, nervenaufreibende Lebenskastraten, die nie wieder den Lebensstandard erreichten, den sie vor dem Krieg genossen hatten.“ Und er schob nach: „Ich war davon nicht betroffen. Ich empfand die Besatzungszeit als interessant, voller Abenteuer, Farben und Abwechslung“. Diese ausgeprägte Fähigkeit zur emotionalen Grobheit sagt viel darüber aus, auf welch fatale Weise der Krieg seine Wahrnehmung beeinflusst hat.

Aber waren das nur die Kriegserlebnisse? Oder nahm er so Rache für seine Herkunft, sein Aussehen, seine Komplexe?

„Ich mag es, nicht gemocht zu werden“, sagte er einmal in einem Interview. Das abnorme Vergnügen, ein allseits Gehasster zu sein, verband Urban mit einem auffällig ruhigen Auftreten. „Ich schreibe aggressiv. Deshalb bin ich im Umgang mit Menschen nicht emphatisch, ruhig, höflich, kann mich an Umgebungen und Arbeitsplätze anpassen. Erst am Schreibtisch, vor einem Mikrophon oder vor einer Kamera falle ich über Menschen und politische Richtungen her, die mir nicht passen.“ Der Vergleich mit einem Raubtier liegt hier durchaus nahe.

Lange vor seiner Zeit als kommunistischer Regierungssprecher, in den 1970er Jahren, schrieb Urban regelmäßig Kolumnen, kleine, literarisch versiert verfasste Kriminalgeschichten. Sie erschienen in der viel gelesenen Wochenzeitschrift „Kulisy“ („Hintergründe“). Ihr gemeinsamer Nenner war eine subtile, gekonnt eingeflößte Freude an menschlicher Erniedrigung. Ob es um eine Frau ging, die auf der Bürotoilette von einer Ratte in den Hintern gebissen wurde, oder um einen Ehemann, der seine schwangere Frau ermordete und vergrub, Urban schöpfte eine trotzige Genugtuung daraus, andere in ihrem Unglück bloßzustellen.

Einige Jahre später bedurfte es keiner literarischen Subtilität mehr. Jerzy Urban, nun Jaruzelskis Regierungssprecher, konnte, den gesamten kommunistischen Gewaltapparat im Rücken, die Opfer des Systems, mit einem außerordentlichen persönlichen Engagement, nach Lust und Laune verhöhnen, schmähen, rhetorisch anrempeln. Dass viele von den so Traktierten in Internierungslagern oder Gefängnissen saßen, machte ihm nichts aus.

Pornograf, einst Sittenprediger

Urbans Weg auf den kommunistischen Olymp war lang, aber vor allem sehr untypisch. Er erklomm keine einzige Stufe auf der Karriereleiter eines Parteiapparatschiks. Er war nicht einmal Parteimitglied.

Anfang Februar 1945 kehrten die Urbans nach Łódź zurück. Der eigensinnige Jurek, der sich ständig mit Lehrern anlegte, wurde wie eine heiße Kartoffel von einer Schule in die nächste verlegt. Das Abitur bestand er mit Mühe und Not Anfang der 1950er Jahre in Warschau, wohin die Eltern 1950 gezogen waren.

Im dortigen Gymnasium engagierte er sich im kommunistischen Verband der Polnischen Jugend (ZMP). „Dort wurde ich nicht nur in den Strudel der politischen Arbeit hineingezogen. Ich war fünfzehn und ich übernahm Verantwortung, erhielt Macht, kam in Berührung mit der Propagandamaschinerie und sehr schnell, gleich nach dem Abitur, habe ich angefangen, bei der Presse zu arbeiten. Jetzt war ich in meinem Element“.

Sein Journalistikstudium an der Warschauer Universität hängte er schnell an den Nagel, denn das Geschehen ringsumher war viel aufregender. Urban landete 1955 in der Redaktion der heute legendären Wochenzeitung „Po Prostu“ („Ohne Umschweife“). Das ursprünglich öde Propagandablatt für Studenten verwandelte sich in jener Zeit in ein publizistisches Banner des immer schneller um sich greifenden politischen Tauwetters.

„Po Prostu“. Titelseite.

Stalin starb im März 1953. Nach einem Jahr der Verschärfung der Repressalien (u.a. wurde im September 1953 der Primas von Polen Kardinal Wyszyński verhaftet) verbreiteten sich dann, Nikita Chruschtschow hatte den verdeckten Machtkampf um die Stalinnachfolge gewonnen, ganz allmählich von Moskau ausgehende politische Veränderungen. Kein Halten mehr gab es schließlich nach dem 20. Parteitag der KPdSU im Februar 1956 und Chruschtschows schnell publik gewordener Geheimrede, in der er mit den Verbrechen des Stalinismus abgerechnet hatte.

Hoffnungsträger Władysław Gomułka im Oktober 1956. Polen lag ihm zu Füβen.

Polens Hoffnungsträger in dieser Zeit hieß Władysław Gomułka. Dem Stalinismus abgeneigt, Ende der Vierzigerjahre aller Ämter enthoben, verhaftet und nur knapp einem Schauprozess entkommen, sollte er nun einen „polengerechten“ Sozialismus schaffen: ohne Kollektivierung der Landwirtschaft, nationalpatriotisch, mit einer ausgeprägten Arbeiterselbstverwaltung, statt wirtschaftlicher Zentralplanung, mit Kunst- und Medienfreiheit.

Letztere praktizierte „Po Prostu“ ausgiebig. Mit 150.000 Exemplaren verkaufter Auflage viel gelesen und beachtet, entwickelte sich das Blatt zunehmend zu einem wichtigen politischen Machtfaktor im Kampf um Reformen.

Urban war auch im Nachhinein sehr stolz auf diesen Lebensabschnitt, eine Zeit „des Kampfes für den wahren Sozialismus »ohne Entstellungen«“. In seinen Texten entlarvte er das kriminelle Tun von Cliquen und Seilschaften der Parteibonzen in der Provinz, spottete über die Tonnenideologie und andere Absurditäten der kommunistischen Wirtschaftsplanung, spielte aber auch den Sittenprediger.

„Po Prostu“-Redaktion.

In einem seiner Artikel griff Urban z. B. das unmoralische Verhalten der Studenten in einem der Warschauer Wohnheime an, bezeichnete die wechselnden sexuellen Begegnungen drastisch als Orgien und äußerte sich verwundert darüber, dass solche Dinge in einem sozialistischen Studentenheim passierten. Er schrieb, dass sich die Studenten an amerikanischen Universitäten vielleicht so verhalten, weil sie ihr Glück auf diese Weise suchen, weil es bei ihnen keinen Sozialismus gibt, aber die Unanständigkeit sozialistischer Studenten sei unannehmbar.

Nach Jahrzehnten auf diese „Jugendsünde“ angesprochen, geriet der spätere hemmungslose Pornograf, dessen Zeitschrift NIE u. a. Qualitätssiegel für detailliert aufgeführte Bordell-Dienstleistungen vergab, in große Verlegenheit und das Einzige, was er von sich gab, war ein unsicheres: „Daran kann ich mich nicht erinnern“. Die Rolle des Hüters der studentischen Moral war ihm im Nachhinein offensichtlich sehr peinlich.

Das Enfant terrible geben, aber politisch stillhalten

Gomułka, der im Oktober 1956, getragen von einer Woge der Begeisterung, an die Spitze der Partei trat, begann sehr schnell damit, alle Reformbestrebungen und auch „Po Prostu“ auszubremsen. Im Oktober 1957, begleitet von heftigen und brutal auseinandergetriebenen studentischen Straβenprotesten, wurde die Zeitschrift auf Geheiβ der Partei eingestellt. Die schwer erkämpften Freiräume schrumpften schnell. Die „Normalisierung“ hielt Einzug.

