Die Polen und ihre Schulden

Zahlungsmoral gut, nur die Unterhaltszahlungen leiden.

Wer etwas über die Zahlungsmoral im Lande erfahren möchte, der muss sich an das Büro für Kreditauskünfte (Biuro Informacji Kredytowej – BIK) wenden. Die Wochenzeitung „Gość Niedzielny“ („Sonntagsgast“) hat das getan und veröffentlichte in ihrer Ausgabe vom 13. Dezember 2015 ein Interview mit dem stellvertretenden BIK-Direktor Sławomir Grzelczak (phonetisch Gscheltschak), der ein interessantes Bild vom Zahlungsverhalten an der Weichsel zeichnet.

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Sławomir Grzelczak

Das BIK ist im polnischen Bankengesetz von 1997 verankert. Den Banken wurde darin erlaubt eine feste Einrichtung zu gründen, die ohne Einwilligung der Betroffenen, Daten sammeln darf. Einmal im Monat unterrichten alle 43 Geschäftsbanken, die 540 Genossenschaftsbanken sowie alle 1.704 Genossenschaftlichen Spar- und Kreditkassen Polens das BIK darüber, wie und ob ihre Privat- und Geschäftskunden ihre Darlehen und Kreditkarten-Schulden bezahlen. Beim BIK sind 23 Mio. Polen erfasst.

Zugriff auf die Daten haben, neben den Banken sowie den Spar- und Kreditkassen, auch Staatsanwaltschaften, Gerichtsvollzieher, Gerichte sowie die Polizeibehörden. Privatpersonen können einen Bericht über die eigenen Daten und die Einschätzung der eigenen Kreditwürdigkeit beantragen. Den gröβten Einfluss auf die Bewertung hat dabei, weder die Gröβe des Vermögens noch die Anzahl der Kredite, sondern die Pünktlichkeit der Ratenzahlungen.

Nachfolgend dokumentieren wir das Gespräch in seinen wesentlichen Auszügen.

Nehmen die Polen viele Kredite auf?

Vor allem nehmen Sie viele Verbraucherkredite auf, dabei handelt es sich überwiegend um Kleinkredite ohne Sicherheiten. Die Erklärung dafür sind die oftmals niedrigen Löhne in Polen. Anschaffungen, wie ein neuer Fernseher, eine Waschmaschine, einfache Möbel, oft sogar nur ein Staubsauger, sind aus dem laufenden Einkommen nicht bezahlbar.

Ebenso sei erwähnt, dass viele Familien nur dadurch überleben, dass sie jeweils, so um den 20. eines Monats herum, wenn das Geld aufgebraucht ist, einen Sofortkredit bei einer der Schattenbanken aufnehmen, um die Tage bis zum Monatsende irgendwie überbrücken zu können: wir sprechen hier von Ausleihungen in Höhe von 100 bis 300 Zloty (ca. 23 bis 70 Euro – Anm. RdP.). Am 1. des Monats erfolgt die Rückzahlung und am 20. kommen dieselben Menschen wieder, um sich ihr „Überbrückungsgeld“ erneut auszuleihen. Diese Kredite erfassen wir nicht, aber es sind Monat für Monat hunderttausende von Menschen, die sie in Anspruch nehmen.

Oder sie überziehen ihre Kreditkarten.

Das sind dann schon die etwas Vermögenderen. Diejenigen, von denen wir gerade gesprochen haben, besitzen keine Karten und auch kein Konto. Dazu zählen in Polen immerhin noch 23% der erwachsenen Bevölkerung, etwa 6,3 Mio. Menschen. Als Grund dafür geben 22% Geldmangel an, 16,7% fehlende regelmäβige Einkünfte, 54% sagen, sie brauchen kein Konto, der Rest hat kein Vertrauen zu den Banken.

Ein Pole führt im Durchschnitt 0,93 Konten. Der EU-Durchschnitt liegt bei 1,26 Konten pro Einwohner und beim EU-Rekordhalter Malta sind es 3,98 Konten pro Person.

Kurzum, die Zahl der Menschen, die ihr Leben völlig auβerhalb der Bankenwelt fristet ist beachtlich, aber die Tendenz ist fallend.

Wie viele Polen haben Kredite bei Banken?

Am 1. Dezember 2015 waren es genau 15,114 Mio.

Und wie viele bedienen Ihre Kredite nicht pünktlich?

Etwa 9% der Kreditnehmer sind mehr als 60 Tage im Rückstand.

Wie hoch ist landesweit die Summe der nicht beglichenen Forderungen?

Wir verfassen jedes Jahr einen genauen Bericht darüber. Im Jahr 2014 betrug die Summe aller in diesem Berichtsjahr überfälligen Verbindlichkeiten 41 Mio. Zloty (knapp 10 Mio. Euro – Anm. RdP). Hierzu zählen Bankkredite, Gas- und Stromrechnungen, Mieten und Unterhaltszahlungen ab einer Höhe von 200 Zloty (ca. 48 Euro), die länger als 60 Tage nicht bedient wurden.

Die Gesamtsumme per 1. Dezember 2015 betrug 40,4 Mio. Zloty, es ist also ein kleiner Rückgang zu verzeichnen. Die Arbeitslosenzahl ist rückläufig und die Geldinstitute sind, aufgrund der strengeren Vorgaben der Bankenaufsicht, bei der Gewährung von Verbraucher- und Hypothekenkrediten zurückhaltender geworden.

Wie sieht es mit der polnischen Zahlungsmoral im Vergleich zu anderen Ländern aus?

Nicht schlecht, sie ist vergleichbar mit der deutschen, die zu den besten in Europa zählt. Polen hat im Durchschnitt jeweils nur 1% mehr säumige Zahler bei Hypotheken- und Verbraucherkrediten als Deutschland.

Wie ist die Zahlungsmoral im Einzelnen innerhalb des Landes?

Da sind die Unterschiede sehr groβ. Im Nordwesten Polens ist die Situation deutlich schlechter als im Osten und im Südosten.
In den Woiwodschaften Westpommern (mit Szczecin/Stettin – Anm. RdP), Lebus (mit Gorzów Wielkopolski/Landsberg a. d. Warthe), Kujawien-Pommern (mit Bydgoszcz/Bromberg und Toruń/Thorn), Niederschlesien (mit Wrocław/Breslau) begleichen auf 1.000 Einwohner gerechnet bis zu 84 Personen ihre Kreditverpflichtungen nicht oder nur sehr schleppend.

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Die polnische Schuldenkarte. Säumige Zahler pro 1.000 Einwohner. Osten solide, Westen morbide.

In den Woiwodschaften Vorkarpatenland (mit Rzeszów), Podlachien (mit Białystok) und Lublin sind es nicht mehr als 45 säumige Zahler pro 1.000 Einwohner. Dort werden auch deutlich weniger Kredite beantragt und vergeben. Zum Vergleich: während in der Woiwodschaft Lublin nur 390 Personen pro 1.000 Einwohner Kredite aufgenommen haben, sind es in der Woiwodschaft Lebus 530 Personen.

Nun gelten die südöstlichen Regionen des Landes als Hochburgen der Nationalkonservativen, während der Nordwesten deutlich zur Bürgerplattform und zu den Postkommunisten tendiert, obwohl auch dort bei den letzten Parlamentswahlen am 25. Oktober 2015 Recht und Gerechtigkeit, zwar mit einem deutlich kleineren Vorsprung als im Osten, aber dennoch, gesiegt hat.

Wesentlich ausschlaggebender als die politischen Zusammenhänge ist meiner Meinung nach, wie tief die Bevölkerung in ihrer Umgebung verwurzelt ist. Die Nordwestgebiete haben ihre Besonderheiten, weil sie erst nach 1945 von uns besiedelt wurden. Daraus ergeben sich konkrete Folgen.

Ähnliche Beobachtungen machen unsere tschechischen Kollegen. Die Zahlungsmoral im ehemaligen Sudetenland, das auch nach 1945 neu besiedelt wurde, ist die niedrigste im ganzen Land.

Bei uns ist das ähnlich. Polen ist quergeteilt, wenn es um die Zahlungsmoral geht. Ich habe das bereits im Einzelnen geschildert.

Ein groβes Problem in Polen sind säumige Unterhaltszahler. (Sogar der in allen Medien als Volkstribun gegen die neue Regierung auftretende Organisator des Komitees zur Verteidigung der Demokratie, Mateusz Kijowski schuldet seiner ersten Frau und ihren gemeinsamen drei Kindern um die 100.000 Zloty – ca. 24.000 Euro – Anm. RdP).

Wir haben in Polen etwa 1 Mio. Kinder, für die ein Elternteil unterhaltspflichtig ist. Für 324.000 von ihnen stammen die Unterhaltszahlungen jedoch, statt von der Mutter oder dem Vater, aus dem Staatlichen Unterhaltsfond. Die Zahlung aus diesem Fonds erfolgt allerdings nur dann, wenn das Durchschnittseinkommen in der Familie unter 725 Zloty (ca. 175 Euro – Anm. RdP) liegt. Sobald diese Grenze überschritten wird, muss sich der alleinerziehende Elternteil selbst helfen.

Die Gemeinden, die diese Leistungen auszahlen sind angehalten, die säumigen Unterhaltszahler bei unserem Schuldnerregister zu melden. Personen, die von uns erfasst werden, bekommen in der Regel keinen Kredit mehr, bekommen keinen Handy-Vertrag, werden keinen Vertrag mit einem Kabel-TV-Anbieter abschließen können. Das gilt für Einzelpersonen genauso wie für Firmen.

Eines der vier offiziellen Schuldnerverzeichnisse in Polen heiβt BIG InfoMonitor und ist auf säumige Unterhaltszahler spezialisiert. In seinem Register sind 202.000 Personen eingetragen, die mit regelmäßigen Unterhaltszahlungen in Höhe von 6,2 Mrd. Zloty (ca. 1,5 Mrd. Euro – Anm. RdP) in Rückstand sind. Das ist eine riesige Summe.

Wie hoch ist der Anteil derjenigen, die regelmäβig Unterhalt zahlen?

Leider sind es nur gerade Mal um die 17%. Die Mehrheit verweigert sich dieser Pflicht. Dies ist ein Missstand, der uns alle berührt.

Was kann man dagegen unternehmen?

An dieser Stelle sind vor allem die Kommunen und die Arbeitgeber gefragt. Die Kommunen sind berechtigt säumigen Unterhaltszahlern sogar den Führerschein abzunehmen. Sie sollten sie ebenfalls beim Schuldenregister melden. Oft tun sie es aber nicht. Etwa 600 von den 2.500 Gemeinden in Polen übermitteln die Namen nicht an BIG InfoMonitor, obwohl sie von Rechts wegen dazu verpflichtet sind.

Sie bringen unterschiedliche Erklärungen für ihr Verhalten vor. Wenn wir aber das Problem nicht endlich anpacken, dann wird die Zahl der säumigen Zahler weiterhin steigen, und die Kosten dafür werden wir alle tragen.
Die Nachsicht, die der Verweigerung von Unterhaltszahlungen entgegen gebracht wird, ist leider sehr verbreitet. Diese Nachsicht üben viele Arbeitgeber, indem sie diese Leute schwarz bei sich beschäftigen, ihnen einen Teil oder das gesamte Gehalt „unter der Hand“ auszahlen, damit der Unterhalt nicht eingezogen werden kann. Das ist ein strafbares und asoziales Verhalten. (…)
RdP




Zwei Leben für den Glauben

Polnische Märtyrer selig gesprochen.

Es dauerte drei Tage bis die Nachricht von ihrer Ermordung aus der tiefsten peruanischen Provinz nach Europa durchdrang. Pater Jarosław Wysoczański erfuhr davon am 12. August 1991 in Kraków aus dem Fernsehen. Drei polnische Franziskaner waren auf Mission in Pariacoto. Nach drei Jahren sollten sie nacheinander den Heimaturlaub antreten. Pater Jarosław fuhr als erster. Die Hochzeit seiner jüngsten Schwester stand bevor. Sie hatte ihn gebeten, die Trauung vorzunehmen und rettete ihm damit das Leben.

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Pater Jarosław Wysoczański koordiniert seit seinem schweren Autounfall in Uganda, in Rom weltweit die Missionsarbeit der Franziskaner, und legt Zeugnis ab von der Arbeit seiner beiden Mitbrüder in Pariacoto.

Am folgenden Tag landete Johannes Paul II. auf dem Flughafen von Kraków zu seinem vierten Polen-Besuch. Eine seiner ersten Stationen war die Franziskanerkirche und das angrenzende Franziskanerkloster. Er wollte dort am Grab von Aniela Salwa beten, die er kurz zuvor, während einer Messe auf dem Krakauer Hauptmarkt, selig gesprochen hatte. Pater Jarosław durfte am Grab der soeben Seliggesprochenen Fotos der beiden ermordeten Mitmissionare anbringen, deren Eltern ebenfalls anwesend waren. Als sich der Papst von den Knien erhob, stellte ihm sein Sekretär, Bischof Dziwsz Pater Jarosław vor.

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Kraków, 13. August 1991. Johannes Paul II. betet am Grab von Aniela Salwa, an dem Pater Jarosław Wysoczański Fotos der in Pariacoto ermordeten Missionare angebracht hat.

„Johannes Paul selbst war bis zu diesem Zeitpunkt zweimal in Peru gewesen. Im Februar 1985, in Ayacucho, der Wiege des marxistischen Terrorismus, rief er während seiner Predigt, sichtlich erschüttert vom Ausmaβ der dort geschehenen Morde, mit bebender Stimme die Peruaner auf endlich Frieden zu schlieβen. Er kannte die Lage. Am Ende unseres kurzen, im Flüsterton geführten Gesprächs, sagte er zu mir: »Bleib tapfer. Wir haben zwei neue Märtyrer für den Glauben.« Er umarmte mich, segnete die verzweifelten Eltern und ging, umgeben von einem Pulk von Offiziellen und Begleitern.“, erinnert sich Pater Jarosław.

Zwei Geschichten werden eins

Im Jahr 1970 gründete Abimael Guzmán, Philosophieprofessor an der Universität in Ayacucho, eine radikale marxistische Organisation. Es sei an der Zeit, so Guzmán, dass das arme peruanische Volk die Macht übernehme und eine Kulturrevolution nach chinesischem Vorbild das Land erfasse. Mitte der 70er Jahre ging Guzmán in den Untergrund und wurde Anführer der Guerilla-Bewegung „Leuchtender Pfad“ (Sendero Luminoso). In der zweiten Hälfte der 80er und Anfang der 90er kontrollierte sie große Teile des Landes und hinterlieβ eine blutige Spur. Exzesse, wie das Massaker von Lucanamarca, bei dem die Kommunisten im April 1983 insgesamt 69 Bauern mit Macheten ermordeten, darunter 20 Kinder, waren keine Ausnahme. Etwa 70.000 Menschen haben ihr Leben verloren bis Guzmán im September 1992 gefasst und zu lebenslänglicher Haft verurteilt werden konnte.

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Terroristenführer Abimael Guzmán als Angeklagter vor Gericht in Lima im September 1992.

Die zweite Geschichte begann ebenfalls 1970, im Mai, in Pariacoto, einer Dreitausendseelen-Siedlung, gelegen in einem von den Anden umgebenen Talkessel. Ein gewaltiges Erdbeben verwüstete damals diese Gegend, knapp 70.000 Menschen kamen ums Leben. Monate vergingen bis Rettungsmannschaften in die letzten Winkel des Erdbebengebietes vorgedrungen waren.

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Opfer des kommmunistsichen Massakers von Lucanamarca vom April 1983 werden zu Grabe getragen.

Auch das ärmliche Pariacoto wurde schwer verwüstet. Peruanische Bischöfe schickten einige Nonnen, mit deren Hilfe die Siedlung nach und nach notdürftig wieder hergerichtet wurde. Die Seelsorgerinnen betreuten, und so ist es auch heute, weitere siebzig kleine, in den bis zu 5.000 m hohen Bergen verstreute Dörfer. Der Ritt in die entferntesten von ihnen dauerte zwei Tage. Es gab weder Wasser, noch Strom. Ein Wanderarzt kam alle drei bis vier Wochen auf dem Esel vorbei um nach seinen Patienten zu sehen.

Die zweite Heimat

Im Jahr 1988 kamen die drei polnischen Missionare: Jarosław Wysoczański (27 Jahre alt), Zbigniew Strzałkowski (phonetisch Stschalkowski) (30 Jahre), Michał Tomaszek (31 Jahre alt).

Als erstes kümmerten sie sich um die Wasserversorgung, holten Ingenieure in die Siedlung, die wussten wie man Wasser findet und es für die Versorgung speichert. In den Anden entspringt das Nass in den puquio, kleinen unterirdischen Quellen, die durch die ständig auftretenden kleineren Beben ihre Lage verändern. Deswegen war es so wichtig, dass sich alle Einwohner in das Vorhaben einbringen. „Es war erhebend zu sehen, wie eine Frau, die früher stundenlang das Wasser in Eimern kilometerweit herbeigeschleppt hatte, jetzt den Wasserhahn vor ihrem Haus aufdrehte um ihre Blumen zu gieβen. Die Wüste wurde zur Oase“, berichtet Pater Jarosław.

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Es galt auch die Seelsorge von Pariacoto aus in siebzig kleine Bergdörfer hoch in den Anden zu bringen.

Sie waren nur mit dem gekommen, womit sie vor den Andenbewohnern standen. Im Rucksack die Bibel, die Kutte, ein Paar Habseligkeiten. Ihre Bescheidenheit war der Passierschein in die Herzen der Indios. Sie arbeiteten Hand in Hand mit ihnen beim Bau der Wasserleitung, beim Ausbau der Kirche, beim Ausbessern der Straβe, beim Aufstellen der Masten, damit die Siedlung wenigstens zwei Stunden am Tag Strom aus Aggregaten nutzen konnte. Sie schufteten im Staub und kauten, wie die Einheimischen, Kokablätter, um in der dünnen Andenluft körperlich mithalten zu können. Sie organisierten Medikamente und brachten Kranke den viele Stunden dauernden Weg ins Hospital.

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Der Ritt in die entlegendsten Andendörfer dauerte bis zu zwei Tage.

Pater Zbigniew hat mir so das Bein gerettet. Es war von Wundbrand befallen. Bewusstlos hat er mich auf dem Esel einen ganzen Tag lang bis ins Krankenhaus transportiert“, berichtete Monate nach dem Mord einer der Indios dem überlebenden Pater Jarosław.

Pater Michał klapperte alle Häuser in der Siedlung ab, um die Eltern dazu zu bewegen die Kinder zweimal in der Woche, am Nachmittag, zum Religionsunterricht in die Kirche zu schicken. Das gab es vorher nicht. Als sein Leben zu Ende ging, war die Kirche stets voller Kinder, denen er die Bibel vorlas und erklärte, denen er das Singen beigebracht hat.

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Bescheidenheit und schwere Arbeit waren ihr Passierschein in die Herzen der Indios.

Die erste Heimat

Alle Drei stammten aus Kleinstädten in Südostpolen, der einzigen Gegend des Landes, wo der Zweite Weltkrieg zwar gewütet hatte, die sozialen Strukturen davon aber weitgehend unberührt geblieben waren. Ostpolen, seit 1945 zum Gebiet der damaligen Sowjetunion gehörend, das völlig zerstörte und entvölkerte Warschau, Groβpolen mit Poznań, die ehemaligen deutschen Ostgebiete, überall hatten Deutsche und Sowjets Hunderttausende von Polen ermordet, um- und ausgesiedelt.