Nach der Auflösung von „Po Prostu“ erhielten Urban und einige andere Journalisten des Blattes Schreibverbot. Doch Urban war intelligent und geschickt genug, um schnell herauszufinden, wie man dieses Verbot umgehen konnte. „Zuerst lebte ich sehr bescheiden, aber innerhalb kürzester Zeit ging es mir prächtig. Ich habe unter Pseudonym geschrieben oder für andere. In einer Regionalzeitschrift in Łódź erschien zum Beispiel meine wöchentliche Kolumne. Darunter stand der Name des Chefredakteurs. Er heimste den Ruhm ein, ein begnadeter Glossenschreiber zu sein, und ich hatte das Geld“.

Jerzy Urban 1962.

Er konnte packend schreiben, also wurden seine Texte hie und da gerne „unter der Hand“ genommen. „Das gab mir ein Gefühl der Unabhängigkeit. Jetzt wusste ich, dass ich immer zurechtkommen würde. Es ist eine Zeit gewesen, in der ich völlig unabhängig von den Behörden war und trotzdem materiell gut dastand. Ich habe sie ausgetrickst.“ In Wirklichkeit wusste die Staatssicherheit natürlich bestens Bescheid, aber die zuständigen Parteibehörden ließen ihn gewähren, drückten beide Augen zu, wohlwissend, dass er zwar skurril, aber beileibe kein „antisozialistisches Element“ war.

Der junge Schreiber wurde damals in den von Künstlern, Wissenschaftlern und sozialistischen Arme-Leute-Bohemiens bevölkerten Salons Warschaus bekannt. Er belebte die Partys, wurde für seinen bösartigen, räuberischen Humor geschätzt. Zudem umgab ihn die Aura eines schikanierten Dissidenten.

Derweil hatte Urban keineswegs vor, in die damals, Ende der 1950er, Anfang der 1960er Jahre, noch sehr kleine Gruppe von authentischen Oppositionellen vorzudringen. Aus der Auflösung von „Po Prostu“ zog er für sich eine wichtige Schlussfolgerung: Das Enfant terrible zu geben ist das Eine, aber man sollte sich lieber nicht mit den kommunistischen Behörden anlegen, denn sie können schmerzhafte Vergeltungsmaßnahmen ergreifen. Auch die Erinnerung an die Kriegsjahre sagte ihm, es sei besser, politisch stillzuhalten.

Paradiesgarten „Polityka“

Ende der 1950er Jahre wurde Mieczysław Rakowski, der Chefredakteur der damals sehr einflussreichen Wochenzeitung „Polityka“, auf Urban aufmerksam. Rakowski gelang es, die Parteioberen zu überreden, das Veröffentlichungsverbot für Urban aufzuheben. Der dem „Reformflügel“ in der Partei zugerechnete Rakowski, der sich aktiv an den Machtspielen hinter den Kulissen beteiligte und in der Partei hoch hinauswollte, war fortan Urbans Gönner.

Mieczysław Rakowski.

„Polityka“ war das liberale Feigenblatt des Regimes. Ein politisches Ventil, das durch etwas mehr erlaubte Kritik, vages Ansprechen von einigen Tabu-Themen, halbwegs kontrovers geführten Debatten, den Druck des Unmuts unter den Intellektuellen abmildern sollte. Sie war im Partei-Establishment angemessen positioniert und gleichzeitig, soweit ihr das erlaubt wurde, liberal und prowestlich. Aus der damaligen Sicht erschien „Polityka“ ihren Lesern geradezu als ein geistiger Paradiesgarten inmitten der öden kommunistischen Presselandschaft.

„Polityka“-Titelseite vom 5. Oktober 1968.

Urban war begeistert. Jahre später schrieb er: „Für die übrige Presse waren wir beneidenswerte Leute, weil wir relativ gesehen am freiesten waren. Wir galten als die beste Zeitschrift im ganzen Ostblock, hatten weltweite Kontakte, waren angesehen und genossen einen hervorragenden materiellen und beruflichen Status. Sie nannten uns Rakowskis Bande. Wir waren ein starkes Team“.

Die schöne Zeit bei „Polityka“. Jerzy Urban mit seinem Redaktionskollegen Daniel Passent und der Dichterin Agnieszka Osiecka 1978 bei einer Party im Warschauer Haus des ARD-Hörfunkkorrespondenten Ludwig Zimmerer.

Doch im Sommer 1980 begann der politische Zwist das starke Team zu zersetzen. Nicht wenige „Polityka“-Redakteure zeigten sich von der damaligen polnischen Arbeiterrevolte tief beeindruckt. Urban hingegen war entsetzt. Er sah in ihr einen Ausbruch des „polnischen Nationalismus“ und „Klerikalismus“. Die weitverbreitete Volksfrömmigkeit, die mit den Massenstreiks wieder einmal zum Vorschein kam, die Verehrung für Johannes Paul II., die gewaltige Unterstützung für Solidarność waren ihm ein Gräuel. Er empfand sie als eine persönliche Beleidigung. Der ansonsten lässig auftretende Spötter und hartgesottene Zyniker kochte plötzlich über vor Wut.

Kein Wunder. Die Glückseligkeit in der „Polityka“-Redaktion war zu Ende. Das journalistische Dream-Team brach auseinander. Urban schrieb vehement gegen die neue Entwicklung, den „schnauzbärtigen Affen“, wie er Lech Wałęsa nannte, und den „Mob“, der jetzt, seiner Meinung nach, das Sagen hatte, an. Doch er war in der Redaktion, die eine tiefe Sinnkrise erlebte, eher isoliert. Zudem brauchte keiner mehr so recht das „Polityka“-Ventil mit der Partei-Lizenz für Anspielungen und Halbwahrheiten, wo man doch jetzt, in den unzähligen hektografierten Flugblättern und Schriften der regionalen und betrieblichen Solidarność-Komitees, endlich lesen konnte, was Sache ist.

Taktik des brutalen Realismus

Als General Wojciech Jaruzelski im Februar 1981 an die Spitze von Partei und Staat trat, und Mieczysław Rakowski sich ihm als stellvertretender Ministerpräsident zur Seite stellte, eilte Urban dem neuen Team zu Hilfe. Er zwinkerte den abgehalfterten Provinz-Parteisekretären und den tumben Generälen zu: „Wir wollen doch dasselbe, eine Welt bewahren, in der wir die privilegierte Elite sind. Hinter euch steht die Macht der Geheimpolizei und des Militärs, und ich weiß, wie man die Menschen durcheinanderbringt, die Gesellschaft in die Depression treibt“.

Regierungssprecher Jerzy Urban.

Seine Feuertaufe als politischer Macher hatte Urban im August 1981. Zum ersten Mal, damals noch als Berater des Premierministers, nahm er an einer der Verhandlungsrunden der Regierung und der Gewerkschaft Solidarność teil. Spät in der Nacht, als die Gespräche ergebnislos zu Ende gegangen waren und die Gewerkschaftsvertreter es versäumt hatten, ein gemeinsam ausgearbeitetes Kommuniqué zu unterzeichnen, gingen beide Seiten müde ins Bett. Derweil bearbeitete Urban Rakowski, den stellvertretenden Premierminister. Es sei erforderlich noch in derselben Nacht, eine Erklärung abzugeben, dass es Solidarność war, die die Gespräche abgebrochen hatte. Eine entsprechende Verlautbarung wurde ab sechs Uhr morgens stündlich im Radio verlesen. Der Sprecher der Solidarność bestritt das, doch es war zu spät.