Die südöstliche Ecke des nach 1945 auf der Europakarte völlig neu geformten Landes blieb jedoch so, wie sie vom Ursprung her war: kleinbäuerlich, tiefgläubig, nationalbewusst. Sogar die Kommunisten bissen sich daran letztendlich die Zähne aus. Die Kollektivierung der Landwirtschaft scheiterte. Trotz Verfolgung und Behinderung des Glaubens war junger Nachwuchs an Nonnen, Mönchen und Priestern, gerade in dieser Gegend, immer besonders zahlreich.

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Die späteren Missionare Michał Tomaszek (links) und Zbigniew Strzałkowski am Anfang ihre Noviziats bei den Franzisaknern in Kraków 1980.

Die drei jungen Männer lernten sich 1980 während des Noviziats bei den Franziskanern in Kraków kennen. Polen befand sich zu dieser Zeit in Aufruhr. In den letzten Augusttagen endeten die groβen Streiks an der Küste und in Oberschlesien. Solidarność, die erste freie Gewerkschaft im kommunistischen Machtbereich, entstand. Das Land streikte, debattierte, demonstrierte, kostete die Freiheit aus, die die in die Defensive gedrängten regierenden Kommunisten erst einmal nicht einzudämmen vermochten.

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Studentenpfarrer, Mystiker und Graf Joachim Badeni.

Wenn sie konnten, rannten die Drei in die Jagiellonen Universität, wo es nur so brodelte von Diskussionen, Flugblättern, Happenings. An Sonntagen galt es rechtzeitig in der Dominikanerkirche zu sein, bevor sie randvoll mit Menschen gefüllt war, die wie gebannt den Predigten des legendären Studentenpfarrers, Mystikers und Grafen Joachim Badeni oder des berühmten Priesters, Philosophen und Solidarność-Theologen Józef Tischner lauschten.

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Philosoph und Solidarność-Theologe, Pfarrer Józef Tischner.

Das am 13. Dezember 1981 ausgerufene Kriegsrecht setzte fast all dem ein Ende, nur die Kirchen blieben als Freiräume erhalten. Schauspieler, Musiker, Schriftsteller, die aus Protest massenhaft das Staatsfernsehen- und den Rundfunk boykottierten, gaben Lesungen, Konzerte und Vorstellungen unter dem Dach der Kirche. Bei den Krakauer Franziskanern, unter den atemberaubenden Glasmalereien Wyspiańskis, gerieten diese Auftritte zu Mysterien der Freiheit. Das alles formte die drei jungen Männer aus der Provinz, festigte ihre Charaktere, machte sie unempfänglich für die lateinamerikanische Befreiungstheologie, die marxistische Gewaltideen mit dem Christentum vermischte.

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In der Zeit des Kriegsrechts gerieten die Auftritte oppositioneler Künstler bei den Krakauer Franziskanern, unter den atemberaubenden Glasmalereien Wyspiańskis (hier „Gott Vater – Werde“), zu Mysterien der Freiheit.

Der Tod schleicht um Pariacoto

Im Jahr 1991 schließlich trafen beide Handlungen aufeinander. Die Terroristen wollten, dass die Welt sie wahrnimmt.
„Bis dahin wurden Kirchenleute in Ruhe gelassen“, berichtet Pater Jarosław. „Als erste haben sie die australische Herzjesu-Schwester Irene McCormac ermordet.“ Eine Terroristin richtete sie am 21. Mai 1991 in der Stadt Huashuasi mit einem Kopfschuss hin.

„Der Leuchtende Pfad wollte siebzehn Kilometer weiter, im Nachbardorf Yaután ein Schulungszentrum einrichten, um seine Ideologie zu verbreiten. Zuerst brachte die Guerilla bei einem nächtlichen Überfall die beiden Polizisten, den Anwalt und einen Fuhrunternehmer um. Wir sind dort hingefahren, um die Menschen zu trösten. Die Guerilleros haben daraufhin unsere Telefonleitung vernichtet. Dann flohen der Bürgermeister von Pariacoto, die Gemeindevorsteher und alle Polizisten aus den umliegenden Dörfern. Der Leuchtende Pfad wollte keine Vertreter der Verwaltung und keine Respektspersonen in der Gegend haben. Wir waren die letzten“, erzählt Pater Jarosław.

Mord auf dem Friedhof

Er ist überzeugt, dass die Terroristen seine Mitbrüder wegen der Propagandawirkung umgebracht haben. Johannes Paul II. sollte in wenigen Tagen seine Heimat besuchen. Der Tod zweier polnischer Missionare würde umso mehr für Aufsehen sorgen.

Als sie spätabends am 9. August 1991 in das kleine Kloster eindrangen, wollten sie auch die drei jungen peruanischen Postulanten mitnehmen. Pater Michał hat sie ihnen entrissen und in die Kapelle gebracht. Eigentlich planten die Terroristen in Pariacoto, wie sie es meistens zu tun pflegten, ein „Volkstribunal“ zu veranstalten. Doch die Einwohner wollten nicht kommen.

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Die peruanische Nonne, Schwester Berta Hernandez. Eine mutige Frau, die bis zuletzt von der Seite der Missionare nicht weichen wollte.

„Anklage“ wurde auf ihrem Pickup erhoben. Sie hätten den Menschen die Bibel nahegebracht, die Religion aber sei das „Opium fürs Volk“. Sie hätten Armen zu essen gegeben, so etwas schläfert den revolutionären Geist ein. Zeugin war die peruanische Nonne, Schwester Berta Hernandez, eine mutige Frau, die bis zuletzt von der Seite der Missionare nicht weichen wollte. Pater Zbigniew schwieg. Pater Michał sagte nur: „Wenn wir uns geirrt haben, dann sagt uns worin.“

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Das Todesurtei an den Rücken gepinnt: „So enden Lakaien des Imperialismus“.

Das Auto fuhr los, Schwester Berta blieb zurück. Auf dem Friedhof streckten zwei Kopfschüsse die Opfer nieder. Am Rücken von Pater Zbigniew heftete ein blutverschmierter Zettel „So enden Lakaien des Imperialismus“. Zwei Wochen später starb in der Ortschaft Vinzos der italienische Missionar, Pfarrer Alessandro Dordi auf dieselbe Weise.

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5. Dezember 2015. Während der Seligsprechungs-Feierlichkeiten im Fuβballstadion der westperuanischen Stadt Chimbote

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Briefmarke der Polnischen Post vom Dezember 2015, anlässlich der Seligsprechung der beiden Missionare.

Alle drei wurden knapp ein Vierteljahrhundert später, am 5. Dezember 2015, während der Feierlichkeiten im Fuβballstadion der westperuanischen Stadt Chimbote selig gesprochen.

PaterJarosław Wysoczański ging als Missionar nach Uganda. Nach einem schweren Autounfall wurde er nach Rom versetzt, von wo aus er die Missionsarbeit der Franziskaner weltweit koordiniert.

Die polnischen Franziskaner sind in Pariacoto geblieben. Heute setzt dort Pater Jacek Lisowski die Arbeit der Märtyrer fort.

© RdP




Blaue Kohle. Die Chance für Polen

Neuer Brennsoff soll Armen und dem Bergbau helfen.

Moderne, vielversprechende Technologien der Kohlevergasung und der Herstellung von leichtentflammbarem, umweltschonendem Koks eröffnen neue Perspektiven für die polnische Kohleindustrie. Entwickelt wurden sie im Institut für Chemische Kohleverarbeitung (IChPW) im oberschlesischen Zabrze. Die Zeitung „Nasz Dziennik“ („Unser Tagblatt“) sprach am 18. Dezember 2015 mit seinem Direktor, Dr. Ing. Aleksander Sobolewski.

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Dr. Ing. Aleksander Sobolewski

Beim Klimagipfel COP21 in Paris im Dezember 2015, haben Sie versichert, dass die Vergasung polnischer Steinkohle schon heute machbar sei.

Technologisch sind wir inzwischen soweit und können aus heimischer Steinkohle Synthesegas (auch Wassergas genannt), ein Gemisch aus Kohlenmonoxid und Wasserstoff, herstellen, vor allem für die chemische Industrie. Die Entscheidung jedoch liegt bei den Politikern.

Wir haben in den letzten Jahren ein groβes Forschungsprogramm umgesetzt. Am Ende stand die Inbetriebnahme und Untersuchung von Kohlevergasungsreaktoren mit einer Leistungsfähigkeit von 1 Megawatt. Unsere Pilot-Anlage verarbeitet 200 kg Kohle pro Stunde. Eine Industrieanlage dieser Art sollte in derselben Zeit 100 bis 200 Tonnen Kohle vergasen können. Der Baukosten eines Vergasungsbetriebs, der mit unserer Technologie 1 Mio. Tonnen Kohle pro Jahr verarbeiten würde, betrügen zwischen 2 und 3 Mrd. Zloty (ca. 500 bis 700 Mio. Euro – Anm. RdP).

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Forschungsanlagen des Instituts für Chemische Kohleverarbeitung (IChPW) im oberschlesischen Zabrze.

Lohnt es sich heute Steinkohle in Polen zu vergasen?

Auf der ganzen Welt arbeiten zur Zeit um die dreihundert industrielle Kohlevergasungsreaktoren, davon mehr als zweihundert in China. Europa wendet sich derweil von der Steinkohle ab, setzt auf Erdgas aus dem Osten. Die Deutschen bauen Nord Stream 2, von Russland aus, die zweite Erdgaspipeline durch die Ostsee. Dabei stellt sich die Frage, ob die wachsende Energieabhängigkeit der EU von Russland in unserem Interesse ist, und wie sich der Preis für russisches Erdgas auf lange Zeit entwickeln wird.

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Der neue Flüssiggashafen in Świnoujście/Swinemünde.

Um eine Ausweitung der Erdgas-Versorgungsquellen zu gewährleisten haben wir den Flüssiggashafen in Świnoujście (Swinemünde – Anm. RdP) gebaut. Das Gas, das wir über diesen Hafen aus Übersee einführen werden wird teurer als das russische Erdgas sein. Aus Gründen der Energiesicherheit, aber auch deswegen, weil wir einen groβen Steinkohlebergbau in Polen haben, sollten wir auf jeden Fall auch auf unsere eigene Kohlevergasung bauen.

Die aktuellen Rahmenbedingungen hierzu: der Preis der CO2-Zertifikate, die Höhe der Steuern und die einheimischen Förderkosten, machen die Kohlevergasung in Polen rentabel. Berechnungen nach der Internen-Zinsfuß-Methode (IZF) ergeben eine jährliche Rendite von 10%.

Trotz dieser Berechnungen ist die Industrie an der Kohlevergasung nicht interessiert?

Die PGE (Polnische Energiegruppe, gröβtes polnisches Energieunternehmen, zu 60% staatlich, beliefert 5 Mio. Stromabnehmer – Anm. RdP) und die Azoty-Gruppe (Groβhersteller von Stickstoffdünger, zu 60% staatlich – Anm. RdP) überlegen ernsthaft auf diese Technologie zu setzen. Die Banken jedoch erwarten, dass der Investor in seinem Geschäftsplan eine verbindliche Erdgas-Preisprognose für die nächsten zwanzig Jahre vorlegt, was natürlich unter den gegebenen Bedingungen nicht möglich ist. Ähnlich verhält es sich mit den CO2-Zertifikaten. Vor zwei Jahren haben sie 3 Euro pro Tonne gekostet, jetzt kosten sie 8 Euro. Was in zehn Jahren sein wird, vermag niemand vorherzusagen.

Eine groβe Kohlevergasungsanlage braucht etwa drei Jahre, bis sie voll einsatzfähig ist. Ob es dann noch ein rentables Vorhaben sein wird, ist schwer zu sagen.

Also ist das Risiko doch zu groβ?

Auf der anderen Waagschale liegen zwei sehr wichtige Argumente. Zum einen, würde das Synthesegas importiertes Erdgas ersetzten. Zum anderen würde es die Zukunft des heimischen Steinkohlebergbaus mit seinen heute noch mehr als dreihunderttausend Arbeitsplätzen, wenn man die Zulieferer mitrechnet, und damit auch die Zukunft groβer Teile Oberschlesiens und der Region Lublin sichern.

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Bergarbeiterprotest in der Grube „Kazimierz Juliusz“ in Sosnowiec im Dombrowaer Kohlebecken, das im Norden an Oberschlesien grenzt. September 2014.

Was spricht aus der Sicht des Umweltschutzes für die Kohlevergasung?

Die Verfeuerung von Synthesegas ist deutlich ergiebiger als die von Kohle. Unsere Forschungen und Simulationen belegen das. Der wichtigste Vorzug, der an unserem Institut ausgearbeiteten Technologie, ist die CO2-Rückführung. Das in den Vergasungsreaktor zurückgeführte CO2 dient als Rohstoff, es ersetzt teilweise Kohle sowie technischen Sauerstoff und verursacht eine wesentliche Absenkung des CO2-Ausstoβes pro 1000 m3 des erzeugten Synthesegases.

Unsere Technologie ist ein typisches Beispiel für die sogenannte chemische CO2-Abscheidung und das Gegenstück zur umstrittenen unterirdischen CO2-Lagerung. Es ist zugleich die Antwort auf die seit langem bestehende Nachfrage nach Technologien zur Nutzung von groβen CO2-Mengen. Kurzum: aus CO2, das aus den Abgasen gefiltert wird, entsteht ein Marktprodukt, und zwar Methanol.

Kohlevergasung ist nicht das einzige Angebot auf dem Feld neuer Technologien für die Verarbeitung von Steinkohle, das Sie auf der COP21 in Paris vorgestellt haben.

Kohleverfeuerung in veralteten und schlecht genutzten Anlagen verunreinigt die Luft, besonders im Süden Polens. Doch wir müssen nicht auf Kohle verzichten, wenn wir in der Lage sind die schädlichen Emissionen einzuschränken. Die traditionelle Kohle sollte durch einen neuen, ausstoβarmen Brennstoff ersetzt werden, die sogenannte blaue Kohle.

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Wintermorgen in einer südpolnischen Stadt.

In dieser Heizsaison wird unser Institut etwa zweitausend Tonnen blaue Kohle kostenlos nach Kraków, Zabrze (in Oberschlesien, zwischen 1915 und 1945 Hindenburg – Anm. RdP), Żywiec und in einen der niederschlesischen Kurorte liefern. Im Frühjahr 2016 wollen wir eine Umweltbilanz dieses Experiments ziehen. Die Nutzer sind verpflichtet regelmäβig Fragebögen auszufüllen, in denen sie angeben, ob die blaue Kohle staubt, ob sie sich leicht entflammt, welchen Geruch sie erzeugt, wie die Beschaffenheit der Asche ist usw. Ich bin sicher, der neue Brennstoff wird seine hervorragende Eignung bestätigen.

Dann wird das weitere Schicksal dieser Technologie, vor allem ihre Massenanwendung, von den politischen Entscheidungen abhängig sein. Wir hoffen auf staatliche und kommunale Förderung für die ärmsten Bevölkerungsschichten, die sich den Kauf von neuen, automatisch gesteuerten Heizkesseln nicht leisten können.

Was ist das, die blaue Kohle?

Ein neuentdeckter Koksbrennstoff. Es handelt sich dabei um Steinkohle, die fast gänzlich entgast wurde. Von Koks unterscheidet sie sich jedoch in zweierlei Hinsicht. Die blaue Kohle wird aus einfacher Brennkohle, die deutlich billiger ist als Kokskohle, hergestellt. Sie beinhaltet zudem etwa 5% flüchtige Verbindungen. Dank dieser ist sie, anders als Koks, leicht entflammbar und kann daher auch in einfachen Anlagen verfeuert werden. Anders als die normale Kohle, die gelb-orange brennt, ist die Flamme des neuen Brennmaterials blau, wie beim Gas. Daher der Name.

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Blaue Kohle ist ein umweltschonender Brennstoff für die Ärmsten, die ihre Öfen und Kessel nicht so schnell austauschen werden, und die sich Erdgas, das in Polen dreimal so teuer ist, nicht leisten können.

Wie groβ ist der Preisunterschied zwischen der normalen und der blauen Kohle?

Die erste kostet im Augenblick im Handel etwa 500 Zloty (ca. 225 Euro) pro Tonne. Eine Tonne blauer Kohle dürfte um die 1.000 Zloty (ca. 450 Euro) kosten.

Das ist das Doppelte. Für viele könnte das zu teuer sein.

Ein veredelter Brennstoff wird immer teurer sein als der Rohstoff, aus dem er gemacht wurde. Dafür erreichen wir aber eine deutliche Senkung der Emissionen, und zwar auch in den alten, von Hand befüllten Öfen und Kesseln. Es entstehen bis zu siebenmal weniger krebserzeugende, flüchtige organische Verbindungen (VOC) und polyzyklische aromatische Kohlenwasserstoffe (PAH), um bis zu 75% weniger Schwefelmonoxyd und Staub.

Blaue Kohle hat auch einen deutlich höheren Heizwert, also ist die Menge, die verbraucht wird um eine Wohnung oder ein Haus zu beheizen, deutlich geringer als bei normaler Kohle. Es ist ein Brennstoff für die Ärmsten, die ihre Öfen und Kessel nicht so schnell austauschen werden, und die sich Erdgas, das in Polen dreimal so teuer ist, nicht leisten können. Es ist zwar nicht erlaubt, dennoch verfeuern Zehntausende bei uns Müll und Kohleschlamm, weil sogar Kohle für sie unerschwinglich ist. Es wäre am besten, wenn die blaue Kohle, genauso wie bleifreies Benzin, subventioniert werden könnte.

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Arbeitslose suchen nach Kohle auf einer Abraumhalde im oberschlesischen Piekary Ślaskie. Winter 2015.

Wie lange haben sie an dem neuen Brennstoff gearbeitet?

Wir befinden uns im dritten Jahr und sind fast am Ende unserer Arbeit angelangt. Im ersten Jahr haben wir Labortests durchgeführt. Im zweiten Jahr wurde die Verfeuerung unter normalen Bedingungen durchgeführt, hierfür haben wir in Zabrze in etwa 18 Tonnen der blauen Kohle verbrannt. Jetzt erproben wir das Verfeuern in Gegenden mit besonders vielen alten Öfen und Kesseln. Unser Industriepartner ist die Firma Polchar aus Police.

Wieviel Kohle verbrauchen die polnischen Abnehmer pro Jahr, um ihre Wohnungen und Häuser zu beheizen?

Mehr als 10 Mio. Tonnen.

Lesenswert auch: „Smog, Energiearmut und was Polen dagegen tut“. 

RdP




24. Dezember 2015. Sie schreiben, wir antworten

In der Hörerpostecke gehen wir auf Ihre Zuschriften ein. Außerdem beantworten wir die Hörerfrage nach der Armut und Armutsbekämpfung in Polen.




Polens Weg in der Klimapolitik…

…sollte nicht in den Freitod führen.

Die ehrgeizige EU-Klimapolitik stellt für Polen eine geradezu existenzielle Herausforderung dar. In welcher Weise soll sich das Land ihr stellen?