Jahre später prahlte Urban mit dieser Lüge: „Die Idee war, Solidarność in die Defensive zu drängen. Das ganze Land hat erfahren, dass die Regierung eine Einigung anstrebte, und Solidarność bricht die Gespräche ab. Das war natürlich eine Manipulation, aber ich bin sehr zufrieden mit ihr […]. Diese Verlautbarung war von großer Bedeutung für den Parteiapparat im ganzen Land. Sie rüttelte die Funktionäre, die bis jetzt in dieser Auseinandersetzung ständig verloren hatten, auf“.

Urban war damals ein Hardliner, der die Parteispitze in ihrem Willen bestärkte, Solidarność zu besiegen und zu beseitigen. Er riet Jaruzelski, die Gewerkschaft in Dutzende von Konflikten zu verwickeln, um sie so zu zermürben. Hinzu kam die dramatische Verschlechterung der Versorgung mit Lebensmitteln, Medikamenten, Benzin. Menschen, die immer länger vor leeren Läden anstanden und warteten, dass irgendetwas Essbares angeliefert wurde, resignierten und verbitterten, das idealistische Klima des Freiheitsrausches vom Streiksommer 1980 verflog zunehmend.

Polen 1980-1981. Schlangestehen und nichts zu kaufen.

Je weitverbreiteter die Entmutigung und Resignation, so der Plan, umso schwächer der Widerstand gegen das Kriegsrecht, dessen Verhängung, unter strengster Geheimhaltung, von langer Hand vorbereitet wurde. Die Rechnung ging weitgehend auf. Als dann am 13. Dezember 1981 die Panzer und die Verhaftungswellen rollten, waren Proteste und Gegenwehr schnell gebrochen.

Urban, obwohl eigentlich nur Regierungssprecher, gehörte damals schon zum innersten Kreis der Macht. Die Rolle, die er zu spielen hatte, war gut durchdacht, was er später selbst zugab. Jaruzelski sollte der gute Polizist sein und er der böse. Er erinnerte sich: „Ich bin ein Kämpfer und an dieser Front, in dieser Armee, zu der ich mich gemeldet hatte, wurden die Waffen entsprechend zugewiesen. Jaruzelski war für gutes Zureden zuständig, ich für das rhetorische Einprügeln. Diese Rolle passte zu mir, weil ich das gerne tue“.

Verhängung des Kriegsrechts am 13. Dezember 1981. Straßenszene in Warschau.

Urban wählte die Taktik des brutalen Realismus. Er verfuhr nach dem Motto: „Ich will euch nicht davon überzeugen, dass wir Engel sind. Ich will nicht, dass ihr uns liebt. Ihr sollt uns fürchten.“ Daher auch seine berühmten Worte, gleich nach der Verhängung des Kriegsrechts, dass, komme was wolle, die Regierung sich auf jeden Fall „selbst ernähren kann“. Sie trugen eine einfache Botschaft: „Entweder ihr fügt euch oder ihr werdet verhungern“.

Jeden Dienstag um zwölf hielt Jerzy Urban Hof: Pressekonferenz im Club der halbamtlichen Nachrichtenagentur Interpress. Auf der Rückseite des Warschauer Großen Theaters versammelten sich ausländische Journalisten. Zigaretten qualmten; die Luft war heiß und trocken. Oft lieferten sich dort Urban und die westlichen Pressevertreter heftige Wortgefechte, denn lange Zeit schien Urban es als eine seiner vornehmsten Aufgaben zu betrachten, das Vertrauen der Polen in die kommunistischen polnischen Medien dadurch wiederherzustellen, dass er ihr Vertrauen in die Glaubwürdigkeit der Westmedien zu untergraben versuchte. Immer wieder unterstellte er ihnen in ihrer Polen-Berichterstattung Falschmeldungen und Halbwahrheiten zu verbreiten, was die im Publikum versammelten Westjournalisten nicht auf sich sitzen lassen wollten.

Diese Konferenzen wurden zeitversetzt, am Abend, im staatlichen Fernsehen übertragen. Es waren bizarre Shows und sie zogen die Aufmerksamkeit vieler Polen auf sich. Viele Zuschauer „schluckten“ unbewusst die vergiftete Botschaft des Medienluzifers. Urban hat viel dazu beigetragen, dass das Land Mitte der 1980er Jahre in Apathie und Resignation versank. Unübersehbar war das stille Abfallen von der Untergrund-Solidarność. Es häuften sich die Entscheidungen angesehener, repressalienmüder, lokaler Funktionäre, das Angebot der Staatssicherheit anzunehmen und ins Ausland zu gehen. Die Zahl derjenigen, die Gewerkschaftsbeiträge zahlten, sank, viele Mitglieder zogen sich ins innere Exil zurück.

Für die kommunistischen Behörden, die große Protestwellen befürchteten, war eine solche Beruhigung hochwillkommen. Doch sie löste die Probleme des Landes nicht. Gegen westliche Sanktionen, die riesige Auslandsverschuldung, die ruinierte Wirtschaft, die enormen Versorgungsengpässe, die galoppierenden Preise, den tristgrauen Alltag, den kommunistischen Schlendrian konnte auch Urban nichts ausrichten.

Gipfel der Niederträchtigkeit

Parallel zu seinen Pressekonferenzen führte Urban publizistische Kreuzzüge gegen Oppositionelle, die das Regime als besonders bedrohlich ansah. Er schrieb zu diesem Zweck, unter seinem „amtlichen“ Pseudonym Jan Rem, Kolumnen, von denen jeder wusste, dass es seine Texte sind. Diese Leidenschaft, die oft bereits überwachten, verfolgten oder sogar eingesperrten Gegner zu verhöhnen und zu demütigen, war eine der widerlichsten Erscheinungsformen seines Tuns.

Der Abiturient Grzegorz Przemyk. Im Hintergrund die Polizeiwache in der Warschauer Altstadt, in der er am 14. Mai 1983 zu Tode geprügelt wurde.

Den Gipfel der Niederträchtigkeit erklomm Urban, als er die Dichterin Barbara Sadowska, Mutter des 1983 auf einer Warschauer Polizeiwache zu Tode geprügelten Gymnasiasten Grzegorz Przemyk, verunglimpfte. Und ein zweites Mal, als er 1984 eine Kampagne gegen Pater Jerzy Popiełuszko lostrat. Er beschimpfte ihn als „verbohrten Fanatiker des Antikommunismus“ und als Verbreiter „politischer Tollwut“. 1984 brachten Angehörige der polnischen Stasi den mutigen Priester um. Einer der Täter verteidigte sich nach seiner Verhaftung damit, sein Hass gegen den Kirchenmann sei durch Urban angeheizt worden.

Die Dichterin Barbara Sadowska bei der Beerdigung ihres Sohnes. Rechts von ihr i. B. Pfarrer Jerzy Popiełuszko. Er wird gut ein Jahr später ermordet.

Urban konnte gnadenlos austeilen, aber, entgegen seinen Beteuerungen, dass er es mag, nicht gemocht zu werden, einstecken konnte er nicht. Das musste der Schriftsteller Bohdan Wrocławski schmerzlich erfahren, der im Keller des Kulturhauses der Warschauer Eisenbahner einen „Literaturkeller“ gegründet hatte.

Wrocławski erinnert sich: „Die Vorstellungen begannen, die Karten waren sechs Monate im Voraus ausverkauft, aber zu einem der Auftritte kam Jerzy Urban“. Einer der Sketche war eine Parodie auf Urbans Pressekonferenzen. Nach der Vorstellung fragte Wrocławski Urban, ob er sich durch den Sketch beleidigt fühle. „Überhaupt nicht, das ist doch nur Spaß“, antwortete Urban. Zwei Tage später wurde der „Literaturkeller“ auf Anordnung der Behörden geschlossen.