Szczyt klimatyczny Naimski
Dr. Piotr Naimski

Dr. Piotr Naimski ist Biochemiker und  Hochschullehrer. In der kommunistischen Zeit gehörte er zu den Mitbegründern des Komitees zur Verteidigung der Arbeiter (KOR). Heute ist er Politiker, gehört der Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS) an und gilt als ihr prominentester Fachmann in Sachen Energiepolitik.  Naimski ist Sejm-Abgeordneter und leitet den parlamentarischen Europa-Ausschuss. RdP dokumentiert nachfolgend ein Interview des Politikers für den Sender Radio Maria vom 4. Dezember 2015.

In Paris geht in einigen Tagen der Klimagipfel zu Ende. Wem in Europa liegt am meisten daran den Ausstoβ von Treibgasen einzuschränken?

Seit einiger Zeit entsteht in Europa ein neuer Industriezweig: der Anlagenbau für die Gewinnung erneuerbarer Energien. Deren Produktion wird von einigen EU-Staaten stark gefördert und gewinnt dadurch einen erheblichen Vorteil gegenüber den traditionellen Methoden der Stromherstellung, vor allem aus Steinkohle aber auch aus Erdgas. Dieser Vorsprung wird zusätzlich durch geplante EU-Auflagen, die für alle Staaten der Gemeinschaft gelten sollen, vergröβert werden.

Um was genau geht es bei diesen Bestimmungen?

Eine von ihnen besagt, dass Strom aus erneuerbaren Energiequellen vorrangig in die Stromnetzte eingespeist werden muss. Dadurch wird Kohlestrom aus den Netzen verdrängt. Kohlekraftwerke füllen nur Versorgungslücken, falls der Wind nicht stark genug weht oder der Himmel bedeckt ist. Das ist der Kern der EU-Energiepolitik, vor allem aber Deutschlands.

Deutschland kann sich das leisten.

Ja. Die Zuschüsse werden überwiegend über die Stromrechnungen der deutschen Verbraucher finanziert. Der Anteil der Stromkosten am Familienhaushalt macht in Deutschland im Durchschnitt 4 bis 5% aus. In Polen liegen die Stromkosten aktuell bei 10% der Ausgaben, wodurch viele polnische Haushalte sich bereits jetzt an der Grenze zur Energiearmut bewegen. Daher sind polnische Verbraucher nicht in der Lage in demselben Maβe erneuerbare Energien zu bezuschussen wie ihre westlichen Nachbarn.
Deutschland hat enorme Gelder in Forschung und Produktion von Anlagen für erneuerbare Energien investiert. Das soll sich rentieren. Kohleländer, wie Polen, sollten sie zum Kohleausstieg gezwungen werden, sind ein groβer, dankbarer Markt für deutsche Hersteller.
Zudem wird die hoch subventionierte deutsche Energie aus erneuerbaren Quellen an der deutschen Energiebörse angeboten. Bei so hohen Zuschüssen kann der Preis für den aus anderen Quellen gewonnenen Strom nicht mithalten, auch wenn alles, wenigstens dem Anschein nach, gemäß marktwirtschaftlichen Prinzipien abläuft.

In Wirklichkeit jedoch, ist der Strom aus Kohle immer noch die preiswerteste Alternative. Die Entkarbonisierung, die mittlerweile der EU-Energiepolitik zugrunde liegt, begünstigt die Verbannung der Kohle aus der Wirtschaft, vor allem aus der Strom– und Wärmegewinnung.

Woher kommen diese Bestrebungen?

Da der Strom aus erneuerbaren Energiequellen, ohne hohe Zuschüsse, den Konkurrenzkampf gegen Erdgas und Kohle verlieren würde, musste die Politik einschreiten. Die Entkarbonisierung soll, so die Theorie, die CO2-Emissionen senken und somit die Klimaerwärmung aufhalten. An die Stelle von Kohle sollen erneuerbare Energien treten, und die brauchen Unterstützung. Dahinter verbergen sich gigantische Investitionen. Die Investoren wollen natürlich Gewinne sehen. Die Verbannung von Erdgas und Kohle aus der EU sowie der übrigen Welt liegen ihnen deswegen sehr am Herzen.

Hehre Ziele, mit falschen Methoden umgesetzt?

Die Natur ist nun einmal sehr launisch. Bei hoher Windstärke an der Nordsee sind die Leitungsnetze schnell überlastet. Um dies zu verhindern wird der überschüssige deutsche Strom unkontrolliert nach Polen und Tschechien geleitet. Das ist gefährlich und teuer für uns, weil wir abrupt unsere eigene Stromherstellung herunterfahren müssen. Dieses Problem kann man nur mit einem enormen finanziellen Aufwand in den Griff bekommen, aufwendige technische Einrichtungen und vertragliche Regelungen sind hierzu erforderlich. Die, praktisch im Alleingang und über Nacht beschlossene, deutsche Energiewende nach der Katastrophe von Fukushima 2011, macht den Nachbarn Deutschlands das Leben schwer.

Wird es im Ergebnis des Pariser Klimagipfels COP 21 zu einer weiteren Begrenzung der CO2-Emissionen kommen?

Auf dem COP 21-Gipfel soll eine neue internationale Klimaschutz-Vereinbarung in der Nachfolge zum Kyoto-Protokoll verabschiedet werden. Die EU ist als eine Einheit der Klimaschutz-Vereinbarung beigetreten. Deswegen tritt Polen in Paris auch in einer Doppelrolle auf: als Unterzeichner des Kyoto-Protokolls und als EU-Mitglied. Als Staat hat Polen in Sachen CO2-Reduktion, wie alle anderen, seine freiwillige Klimaschutz-Zusage eingereicht. Sie entspricht dem EU-Ziel bis 2030 die CO2-Emissionen um 40% zu senken. Dieses Ziel berücksichtigt allerdings nicht die Besonderheiten der Wirtschaft Polens, die auf dem preiswerten Steinkohle-Strom basieren.

Die Würfel sind also gefallen.

So sieht es aus, aber alles ist noch in Bewegung. Die CO2-Ziele der EU übersteigen jedenfalls bei Weitem die Möglichkeiten und Zusagen vieler Staaten der Welt. Sie bedeuten ebenfalls, dass die Konkurrenzfähigkeit der europäischen Industrie gegenüber der übrigen Welt weiterhin sinken wird. Auch das ist ein Problem, über das sich die europäischen Politiker ernsthafte Gedanken machen sollten.

Die EU-Klimaziele werden auch eine enorme Belastung für die Wirtschaft Polens sein.

Die Regierung von Frau Ewa Kopacz hat im Herbst 2014 die EU-Klimaziele blindlings akzeptiert: 40% CO2 Emissionen weniger bis 2030 und der Anteil erneuerbarer Energien an der Energieerzeugung soll von aktuell 10 auf 27% steigen.
Das war eine sehr leichtsinnige Zusage. Sie erfordert die Stilllegung des gesamten Stein- und Braunkohlebergbaus, der gesamten noch verbliebenen Stahl-, Zement- und Papierindustrie, ebenso der Schwerchemie, dazu praktisch die komplette Aufgabe der Stromerzeugung aus Kohle, die Notwendigkeit von Stromimporten usw., und das alles innerhalb von fünfzehn Jahren. Dadurch werden wir gigantische ökonomische und soziale Probleme bekommen.

Gibt es einen Ausweg?

Ohne Nachverhandlungen wird es wahrscheinlich nicht gehen. Auβerdem müssen wir bei der ganzen Problematik nicht nur die CO2-Reduktionen durch Stilllegungen ins Auge fassen, sondern auch die Absorption von CO2 durch Wälder. Das erfordert gut durchdachte, mit anderen Staaten, die in gleicher Weise betroffen sind, abgestimmte diplomatische Vorstöβe innerhalb der EU.

Deswegen wahrscheinlich die offiziell bekanntgegebene Konferenzstrategie Polens in Paris.

Polen will der neuen globalen Klima-Vereinbarung zustimmen, vorausgesetzt dreiviertel aller UNO-Mitgliedsstaaten, die insgesamt 90% aller Treibgase erzeugen, treten ihr bei.

Zurück zur EU. Will sie sich durch ihr Vorpreschen vorsätzlich selbst schädigen?

Irgendwann sind die in der EU dominierenden Politiker zu der Überzeugung gekommen, dass sich die EU an die Spitze der CO2- Reduzierer stellen muss, dann wird sie den Rest der Welt nach sich ziehen. Doch der Rest der Welt will und kann das nicht, zumindest nicht in dem Tempo.

Teilen Sie den Eindruck, dass da auch Heuchelei mit im Spiel ist?

Zu einem gewissen Teil, ja. In Europa werden die energieintensiven Industrien wegen CO2-Emissionen stillgelegt. Die Produktion, z. B. von Zement, geht nach Indien und Pakistan, von wo er in groβen Mengen wieder nach Europa importiert wird. Wir verlieren die Arbeitsplätze, die CO2-Emissionen werden lediglich verlagert.

Die EU scheint jedenfalls fest entschlossen zu sein, an ihrem Alleingang festzuhalten.

Deutschland ist in der Lage seine kostspielige Energiewende zu bezahlen. Frankreich hat viele Atomkraftwerke und dementsprechend weniger  CO2-Emissionen. Polen hingegen, befindet sich in einer ganz anderen Lage. Es besitzt z. B. kein einziges Atomkraftwerk. Wir sollten uns der EU-CO2-Politik nicht verweigern, aber unsere Energiepreise müssen unserem Entwicklungsstand entsprechen, unser durch die Transformation erheblich deindustrialisiertes Land darf keine Industriewüste werden. Der polnische Weg in der Klimapolitik muss zwischen diesen beiden Polen verlaufen.

RdP




Herr aller Agenten

Am 5. November 2015 starb Czesław Kiszczak.

Das Böse hat viele Gesichter. Manchmal erscheint es in Gestalt eines gut aussehenden, beredten und höflichen kommunistischen Polizeiministers, der sich so zuvorkommend und jovial gibt, dass sogar seine Opfer diesem Charme erliegen. Prominentestes Beispiel: Adam Michnik, einst namhafter Dissident und Bürgerrechtler.

Michnik und Kiszczak lernten sich erst im Frühjahr 1989 bei den Gesprächen am runden Tisch persönlich kennen. Bald darauf begann man sich, in kleiner Runde, am Rande der Verhandlungen, zu internen Konsultationen beim Wodkatrinken zu treffen. Vor kurzem noch Kiszczaks Häftling, prostete Michnik, im Beisein Lech Wałęsas und einiger anderer Solidarność-Gröβen, dem obersten Gefängniswärter zu: „Ich trinke, Herr General, auf eine Regierung, in der Lech Wałęsa Ministerpräsident und sie Innenminister sein werden“.

Kiszczak, Michnik, Wałesa toast
Von links: Lech Wałesa, Adam Michnik und Kiszczak stoβen an. Frühjahr 1989.

Die Verbrüderung zwischen einem wesentlichen Teil der wichtigsten „Solidarność“-Aktivisten, ihren intellektuellen Beratern und dem „flexiblen“, „marktorientierten“, sprich: wetterwendischen Teil der kommunistischen Elite, nahm ihren Anfang. Dreizehn Jahre später, 2001, bescheinigte Adam Michnik seinem einstigen Peiniger „ein Mann der Ehre“ zu sein. Denselben Satz gab er dem General nach weiteren vierzehn Jahren mit auf den Weg ins Jenseits. Adam Michniks Verständnis von „nationaler Versöhnung“ war und bleibt in Polen sehr umstritten.

Kiszczak Michnik obiad
Frühjahr 1989. Mittagspause am Runden Tisch. Die Anfänge der „nationalen Versöhnung“. Von links: Tadeusz Mazowiecki, Czesław Kiszczak, Adam Michnik (stehend) und Lech Wałęsa.

 Sowjet-Freibrief für eine Stasi-Karriere

Sein ganzes Berufsleben verbrachte Kiszczak (phonetisch: Kischtschak) in den finsteren Labyrinthen der kommunistischen politischen Polizei, vor allem bei ihrem militärischen Ableger, der Armee-Staatsicherheit. In den Anfangsjahren (1945-1956) der kommunistischen Volksrepublik Polen, als Kiszczak dort seine Karriere begann, wütete diese noch grausamer als die zivile Staatssicherheit.

Czesław Kiszczak wurde 1925 im Dorf Roczyny, knapp 60 km südwestlich von Kraków, geboren. Seinen Vater, einen Hüttenarbeiter, hatte man in den 30er Jahren wegen kommunistischer Umtriebe mehrere Male entlassen.

Kiszczak war sechzehn, als ihn die Deutschen, Anfang 1941, nach einer Razzia, zur Zwangsarbeit nach Breslau/Wrocław verschleppten. Bald darauf steckten sie ihn in ein Arbeitslager in der sogenannten Błędów-Wüste, am östlichen Rand Oberschlesiens. Auf dem gut 30 Quadratkilometer groβen, sandigen Gelände übten damals Teile des Deutschen Afrikakorps für ihren Einsatz. Ein paar Hundert Polen mussten dabei niedrige Arbeiten für die Truppe verrichten. Danach brachte man sie zum Kohleabbau in die „Preussengrube“ im oberschlesischen Mechtal/Miechowice. Von dort gelang es Kiszczak ins anliegende Generalgouvernement zu fliehen. Er tauchte in Kraków unter, geriet Mitte 1944 jedoch erneut in eine deutsche Razzia und wurde wieder zur Zwangsarbeit verpflichtet, dieses Mal auf dem Eisenbahngelände in Wien-Hütteldorf.

Kiszczak Wiedeń
Mit der Eroberung Wiens durch die Sowjets 1945 begann Kiszczaks Stasi-Karriere.

Ein Kroate vermittelte ihn dort an eine kommunistische Untergrundgruppe. Als die Sowjets am 7. April 1945 einrückten, halfen Kiszczak und seine österreichischen Genossen angeblich dabei eine kleine russische Panzerkolonne, auf Umwegen, hinter die nahe gelegenen deutschen Stellungen zu bringen. Das Vorhaben gelang. Wurde Kiszczak damals von der sowjetischen politischen Polizei NKWD angeworben? Auf dem Rückweg nahm er jedenfalls das Schreiben eines hohen russischen Offiziers mit. Es öffnete ihm nicht nur den Weg durch alle russischen Kontrollen, es war auch der Passierschein für eine lebenslange Stasi-Karriere im kommunistischen Polen. Der polnische Erich Mielke war geboren.

Als er im Mai 1945 wieder zu Hause ankam, wussten die entsprechenden Dienststellen bereits Bescheid. Kiszczak durfte sofort in die kommunistische Partei (PPR) eintreten, gelangte nach Łódź, zu einem dreimonatigen Lehrgang an der Zentralen Parteischule. Er beabsichtigte zu studieren, aber die Genossen wollten ihn in der Armee haben. Ein weiterer Lehrgang, diesmal für Polit-Offiziere, folgte. Das ihm durch die Sowjets entgegengebrachte Vertrauen, war somit, im November 1945, die beste Empfehlung für die Aufnahme in die Hauptverwaltung Information (Główny Zarząd – phonetisch: Saschond – Informacji – GZI).

Bei der GZI handelte es sich um die politische Polizei der Armee, fest in der Hand sowjetischer Berater. Es war ein Terrorinstrument, ständig auf der Suche nach „inneren Feinden“, das sich unermüdlich, einem monströsen Fleischwolf gleich, eine breite, blutige Schneise durch die Reihen der Armee bahnte.

„Die Hauptverwaltung Information, das war die Stasi hoch zwei (…). Leute, die zuerst durch die Gefängnisse der zivilen Staatssicherheit (Urząd – phonetisch: Uschond – Bezpieczeństwa – UB) gegangen waren, beteten wieder dorthin zurück zu gelangen, obwohl der berüchtigte Oberst Różański (phonetisch; Ruschanski) und seine Schergen dort wüteten, denn alles war besser als die GZI. Hier saβen die allerschlimmsten Sadisten und Mörder“, so der polnische Historiker Paweł Wieczorkiewicz.

Die GZI hatte ihre Dienststellen in allen Wehrkreiskommandos, Divisions- und Brigadestäben, Garnisonen und Militärschulen. 1952, mitten im Koreakrieg, zählte die Armee des kommunistischen Polens ca. 350.000 Mann. Für die GZI arbeiteten damals etwa 4.000 Beamte und ein Netz aus rund 24.000 Zuträgern unter den Offizieren, Soldaten und Zivilangestellten der Armee. Der Dienst verhaftete zwischen 1944 und 1956 etwa 17.000 Personen, von denen nicht ganz eintausend zu Tode gefoltert oder zum Tode verurteilt und in den Folterkellern hingerichtet wurden.

Ein Lamm unter Wölfen

Sowjetische Berater brachten ihm Ende 1945 das „A und O der Spionagebekämpfung bei“, so Kiszczak Jahrzehnte später. Er habe niemals jemanden gefoltert oder verhört, lediglich Zuträger angeworben und sie überwacht. Ja, er bekam Fragmente von Verhörprotokollen auf seinen Schreibtisch, aber wie diese zustande kamen, habe er nicht gewusst. Verhört wurde in den Kellern, um dorthin zu gelangen musste man einen Passierschein haben. Was da vor sich ging wusste er nicht. Auf diese Weise wusch Kiszczak nach dem Ende des Kommunismus in Interviews und Erinnerungen seine Hände in Unschuld. Ein Lamm unter Wölfen.

Bereits in ihren Anfängen bekam die GZI eine weitere wichtige Aufgabe zugewiesen: die Bekämpfung der Heimatarmee (Armia Krajowa – AK), der Untergrundarmee, die der Exilregierung in London unterstand und für ein demokratisches Polen nach dem Krieg kämpfte. Weiterhin ging es darum, die sich zwischen 1945 und 1947 in Auflösung befindenden polnischen Streitkräfte im Westen und die weitverzweigten Strukturen der Regierung im Exil zu unterwandern.

Dies war auch Kiszczaks erster groβer Auftrag. Im November 1946 wurde der gerade 21-Jährige nach London geschickt, in die dortige „Militärmission“ der Warschauer kommunistischen Regierung. Seine Aufgabe: die diskrete Begutachtung („Filtration“) polnischer Soldaten im Exil, die sich allen Warnungen zum Trotz, für die Rückkehr ins nun kommunistische Polen entschieden hatten.

Erst Anfang November 2016 wurden im Zentralen Militärarchiv in Warschau zufällig zwei Mappen mit etwa einhundert Seiten seiner Berichte aus Londin gefunden. Sie waren nirgenwo erfaβt und eigentlich hätten sie im Archiv des Instituts des Nationalen Gedenkens sein müssen, wo alle Akten der polnischen Stasi lagern.

Es sind genaue Schilderungen der Militäterlaufbahnen der Rückkehrer bei den polnischen Streitkräften im Exil, ihrer politischen Einstellungen, ihrer Lebenssituationen. Das alles landetet in der Warschauer GZI-Zentrale  noch bevor die Betroffenen aus England in Polen eintrafen. Kiszczak unterhielt im Londoner polnischen Exilantenmilieu ein Netz von bezahlten Zuträgern. Nicht selten veranlassten seine Berichte Durchsuchungen, Beschattungen, Verhaftungen und Folter.

Der Goldjunge

In London war Kiszczak dann auch an einem gaunerhaften Bravourstück der Warschauer Geheimdienste beteiligt. Drei hohe polnische Exil-Militärs: Gen. Stanislaw Tatar, Oberstleutnant Marian Utnik und Oberst Stanisław Nowicki wurden von der polnischen Exil-Regierung in London 1945 zu Treuhändern eines Schatzes bestimmt: 350 kg Gold und 2,5 Mio. US-Dollar. Beides sollte Kriegsveteranen zugutekommen.