Die letzten Rückzugsintrigen

Als im Verlauf des Jahres 1988 klar wurde, dass die herrschenden Umstände bald nicht mehr haltbar sein würden und die Kommunisten die Flucht nach vorn, in die Verhandlungen am Runden Tisch antraten, war Urban nicht nur als der gewohnte Polterer, sondern auch emsig als Souffleur hinter den Kulissen der Macht am Werk. Aus Sicht der Kommunisten galt es, das politische Kunststück zu vollbringen: Solidarność zu legalisieren und zugleich möglichst tief in das marode Wirtschafts- und Politikgefüge des dahinsiechenden kommunistischen Polens einzubinden, sie in die Mitverantwortung zu ziehen und am Ende so in den Augen der Bevölkerung in Misskredit zu bringen.

Der Souffleur. Jerzy Urban im Frühjahr 1989, während der Beratungen am Runden Tisch, mit dem Chef der Polizei und der Geheimdienste, General und Innenminister Czesław Kiszczak

Urban war einer der Vordenker dieser Strategie. Er verfasste interne Denkschriften für Jaruzelski, Rakowski und den mächtigen Chef der Polizei und der Geheimdienste, General und Innenminister Czesław Kiszczak. Er begleitete beratend die Vorgehensweise der staatlichen Delegation am Runden Tisch, gab Tipps und Anregungen. Doch es war die Zeit des großen Umbruchs in Polen und in ganz Osteuropa. Das Intrigenschmieden und die politische Fallenstellerei, wie sie Urban und seinen Auftraggebern vorschwebten, erwiesen sich als realitätsferne Wolkenschiebereien.

Nachdem im April 1989 die Gespräche am Runden Tisch beendet waren, Solidarność wieder legal agieren konnte und das Land sich bald im Fieber des Wahlkampfes vor den für den 4. Juni angesetzten halbfreien Wahlen wiederfand, war die Reizfigur Urban als Regierungssprecher nicht mehr vorzeigbar. Bis zum Amtsantritt des ersten nichtkommunistischen Ministerpräsidenten im September 1989 Tadeusz Mazowiecki wechselte er noch auf den Chefsessel des Staatsfernsehens. Danach war Urban nur noch Privatier.

Die Triebfedern seines Tuns blieben dieselben. Da war zum einen die tiefe Abneigung gegen Solidarność und Lech Wałęsa, der im Dezember 1990 zum Staatspräsidenten gewählt wurde. Zum anderen war es die Kirche und das Christentum im weiteren Sinne, die Urban schon immer gehasst hatte.

Zufriedene Pensionäre: General Wojciech Jaruzelski und sein einstiger Regierungssprecher Jerzy Urban Mitte der 1990er Jahre.

In einem Interview sagte er: „Zwei Dinge im Bereich der Gefühle anderer Menschen verstehe ich nicht und das ist nicht im Geringsten vorgetäuscht, nämlich Religiosität und Sport. Vielleicht kam daher meine völlige Gefühllosigkeit gegenüber Johannes Paul II. und dem, was in Polen um ihn herum geschah. Ich habe diese Emotionen überhaupt nicht gespürt und kann sie bis heute nicht verstehen. Ich konnte weder Größe noch Charisma an ihm entdecken“. Publizistisch umgesetzt hat er seine Abneigung so, wie zum Beispiel 2002, als der polnische Papst zum letzten Mal in seine Heimat pilgerte: „Ein seniles Idol, ein verblassender alter Mann, der Breschnew des Vatikans und ein lebender Leichnam“.

Urban konnte also das fortsetzen, was er seit dem Sommer 1981 als Regierungssprecher zu seiner Hauptmission gemacht hatte. Jetzt aber, unter den Bedingungen der Meinungsfreiheit, noch viel brutaler und ungezügelter. Zudem machte er daraus ein erfolgreiches Geschäftsmodell. Jahrelang hatte er gegen den Systemwechsel gekämpft, und nun kam er im Kapitalismus zu enormem Reichtum. Eine solch ironische Pointe der Geschichte hätte sich der Zyniker Urban nicht besser ausdenken können.

Millionär Jerzy Urban in seinem Haus, bewacht von Leibwächtern. Uund in seiner Luxuslimousine.

Es bereitete ihm eine diebische Freude, seinen Reichtum zur Schau zu stellen. Er fuhr einen Jaguar, trug handgeschneiderte italienische Anzüge, trank Whisky und Champagner und ließ seine Villa mit Swimmingpool im Warschauer Nobelvorort Konstancin von Leibwächtern bewachen. Er liebe nun mal den Luxus und ein ausschweifendes Leben, „vor allem weil sich meine Gegner so herrlich grün und blau darüber ärgern“.

„Urbans Alphabet“.

Das Startkapital für diesen Luxus hatte Urban gleich nach der Wende mit einem schmalen Buch verdient, „Urbans Alphabet“, einer Sammlung oft schlüpfriger und stets böswilliger Tratschgeschichten über Politiker und Künstler von A bis Z, vor allem aus dem Lager der Solidarność. Es wurde ein Bestseller, in kurzer Zeit gingen 750.000 Exemplare über den Ladentisch, und Urban hatte 120.000 Dollar verdient – ein beachtliches Vermögen in Polen.

Bald danach konnte er vergnügt vermelden, etwa tausendmal so viel zu verdienen wie in seiner Funktion als Regierungssprecher im Ministerrang. Die Quelle dieser wunderbaren Einkommensvermehrung sprudelte in der Redaktion eines Wochenblattes, das er 1990 aus dem Nichts schuf: NIE. Auf dem Gipfel der Popularität betrug die verkaufte Auflage der Zeitschrift 780.000 Exemplare.

Urban ging es darin einzig und allein um Aufsehen, Provokation und Krawall, wenn er mit pubertärer Schadenfreude die Soutanen katholischer Priester lüpfte oder behauptete Nebenverdienste von Solidarność-Politikern offenlegte. Zumeist jedoch verbreitete NIE juristisch schwer angreifbare Gerüchte und Erfindungen. Das Blatt deutete seinerzeit etwa an, der polnische Primas habe eine bisher verheimlichte Adoptivtochter.

NIE-Titelseite vom 21. Mai 2020.

Wichtig war die pornografische Komponente: zotige Anekdoten, anzügliche Karikaturen, viel Fäkalsprache, die Dienstleistungen von Hurenhäusern und Schwulenbordellen mit genauen Adressen und fachkundigen Beschreibungen der geprüften Dienstleistungen, bewertet mit erigierten Gliedern – von einem bis vier. Urbans Blatt war ein verlässlicher Führer durch die Abgründe des Rotlichtmilieus.

Extreme antiklerikale Tendenzen gab es im katholischen Polen schon immer. Die heftigen Angriffe des Urban-Blattes auf Solidarność gefielen vor allem der großen Schar von Nutznießern des Kommunismus, die die abgeschaffte Volksrepublik Polen schmerzhaft vermissten: Stasi-Leute, Militärs, hohe, mittlere und ganz kleine Chargen parteitreuer Beamter, Lehrer, Richter, Diplomaten, Wissenschaftler, Künstler, Manager der kommunistischen Misswirtschaft und deren Familien. Ihre Zahl ging in Hunderttausende.

Jerzy Urban feiert 1993 den Wahlsieg der Postkommunisten.

Urban war ihr Sprecher. Und in ihrem Namen erschien er am Abend des 19. September 1993 auf der Wahlparty der Postkommunisten, die gerade die Parlamentswahlen haushoch gewonnen hatten und nur vier Jahre nach ihrer Absetzung wieder die Macht in Polen übernehmen sollten. Das Foto, auf dem Urban mit weit herausgestreckter Zunge und einer riesigen Champagner-Flasche in der Hand die Abwahl des Solidarność-Lagers feierte, hatte für alle, die im antikommunistischen Kampf vor 1989 ihren Kopf hingehalten hatten, etwas Gespenstisches und zutiefst Erniedrigendes.