Dieses zur damaligen Zeit enorme Vermögen war im Zuge einer Volksspenden-Aktion, die im Vorkriegspolen zwischen 1936 und 1939 durchgeführt worden war, sowie einer weiteren Sammlung unter den Amerika-Polen in der Kriegszeit, zum Zwecke der Aufrüstung der polnischen Streitkräfte, zusammengekommen. Das in der Vorkriegszeit gesammelte Bargeld (ca. 40 Mio. Zloty, damals ≈ 10 Mio. US-Dollar) war in Polen selbst bis zum Jahre 1939 bestimmungsgemäβ ausgegeben worden. Mutige Beamte der Polnischen Nationalbank schafften es dann im September 1939, in den Wirren des deutsch-sowjetischen Überfalls auf Polen, 350 kg Gold sowie 2.400 kg Silber aus der Volks-Sammlung , unter dramatischen Umständen, auβer Landes zu bringen.

Doch die drei Treuhänder von 1945 begingen Verrat. Geködert mit dem Versprechen im kommunistischen Polen in der Armee in hohe Ämter und Würden zu kommen, überlieβen sie den Schatz den Kommunisten. Der Militärattaché des kommunistischen Polens in London, Oberst Chojecki und seine Leute, zu denen auch Kiszczak gehörte, schmuggelten den Schatz in zwei Transporten, auf dem Luftweg, von London nach Warschau.

Die drei Verräter wurden dort zunächst mit allen Ehren begrüβt, jedoch kurz darauf verhaftet und anschließend, nach monatelangen, grausamen Untersuchungen, 1951 zu hohen Haftstrafen verurteilt. 1956 wurden sie rehabilitiert und entlassen. Der Schatz, den sie treuhänderisch verwalten sollten, hatte sich zwischenzeitlich in den dunklen Kanälen der mafiaähnlichen kommunistischen Machtstrukturen in Nichts aufgelöst.

Kiszczak Stanisław Tatar
Auf der Anklagebank 1951: Gneral Stanisław Tatar…

Kiszczak Marian Utnik
…Oberstleutnant Marian Utnik…

Kiszczak Stanisław Nowicki
…und Oberst Stanisław Nowicki.

Nach der gelungenen Operation „TUN“, so benannt nach den Anfangsbuchstaben der Namen der drei Überläufer, wurde Kiszczak im August 1947 aus London in die GZI-Zentrale abgezogen. Durch die Armee wälzte sich derweil eine Säuberungswelle nach der anderen. Offiziere der polnischen Vorkriegsarmee, Militärs die während des Krieges in der Heimatarmee oder bei den polnischen Streitkräften im Exil gekämpft hatten, Armeeangehörige mit falscher sozialer (d.h. „bürgerlicher“) Zugehörigkeit wurden ausfindig gemacht, oft denunziert, verhaftet, bestialisch gefoltert, in Schau- oder Geheimprozessen verurteilt.

Auch Kiszczak denunzierte um die eigene Haut zu retten. Denn, wer nicht anschwärzte, der legte keine „revolutionäre Wachsamkeit“ an den Tag. Einige seiner Londoner Kollegen kamen ihm im Nachhinein ziemlich verdächtig vor, alle landeten daraufhin im Kerker. Das geht aus fragmentarisch erhaltenen Akten hervor.

Im Juni 1951 übernahm der 26jährige Kiszczak die GZI-Dienststelle in der 18. Infanteriedivision in Białystok und wurde somit buchstäblich Herr über Leben und Tod von gut fünftausend Offizieren und Soldaten. Ob Mannschaften oder Kommandeure, allen schlotterten die Knie, wenn der GZI-Mann sie zum Gespräch zitierte.

Kiszczak rettet Jaruzelski. Der Beginn einer innigen Freundschaft

Im Oktober 1952 wurde Kiszczak nach Warschau zurückbeordert und zum Chef der Abteilung III gemacht, zuständig für die Überwachung der gesamten GZI-Tätigkeit im Wehrkreis I (Warschau) und die Begutachtung von Offiziersanwärtern sowie Offizieren, die aus der Armee verstoβen werden sollten.

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Erfahrungsaustausch. Innenminister und Stasi-Chef Czesław Kiszczak auf Besuch beim Amtskollegen Erich Mielke (2. v. r.) in Ostberlin 1988. Rechts Erich Honecker.

Zum Überwachungsauftrag gehörte auch die Militärakademie des Generalstabes. Mitte 2000 entdeckte der polnische Historiker Wojciech Sawicki in der Gauck-Behörde Kiszczaks (dort fälschlich „Kiszak“ geschrieben) Stasiakte (Nr. 1763) und in ihr ein Schriftstück, das aufgrund eines Gespräches in Warschau entstanden sein muss. Die Quelle wird nicht erwähnt.

MfS HA II/10 ZMA 1763, s. 92:
Quelle der HA I, Bereich Aufklarung der MfNV
14.3.1986
Anlage 2 Blatt 2
Waffengeneral Czesław K i s z a k , Minister des Innern
Die Entwicklung enger Beziehungen zwischen Waffengeneral Kiszak und Armeegeneral Jaruzelski begann Anfang der 50er Jahre, als Genosse Jaruzelski als Ausbildungsoffizier an der Militärakademie des Generalstabes tätig war.
Genosse Kiszak war zu dieser Zeit als Hauptmann für die Spionageabwehr an dieser Lehreinrichtung eingesetzt. Im Jahre 1952 wurde Genosse Jaruzelski von Hauptmann Kiszak als „Inoffizieller
Mitarbeiter” gewonnen, von ihm verpflichtet und zur Erfüllung von Abwehraufgaben genutzt. Die Zusammenarbeit wurde als sehr aktiv und wertvoll eingeschätzt.
Als Ende des Jahres 1952 der ehemalige Chef der Politischen Hauptverwaltung der Polnischen Armee, General Kasimierz Witaszewski, die Forderung stellte, den Genossen Jaruzelski aufgrund seiner bürgerlichen Herkunft aus der Armee zu entlassen, beschaffte Genosse Kiszak entsprechende Beweise für eine auβerordentlich positive Grundhaltung und Einstellung des Genossen Jaruzelski zu Staat und Armee.
Im Laufe der folgenden Jahre gab es stets enge Beziehungen zwischen den Genossen Kiszak und Jaruzelski. Besonders in der Zeit seiner Tätigkeit als Chefaufklärer der Polnischen Armee, versorgte Waffengeneral Kiszak General Jaruzelski und dessen Familie mit Waren aus dem Ausland, die er als Geschenke über die im Ausland tätigen Militärattachés beschaffen ließ.
Eine besonders enge Verbindung besteht zwischen den Ehefrauen von Armeegeneral Jaruzelski und Waffengeneral Kiszak, die bedeutend dazu beitragen, dass die Beziehungen zwischen beiden Familien nicht gestört werden.“ Soweit das Stasi-Dokument.

Jaruzelski, das wissen wir aus polnischen Stasiarchiven, war bereits seit Ende März 1946 Zuträger des GZI mit dem Decknamen „Wolski“ gewesen. Das geht aus einer 2005 aufgefundenen Agentenkartei hervor. Jaruzelskis „Arbeitsakte“ als Zuträger, mit seinen Denunziationen, wurde Ende der 80er Jahre allerdings vernichtet.

Kiszczak, 1952 aufgefordert Jaruzelskis Rausschmiss zu besiegeln, hatte ihn sicherlich nicht angeworben, denn dann hätte er nichts vorzulegen, sondern seine 1946 angelegte Zuträger-Akte angefordert. Sie muss so viele überzeugende „Verdienste“ des Agenten Jaruzelski aufgewiesen haben, dass auf seine Entfernung aus der Armee, trotz „bürgerlicher Herkunft“, verzichtet wurde.

Eine Hand wäscht die andere

Zwischen 1953 und 1957 verzeichnete Kiszczaks Karriere dann einen Knick. Er landete, offensichtlich aufgrund interner Intrigen, in der Ödnis der Finanzverwaltung des Verteidigungsministeriums. Jaruzelskis dienstliches Fortkommen dagegen verlor nicht an Tempo. Er wurde im Dezember 1953 zum Oberst, im Juli 1956 zum Brigadegeneral und Chef der Verwaltung aller Akademien und Schulungseinrichtungen der polnischen Armee befördert.

Es war eine bewegte Zeit. Im März 1953 starb Stalin, im Februar 1956 rechnete Chruschtschow auf dem 20. Parteitag der KPdSU in Moskau mit dessen Verbrechen ab. Ein politisches Tauwetter erfasste, in unterschiedlichem Maβe zwar, den gesamten Ostblock, am stärksten Ungarn, wo es zu einem Volksaufstand kam, und Polen, wo es dem neuen Parteichef Gomułka jedoch gelang die damalige explosive Lage unter Kontrolle zu bringen.

So kehrten die sowjetischen Berater heim. Die blutige GZI wurde in den Armee Innendienst (WSW) umgewandelt, in dem sich zugleich die Funktionen der Feldjäger, des militärischen Abschirmdienstes und der Armee-Staatssicherheit vereinten. Diesen neuen Dienst, zwar immer noch repressiv, aber nicht mehr folternd und mordend, sollte Kiszczak mit aufbauen.

Kiszczak Jaruzelski
General Wojciech Jaruzelski (links) und sein Inneminister Czesław Kiszczak (rechts) 1987 bei einem Besuch in Südostpolen.

Jaruzelski, zwischen 1957 und 1965, Chef der Szczeciner Garnison, ab 1965 Chef des Generalstabes und ab 1968 Verteidigungsminister, protegierte Kiszczak nach Kräften. Das Vertrauen der Sowjets tat sein Übriges dazu. Der Armee-Finanzverwaltung entkommen, wurde Kiszczak Chef des WSW-Dienstes in der Kriegsmarine, dann WSW-Chef im Wehrkreis Schlesien, der ganz Südwestpolen umfasste und schlieβlich stellv. WSW-Chef in Warschau.

Derweil wurde Parteichef Gomułka im Dezember 1970, in Folge der schweren Unruhen in Polens Küstenstädten, gestürzt. Die Nachfolge trat Edward Gierek an. Kiszczaks groβer Aufstieg erfolgte 1972. Verteidigungsminister Jaruzelski machte seinen Getreuen zum Chef der 2. Verwaltung des Generalstabes. Hinter dieser nichtssagenden Bezeichnung verbarg sich der militärische Auslandsgeheimdienst.

Der Chefspion ist überfordert

Das war zwar viel Ehre, aber die Last des Amtes überforderte den neuen Chef. Er war ein geübter Stasi-Mann, der bis dato durch seine Spitzel zu kontrollieren hatte, ob Offiziere inkognito in der Nachbargemeinde zur Sonntagsmesse gingen oder ihre Kinder taufen ließen, wer politische Witze in der Kantine riss, wer zu viel trank oder der Spielsucht verfiel. Das alles waren „Risikofaktoren“ der damaligen Zeit.

Jetzt hofften Jaruzelski und die Sowjets, der bis dahin eher erfolglose polnische militärische Auslandsgeheimdienst werde unter Kiszczak endlich wertvolles Material aus westlichen Rüstungsschmieden und Verteidigungsministerien liefern. Doch es blieb alles beim Alten.

Der polnische Historiker Prof. Sławomir Cenckiewicz, der wohl beste Kenner der Materie, beschreibt in seinen Publikationen die Misere. 1973 stammten z. B. gut 90% aller im Westen von polnischen Militärattachés und ihren Handlangern beschafften Unterlagen (Karten, Pläne, technische Beschreibungen usw.) aus legalen Quellen (Zeitungen, Zeitschriften, Buchhandlungen, Bibliotheken). Erfolgreicher waren Kiszczaks Agenten lediglich in der Bespitzelung der Auslandspolen („Unternehmen Skorpion“) und ihrer „feindlichen, antikommunistischen Tätigkeiten“. Ein Feld, das sie gemeinsam, jedoch oft auch in Konkurrenz und Streit, mit den als Diplomaten getarnten Agenten der zivilen Stasi (SB) beackerten. Überläufer versetzten Kiszczaks Dienst immer wieder schwerste Tiefschläge. Es war eine Katastrophe.

Man kann sich vorstellen, wie froh der leidenschaftliche Stasi-Mann gewesen sein muss, als er, wieder dank Jaruzelski, im April 1979 auf den Stuhl des obersten WSW-Chefs wechseln durfte. Im Land braute sich derweil über dem Regime Ungutes zusammen. Karol Wojtyła war schon seit einem halben Jahr Papst. Das machte den Polen Mut. Das im Westen hochverschuldete kommunistische Land war wirtschaftlich am Ende. Die groβen Streiks im Sommer 1980 fegten Parteichef Edward Gierek hinweg. „Solidarność“, die erste freie Gewerkschaft im Ostblock entstand und sollte sechzehn Monate lang, bis Dezember 1981, das Geschehen im Lande bestimmen.

Der Polizeiminister

Verteidigungsminister Jaruzelski, die letzte Hoffnung der Sowjets und einheimischer Kommunisten den fortschreitenden Zerfall des Systems aufzuhalten, wurde im Februar 1981 ebenfalls Ministerpräsident und im Oktober 1981 außerdem noch Parteichef. Seinen treuen Kiszczak machte er im Juli 1981 zum Innenminister und, bald darauf, zum Mitglied des Politbüros, des höchsten Gremiums der kommunistischen Partei.

Eigentlich hätte die Bezeichnung Polizei- statt Innenminister viel besser zu Kiszczaks neuer Funktion gepasst. Ihm unterstanden die Staatssicherheit (25.000 Beamte und 90.000 Zuträger), die Miliz (Polizei, 80.000 Beamte) mit ihren brutalen, kasernierten Bereitschaftskräften (13.000), die Grenzschutztruppen (15.000), die Truppen der inneren Sicherheit (20.000), der Bahnschutz (3.000) usw. Auch den militärischen Sicherheitsapparat WSW (8.000), den er eigentlich verlassen hatte, hatte Kiszczak mittels ihm ergebener Mitarbeiter, fest im Griff.

Kiszczak w gabinecie
General Kiszczak auf dem Höhepunkt seiner Macht 1984.

Kiszczaks wichtigste Aufgabe war es, die Verhängung des Kriegsrechts am 13. Dezember 1981 insgeheim vorzubereiten und blitzschnell umzusetzen, und so „Solidarność“ ein Ende zu bereiten.

Das gelang. Kiszczak führte die Aufsicht, als etwa zehntausend Menschen in der Nacht vom 12. auf den 13. Dezember 1981 im gesamten Land schlagartig festgenommen wurden. Ganz Polen konnte durch massive Miliz- und Armeepräsenz, Sperren, Kontrollen, die Einführung der Polizeistunde, die Abschaltung der Telefone usw. lahmgelegt werden. Aber es gab Ausnahmen. So erschoss die Polizei am 16. Dezember in der Steinkohlegrube „Wujek“ in Katowice 9 Bergleute und verwundete 24, um einen Besetzungsstreik zu beenden.

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Von der Miliz am 16. Dezember 1981 erschossene Bergleute der Grube „Wujek“.

Weitere 39 Personen kamen bis zur formellen Aufhebung des Kriegsrechts im Juli 1983 um. Meistens wurden sie im Verlauf von Demonstrationen erschossen oder auf Polizeistationen zu Tode geprügelt. Allein bei den landesweiten Protesten und Unruhen am 31. August 1982 (2. Jahrestag der Unterzeichnung der Vereinbarungen in der Lenin-Werft in Gdańsk zwischen den streikenden Arbeitern und den kommunistischen Machthabern und somit der Entstehung der zwischenzeitlich verbotenen „Solidarność“) erschoss die Miliz im niederschlesischen Lubin/Lüben drei Menschen und verwundete knapp einhundert schwer.

Kiszczak Lubin 2
Erschossene Demonstranten in Lubin am 31. August 1982.

Kiszczak Lubin 1

Später wurden die oppositionellen Priester Jerzy Popiełuszko (Oktober 1984), Stefan Niedzielak und Stanisław Suchowolec (beide im Januar 1989), Sylwester Zych (Juli 1989) ermordet, ebenso wie der Bauernführer Piotr Bartoszcze (phonetisch: Bartoschtsche) im Februar 1984. Bis auf Popiełuszko, bei dessen Entführung und Ermordung es zu einer Panne kam und die Stasi-Täter enttarnt wurden, blieben die übrigen Mörder, die ihre Opfer massakriert und deren Leichen schlicht weggeworfen hatten, „unerkannt“.

Kiszczak Popiełuszko 1

Kiszczak Popiełuszko 2
Pfarrer Jerzy Popiełuszko: lebend und nach seiner grausamen Ermordung im Oktober 1984.

Kiszczaks Sicherheitsapparat hatte auch sonst alle Hände voll zu tun. Es galt die „Solidarność“ im Untergrund zu bekämpfen und zu unterwandern, das
riesige und sehr vielfältige illegale Verlagswesen einzudämmen, den Schmuggel von Kopierern und Druckmaschinen aus dem Ausland zu unterbinden, die weitverzweigten Strukturen der Kirche zu überwachen, die zunehmend rebellische Jugend… In einem Land, in dem zu jener Zeit kaum etwas mehr funktionierte, lief Kiszczaks Überwachungsmaschinerie auf Hochtouren, aber auch sie konnte nicht zaubern.

Der dramatische wirtschaftliche Verfall des kommunistischen Polens war nur ein Teil der ökonomischen Katastrophe des gesamten Ostblocks. Präsident Reagans erfolgreiche Bestrebungen die Sowjets „totzurüsten“ und das Chaos, in das Gorbatschows „Perestroika“ die Sowjetunion stürzte, beraubten die polnischen Genossen ihrer letzten Illusionen. Auf „brüderliche“ Hilfe, wie in Ungarn 1956 oder in der Tschechoslowakei 1968, konnte man nicht mehr hoffen. Die Flucht nach vorn war angesagt.

Ein Mann des Vertrauens. Die Opposition ist beeindruckt

Jaruzelski setzte wieder einmal seinen Kiszczak in Marsch. Er war es, der die ersten Sondierungen Anfang 1988 unternahm, um herauszufinden ob und wie man mit der Untergrund-„Solidarniość“ ins Gespräch kommen könnte. Die katholische Kirche leistete wertvolle Vermittlerdienste. Kiszczak war der „Hausherr“ der Gespräche am Runden Tisch mit der Opposition. Sie begannen am 6. Februar und endeten am 4. April 1989 mit der Unterzeichnung von Vereinbarungen, die das Ende des Kommunismus in Polen einläuten sollten: Wiederzulassung der „Solidarność“, halbfreie Wahlen im Juni 1989, legale oppositionelle Medien.

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Beratungen am runden Tisch 6. Februar bis 4. April 1989.

Kiszczak, der gewiefte, souveräne Verführer, beeindruckte seine einstigen Opfer. Manche mehr, wie Adam Michnik, manche weniger, aber fast alle betrachteten ihn schon bald als den wichtigsten Garanten der getroffenen Abmachungen auf der Gegenseite. Er zeigte sich ja auch im besten Licht, gab sich seriös und verbindlich, war entgegenkommend und höflich, wenn nötig auch gesellig und gastfreundlich.

Zugleich verfügte er über das geballte, jahrzehntelang angehäufte Wissen der Stasi. Er wusste bestens Bescheid, wer unter seinen Gesprächspartnern sich irgendwann von der Stasi als Zuträger hatte anwerben lassen. Es gab sehr viele Oppositionelle, die solche peinlichen Episoden in ihrem Leben gehabt hatten. Manche denunzierten bis zuletzt, nicht wenige verweigerten sich irgendwann und wurden dadurch selbst zu Objekten der Bespitzelung und von Repressalien. Allen voran, wie wir heute wissen, gehörte Lech Wałęsa zum Kreis dieser Leute. Kiszczak war damals der Bürge dafür, dass dieses Wissen nicht nach Auβen trat, und Kiszczak hatte sie alle in der Hand.

Dass das keine Hirngespinste waren stellte sich bereits vier Monate nach Kiszczaks Tod heraus. Mitte Februar 2016 erschien beim damaligen Präsidenten des Instituts des Nationalen Gednekens in Warschau, dass die gesamten polnischen Stasiakten verwaltet, Kiszczaks Witwe Maria. Sie brachte ein Aktenstück mit, als Kostprobe. Es betraf die IM-Tätigkeit Lech Wałesas aus der ersten Hälfte der 70er Jahre.

Frau Kiszczak behauptete einige Mappen mit solchen Akten zu Hause zu haben und bot an sie dem Institut zu verkaufen. Eine kurz darauf angeordnete Durchsuchung in Kiszczaks Haus in Warschau förderte das komplette Stasi-IM-Dossier Lech Wałęsas (Deckname „Bolek“) aus den Jahren 1970 bis etwa 1975 zutage, mit seinen Berichten über Kollegen aus der Werft, Geldquittungen usw. Kiszczak hat diese Akten „privatisiert“, sie waren seine „Lebeneversicherungspolice“.

Als Staatspräsident (1990-1995) hat Lech Wałęsa  seine Vetrauten (alles ehem. Stasi-Beamte, jetzt in den Geheimdiensten des demokratschen Polens) nach diesen Akten in allen ehem. Stasi-Archiven suchen lassen. Die fragmantarischen Funde, die sie gemacht haben, konnten sie so gut es ging vernichten. Die komplette Akte lagerte bei Kiszczak .

Kiszczak w Sejmie
Kiszczak als designierter Ministerpräsident auf der Regierungsbank im Sejm im Juli 1989. Ein Kbinett zu bilden gelang  ihm nicht.

Die halbfreien Wahlen fanden im Juni 1989 statt. Kurz darauf wurde Kommunisten-Führer und „Herr über das Kriegsrecht“ Wojciech Jaruzelski, mit Hilfe von „Solidarność“-Abgeordneten, zum Staatspräsidenten gewählt. Jaruzelski bestimmte Kiszczak zum designierten Ministerpräsidenten mit dem Auftrag ein Kabinett zusammenzustellen. Doch der Kommunismus zerbrach, die beiden jahrzehntelangen Vasallen (Blockparteien) der Kommunisten (Bauernpartei und die sog. Demokratische Partei) „fassten all ihren Mut zusammen“ und stellten sich auf die Seite der „Soilidarność“. Nach mehreren Wochen musste der bisherige Polizeiminister das Handtuch werfen. Es gab für ihn keine Mehrheit im Sejm.

Im August 1989 wurde der intellektuelle Berater der „Solidarność“-Führung Tadeusz Mazowiecki der erste nichtkommunistische Ministerpräsident Polens nach 1945. Ein Koalitionskabinett entstand, in dem die Kommunisten das Verteidigungsressort (Gen. Florian Siwicki) und das Innenministerium (Gen. Czesław Kiszczak) behielten.

Kiszczak Mazowiecki
Innenminiser Kiszczak und Ministerpräsident Tadeusz Mazowiecki im September 1989.

Eingebettet in die neu entstehende politische Wirklichkeit, nicht, wie in der DDR, gestört von den die Stasibüros stürmenden Massen, konnte Kiszczak ein Jahr lang seinen Dienst in aller Ruhe abwickeln. Lange taten Mazowiecki & Co. so, als wüssten sie von nichts, tief im Inneren froh darüber, dass der General die stinkende Last der Vergangenheit entsorgte. Monatelang wurden aus den Stasi-Behörden im ganzen Land Tonnen von Akten zur Vernichtung in Papiermühlen und Groβöfen gefahren. Auch wurde wichtiges Archivmaterial „privatisiert“. Stasi-Offiziere nahmen es auf Mikrofilme auf oder entwendeten Akten. Es waren ihre „Überlebenspolicen“. Verbindungsoffiziere des sowjetischen KGB nahmen Filmkopien vieler später vernichteter Aktenbestände mit nach Moskau.

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Der 1984 ermordete Abiturient Grzegorz Przemyk.

Anfang Juli 1990 trat Kiszczak zurück. Es war der Inhalt eines vergessenen Panzerschrankes in der Hauptkommandantur (Präsidium) der Warschauer Miliz, der den Stasi-Chef und politischen Partner sogar für Mazowiecki und seine Leute nicht mehr tragbar erscheinen ließ. Im Mai 1990 waren dort 28 Bände Untersuchungsakten im Fall der Ermordung des 19-jährigen Warschauer Abiturienten Grzegorz Przemyk (phonetisch: Pschemik) aufgespürt worden. Beim feuchtfröhlichen Feiern nach bestandenen Prüfungen, Mitte Mai 1983 in der Warschauer Altstadt festgenommen, war Przemyk in der nahegelegenen Polizeiwache mit Gummiknüppeln so schwer zusammengeschlagen worden, dass er zwei Tage später im Krankenhaus an den Folgen starb.

Die Sache kam an die Öffentlichkeit, eine Welle wütender Proteste erfasste  die Hauptstadt. Massive Fälschungen von Beweismaterial, Einschüchterungen von Zeugen, die Kiszczak beauftragt und penibel überwacht hatte, dazu eine von ihm angeordnete landesweite Propagandakampagne, hatten dazu geführt, dass die Täter seinerzeit von der „Justiz“ „freigesprochen“ wurden. Dafür waren zwei ahnungslose Sanitäter, die das Opfer im Krankenwagen ins Hospital gebracht hatten, nach einer brutalen Untersuchung, zu jeweils 2,5 Jahren Gefängnis verurteilt worden. Sie hatte man beschuldigt den Abiturienten massakriert zu haben.

Der Luxusrentner, der die Justiz abzuwimmeln wusste

Fünfundzwanzig Jahre lang lebte Kiszczak im Ruhestand, zuletzt ausgestattet mit einer Traumrente von 9.000 Zloty (ca. 2.100 Euro). Die Durchschnittsrente in Polen beträgt nach 40 Jahren Arbeit 1.600 Zloty (knapp 400 Euro). Trotz vieler Proteste, lieβ sich aus der Sicht der acht Jahre lang amtierenden Tusk-Kopacz-Regierung, „juristisch nichts daran ändern.“

Die einzige unangenehme Folge seiner langjährigen Stasi-Tätigkeit war für Kiszczak sicherlich das lästige Abwimmeln der unbedarften Versuche der Justiz, ihn zur Verantwortung zu ziehen. Dabei behilflich war ihm ein bewährtes Ärzte-Team aus dem Dunstkreis des ehem. Innenministeriums, das Kiszczak und vielen anderen kommunistischen Spitzenfunktionären, nach Bedarf, eine volle oder teilweise Prozessunfähigkeit aus gesundheitlichen Gründen bescheinigte. So z. B. attestierten ihm die Mediziner im Mai 1998 eine akute Herzinfarktgefahr, die ihm die Teilnahme am Prozess unmöglich machte. Im Dezember 1998 bestieg der rüstige General allerdings ein Flugzeug und verbrachte Weihnachten und Neujahr am Roten Meer in Ägypten.

Kiszczak z pieskiem
„Schwer krank“ und doch sehr beweglich. „Kiszczak tobt mit dem Hündchen“ heiβt es in der Schlagzeile vom Juni 2014.

Von Dezember 1991 bis Juni 2013 (22 Jahre lang) dauerten die Versuche (fünf Verfahren) den stets „schwer kranken“ Kiszczak wegen des Massakers in der Grube „Wujek“ im Dezember 1981 zur Rechenschaft zu ziehen. Nebenbei bemerkt dauerte es 28 Jahre lang (1991-2009) bis Kiszczaks Untergebene, die Milizionäre die die neun Bergleute ermordet hatten, rechtskräftig verurteilt waren. Sieben Jahre lang (2008-2015) zog sich das Verfahren ohne Ergebnis hin, in dem Kiszczak, Jaruzelski und andere angeklagt waren, das Kriegsrecht im Dezember 1981 unberechtigter Weise verhängt zu haben. Vier Jahre lang dauerte das Verfahren gegen Kiszczak wegen seiner Manipulationen zwischen 1983 und 1984 in der Untersuchung der Todesursache des Schülers Grzegorz Przemyk. Es wurde wegen Verjährung eingestellt.

Der Historiker Piotr Osęka zog nach dem Bekanntwerden von Kiszczaks Tod die Bilanz:

„Längst Rentner, gab er stets zu verstehen, dass er vielen Leuten der Opposition, die 1989 und 1990 flehend zu ihm kamen, einen Gefallen tat und ihre Stasiakten, die von ihrer Spitzeltätigkeit zeugten, vor ihren Augen einem Reiβwolf anvertraute. Das stimmt nicht. So etwas hat nie stattgefunden. Kiszczaks Sensationen waren aus den Fingern gesogen. Es waren Symptome seiner Lügensucht. Er wollte ins Wespennest stechen. Es bereitete ihm Genugtuung, dass er seine Opfer, die er einst ins Gefängnis steckte, jetzt verunsichern und gegeneinander ausspielen konnte. Als ein erfahrener Stasi-Mann war er ein Meister im Manipulieren von Menschen.“

Czesław Kiszczak starb im Alter von 90 Jahren in Warschau und wurde auf dem hauptstädtischen orthodoxen Friedhof beigesetzt.

© RdP




Deutsche Federn schreiben für den Endsieg…

… der Demokratie in Polen.

Die Polen haben gewählt, jetzt wird seit dem 25. Oktober 2015 zurückgeschossen. Inzwischen befindet sich das Land deutscherseits unter schwerstem publizistischen Trommelfeuer. Wenn deutsche Federn für den Endsieg der Demokratie in Polen schreiben, wird der freien Entscheidung der polnischen Wähler von der ersten Minute an kein Pardon gewährt. Wie weit wird die deutsche Generaloffensive gehen? Der mediale Polen-Feldzug wirft einige Fragen auf.

Sie zu beantworten bat das Internetportal „wPolityce.pl“ („inderPolitik.pl“) Prof. Zdzisław Krasnodębski. Der renommierte Soziologe und Sozialphilosoph lehrt in Polen und in Deutschland, gehört zu den intellektuellen Vordenkern der Partei Recht und Gerechtigkeit, und vertritt diese seit 2014 als Abgeordneter im Europaparlament. RdP dokumentiert das Gespräch in wesentlichen Auszügen.

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Prof. Zdzisław Krasnodębski

Woher kommt diese hohe Woge der Ablehnung, Frustration und Panik beim Beschreiben der Lage in Polen durch die deutschen Medien?

DER ERSTE GRUND ist Ignoranz. Viele deutsche Journalisten glaubten an das von ihnen selbst mitgestaltete Propagandabild von Polen als einem dynamischen Land der Erfolge, ohne gröβere Probleme, von der Bürgerplattform als einer hervorragenden Partei und von Donald Tusk als dem Vater der polnischen Nation. Es ist nicht das erste Mal, dass jemand der eigenen Propaganda zum Opfer fällt. Eigentlich darf man sich nicht wundern, dass Enttäuschung in Aggression umschlägt bei denen, die eine redliche Analyse der Situation in Polen niemals gewagt haben.

Oder bei denen, denen die „Gazeta Wyborcza“ als einzige Quelle für ihre Berichte diente.

Da gibt es noch den Fernsehsender TVN, die (vom Springer-Verlag herausgegebene – Anm. RdP) „Newsweek Polska“ und einige mehr. Die deutschen Berichterstatter jedenfalls, haben nie die wahren Methoden unter die Lupe genommen, mit denen die Bürgerplattform das Land regiert hat, die wahre Stimmung im Land, seine wahren Probleme. Deswegen ist der Durchschnittsdeutsche, der sein Wissen über Polen notgedrungen aus deutschen Medien schöpft, heute verwundert, ja geradezu schockiert, angesichts der Ergebnisse der Parlamentswahlen und der Maβnahmen, die die Wahlsieger ergreifen.

DER ZWEITE GRUND sind Vorurteile gegen Menschen und Parteien, die sich auf der rechten Seite des politischen Spektrums befinden. Im heutigen Europa darf man höchstens „Mitte-rechts“ stehen. Die Bezeichnung „die Rechte“ hat einen eindeutig negativen Klang, und die Bezeichnung „nationalkonservativ“, mit der man die Partei Recht und Gerechtigkeit in Deutschland umschreibt, dient dazu sie als eine Übeltäterin darzustellen. Die CDU oder die CSU werden niemals so bezeichnet, obwohl dieser Begriff, neutral gesehen, zu ihnen genauso gut, wenn nicht sogar noch besser passen würde.

Manchmal hat man den Eindruck, es seien Vorurteile gegen die Polen als Nation.

Im heutigen Deutschland gibt es, und das ist DER DRITTE GRUND für die Medienkampagne von der wir reden, dauerhafte und starke Vorbehalte, nicht gegen die Polen als Nation oder Ethnie, sondern gegen die traditionelle polnische politische Identität, die klassische polnische Ich-Erzählung, die polnische Gestalt des Politischen.

Sehr bezeichnend dafür war ein Artikel in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ über Jarosław Kaczyński. Dort nannte man ihn einen „Aufständischen“, einen Politiker, der in der Tradition der polnischen Nationalaufstände verwurzelt ist.

In unseren polnischen Ohren klingt eine solche Beschreibung sehr anerkennend. In deutschen Ohren klingt das nur abwertend. Für die Deutschen, genauso wie für die radikale Linke in Polen, ist die traditionelle polnische Ich-Erzählung, ist die Art wie wir uns selbst sehen, unseren Platz in der Welt wahrnehmen, überholt, nationalistisch, feindlich. Die Modernisierung sollte das endlich beseitigen. Doch, siehe da, es verschwindet nicht.

Der ganze Prozess der sogenannten polnisch-deutschen Versöhnung kränkelt und lahmt daran. Wenn sich jemand mit einem anderen versöhnen will, dann akzeptiert er seine Eigenschaften, achtet seine Identität. Diese Akzeptanz von deutscher Seite ist nicht gegeben. Dafür gibt es das Bestreben uns zu „erziehen“, aus den Polen ein anderes Volk zu machen, damit sich alle diese „Kaczyńskis“, die sich in der polnischen nationalen Tradition wiederfinden, in moderne „Tusks“ verwandeln, die das traditionelle Polnisch-Sein, wie die Deutschen, als etwas unnormales empfinden.

Ich hatte die Hoffnung, dass deutsche Journalisten und deutsche Wissenschaftler, die in verschiedenen Denkfabriken und an Universitäten polnische Angelegenheiten analysieren, in den letzten acht bis zehn Jahren etwas dazugelernt und aus ihren Analyse-Irrtümern der Jahre 2005-2007 (erste Regierungszeit von Recht und Gerechtigkeit – Anm. RdP) Lehren gezogen haben. Es war naiv von mir.

DER VIERTE GRUND sind starke eigene nationale Interessen. Sie bewirken, dass die deutschen Medien meistens nicht in der Lage sind wahrzunehmen, dass z. B. wir in Polen durchaus rational handeln.

Vor kurzem erschien in der „Welt“ ein sehr treffender Kommentar, der die Deutschen davor warnte den Fehler zu machen und automatisch deutsche Interessen, deutsche Politik mit den Interessen ganz Europas gleichzusetzten. Sehr viele von ihnen glauben tatsächlich daran, dass sie immer recht haben und dass sie immer im Namen ganz Europas sprechen. Leider ist groβen Teilen der deutschen Gesellschaft und ihren, vor allem elektronischen Medien, die Fähigkeit abhandengekommen sich mal in die Lage der anderen zu versetzen, mal auf Distanz zu sich selbst zu gehen, eigene Vorstellungen und Interessen in einem übergeordneten Zusammenhang zu sehen. (…)

In wieweit spiegelt diese auf Polen bezogene, heftige deutsche Medien-Schelte die Meinung der Politiker in Berlin wieder? Kann man diese Standpauken auch als verdeckte politische Signale deuten?

Zweifellos üben Medienberichte einen gewissen Einfluss auf die Meinungsbildung der Politiker aus. Zum Glück sind Politiker realitätsbezogener, deswegen würde ich die inzwischen rein negative Meinung der deutschen Medien zu Polen nicht mit der Meinung der deutschen Politiker gleichsetzten. Die deutschen Medien schaffen jedoch eine ungute Atmosphäre in den polnisch-deutschen Beziehungen. Umso mehr, als dort z.B. neulich zu lesen war, dass man sich im Falle Ungarns noch eine gewisse Tolerierung leisten konnte, aber im Falle unsres Landes sei das nicht denkbar.

Ich würde mir sehr wünschen, dass die Achtung für unsere polnischen Entscheidungen, für unsere Politik, eines der Fundamente der polnisch-deutschen Beziehungen darstellt. Diesen Beziehungen sollte das Prinzip zu Grunde liegen, dass die Frage wie wir unsere internen Probleme regeln wollen vor allem unsere Angelegenheit ist.

So wie wir das Geschehen in Deutschland beobachten, analysieren, uns zu vielem Gedanken machen, aber uns nicht das Recht anmaβen den Deutschen unsere Sichtweisen mit medialer Brachialgewalt geradezu aufzuzwingen, geschweige denn sich in ihre Angelegenheiten einzumischen.
Darum würde ich unsere deutschen Partner schon bitten. (…).
RdP




Ein Apfel täglich – Herrn Putin abträglich

Polen hat russisches Embargo gut weggesteckt.

Am 6. August 2014 verfügte Staatspräsident Wladimir Putin ein Einfuhrverbot für Agrarprodukte aus Ländern, die aufgrund der Krim-Besetzung gegen Russland Sanktionen verhängt hatten. Nach gut einem Jahr steht nun fest: der Agrar-Groβhersteller Polen hat das russische Embargo bislang gut weggesteckt. Russland wollte Polen und anderen EU-Staaten Schaden zufügen, hat aber vor allem sich selbst getroffen.

Das sind die Kernaussagen eines Berichtes, den der russische Volkswirt Jewgenij Gontmacher, stellv. Direktor des renommierten Instituts für Weltwirtschaft und Internationale Beziehungen der Russischen Akademie der Wissenschaften und der polnische Politologe Ernest Wyciszkiewicz vom Polnisch-Russischen Dialogzentrum in Warschau Anfang November 2015 gemeinsam veröffentlicht haben.

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Spätsommer 2014. Russische Berhörden vernichten „Schmuggelobst“ aus Polen in der Nähe von Kaliningrad.