Zu Urbans Klientel zählte auch die riesige Zahl der Opfer des Balcerowicz-Plans, einer ökonomischen Schocktherapie, der Polen unterzogen wurde. Ganze Regionen versanken seinerzeit in Armut und Stillstand. Seriöse Beobachter rieben sich die Augen, dass Menschen, die sich immer noch nicht von dem durch das kommunistische Regime verursachten Elend erholt hatten, in vielen Fällen zu begeisterten Lesern der Urban-Zeitschrift wurden.

Aber Urban, der Zyniker, scherte sich nicht im Geringsten um seine Leser aus den stillgelegten Staatsgütern auf dem Lande und den rostbefallenen Fabrikruinen. Sein Ziel war es, in die neue Machtelite aufgenommen zu werden.

Adam Michnik und Jerzy Urban 1990.

Den Weg dorthin bahnte ihm Adam Michnik. Der einstige unverbrüchliche Gegner der Kommunisten verwandelte sich nach deren Niederlage in den wichtigsten Befürworter eines Schulterschlusses eines Teils der Solidarność-Eliten, links angehaucht, auch als „rosarot“ umschrieben, mit den „vernünftigen“, „kompromissbereiten“ Kommunisten. Michnik war damals geradezu von der irrationalen Angst besessen, die Solidarność-Massen würden der Macht der Kirche und einem ungezügelten Nationalismus erliegen. Das rosarot-rote Bündnis sollte das verhindern.

Michnik, der nun einflussreiche Chefredakteur der „Gazeta Wyborcza“, zählte jetzt General Jaruzelski (den man bitte „in Ruhe lassen“ sollte) und den einstigen Polizei- und Geheimdienstchef General Kiszczak (einen „Mann der Ehre“, wie ihn Michnik beschrieb) zu seinen Verbündeten. Jeden Versuch, die beiden und deren engste Mitarbeiter für ihre Verbrechen zur Verantwortung zu ziehen, werteten Michnik und seine damals in der polnischen Politik meinungsführende Umgebung als unannehmbare Versuche, „Revanche“ zu nehmen.

Dank Michnik wurde auch Jerzy Urban, der einst verhasste kommunistische Propagandist, wieder salonfähig. Die beiden verband nun eine intensive Bekanntschaft. Dass Michnik Urban, Jaruzelski, Kiszczak und ihren Helfern vergeben hatte, musste genügen. Wer das nicht gutheißen konnte oder wollte, war ein rachsüchtiger Populist, „Hassprediger“, „Steinzeit-Antikommunist“.

Doch die Postkommunisten, die Urban und sein Schmuddelblatt nach Kräften unterstützten, haben sich durch Korruption, Arroganz und innere Zerwürfnisse bis zum Jahr 2005 ins politische Abseits manövriert, wo sie bis heute verharren. Und wie der Kommunismus, dem er treu diente, erwies sich auch Jerzy Urban als nicht reformierbar.

Jerzy Urban, der altersmüde Medienluzifer.

Er tat unentwegt das Einzige, was er wirklich konnte: andere zu verhöhnen, sie gegeneinander auszuspielen, das Gute zu besudeln, die Menschen davon zu überzeugen, dass das Böse gewinnt. Zu seinen Propagandafeldzügen gegen die Kirche kamen Propagandaschlachten gegen die regierenden Nationalkonservativen hinzu, in denen die Unterstellung Jarosław Kaczyński sei ein Homosexueller, noch zu den „mildesten“ Argumenten gehörte.

Aber die Zahl derjenigen, die sich das alles antun wollten, verringerte sich zunehmend. Irgendwann war es zu viel „des Guten“. Das Bösartige, Negative, Vergiftete erwies sich letztendlich als kein tragfähiges Fundament.

Auch Urban selbst schien in den letzten Jahren die Begeisterung für seine Kreuzzüge zu verlieren. Er wurde ein gelangweilter Satanist, dessen Gesundheit zu leiden begann. Bis zuletzt bewahrte er Haltung, aber die letzten Jahre seines Lebens waren nicht gerade von Erfolgen gekrönt. NIE ist heute ein Nischenblatt. Dass die Nationalkonservativen seit sieben Jahren an der Macht sind, machte ihn wütend, aber trotz aller Anstrengungen konnte er nichts dagegen ausrichten. Und auch die Kirchen stehen in Polen nicht leer.

Doch Leute, die es ihm gleichmachen wollen, gibt es in Polen weiß Gott genug. Leider hat der Drache zeit seines Lebens viele Eier gelegt.

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15.10.2022. Polen aushungern, Deutschland erlösen

Am 16. Oktober 2022 jährt sich die Ermordung der Enthüllungsjournalistin Daphne Caruana Galizia auf Malta zum fünften Mal. Das Europäische Parlament widmete diesem Mord bisher nur eine Debatte. Eine zweite soll in diesen Tagen, am Jahrestag des Todes von Galizia, stattfinden. In einem anderen EU-Land, der Slowakei, wurden im Februar 2018 der Enthüllungsjournalist Jan Kuciak und seine Verlobte ermordet. Auch diese Tat war dem Europaparlament nur eine einzige Debatte wert.

Derweil widmete sich dieselbe Institution zwischen Januar 2016 und Dezember 2021 in 27 Debatten Polen. Hinzu kommen unzählige Ausschusssitzungen. Im Durchschnitt also wurde Polen in dieser Zeit alle zwölf Wochen von der linken Mehrheit im EP-Plenum durch Resolutionen an den Pranger gestellt. Länder, in denen politische Morde begangen werden, wurden dagegen mit Einzeldebatten „bestraft“.

Und da ist da noch Bulgarien, das seit seinem EU-Beitritt vor 15 Jahren die Liste der Länder mit der höchsten Korruption und einer gigantischen Verschwendung von EU-Geldern anführt. Zudem handelt es sich um ein Land, das so instabil ist, dass es dort innerhalb von eineinhalb Jahren bereits vier Parlamentswahlen gab. Und das alles ist lediglich einmal im Jahr, jeweils im Herbst, Thema einer EP-Debatte, die völlig folgenlos bleibt. Von Sanktionen gegen Bulgarien redet niemand.

Für Brüssel ist Polen das Problem schlechthin, und die Folgen sind gravierend. Was auf den ersten Blick wie ein groteskes Paradoxon aussieht, ist in Wirklichkeit die brutale Realität der europäischen Politik.

Und die sieht so aus, dass Russland, das in sein Nachbarland einmarschiert ist und dessen Bevölkerung tötet, und Polen, das riesige Anstrengungen zugunsten der Ukraine unternimmt, von Brüssel mit vergleichbar großen Sanktionen belegt werden. Polen wird die Auszahlung von knapp 36 Milliarden Euro aus dem sogenannten Wiederaufbaufonds verweigert, der im Februar 2021 aufgelegt wurde, um die wirtschaftlichen und sozialen Auswirkungen der COVID-19-Pandemie in den Mitgliedsstaaten einzudämmen und zu mildern. Der Wert der bisher von der EU geschnürten russischen Sanktionspakete beläuft sich in etwa auf dieselbe Summe.

Auch der Mechanismus, mit dem die EU Druck auf Moskau und Warschau ausübt, ist recht ähnlich. Ihre Institutionen wiederholen: Erfüllt unsere Forderungen und wir werden die Sanktionen aufheben. Nur dass es im Falle Russlands darum geht, Aggression und Mord zu stoppen, während es sich im Falle Polens, im Kern, längst nicht mehr um die Justizreform, sondern um die Erzwingung eines Machtwechsels an der Weichsel handelt.

Zudem gibt Brüssel der Opposition bewusst das Wahlargument in die Hand: „Wählt uns, dann kommt das EU-Geld!“

Im Herbst 2023 finden in Polen Parlamentswahlen statt. Die Nichtauszahlung der riesigen Summen aus dem Wiederaufbaufonds kann Ratingagenturen leicht dazu veranlassen, die Kreditwürdigkeit des Landes herabzustufen. Heute befindet sie sich auf dem erfreulichen Niveau „A-“ (stabil). In Zeiten der Hochinflation und Energiekrise könnte eine Herabstufung an den Grundfesten der Wirtschaft rütteln, die Unzufriedenheit schüren und der EU-ergebenen Opposition, angeführt von Brüssels Liebling, dem deutschlandhörigen Donald Tusk, zum Wahlsieg verhelfen.

Das weite Entgegenkommen Warschaus in Sachen Justizreform im Frühjahr 2022, zuerst akzeptiert und gelobt, wurde jedenfalls sehr schnell als „unzureichend“ abgelehnt. Neue Forderungen kamen hinzu, deren Erfüllung das polnische Justizwesen vollends ins Chaos stürzen würde. So sollten die vor der Reform ernannten Richter in zweiter Instanz Urteile von Richtern, die nach der Reform berufen wurden (und derer gibt es inzwischen etwa eintausend), nur aufgrund ihres Ernennungsdatums aufheben dürfen. Letztere seien „keine Richter“. Das wäre ein Zustand, in dem sich niemand in Polen mehr eines Gerichtsurteils sicher sein kann.

Die Forderung ist so gefährlich und zugleich absurd, dass sich Brüssel und Berlin gewiss sein können, dass die jetzige polnische Regierung sie auf keinen Fall akzeptieren kann. Und darum geht es auch. Das verspricht eine langwierige Pattsituation und die provokative Verhängung immer höherer Geldstrafen gegen Polen, deren Summe jetzt bereits 250 Millionen Euro übersteigt und sich immer weiter erhöht. Der Sanktionsdruck soll bis zu den polnischen Wahlen im nächsten Herbst wachsen. Nicht von ungefähr sprach die SPD-EU-Politikerin Katharina Barley vom „Aushungern“ Polens, während „Der Spiegel“ zum „Daumenschrauben anlegen“ riet.

Vor allem für Berlin, das hinter den Kulissen diese Vorhaben anregt und steuert, steht viel auf dem Spiel. Endlich, nach acht Jahren, eine ungehorsame und undankbare osteuropäische Regierung loszuwerden, die sich vehement der von Olaf Scholz geforderten „Führungsrolle“ Deutschlands in der EU widersetzt. Die kein zentralisiertes Europa, sondern ein Europa der Nationalstaaten will. Die Reparationen von Deutschland fordert. Die durch die Zusammenarbeit der ostmitteleuropäischen Staaten ein Gegengewicht zu Deutschland aufbauen möchte. Die, die, die…

Während im Falle der russischen Sanktionen Krieg, Tod und Zerstörung auf dem Spiel stehen, geht es bei den polnischen Sanktionen um nackte Macht.

RdP




Wie mutig sind die Polen

Was würden Sie tun, wenn Russland Polen, so wie die Ukraine, überfallen würde?

Nach dem russischen Überfall auf die Ukraine sieht sich Polen zum ersten Mal seit Jahrzehnten einer unmittelbaren Kriegsbedrohung ausgesetzt. Eine schnelle und umfangreiche Aufrüstung, gepaart mit einer merklichen Aufstockung des Personalbestandes der Armee haben inzwischen oberste Priorität bei den Regierungsvorhaben. In diesem Fall kann sich die Regierung einer breiten Unterstützung der Bevölkerung sicher sein. Doch wie steht es um den Kampfeswillen der Polen?

Die Frage ist wichtig, denn wie das ukrainische Beispiel zeigt, ist die allgemeine Bereitschaft, das eigene Land mit der Waffe in der Hand zu verteidigen, ausschlaggebend für eine erfolgreiche Verteidigung. Wie fatal sich die fehlende Motivation der kämpfenden Truppe auswirken kann, sieht man andererseits am Beispiel der russischen Angreifer. Welchem Beispiel würden die Polen im Ernstfall folgen?

Im Vergleich mit anderen

In den sozialen Medien werden von Zeit zu Zeit Studien veröffentlicht, die zeigen, inwieweit verschiedene Nationen bereit sind, ihre Staaten zu verteidigen. Im Vergleich zu anderen Europäern sind die Polen durchaus kampfbereit. Während bei den Deutschen die Bereitschaft, die Heimat zu verteidigen, nur bei 18 Prozent liegt, beläuft sie sich bei den Polen auf 47 Prozent.

Polnische Aufständische werden nach Sibirien getrieben. Bild von Artur Grottger aus dem Jahr 1867.

Am Ural. Deportierte Polen nehmen Abschied von Europa. Bild von Aleksander Sochaczewski aus dem Jahr 1890.

Hier zeigt sich ein charakteristisches Muster: Je mehr schlechte historische Erfahrungen es mit Russland gibt, desto größer ist der Ansporn, sich dem Angreifer aus dem Osten entgegenzustellen. Fast ebenso motiviert wie die Polen sind die Letten (41 Prozent), noch deutlich motivierter die Finnen (74 Prozent). Andererseits scheinen die Tschechen, die viel weniger Erfahrung mit Russland haben, oder die Bulgaren, die historisch gesehen weit mehr Angst vor der türkischen Bedrohung empfinden, weniger mutig zu sein. Dort sind nur ein Viertel der Befragten bereit, ihr Land gegen Russland zu verteidigen.

Entdeckte Massengräber von den Sowjets ermordeter polnischer Offiziere. Katyn bei Smolensk 1943.

Von den Sowjets deportierte und „begnadigte“ Polen melden sich 1941 zur Anders-Armee.

Das historische Gedächtnis beeinflusst also die Wahrnehmung der Bedrohung und formt die Verhaltensweisen. Im Laufe der Zeit verblasst jedoch oft die Erinnerung, was gemeinsam mit der allgemeinen Verbesserung des Lebensstandards dazu führt, dass das Materielle immer mehr in den Vordergrund tritt. Das gilt für viele, aber beileibe nicht für alle Länder. Das einst von Francis Fukuyama versprochene „Ende der Geschichte“ durch den Siegeszug der Demokratie ist jedenfalls leider nicht eingetreten. Ein Beleg dafür ist die aggressive Politik Russlands, das den gerade beschriebenen Prozess offenbar verpasst hat. Der naive, von Wunschträumen geprägte Umgang mit Russland als einem normalen europäischen Staat hat letztendlich zu dem jetzigen Krieg geführt.

Heißt das, dass wir in Polen Angst vor Russland haben sollten? Lieber nicht, denn Angst behindert das rationale Denken und führt zu Fehlern. Nicht Angst, sondern ein ständiges Bewusstsein für die Bedrohung ist gefragt. Für die polnische Regierung bedeutet das, dass sie eine Politik verfolgen muss, die dieser Bedrohung ständig und in jeder Hinsicht Rechnung trägt. Und die Gesellschaft ihrerseits muss bereit sein, sich dieser Herausforderung zu stellen.

Furcht und Mut

In der Vergangenheit fürchteten die Polen Russland, überschätzten gleichzeitig jedoch nicht dessen Macht. Daher waren sie nicht durch Angst gelähmt und konnten, wenn nötig, wirksamen Widerstand leisten während der antirussischen nationalen Aufstände von 1768, 1794, 1830 und 1863 oder im polnisch-bolschewistischen Krieg von 1920.

Sowjetisch-polnischer Krieg 1920. Von polnischen Einheiten eroberte sowjetrussische Truppenfahnen.