Moskaus Hoffnungen und Erwartungen bei der Verhängung der Gegensanktionen waren hochgesteckt und klar umrissen. Begleitet wurde diese Maβnahme von Vernichtungsaktionen, bei denen Planierraupen und Bagger vor laufenden Kameras Lebensmittel aus EU-Staaten in Matsch verwandelten. Der Wegfall des russischen Marktes für europäische Agrarprodukte sollte:

1. den EU-Agrarproduzenten Milliardenverluste zufügen;

2. Zehntausende von Arbeitsplätzen in der EU gefährden;

3. heftige Proteste hervorrufen, die die innenpolitische Festigkeit der einzelnen EU-Staaten nachhaltig untergraben und ihre Regierungen zwingen sollten, notgedrungen, einen russlandfreundlichen Kurs in der Auβenpolitik einzuschlagen;

4. Unfrieden zwischen den EU-Staaten säen;

5. die bis dahin eher schwach entwickelte russische Agrarproduktion ankurbeln.

Russland schadet sich selbst

Die Autoren widmen sich zuerst Russland. Dort haben sich zwischen Mai 2014 und Mai 2015 die Nahrungsmittel im Durchschnitt um 23% verteuert. So ist der Preis für Schweinefleisch um 23% gestiegen, der für Käse um 20%, für tiefgefrorenen Fisch um 38%, bei Mohrrüben beträgt die Preissteigerung 39%, bei Äpfeln 37% und bei Getreide 49%. Auch die Preise von Nahrungsmitteln, für die kein Einfuhrverbot bestand stiegen in ähnlichem Ausmaß: Zucker um 52%, Sonnenblumenöl um 23%, Nudeln um 21%.

Drei Umstände führten zu dieser Situation: die EU-Sanktionen, die daraufhin verhängten russischen Einfuhrverbote und der Verfall des Rubel.

Derweil kommt die ausgeweitete russische Agrarproduktion nur schwer in Gang. Eine industriemäβige Fischzucht und Tierhaltung erfordern enorme Investitionen. Putin jedoch hat das Embargo zunächst für ein Jahr verhängt, dann um ein weiteres Jahr verlängert. Diese Zeiträume sind zu kurz, um gewaltige Ausgaben zu wagen. Umso mehr als Bruteier, Kälber, Futtermittelzusatzstoffe für Milchvieh und Fischbrut, Kartoffelsetzlinge, Zuckerrüben und Mais für eine Massenproduktion in Russland teuer im Westen gekauft werden müssten.

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Die ausgeweitete russische Agrarproduktion kommt nur schwer in Gang.

Zudem sind den russischen Verbrauchern unverändert importierte Nahrungsmittel lieber als einheimische, und sie werden in ihrer Haltung noch bestätigt. Der hohe Preisanstieg hat die Nachfrage gedrosselt. Um Käufer zu locken, drücken russische Hersteller massiv die Kosten. Schlechte Qualität ist die Folge. Laut offiziellen russischen Angaben entsprechen 23% der heimischen Milchprodukte, darunter 78% des Käses, nicht den Normen.

Polen weiβ sich zu helfen

Dem ersten Anschein nach versetzte Russland mit seinen Embargomaβnahmen Polen einen schmerzlichen Schlag. Der Verlust eines groβen Absatzmarktes, der zudem fast vor der Haustür lag, sollte enorme Einbuβen nach sich ziehen, polnische Getreidebauern, Viehhalter, Obstproduzenten und die gesamte Lebensmittelbranche auf die Barrikaden treiben. Bevorstehende Kommunalwahlen (November 2014), Präsidentschafts- und Parlamentswahlen (im Mai bzw. Oktober 2015) schienen die Verantwortlichen in Warschau besonders erpressbar zu machen. Doch der Kreml hatte sich verhoben.

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Polnische Lebensmittel bei Tesco in Groβbritannien.

Die gesamten polnischen Exporte des Jahres 2014 beliefen sich auf 165 Mrd. Euro. Davon entfielen 26,3% auf Deutschland, 6,4% jeweils auf Tschechien und Groβbritannien, 5,6% auf Frankreich, 4,5% auf Italien, 4,2% auf Russland und 4,1% auf die Niederlande. Demnach verkaufte Polen 2014 deutlich mehr Waren und Dienstleistungen nach Tschechien (für knapp 11 Mrd. Euro) als nach Russland (für 7 Mrd. Euro), das immerhin vierzehnmal mehr Einwohner zählt.

Für 2015 wird ein Rückgang des Russland-Anteils am polnischen Export von 4,1 auf 2,8% vorhergesagt. Die Ausfuhr polnischer Äpfel, Birnen und anderer Obstsorten, polnischen Gemüses, von Haselnüssen (2013 kaufte Russland immerhin 90 Tonnen), Schweinefleisch und Käse ist 2015 bei null angelangt.

Anfänglich hat das russische Embargo sehr vielen polnischen Agrarproduzenten das Leben schwer gemacht. Lkw-Transporte mussten umkehren, Lagerhallen quollen über, die oft schnell verderbliche Ware musste zu Schleuderpreisen abgestoβen werden.

Schon im August 2014 gab die EU-Kommission bekannt, es werde EU-weit Kompensationszahlungen für Embargo-Geschädigte geben.

Nach anfänglicher Orientierungslosigkeit, einer Unlust zu handeln und der Unterschätzung der Embargo-Verluste durch die Verantwortlichen in Warschau, gelang es schlussendlich doch noch das EU-Hilfsprogramm in Anspruch zu nehmen.

Polnische Obst-und Gemüsebauern bekamen bis Juni 2015 insgesamt 155 Mio. Euro Entschädigung. Die zweite Tranche von 200 Mio. Euro soll bis Ende Juni 2016 ausgezahlt werden.

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Polnischer Stand bei der Agrar-Messe in Schanghai 2014.

Zuvor, bereits im Frühherbst 2014. hatte es eine massive Werbekampagne gegeben: „Iss polnische Äpfel, Putin zum Trotz“, die in kurzer Zeit eine Verdopplung der Binnennachfrage nach polnischem Obst mit sich gebracht hatte. Gleichzeitig startete das Landwirtschaftsministerium in Warschau eine emsige Suche nach Ersatzmärkten in Südostasien, im Nahen Osten und Nordafrika. Sie wurde von Erfolg gekrönt.

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Polnische Präsentation bei der Agrarmesse in Abu Dhabi 2015.

Die Zahlen belegen es. Der polnische Agrarexport wuchs 2014 um 7,1%, für 2015 wird ein Zuwachs von 6,5% vorhergesagt. Russlands Embargo hat anfänglich wehgetan, aber es hat auch Anpassungsmaβnahmen erzwungen, die den polnischen Agrarexport schon ein Jahr später gegen russische Sanktionen praktisch immun gemacht haben.

© RdP




Hochmut kommt vor dem Erfolg

Am 25. Oktober 2015 starb Wojciech Fangor.

Seine schier grenzenlose Fantasie, seine Schaffenskraft, ein hohes Maß an Kunstverstand und sein unermüdlicher Arbeitseifer brachten ihm den wohlverdienten Titel eines Klassikers der polnischen zeitgenössischen Kunst ein.

Oft war er mit seinen Ideen, ob zu Environment- oder Op-Art-Werken, der internationalen Kunst voraus. 1970 bekam Wojciech Fangor, als bisher einziger polnischer Künstler, eine Einzelausstellung im Guggenheim-Museum in New York. Der umgängliche, eher menschenscheue Eigenbrötler konnte, wenn es darauf ankam, durchaus selbstbewusst auftreten: „Ich höre immer wieder, dass Fangor so gut sei, weil er eine Bilderschau bei Guggenheim hatte. Nein, ihr Lieben, er hatte sie, weil er so gut ist.“

Seine lange künstlerische Laufbahn bestand aus einer Vielzahl von radikalen Brüchen und Neuanfängen, einer unaufhörlichen Suche, aus Experimenten, aus Vertiefungen der Seh- und Empfindungserfahrung. Fangor ist Farbe, Form, Raum. Kubismus, Op-Art, Klassizismus.

Fangor SM34 y 1974 r.
Fangor-Bild „SM34“ von 1974.

„Wenn ich das Thema wechsle, wechsle ich auch die Ausdrucksmittel. Das unterscheidet die Perioden meines Schaffens. Aber meine Bilder – dünn oder dick, klein oder groß, sommersprossig oder schielend – stammen, obwohl von verschiedenen Müttern, alle von einem Vater. Alle gehören zu einer Familie und existieren in ein und derselben Zeit“.

Fangor Postaci
Fangor-Huldigung an den sozialistischen Realismus: „Gestalten“ (1950).

Fangor Matka Koreanka
„Koreanische Mutter“ (1951).

Als Wojciech Fangor 1922 in Warschau auf die Welt kam, war sein Vater gerade emsig dabei sich zum Millionär emporzuarbeiten. Der agile Drogeriehändler Konrad Fangor stieg in der Zwischenkriegszeit rechtzeitig auf Buntmetalle um und belieferte polnische Waffenhersteller mit Halbzeug aus Messing, Kupfer, Blei und Aluminium. Staatliche Aufträge für seine Kunden schützten ihn vor den Auswirkungen der Weltwirtschaftskrise, die auch Polen damals schwer in Mitleidenschaft zog.

Fangor Kucie kos 1954
„Sensen werden geschmiedet“ (1954). Wandmalerei im Warschauer Museum des Aufstandes von 1863.

So konnte Fangors Mutter Wanda, eine Berufspianistin, ihren künstlerischen Neigungen nach Lust und Laune frönen: Bilder und Antiquitäten sammeln, Gedichte schreiben, durch Europa reisend Kunst genieβen. Fünfzehnjährig stand Sohn Wojciech 1937 an ihrer Seite im Spanischen Pavillon auf der Internationalen Ausstellung in Paris vor Pablo Picassos „Guernica“.

Zeichnen und Malen war seit den frühsten Jahren seine Leidenschaft. Wojciech war zwölf, als die Mutter einen Packen seiner Arbeiten zu Tadeusz Pruszkowski, einem herausragenden Porträtmaler und Hochschullehrer sowie damaligem Rektor der Akademie der Bildenden Künste (ASP) in Warschau, brachte. Pruszkowski war angetan und nahm sich des Jungen, zusammen mit seinem Akademie-Kollegen, Felicjan Kowarski, an.

Unter ihrer Anleitung tauchte Wojciech ganz und gar in die Welt der Malerei ein. Nach dem Abitur wollte er an der ASP studieren, doch die Deutschen hatten sie nach ihrem Einmarsch im September 1939, wie alle polnischen Hochschulen, geschlossen. So blieb es während der ganzen Besatzungszeit beim Privatunterricht. Der Vater wurde zwar von einem deutschen „Treuhänder“ aus seiner Firma gejagt, konnte sich aber, dank seiner guten geschäftlichen Kontakte, dennoch über Wasser halten.

Tadeusz Pruszkowski begleitete Wojciech fast bis zur Mitte des Jahres 1942. Ende Juni 1942 geriet der Professor in Warschau in eine Razzia der Gestapo und wurde erschossen, als er zu fliehen versuchte. Pruszkowski und Kowarski praktizierten beide die klassische, akademische Malerei auf sehr hohem Niveau. Fangor bereute nie bei ihnen das Handwerk gelernt zu haben, aber er wollte Neues ausprobieren.

Erst einmal jedoch  waren die Zeiten nicht danach. Nach dem Warschauer Aufstand (1.08 – 3.10.1944), der Vertreibung der verbliebenen Bevölkerung sowie der sich anschließenden planmäβigen Zerstörung der Stadt durch die Deutschen, welcher bis Mitte Januar 1945 die Russen vom anderen Weichselufer aus zugesehen hatten, bevor sie sich endlich entschlossen das Ruinenmeer zu „befreien“, kehrte Fangor in die völlig zerstörte Hauptstadt zurück. Seine Privatausbildung wurde anerkannt, bereits 1946 erhielt er sein ASP-Hochschuldiplom und bekam eine Dozentenstelle.

Fangor Strzeż tajemnicy państwowej 1951 Fangor Pozdrawiamy kobiety

Fanfor Festiwal Młodzieży 1955
Fangor-Propagandaplakate: Schütze die Staatsgeheimnisse“ (1950), „Wir grüβen Frauen die für den Frieden und das Aufblühen des Vaterlandes arbeiten‘ (1953), „5. Weltfestspiele der Jugend und Studenten in Warschau“ (1955).

Wie im ganzen Ostblock, so beherrschte auch im kommunistischen Nachkriegspolen der sozialistische Realismus bis Mitte der 50er Jahre die Kunstlandschaft. Der Bedarf war enorm: Transparente, Banner, Plakate, Konterfeis der „Heiligen des Kommunismus“ wie Marx, Engels, Lenin, Stalin. Dekorationen zum 1. Mai, zum 22. Juli (kommunistischer Nationalfeiertag), zum Jahrestag der russischen Oktoberrevolution usw. Fangor malte Propaganda, aber mit Talent. Seine Bilder „Gestalten“ (1950), „Koreanische Mutter“ (1951) und die Wandmalerei „Sensen werden geschmiedet“ (1954) gelten heute als mit die wichtigsten Werke des sozialistischen Realismus in der polnischen Malerei. Ebenso seine Plakate aus jener Zeit, wobei seine Filmaffiche zu den „Mauern von Malaga“ des französischen Regisseurs René Clément aus dem Jahr 1952 als ein Vorbote der später berühmt gewordenen polnischen Schule der Plakatkunst angesehen wird.

Fangor Mury Malapagi 1952
Fangor-Plakat zum Film „Mauern von Malaga“ (1952).

Mit Josef Stalins Tod 1953 und dem bis zum Herbst 1956 immer schneller um sich greifenden politischen Tauwetter, brachen auch die Dämme des aufgezwungenen sozialistischen Realismus. Endlich konnte Fangor seiner Fantasie freien Lauf lassen. Abstrakte Kunst war sein Element. Der Raum als künstlerisches Material sollte von nun an seine Kunst beherrschen.

Fangor Czarna Carmen 1959
Sozialistischer Realismus adieu. Fangor-Plakat zum Film „Carmen Jones“ (1959).

Bereits 1957 zeigte er in der Zachęta-Galerie in Warschau die zusammen mit den Architekten Oskar Hansen und Stanisław Zamecznik realisierte „Räumliche Komposition“. Im folgenden Jahr stellte er, gemeinsam mit Zamecznik, das „Studium des Raums“ im Salon der Neuen Kultur in Warschau vor. Es handelte sich um das erste Environment zwischen Elbe und Wladiwostok. Environment ist eine künstlerische Arbeit, die sich mit der Beziehung zwischen dem Gegenstand und seiner Umgebung auseinandersetzt. Die Umgebung wird zu einem Teil des Kunstwerkes.

Fangor Struktury przestrzenne 1969
Fangor-Environment „Studium des Raums“.

Schnell wurde es Fangor in Polen zu eng. In dem nach außen hin so ruhigen Einzelgänger kochte geradezu der Drang die „richtige“, weite Welt der modernen Kunst nicht nur zu erleben, sondern sie mitzugestalten. Auf den Hochmut folgte der Erfolg.

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Wojciech Fangor in seinem Atelier in Warschau 1959. Auf dem Sprung in die „richtige“, weite Welt der modernen Kunst.

1961 lieβen ihn die Behörden mit einem Stipendium des Institute for Contemporary Art in der Tasche nach Washington gehen. Es war der Beginn einer 38 Jahre lang dauernden Odyssee, die erst 1999 mit Fangors Rückkehr in die Heimat enden sollte.

Mit einem Stipendium der Ford Foundation ging er anschlieβend nach Westberlin, unterrichtete danach in der Bath Academy of Art in Corsham/Wiltshire in England. Er wohnte zwischen 1966 und 1999 in den USA, wo er an den führenden Kunsthochschulen des Landes, der Farleigh Dickinson University, Madison, N.J. und der Graduate School of Design, Harvard University, Cambridge, Massachusetts kontinuierlich Vorlesungen hielt.

Fangor Buc Wheat Obrazy Telewizzjne
„Buc Wheat“ aus dem Zyklus Fernsehbilder.

Fangor widmete sich in den 60er und 70er Jahren ganz und gar dem Minimalismus und der optischen Kunst (Op-Art), die beim Betrachter überraschende, auch irritierende, Seheffekte erzeugt, die Vorstellung von Bewegung, Flimmern, Pulsieren sowie optische Täuschungen. Es war in Fangors Schaffen die Periode der Bilder und Nachbilder mit Kreisen, Wellen, Streifen und dunstigen, verschwommenen Rändern. Die 37 Arbeiten dieser Art, die er 1970 bei Guggenheim in New York zeigte, gelten bis heute als bahnbrechend für die Entwicklung der Op-Art als Kunstrichtung.

Mitte der 70er Jahre kehrte Fangor zur figurativen Malerei zurück. Er malte dreidimensionale Studien von Innenräumen, trat ein in den Dialog mit bekannten Werken der Kunstgeschichte, schuf eine Serie von „Fernseharbeiten“, die er mit einem Netz von Punkten/Pixeln bedeckte, wodurch der visuelle Effekt einer Fernsehübertragung erreicht wurde.

In seinen neuen Werken griff er oft auf frühere Arbeiten zurück. Er vergrößerte sie auf dem Bildschirm, wählte Fragmente aus, druckte davon große Schautafeln und überarbeitete sie, spielte mit ihnen, verband das Neue mit dem Alten.

Fangor machte Kunst nach Gefühl, aus dem Bauch heraus. Das Theoretisieren überlieβ er anderen. „Die Theorien ergeben sich aus den Bildern und nicht die Bilder aus den Theorien“, pflegte er zu sagen.

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Fangor-Bild „f27“ von 1970.

Seinen enormen Erfolg konnte er auch anhand der Preise, die seine Werke erreichten, messen. Dem Warschauer Auktionshaus Desa Unicum gelang es Anfang Oktober 2015 sein Bild „M58“ von 1970 für umgerechnet ca. 220.000 Euro zu verkaufen. Wenige Tage zuvor ging Fangors Bild „M64“ aus dem gleichen Jahr beim Auktionshaus Polswiss Art in Warschau für ca. 145.000 Euro über den Ladentisch. Preise aus den Jahren 2013-2014: „M15“ von 1970 – ca. 150.000 Euro, „M8” von 1969 – 120.000 Euro. Am 30. September 2015 schlieβlich, dieses Mal bei Christie’s in New York, bezahlte ein Bieter für einen Fangor gut 200.000 Euro.

Fangor metro
Fangor-Kunst in der Warschauer Metro.

Alle diese Werke gelangten in Museen und Privatsammlungen. Für die große Allgemeinheit zugänglich ist Fangors Schaffen nur in Warschau. Im Jahre 2007 übernahm er die grafische Gestaltung aller Stationen der 2. Strecke der Warschauer Untergrundbahn. Als die Stadt versuchte seine vorher von ihr akzeptierten und bezahlten Entwürfe zu „vereinfachen“, prozessierte er und gewann.

Nach der Rückkehr nach Polen kaufte und renovierte der Künstler aufwendig ein altes Mühlenhaus im Dorf Błędów (phonetisch: Buenduw), etwa 60 km südlich von Warschau.

Dort arbeitete er bis zuletzt, und dort starb er mit 93 Jahren. Wojciech Fangor wurde auf dem Warschauer Powązki (phonetisch: Powonski)-Friedhof beigesetzt.

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Archäologie des Terrors

Die Rückkehr der verstossenen Soldaten.