Eine ähnliche Haltung ist heute bei den Ukrainern zu beobachten, die, obwohl sie zahlenmäßig und militärisch schwächer als Moskau sind, die Aggression erfolgreich abwehren. Die Ukrainer erinnern an die Polen von 1920, nicht nur, weil sie wie die Polen damals für den Erhalt ihres Staates kämpfen, sondern auch, weil sie bis vor Kurzem Teil des Moskauer Imperiums waren und sich dessen innerer Schwächen bewusst sind.

Im Jahr 1920 war die Erinnerung an die russische Herrschaft in Polen ebenfalls noch frisch. Das hat sich inzwischen geändert. 1990 aus dem sowjetrussischen Machtbereich ausgebrochen, blicken die Polen seither zunehmend mit den ängstlichen Augen des Westens auf Moskau. Diese Haltung ist noch nicht vorherrschend, aber ihr Einfluss ist vor allem bei der jüngeren Generation (18-29 Jahre) spürbar. Laut einer Studie hat diese Gruppe die größte Angst vor einem russischen Angriff auf Polen (65 Prozent der Befragten in einer IBRiS-Umfrage für Onet vom 25. Februar 2022).

Das ist nicht überraschend. Sie wurden nach dem Ende des Kommunismus geboren, kennen Russland nicht und sind mit der Überzeugung aufgewachsen, in einer sicheren Welt zu leben. Ihnen fehlen die Erfahrungen ihrer Eltern und Großeltern. Zugleich trennen die Popkultur und die sozialen Medien sie von der Realität und oft auch vom Wissen ab. Kein Wunder also, dass sie über den plötzlichen Zusammenbruch der bestehenden Ordnung so entsetzt waren.

Von Social Changes im Auftrag des Portals wPolityce.pl im September 2022 durchgeführte Umfrage. Ggf, bitte vergrößern.

Doch auch wenn sie von einer Angst befallen sind, so sind sie keineswegs durch sie gelähmt. Junge Polen legen die größte Bereitschaft an den Tag, für die Verteidigung des Landes zu kämpfen. In einer anderen Umfrage, die kurz nach dem Angriff Russlands auf die Ukraine durchgeführt wurde (Umfrage für das Warsaw Enterprise Institute vom 3. März 2022), gehörte fast ein Viertel (24 Prozent) derjenigen, die im Ernstfall zur Verteidigung ihres Landes an die Front gehen wollten, zu den jüngsten Befragten (im Alter von 18 bis 24 Jahren). In anderen Altersgruppen war der Prozentsatz niedriger.

Allerdings muss das alles im richtigen Verhältnis gesehen werden. Die oben zitierte Umfrage zeigt, dass insgesamt nur 17 Prozent der Befragten (d. h. aus allen Altersgruppen) bereit sind, an die Front zu gehen. Wie verhält sich dies nun zu der zuvor erwähnten Umfrage, die besagt, dass sogar 47 Prozent der Polen bereit sind, ihr Heimatland zu verteidigen?

Die Hälfte ist bereit

Die erklärte Bereitschaft, das eigene Land zu verteidigen, ist ein recht weit gefasster Begriff. In der jüngsten Umfrage, die von Social Changes im Auftrag des Portals wPolityce.pl im September 2022 durchgeführt wurde, erklärten sich beispielsweise 44 Prozent der Befragten bereit, gegen einen Aggressor zu kämpfen, aber nur 13 Prozent von ihnen sind bereit, an die Front zu gehen, 12 Prozent würden sich an Partisanen- und Sabotageaktionen beteiligen, und 19 Prozent würden nicht direkt kämpfen, aber die Kämpfenden auf andere Weise unterstützen. Das Ergebnis der Umfrage, wonach fast die Hälfte der Polen bereit ist, ihr Heimatland zu verteidigen, bedeutet also nicht automatisch, dass alle zu den Waffen greifen wollen.

Zum Vergleich: In der Ukraine mit ihren 44 Millionen Einwohnern sind nach einer Erklärung von Wolodymyr Selenskyj vom Mai 2022 mehr als 700 000 Menschen direkt in den Krieg mit Russland verwickelt, was etwa 3 Prozent der kampffähigen Bevölkerung des Landes (26,5 Millionen Menschen zwischen 20 und 64 Jahren) entspricht. Diese knapp 3 Prozent leisten tatsächlich Widerstand gegen den Angreifer.

Soldaten der Territorialverteidigung beim Manöver.

So gesehen sind die 13 Prozent der Polen in der September-Umfrage oder die 17 Prozent in der März-Umfrage für das WEI ziemlich viel. Dies zeigt sich auch an der relativ hohen Popularität der Territorialen Verteidigungskräfte, deren Stärke von 7.000 Soldaten im Jahr 2017 auf 32.000 Ende 2021 gestiegen ist. Letztendlich werden sie realistischen Annahmen zufolge voraussichtlich noch auf 50.000 Mann ansteigen.

Im Übrigen muss nicht jeder Soldat sein, und nicht jeder ist dafür geeignet. Durch ungeeignete Soldaten gibt es nur Ärger und Probleme, wie die russischen Angreifer in der Ukraine schmerzlich erfahren mussten. Hilfsdienste wie das Sanitätswesen, die Versorgung mit Munition, Lebensmitteln und Kleidung, spielen im Krieg eine ebenso wichtige Rolle wie die kämpfende Truppe. Selbst der besttrainierte Soldat ist ohne diese Unterstützung hilflos.

Auch ohne Waffe in der Hand kann man einen Beitrag zur Landesverteidigung leisten. Ein Helfer der polnischen Caritas nimmt ukrainische Flüchtlinge an der Grenze in Empfang.

Daher sind die Erklärungen derjenigen zu begrüßen, die zwar nicht mit dem Gewehr kämpfen wollen (weil sie eine schwache Gesundheit oder Angst haben), aber bereit sind, die Armee auf andere Weise zu unterstützen. So funktioniert es in der Ukraine. Ohne das große gesellschaftliche Engagement im Rücken wären die ukrainischen Soldaten nicht so erfolgreich gewesen. Jeder sollte so viel helfen, wie er kann.

Das macht den Unterschied zu einer mehr oder weniger strikten Verweigerungshaltung aus. Die zitierte Umfrage für das Portal wPolityce.pl zeigt, dass 17 Prozent der Befragten im Falle einer Bedrohung das Land verlassen würden, 5 Prozent würden in Polen untertauchen und 7 Prozent würden tatenlos die Entwicklung der Ereignisse abwarten. Diese Antworten machen insgesamt 29 Prozent aus, was im Vergleich zu den 47 Prozent, die bereit sind, sich in unterschiedlicher Form an der Verteidigung des Landes zu beteiligen, darauf hindeutet, dass die polnische Fähigkeit zur sozialen Mobilisierung im Falle eines Krieges sich durchaus sehen lassen kann.

Aber auch in diesem Fall ist es ratsam, von voreiligen Vorverurteilungen abzusehen und sich erneut dem ukrainischen Beispiel zuzuwenden. Nach dem Moskauer Angriff wurden Millionen von Menschen, vor allem Frauen und Kinder, aus der Ukraine evakuiert. Das wirkte sich sehr positiv auf die Moral der an der Front kämpfenden Soldaten aus, die sich um das Schicksal ihrer Familien nicht sorgen müssen. Der Schutz der Familie ist schließlich ein natürlicher Reflex eines jeden Menschen. Nicht jeder, der den Wunsch äußert, das Land zu verlassen, ist daher ein national Abtrünniger. Im Gegenteil, die Flucht der Schwächsten an sichere Orte wirkt sich insgesamt ausgesprochen positiv auf die Verteidigungsfähigkeit eines Landes aus.