In keinem anderen Land des ehemaligen Ostblocks werden heute so viele Opfer kommunistischer Fememorde ausfindig gemacht, exhumiert, identifiziert und feierlich zu Grabe getragen, wie in Polen. Die umfangreichsten Arbeiten finden zurzeit auf dem Warschauer Powązki-Friedhof und auf dem Gelände des Untersuchungsgefängnisses in Białystok statt.

Müll drüber

Der 25. Mai 1948 war der letzte Tag im heroischen und ereignisreichen Leben des Rittmeisters Witold Pilecki. Gegen 21 Uhr rief man ihn aus der Zelle im Pavillon 10 des Gefängnisses in der Warschauer Rakowieckastrasse auf den Gang hinaus. Zwei Wachmänner stellten sich links und rechts neben ihn. Ein Unteroffizier hielt einen Zettel in der Hand, vor ihm stand ein Eimer mit feingemahlenen Holzspänen. Name? Vorname? Vornamen der Eltern? Geburtsdatum?

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Rittmeister Witold Pilecki vor dem Krieg.

Die beiden Wachmänner fesselten Pilecki die Arme auf dem Rücken, der Unteroffizier bückte sich zum Eimer, stopfte dem Gefangenen eine, dann eine zweite Hand voller Holzspäne in den Mund und wickelte ihm blitzschnell einen Lappen fest ums Gesicht. Fast im Laufschritt ging es dann den Gang entlang, die Treppe runter in den Keller, wieder ein langer Gang, am Ende, rechts, eine offene Stahltür und drei weitere Uniformierte. Sie stellten den Gefangenen in den Türrahmen, hinter dem eine steile Treppe nach unten ihren Anfang nahm. Einer der Männer zog die Pistole aus dem Holster und schoss Pilecki in den Hinterkopf. Die Leiche stürzte die Treppe hinab.

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Auschwitz-Häftling Witold Pilecki.

Bald darauf, mitten in der Nacht, fuhr ein klappriger Lkw durch das Gefängnistor. Unter der fest verschnürten Plane lagen Leichen, darunter auch die von Pilecki. Man entsorgte sie wie Tierkadaver, meistens in entlegenen Friedhofsecken. Wenn sich die ausgehobene Grube als zu klein erwies, wurde auf den toten Körpern so lange herumgetrampelt, bis sie hinein passten. Am Untersuchungsgefängnis in Białystok fanden Archäologen in einem 2 m langen und 1,5 m breiten Erdloch Gebeine von 31 Menschen. Friedhofsmüll wurde später auf die Todesparzellen gekippt, Sträucher und Unkraut wuchsen von alleine. Niemand sollte ihre Leichen je finden, ihr Schicksal sollte für immer vergessen werden.

So endete das Leben des Rittmeisters Witold Pilecki. Eines Soldaten, der 1920 dabei half Polen vor den Bolschewisten zu bewahren und es 1939, als Kavallerist, gegen die Deutschen verteidigte. Eines Untergrundkämpfers der polnischen Heimatarmee (Armia Krajowa), der sich im September 1940 freiwillig bei einer deutschen Razzia in Warschau festnehmen lieβ, um nach Auschwitz zu gelangen. Fast eintausend Tage verbrachte er dort als Häftling Nummer 4859, um zu erfahren, was im Lager vor sich ging. Er organisierte den Widerstand, schickte Berichte nach drauβen, bis er im August 1943 fliehen konnte.

Pilecki kämpfte im Warschauer Aufstand (1.08 – 3.10.1944), ging in deutsche Gefangenschaft und wurde im April 1945 im bayerischen Murnau von den Amerikanern befreit. Bald darauf meldete er sich in Ancona, bei General Władysław Anders, dem Oberkommandierenden der polnischen Streitkräfte in Italien (2. Polnisches Korps), mit er Bitte, nach Polen gehen zu dürfen, um den Untergrund gegen die Sowjets und ihre polnischen Helfer unterstützen zu können.

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Erst geschlagen, dann erkennungsdienstlich erfaβt. Witold Pilecki als kommunistischer Häftling.

Im Mai 1947 geriet Pilecki in die Fänge der politischen Polizei UB und ihrer sowjetischen Berater. Wochenlang dauerten die Verhöre, bei denen ihm das Schlüsselbein und ein Arm gebrochen, sowie sämtliche Zähne ausgeschlagen wurden. „Auschwitz war dagegen ein Kinderspiel“, flüsterte er bei dem einzigen Besuchstermin, den seine Frau zugestanden bekam. Ein Schauprozess folgte, das Urteil: Todesstrafe.

Kein „Bürgerkrieg“, ein Aufstand

„Eines Tages, wenn das Land frei sein wird, wird sich Polen an uns erinnern“, sagte Oberst Łukasz Ciepliński zu seinen Zellengenossen. Er legte sich sein kleines Mutter-Gottes-Medaillon in den Mund, bevor er am 1. März 1951 mit einem Schuss in den Hinterkopf umgebracht wurde. Durch das Medaillon hoffte er besser identifizierbar zu sein. Bisher hat man seine Gebeine nicht gefunden.

Verstoßene Soldaten (żołnierze wyklęci) werden polnische Widerstandskämpfer der antikommunistischen Untergrundorganisationen genannt, die nach dem Krieg im kommunistischen Polen gegen die Sowjets und das von ihnen errichtete Regime gekämpft haben.

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Der spätere Oberst Łukasz Ciepliński vor dem Krieg.

Ciepliński war ein tapferer Soldat, der im September 1939 mit seiner Panzerabwehrkanone sechs deutsche Panzer und zwei Befehlswagen abschoss, im Untergrund zu einem der wichtigsten Befehlshaber der Heimatarmee (AK) im Raum Rzeszów aufstieg und bis zu seiner Verhaftung im November 1947 den Sowjets und den Kommunisten schwer zusetzte.

Ehe Ciepliński sein Todesurteil hörte, widerrief er vor Gericht alle seine Aussagen aus der Untersuchungshaft: „Jedes Verhör endete so, dass ich bewusstlos in einer Blutlache lag. Ich wusste nicht, was ins Protokoll geschrieben wurde und was ich, fast ohnmächtig vor Schmerzen, unterschrieben habe.“

Ciepliński sollte Recht behalten. Spät zwar, erst 20 Jahre nach dem Ende des Kommunismus und aufgrund des wachsenden öffentlichen Drucks, hat sich Polen an ihn und die anderen erinnert. Der Widerstand war groβ. In der Justiz, aus deren Apparat im Zuge der „nationalen Versöhnung am runden Tisch“ nach 1989 kein einziger kommunistischer Richter entfernt wurde. Seitens der postkommunistischen Linken, die Polen acht Jahre lang (1993-1997 und 2001-2005) regierte und ihrer Wahlklientel. Strikt dagegen war, die lange Zeit vorherrschend meinungsbildende „Gazeta Wyborcza“. Schlieβlich gehörte auch der Stiefbruder des Chefredakteurs Adam Michnik, Stefan, zu den stalinistischen Blutrichtern. Bei der Ermordung eines seiner Opfer, des Majors Andrzej Czaykowski, am 10. Oktober 1953, war er sogar persönlich zugegen. Desinteressiert zeigte sich ebenfalls Donald Tusks Bürgerplattform, die Polen zwischen 2007 und 2015 regierte.

Die kommunistische Propaganda sprach jahrzehntelang nach dem Krieg von „reaktionären und verbrecherischen Banden“, die es nach 1945 mit aller Härte zu bekämpfen galt. Widerspruch war gefährlich. Doch ab Mitte der 80er Jahre lieβen sich solche Behauptungen nicht mehr aufrechterhalten. Der Kommunismus in Polen schwächelte zunehmend, das staatliche Meinungsmonopol wurde von einem schnell wachsenden Umlauf an illegal gedruckten Bulletins, Periodika, Broschüren und Büchern untergraben, die u.a. auch von der verzweifelten Auflehnung der Kämpfer des antideutschen Widerstandes gegen die nachfolgende, sowjetische Okkupation berichteten.

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Juni 1947. Tote Männer des Widerstandes.

Die kommunistische Propaganda begann daraufhin, ab Mitte der 80er Jahre, von einem „tragischen Bürgerkrieg“ nach 1945 zu sprechen, in dem beide Seiten für ihre Überzeugungen kämpften, die es zu akzeptieren galt. So sahen es auch, nach dem Ende des Kommunismus, die bereits erwähnten Gegner der Aufarbeitung.

Doch eine „Ebenbürtigkeit der Ideale“ im Kampf für ein freies, demokratisches Polen oder ein Polen unter kommunistischer Diktatur, kann es nicht geben. Es war kein „Bürgerkrieg“ sondern ein groβer antikommunistischer Aufstand für ein freies Polen. Diesen Standpunkt vertreten inzwischen immer mehr Historiker, er hält zunehmend Einzug in den offiziellen Sprachgebrauch.

Es war ein Aufstand gegen das Vorgehen der Sowjets in Polen. Ende 1945 waren im Land, neben vielen regulären Armeeinheiten, drei NKWD-Divisionen in einer Stärke von etwa 40.000 Mann stationiert, die nur damit beschäftigt waren ihre polnischen Helfer auszubilden und Soldaten, Politiker, Intellektuelle, die ein demokratisches Polen errichten wollten, zu eliminieren. Die Sowjets übernahmen von Deutschen geräumte Gefängnisse, Lager und „betrieben“ die meisten von ihnen weiter als Folter- und Hinrichtungsstätten. Allein zwischen Oktober und Dezember 1944 nahmen sie in den von ihnen „befreiten“ Gebieten zwischen den Flüssen Bug und Weichsel knapp 19.000 Polen fest. Der westlich der Weichsel gelegene Teil Polens befand sich noch bis Mitte Januar 1945 in deutscher Hand.

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Sechzehn führende bürgerliche Politiker und Militärs der Heimatarmee (AK) wurden von den Sowjets im März 1945 zu „Gesprächen“ b. Warschau eingeladen, nach Moskau entführt und abgeurteilt.

Etwa 600 Polen wurden im Juli 1944 bei Augustów von den Sowjets in einer groβangelegten Razzia festgenommen und bald darauf ermordet. Trotz intensiver Suche hat man ihre Gebeine bis heute nicht gefunden.

Am 27. März 1945 luden die Sowjets 16 führende Vertreter der demokratischen Parteien, der Heimatarmee und der polnischen Regierung im Exil in Pruszków bei Warschau zu „Gesprächen“ ein. Alle wurden verhaftet und nach Russland verschleppt.

Sowjetische „Berater“ leiteten 1946 und 1947 umfangreiche Fälschungsaktionen während eines von den Kommunisten organisierten „Referendums“ und der ersten „Parlamentswahlen“ nach dem Krieg, die, wie inzwischen anhand einst geheimer Archive festgestellt, die antikommunistische Opposition gewonnen hatte. Offiziell jedoch, bekam sie nur 10% der Stimmen.

Die von den Sowjets ausgebildeten polnischen „Sicherheitsorgane“ und deren bewaffneter Verband (das sog. Korps der Inneren Sicherheit – KBW) wurden überwiegend von sowjetischen Offizieren in polnischen Uniformen befehligt.

Nein, es war kein „Bürgerkrieg“. Nicht der von den Sowjets völlig abhängige, allein auf sich gestellt nicht überlebensfähige, polnische kommunistische Staats- und Terrorapparat war der eigentliche Gegner, sondern die Sowjets, die das Land besetzten und es gegen den Willen der absoluten Mehrheit seiner Bewohner in ihre Kolonie verwandelten.

Tausende Schicksale gilt es aufzuklären

Erst 2011 konnte das Institut für Nationales Gedenken (IPN) mit der aufwendigen Suche nach den Opfern des Regimes, deren Leichen nach der Hinrichtung verschwunden waren, beginnen. IPN verwahrt vor allem die Akten der ehemaligen polnischen Stasi, hat jedoch auch Befugnisse bei „Verbrechen gegen das polnische Volk“ (deutsche Besatzungszeit, kommunistischer Nachkriegsterror) Untersuchungsverfahren einzuleiten und Anklage vor Gericht zu erheben.

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Ausgrabungsarbeiten auf dem Warschauer Powązki-Friedhof.

Es gilt Tausende Schicksale aufzuklären. IPN-Historiker durchforsten Archive, IPN-Staatsanwälte befragen Zeugen. Alte und neue Luftaufnahmen von Gegenden, in denen man anonyme Gräber von Ermordeten vermutet, werden ausgewertet.

Es ist schon erstaunlich, wie gut man aus der Luft erkennen kann, wo die gewachsene Oberflächenstruktur angetastet wurde, auch wenn es vor Jahrzehnten geschah und vor Ort mit bloβem Auge nicht sichtbar ist. Der Vergleich zwischen deutschen Luftaufnahmen aus dem Jahr 1943 und polnischen des Jahres 1951 hat ergeben, dass in einer weitgehend ungenutzten Ecke des 45 Hektar groβen Warschauer Powązki-Friedhofs (phonetisch: Powonski) 1951 Grubenumrisse zu erkennen sind, die es dort 1943 nicht gab. Anschlieβende Geo-Radaruntersuchungen haben zusätzlich die jahrzehntelang anhaltenden Gerüchte bestätigt, dass auf der sogenannten „Łączka“ (phonetisch.: Uontschka), zu Deutsch „kleine Wiese“, zwischen 1948 und 1956 namenlose Tote verscharrt wurden.

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Auf dem Rücken gekreuzte Arme deuten darauf hin, dass die Opfer gefesselt waren. Stricke haben sich längst spurlos aufgelöst, manchmal findet man Draht oder Elektrokabel.

Bis zum Sommer 2015 wurden auf der „kleinen Wiese“ Gebeine von etwa 200 Personen ausgegraben. Vierzig von ihnen konnten identifiziert werden. Die Archäologin Natalia Szymczak (phonetisch: Schimtschak) sagt, dass man an den Knochen das Leiden der Opfer ablesen kann. Spuren der Verletzungen, die ihnen beigefügt wurden, sind deutlich erkennbar. Auf dem Rücken gekreuzte Arme deuten darauf hin, dass die Opfer gefesselt waren. Stricke haben sich längst spurlos aufgelöst, manchmal findet man aber Draht oder Elektrokabel. Persönliche Gegenstände sind rar. Vereinzelt ein Kamm, ein Brillengestell, Stofffetzen.

 Mit Stroop in einer Zelle

Die Stoffreste entstammen nicht selten deutschen Uniformen. Um sie zu demütigen, nahm man den Kämpfern des antideutschen Widerstandes oft ihre Kleidung weg und warf ihnen abgetragene deutsche Uniformen vor die Füβe. Polnische Widerstandskämpfer wurden bevorzugt mit deutschen Kriegsverbrechern in eine Zelle gesperrt.

„Liebe Wisia!“, schrieb Oberst Łukasz Ciepliński in seinem letzten Kassiber aus dem Gefängnis. „Ich lebe noch, aber es sind meine letzten Tage. Sitze mit einem Gestapo-Offizier in einer Zelle. Er bekommt Post, ich nicht. Wie gerne würde ich wenigstens ein paar Worte aus Deiner Feder bekommen. (…) Meinen Schmerz lege ich Gott und Polen zu Füβen. (…) Ich danke Gott dafür, dass ich für den heiligen Glauben, für mein Vaterland kämpfen durfte und dafür, dass er mir eine solche Frau und das groβe Familienglück geschenkt hat“.

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Kazimierz Moczarski

Auch der in der Hierarchie der Heimatarmee hoch angesiedelte Journalist Kazimierz Moczarski, der während seines elfjährigen (1945-56) Gefängnisaufenthaltes 49 Foltermethoden, die er später beschrieben hat, erleiden musste, wurde für acht Monate in eine Zelle mit Jürgen Stroop eingesperrt. Stroop war der Chef der deutschen Einsatzkräfte gewesen, die den Aufstand im Warschauer Ghetto (19.04-16.05.1943) niederschlugen. Moczarski überlebte und legte später (1972) Zeugnis ab von der Zeit mit Stroop in seinem Buch „Gespräche mit dem Henker“.

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Jürgen Stroop

Der Standardvorwurf, den man Leuten wie Ciepliński oder Moczarski in den Anklageschriften machte, lautete „Kollaboration mit den Deutschen“. Gestapobeamte, derer man habhaft geworden war, mussten nicht selten, auf erbeuteten deutschen Blankoformularen, Verhörprotokolle und Akteneinträge neu schreiben, damit man solche Anklagepunkte mit entsprechenden „Beweisen“ untermauern konnte.

„Werden Sie meinen Vater finden?“

Jeden Tag kommen Familienmitglieder und schauen bei den Ausgrabungen zu. Alte Menschen, die seit sechzig Jahren auf Nachrichten von ihren Eltern oder Geschwistern warten, die man als „Banditen“ diffamiert hat. Sie bringen Fotos mit. Auf den Bildern sieht man stattlich gebaute Männer, aber in den Gruben liegen geschrumpfte Skelette, die gerademal einem Kindersarg füllen. Eines Tages kam ein alter Mann und fragte: „»Werden Sie meinen Vater finden?« Ich musste weinen. Er auch“, berichtet Natalia Szymczak.

Dr. Krzysztof Szwagrzyk (phonetisch: Schwagschik) leitet und koordiniert die Ausgrabungen in ganz Polen. Ihm obliegt es Angehörige zu benachrichtigen, wenn ihre Nächsten identifiziert wurden. Die Reaktion ist immer dieselbe: das lange Schweigen, der stockende Atem, dann das Weinen im Telefonhörer. Dies alles geht ihm sehr nahe.

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Dr. Krzysztof Szwagrzyk (links im Bild) bei Ausgrabungsarbeiten auf dem Powązki-Freidhof in Warschau.

Einem solchen Anruf gehen Monate akribischer Arbeit voran. Sobald die Archäologen die Gebeine freigelegt haben, sind forensische Anthropologen an der Reihe. Iwona Teul ist eine von ihnen. Sie liest aus den Knochen Behinderungen, Verletzungen, Krankheiten, Schusswunden ab. Nicht selten kann Frau Teul erste Hinweise auf die Identität geben.

Entscheidend ist jedoch die DNA-Analyse. Das IPN gründete zusammen mit der Medizinischen Universität in Szczecin/Stettin eine genetische Datenbank für die Opfer. Angehörige geben DNA-Proben ab. Dennoch gestaltet sich die Identifizierung nicht selten sehr schwierig. Wenn z. B. ätzender Löschkalk auf die Leichen gestreut wurde, ist das entnommene DNA-Material kaum zu gebrauchen.

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Gefunden und identifizieert. „Verstoβene Soldaten“ werden gleich ins Pantheon gebracht.

Auf dem Powązki-Friedhof wird die Suche dadurch erschwert, dass Mitte der 60er Jahre auf die anonymen Massengräber eine meterdicke Schicht aus Erde, Schutt und Kompost aufgetragen wurde. Zwanzig Jahre später, Mitte der 80er Jahre, begann die Friedhofsverwaltung auf Anweisung der polnischen Stasi, auf dem so präparierten Totenfeld neue Grabstätten anzulegen.

Unter den Neubestatteten befinden sich viele verdiente Militärs und andere kommunistische Würdenträger. Einige von ihnen haben die unter ihnen verscharrten Opfer eigenhändig gequält, wie Stasi-Oberst Julia Brystygierowa, oder zum Tode verurteilt, wie die Richter Roman Kryże (phonetisch Krische) und Ilia Rubinow, deren Urteile heute als eindeutige Gerichtsmorde gelten.