Die Flucht der Schwächsten an sichere Orte wirkt sich insgesamt ausgesprochen positiv auf die Verteidigungsfähigkeit eines Landes aus.

Auch lohnt es sich, ehrlich darüber nachzudenken, ob wir bereit wären, das Wohlergehen unserer eigenen Familie in einer Notsituation zu opfern, wenn wir die Möglichkeit hätten, alle gemeinsam das Land zu verlassen. Sicherlich wird es solche Menschen geben, aber es ist nicht zu erwarten, dass sie die überwältigende Mehrheit ausmachen. Umso wichtiger ist es, denjenigen Anerkennung zu zollen, die bereit sind, sich in irgendeiner Form für ihr Land einzusetzen. Und das ist, Umfragen zufolge, fast die Hälfte. Ausreichend also für einen potenziellen Angreifer, um auf der Hut zu sein.

Geist und Gemüt

Die einzige Haltung, die man im Angesicht der Gefahr wirklich fürchten sollte, ist die Dummheit, die Polen in der Vergangenheit bereits mehr als einmal in die Katastrophe geführt hat. Sie kann zwei Formen annehmen. Die ideologisch geprägte Variante geht davon aus, dass der polnische Staat keinen Wert darstellt, den es zu verteidigen gilt, und dass die polnische nationale Identität ein schädliches Relikt ist. Die andere Form besteht darin, die Bedrohung aus Eigennutz zynisch zu verdrängen. Beides geht oft Hand in Hand miteinander und beides lähmt den Widerstandswillen der Gesellschaft.

Die Gefahr, der Polen heute ausgesetzt ist, betrifft also nicht nur das Leben, die Gesundheit oder das Eigentum, sondern auch den Geist, den Verstand, das Gemüt. Die militärische Bedrohung kann, wie das Beispiel der Ukraine zeigt, nur dann bewältigt werden, wenn eine Mobilmachung auch das richtige Denken beinhaltet.

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8.10.2022. L’Europe au menu allemand. Berlin diniert à la carte

Seit einiger Zeit genehmigt die Europäische Kommission am laufenden Band nationale Hilfsprogramme, die Unternehmen und Bürgern bei der Bewältigung der Auswirkungen der Corona-Pandemie und der Energiekrise helfen sollen. Diese für Brüssel unüblich unbürokratische Vorgehensweise ist erfreulich, wäre da nicht das gigantische Ungleichgwicht zugunsten Deutschlands, das den Europäischen Binnenmarkt zu sprengen droht.

Nach Artikel 107 des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union, darf die Europäische Kommission staatliche Beihilfen genehmigen. Sie sind mit dem gemeinsamen Binnenmarkt vereinbar, wenn sie zur Beseitigung von Schäden dienen, die durch Naturkatastrophen oder sonstige außergewöhnliche Ereignisse in den Mitgliedsstaaten entstanden sind. Es handelt sich um Lohnkostenzuschüsse, die Aussetzung von Steuern bzw. Sozialversicherungsbeiträgen oder direkte Beihilfen für Firmen und Verbraucher.

So erreichte Warschau in diesen Tagen die freudige Nachricht, dass Brüssel einen großen Teil des Finanzschirms in Höhe von umgerechnet gut 15 Milliarden Euro bewilligt hat, mit denen die polnischen Behörden Kleinst-, Klein- und mittleren Unternehmen in der Pandemie unter die Arme gegriffen haben. Auf die Freigabe aus Brüssel wartet noch der Teil für Großunternehmen mit mehr als 249 Beschäftigten.

Alles in allem hat Polen in Brüssel drei große nationale Hilfsprogramme zur Akzeptanz vorgelegt. Sie belaufen sich insgesamt auf umgerechnet gut 67 Milliarden Euro. Das macht in etwa 12 Prozent des polnischen Bruttoinlandproduktes (BIP) aus.

Das ist für polnische Verhältnisse sehr viel, aber geradezu ein Klacks im Vergleich zu dem was Deutschland auffährt. Die bisher genehmigten staatlichen deutschen Corona- und Energiebeihilfen belaufen sich auf 990 Milliarden Euro (28 Prozent des BIP). Jetzt soll noch ein weiterer deutscher 200-Milliarden-Schutzschirm für Verbraucher und Firmen, „Doppel-Wumms“ genannt, hinzukommen.

Zum Vergleich: In Frankreich belaufen sich die von der EU genehmigten staatlichen Beihilfen auf 319 Milliarden Euro (13 Prozent des BIP), in Italien auf 204 MIliarden Euro (11,5 Prozent des BIP), in Belgien auf 53 Milliarden Euro (10,5 Prozent des BIP,) in Österreich auf 24 Milliarden Euro (6 Prozent des BIP) und in Spanien ebenfalls auf 24 Milliarden Euro (2 Prozent des BIP).

Das zeigt, was sich die einzelnen Mitgliedstaaten, je nach ihrer finanziellen Leistungsfähigkeit und dem Spielraum für eine Erhöhung der Staatsverschuldung im Verhältnis zum Bruttoinlandsprodukt, leisten können und wollen.

Schon jetzt macht das deutsche Paket 50 Prozent aller von der Kommission genehmigten EU-Beihilfen aus, das französische Paket 19 Prozent, das italienische Paket 12 Prozent, das polnische 4 Prozent, das belgische 3 Prozent und die übrigen Pakete belaufen sich jeweils auf nicht mehr als 1,5 Prozent.

Wenn die Kommission bereits jetzt so große Unterschiede in der Höhe der von den einzelnen Mitgliedsstaaten gewährten staatlichen Beihilfen zulässt, stellt sich die Frage, wie es dann mit dem Europäischen Binnenmarkt weitergeht, auf dem die so großzügig geförderten deutschen Unternehmen mit denjenigen konkurrieren werden, die sehr viel weniger oder überhaupt keine staatliche Unterstützung erhalten haben.

Das reiche Deutschland versucht seine Haushalte und Firmen vor den steigenden Energiepreisen zu schützen, offensichtlich ohne sich darum zu scheren, dass staatliche Beihilfen in solch riesigem Umfang gegen die Wettbewerbsbedingungen im gemeinsamen Markt der EU verstoßen. Wie ist das möglich?

Ganz einfach. Ebenso diskret wie wirksam macht Deutschland seinen gewaltigen Einfluss in Brüssel geltend, um sich die eigene Vorgehensweise als „europäisch“ absegnen zu lassen. Derweil geben sich die deutsche Politik und die deutschen Medien nach Außen überrascht und ahnungslos. Kritik wird generell als „Neid“ abgetan und wenn sie aus Warschau kommt, ist das, wieder einmal, nur „nationalistische antideutsche Propaganda“.

Die Berliner Parole des Tages lautet: „Rette sich wer kann“. Solidarität als europäische Tugend ist dieses Mal nicht gefragt. In der Stunde der Not ist das deutsche Hemd viel näher als die üblicherweise so gern zur Schau getragene europäische Tracht. Ein gemeinsames Europa? Gerne, aber bitte nur à la carte.

RdP




Das Wichtigste aus Polen 10. Juli bis 2. Oktober 2022

Aleksandra Rybińska und Janusz Tycner diskutieren die wichtigsten Ereignisse der letzten Zeit in Polen ♦  Polens Unabhängigkeit von Russland macht Fortschritte. Der Durchstich durch die Frische Nehrung und die Baltic Pipe, die Polen mit den norwegischen Erdgasfeldern verbindet, haben ihren Betrieb aufgenommen  ♦ Erdöl, Erdgas, Kohle, Atom. Wie ist die Energieversorgungssituation Polens vor dem Winter? ♦ Wie geht es weiter im Streit zwischen der EU-Kommission und Polen?