Eine Änderung des Friedhofs- und Bestattungsgesetztes war notwendig, damit die zuoberst bestatteten Personen ausgebettet werden können (falls erforderlich, von Amts wegen, sollten die Familien es verweigern), und dadurch die darunter liegenden Toten endlich ein Grab bekommen können. Das Vorhaben, dem Gespräche mit den Familien der Neubestatteten vorausgehen sollen, wird voraussichtlich im Frühjahr 2016 beginnen.

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Identifizierte Tote wurden im September 2015, im Rahmen eines feierlichen Staatsaktes zu Grabe getragen in dem eigens auf der „kleinen Wiese“ erbauten Pantheon. Weitere Beisetzungen sollen folgen, das Bauwerk wird sukzessiv erweitert.

Dr. Szwagrzyk glaubt auf dem freigegebenen Totenfeld anschließend Gebeine von bis zu einhundert weiteren Opfern zu finden. Er hofft, dass auch Oberst Ciepliński dabei sein wird. Die bereits identifizierten Toten wurden im September 2015, im Rahmen eines feierlichen Staatsaktes, in kleinen Holzsärgen zu Grabe getragen. Es entstand das eigens auf der „kleinen Wiese“ erbaute Pantheon. Weitere Beisetzungen sollen folgen, das Bauwerk wird sukzessiv erweitert.

An insgesamt 16 Stellen in ganz Polen sind derzeit Exhumierungen im Gange. Die umfangreichsten Arbeiten finden in Białystok, im und um das Untersuchungsgefängnis in der Kopernikstrasse, statt. Das Gebäude war umgeben von einem groβen Garten. Zuerst haben die Sowjets, die nach dem gemeinsamen Überfall mit Hitler auf Polen, Białystok zwischen September 1939 und Juni 1941 besetzt hielten, dort die Opfer ihrer Morde verscharrt. Dann waren es zwischen 1941 und 1944 die Deutschen. Anschlieβend wieder die Sowjets und ihre polnischen Helfer.

Knapp 400 sterbliche Überreste hat das Team des IPN-Archäologen Adam Falis dort bis zum Herbst 2015 ausfindig gemacht. Der Garten wurde nach und nach bebaut. Es galt den alten Schweinestall abzureiβen, Betonsilos für Schweinefutter, kaputte Laternenmasten zu entfernen, ebenso wie groβ gewachsene Bäume, die manche Gebeine mit ihren Wurzeln eng umschlungen hielten. Im Gefängnis selbst haben Falis‘ Leute meterdicke Keller-Betonfuβböden aufgebrochen. Überlieferte Zeugenberichte erwiesen sich als richtig: tief vergraben man fand Dutzende von Gebeinen.

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Am Untersuchungsgefängnis in Białystok. Bäume haben Gebeine mit Wurzeln umschlungen.

Die Opfer der Deutschen liegen so, wie sie in die Grube gestürzt sind, niedergestreckt von MP-Garben. Die Opfer der Sowjets weisen alle einen Kopfschuss auf. Dazwischen ruhen oft, ordentlich aufgereiht, tote polnische „Banditen“ mit unterschiedlichen Schussverletzungen, die die Überfallkommandos nach Zusammenstöβen aufgelesen und zu den Gruben gebracht haben. Aber es gibt auch Gruben mit den Gebeinen von Frauen und Kindern. Handelt es sich dabei um Polen? Juden? Andere? Man weiβ es nicht und wird es kaum mehr feststellen können. Offensichtlich sind sie im Gefängnis an Krankheiten oder Hunger gestorben.

Anhand von DNA-Abgleichen konnten bis jetzt nur zwei Personen identifiziert werden. Das DNA-Material von weiteren 30 Personen, die der Meinung sind, ihre Nächsten seien in dem Untersuchungsgefängnis umgekommen, liegt vor.

„Sagt bitte meiner Oma“

„Wir können nicht trauern, solange es keinen Leichnam und kein Grab gibt“, sagen die Hinterbliebenen. Manche konnten inzwischen von ihren Qualen befreit werden. Großes Aufsehen erregte die Auffindung von Danuta Siedzikówna, genannt „Inka“, geb. 1928.

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Von Partisanen aus einem Gefangenenkonvoi befreit, trat Dauta Siedzikówna ihrer Abteilung der Heimatarmee als Sanitäterin bei.

Ihren Vater, einen Förster, hatten die Sowjets 1939 aus Ostpolen deportiert. Er starb 1943. Die Mutter wurde im September 1943 bei Białystok von der Gestapo ermordet. Mit 15 Jahren trat „Inka“ der Heimatarmee (AK) bei, bekam eine medizinische Schulung. Im Juni 1945 wurde sie von einer sowjetisch-polnischen Einsatzgruppe, zusammen mit allen Mitarbeitern der Försterei Hajnówka, verhaftet. Von Partisanen aus einem Gefangenenkonvoi befreit, trat sie ihrer Abteilung der Heimatarmee als Sanitäterin bei.

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Unter schwerster Folter gab „Inka“ ihre Kontaktpersonen zum Untergrund und vereinbarte Treffpunkte nicht Preis. Szene aus dem Fensehspiel „Inka“ (2006).

Im Juli 1946 schickte sie der Kommandeur nach Gdańsk/Danzig um Verbandsmaterial zu holen. Dort wurde sie verhaftet. Im Gefängnis weigerte sich die 17jährige unter schwerster Folter ihre Kontaktpersonen zum Untergrund und vereinbarte Treffpunkte preiszugeben. Obwohl minderjährig, wurde sie zum Tode verurteilt. Ein Gnadengesuch ihres Pflichtverteidigers wollte sie nicht unterschreiben, da er ihre Abteilung als eine „Bande“ bezeichnet hatte. In einem letzten Kassiber vor der Hinrichtung bat sie eine Freundin: „Sagt bitte meiner Oma, dass ich mich wie es sich gehört benommen habe .“

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„Inkas“ Gebeine (links) in einer entlegenen Ecke des Garnisonfriedhofs in Gdańsk gefunden.

Da alle vier Soldaten des Hinrichtungskommandos, das Inka in einem Gefängniskeller erschieβen sollte, daneben zielten, wurde sie mit einem Kopfschuss ermordet.

Im Sommer 2015 fand Dr. Szwagrzyk ihre Gebeine in einer entlegenen Ecke des Garnisonfriedhofs in Gdańsk.

© RdP




Schlächter wider Erwarten

Am 1. Oktober 2015 starb Stanisław Kociołek.

Viereinhalb Jahrzehnte lang tat Stanisław Kociołek alles, um den Verdacht von sich zu weisen, er habe im Dezember 1970, während des Arbeiteraufstandes an der polnischen Ostseeküste, vorsätzlich Menschen in die Gewehrläufe des Militärs und der Miliz getrieben.

Der 17. Dezember 1970 ist als der „Blutdonnerstag“ in die neueste polnische Geschichte eingegangen. Eine S-Bahn nach der anderen hielt ab fünf Uhr früh an der Haltestelle Gdynia Stocznia/ Gdingen Werft. Eine dichte Masse von Arbeitern, Angestellten, Berufsschülern, Studenten ergoss sich in immer neuen Wellen aus den Zügen. Alle waren auf dem Weg zu ihren Betrieben in der unmittelbaren Umgebung: zur Werft, zum Hafen, zur Handelsmarine-Schule. Der einzige Weg vom Bahnsteig dorthin, führte über eine Fuβgängerbrücke, die die benachbarte Fahrbahn überspannte.

Dröhnende Durchsagen aus einem Militärlautsprecher, die Werft sei bis auf weiteres geschlossen, versetzten die Menschen zugleich in Angst und Staunen. Ungläubig starrten sie von oben auf das waffenstrotzende Heerlager unter ihnen. Den Abgang von der Brücke versperrten Truppentransporter, Panzer, Ketten von Wachposten. Chaos und Ratlosigkeit ergriffen zunehmend Besitz von der Menge, während von hinten immer mehr Neuankömmlinge nachdrängten. Die vorderen Reihen am unteren Treppenende näherten sich mehr und mehr den Uniformierten.

Kociołek Gdynia
16. Dezember 1970.  An der S-Bahn-Haltestelle Gdynia Werft kam es nach den Schüssen auf die zur Arbeit gehenden Menschen zu schweren Zusammenstöβen mit dem Militär und der Miliz.

Als sich gegen sechs Uhr früh etwa dreitausend Menschen auf dem Bahnsteig, auf und vor der Brücke befanden, feuerte das Militär mehrere lange Maschinengewehrsalven in die Menge. Zehn Menschen waren sofort tot, viele Dutzende wurden verletzt. Die Sterbenden, die Verwundeten und die in Panik Flüchtenden stellten sich damals nur die eine Frage: „Wieso das alles? Hat uns Kociołek gestern Abend im Fernsehen nicht ausdrücklich aufgefordert an die Arbeit zurückzukehren?“

Genosse Stalin hat immer Recht

Stanisław Kociołek wurde 1933 in Warschau geboren. Ein Arbeiterkind aus armen Verhältnissen. Seine Mutter wusch von früh bis spät die Wäsche fremder Leute. Der Vater, ein Eisenbahner, war als Sympathisant der Kommunisten bekannt. Während der Bruder seines Vaters ein echter Kommunist war. Stanisławs Onkel floh Anfang der 30er Jahre in die Sowjetunion und wurde dort, kurz nach seiner Ankunft, durch einen Genickschuss liquidiert. Er war nicht der einzige.

Während der groβen Terrorwelle, erging im August 1937 nämlich auch der sogenannte „Polen-Befehl“ Nr. 00485: alle Polen seien der Spionage, Sabotage und anderer konterrevolutionärer Verbrechen schuldig, und zu beseitigen. Die „Polen-Hatz“ dauerte in der ganzen Sowjetunion bis 1938, allein die Herkunft war ausschlaggebend. Bilanz laut NKWD-Statistik: von den 139.835 verhafteten Polen wurden 111.091 erschossen, von den verbliebenen kamen die meisten innerhalb eines Jahres in Lagern um.

Zudem lieβ Stalin 1938 die Kommunistische Partei Polens (KPP), wegen angeblicher ideologischer Unzuverlässigkeit, auflösen, ihre in der Sowjetunion lebenden Führungskader, samt Familienmitgliedern, ermorden. Überlebt haben letztendlich nur die Kommunisten, die als politische Häftlinge in polnischen Vorkriegsgefängnissen saβen. Doch ob vor oder nach Stalins Säuberungen, die KPP war in der Vorkriegszeit in der polnischen Gesellschaft stets eine Randerscheinung, eine „Sekte“ ohne jeglichen ernstzunehmenden politischen Einfluss.

Der Vater Kociołeks und die Genossen, die gelegentlich vorbeikamen, munkelten viel, doch ihr Glaube an den Kommunismus, daran, dass der Genosse Stalin schon weiβ, was er tut, und die Partei immer recht behält, war unerschütterlich. All das hörte der frühreife Stanisław, aufgeweckt und belesen wie er war, von klein auf zu Hause. Seinem Vertrauen in den Kommunismus und in die Sowjetunion tat das sein ganzen Leben lang nicht den geringsten Abbruch.

Den Krieg, der am 1. September 1939 begann, überlebte die Familie in der Hauptstadt. Als im Oktober 1944, nach der Kapitulation des Warschauer Aufstandes, die Stadt von der Zivilbevölkerung geräumt wurde und die Deutschen die planmäβige Zerstörung der übriggebliebenen Bebauung in Angriff nahmen, wurde auch das Haus der Kociołeks irgendwann dem Erdboden gleichgemacht. Als Flüchtlinge kampierten sie derweil, wie Zehntausende ihresgleichen, im Durchgangslager Pruszków unweit der Stadt. Im Durcheinander auf einem Bahnsteig entkamen sie von dort, als sie mit einem Transport in Viehwaggons weggebracht werden sollten. Später erfuhr Kociołek, dass der Zug nach Auschwitz fuhr.

Das Wunderkind der Partei

Mitte Januar 1945 überquerte die Rote Armee endlich die Weichsel und „befreite“ das menschenleere Trümmerfeld Warschau, dessen Entstehung sie vier Monate lang tatenlos vom östlichen Ufer aus beobachtet hatte. Obdachlos geworden, entschieden sich die Eltern, statt in Warschau, ihr Glück in den Polen gerade zuerkannten ehemaligen deutschen Ostgebieten zu suchen. In Iława/ Eylau machte Stanisław das Abitur und absolvierte einen pädagogischen Schnellkurs. Nur so lieβ sich damals der dramatische Lehrermangel beheben. Mit gerade einmal 18 Jahren durfte er die Grundschule im nahegelegenen Dorf Piotrkowo/ Peterkau leiten.

Kociołek młody
Stanisałw Kociołek. Der junge, aufstrebende Apparatschik Mitte der 60er Jahre.

Ein Jahr später schickte ihn die örtliche Parteibehörde zum Studium an die Philosophisch-Soziologische Fakultät der Warschauer Universität. Es war die Zeit des tiefsten Stalinismus. Kinder aus bürgerlichen Familien durften nicht mehr studieren. Arbeiterkinder wie Kociołek, dazu noch vom Kommunismus begeistert, sollten die Hochschulen „erobern“.

Marxistische Analyse als einzige Forschungsmethode, brutale Gängelung der „bürgerlichen Professur“, wissenschaftliche Blitzkarrieren primitivster kommunistischer Einpeitscher, übersetzte, stumpfsinnige sowjetische Lehrbücher als einzige Wissensquelle und die „führende“ sowjetische Wissenschaft als einzige Quelle der Weisheit. So wurden die traditionellen Universitäten, einst geprägt von der Freiheit von Forschung und Lehre, in rote Kaderschmieden verwandelt.

Kociołek, der auftrumpfende kommunistische Aktivist, war in dieser Umgebung in seinem Element. Im dritten Semester, mit 20 Jahren, hatte man ihn in die Partei aufgenommen. Die Bürgen, die ihm die vorgeschriebenen Empfehlungsschreiben gaben, waren keine geringeren, als Jerzy Wiatr, der angehende führende Partei-Politologe und Julian Hochfeld, der gerade dabei war, im Parteiauftrag, die polnische Soziologie in eine marxistische Dogmenlehre zu verwandeln. Nach 1956 wechselte Hochfeld zur Fraktion der „Revisionisten“ über.

Kociołek i Gomułka
Stanisław Kociołek (rechts im Bild), damals Parteichef von Warschau, mit seinem Förderer, Parteichef Władysław Gomułka (2. v. r.) und Ministerpräsident Józef Cyrankiewicz (3. v. r.) bei einer Kundgebung in der Warschauer Altstadt am 1. September 1964, zum 25. Jahrestag des Kriegsausbruchs.

Kociołek wollte Parteikarriere machen. Im politischen „Tauwetterjahr“ 1956, als nach dem Tod Stalins die Abkehr vom Stalinismus und seinen verbrecherischsten Auswüchsen begann, machte man ihn (mit 23 Jahren!) zum Chef der einige tausend Mitglieder zählenden Parteiorganisation an der Warschauer Universität.

Schnell wurde der neue Parteichef Władysław Gomułka auf den dogmatischen, linientreuen Kociołek aufmerksam. Gomułka kam im Oktober 1956 an die Macht. Er war umgeben von Nimbus des Märtyrers, der von den polnischen Stalinisten auf Geheiβ Moskaus drei Jahre lang eingesperrt war, und des Nationalkommunisten, der einen eigenen, polnischen Weg zum Sozialismus einschlagen würde.

Polen lag damals Gomułka zu Füβen, doch dieser wollte der Liberalisierung und Demokratisierung schnell enge Grenzen setzten. So naiv, wie Gorbatschow dreiβig Jahre später, war er nicht. Die „führende Rolle der Partei“ anzutasten, wäre der Beginn einer Entwicklung gewesen, an deren Ende das Ende der Parteidiktatur gestanden hätte. Demokratie und Sozialismus das war ein unlösbarer Widerspruch. Entweder das eine oder das andere, das wusste der Machtmensch Gomułka sehr gut.

Um die im Oktober 1956 entfesselten Geister (freizügigere Medien, Arbeiterselbstverwaltung, die wieder millionenfach zur Schau gestellte Kirchentreue der Polen u. e. m.) nach und nach wieder in die Flasche zu bekommen, brauchte er daher Leute wie Kociołek. Und so wurde der eloquente Betonkommunist zum „Wunderkind der Partei“. Gomułka schicke ihn überall dorthin, wo es galt den Liberalisierungsbestrebungen ein Ende zu setzten.

Zwischen 1958 und 1960 befriedete Kociołek, als ein 25 bis 27 Jahre junger Mann, erfolgreich die starken „revisionistischen“ Kräfte in der Warschauer Parteiorganisation, einer der gröβten und wichtigsten im Lande, deren Leitung er damals innehatte. Anschlieβend bändigte er die rebellischen Geister der Jugendlichen als (1960-1963) Chef des kommunistischen Jugendverbandes ZMS. Mit 31 Jahren stand er 1964 wieder an der Spitze der Warschauer Parteiorganisation. Mit 34 Jahren machte ihn Gomułka zum Parteichef von Gdańsk/ Danzig, wo er, dass muβ man ihm lassen, wesentlich zur Gründung der Universität beigetragen hat.

Im Herbst 1968 wurde Kociołek Mitglied des höchsten Parteigremiums und zugleich engsten Machtzirkels in einem kommunistischen Land. Er stieg (mit nur 35 Jahren) ins Politbüro auf. Im Sommer 1970 holte ihn Gomułka, der in Kociołek seinen Nachfolger sah, aus Gdańsk nach Warschau zurück und machte seinen „Kronprinzen“ zum stellvertretenden Regierungschef, damit der junge Apparatschik auch Verwaltungserfahrung erlangen konnte.

Selbstüberschätzung wird zum Verhängnis

Der junge Parteibonze, daran gewöhnt, dass ihm seine Untergebenen ehrfürchtig zuhören, dass ihm nie widersprochen wird, dass er immer das letzte Wort hat, überschätzte seine Überzeugungskraft, wenn es darauf ankam, sich rhetorisch gegen massiven Widerspruch durchzusetzen. Als es im Frühjahr 1968 zu Studentenprotesten- und Unruhen im ganzen Land kam, fuhr Kociołek, damals noch Danziger Parteichef, in die dortige Technische Hochschule. Hier setzte er zu einer flammenden Rede über den Ruhm des Sozialismus an, und wurde von den Studenten ausgepfiffen und ausgelacht, musste wie ein begossener Pudel abziehen. Kurz darauf begann die Miliz den Protest brutal niederzuknüppeln. Eben diese Selbstüberschätzung, sollte ihm nun zum Verhängnis werden.

Kociołek czołgi na Długim Targu
Gdańsk im Dezember 1970. Panzer auf dem Langen Markt und in der Langen Gasse. Rechts der Neptun-Brunnen.

Am Sonnabend, dem 12. Dezember 1970 verkündeten Rundfunk und Fernsehen, dass am Montag eine drastische Lebensmittelpreiserhöhung in Kraft treten werde. Die Staatskasse war leer und der zunehmend sklerotische Gomułka, der längst den Bezug zur Realität verloren hatte, wollte sie durch eine radikale Kürzung der staatlichen Subventionierung der Lebensmittelpreise kurz vor Weihnachten wieder auffüllen.

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Gdańsk im Dezember 1970. Zusammenstöβe zwischen der Miliz und Protestierenden.

Am Montag, dem 14. Dezember 1970 kam es daraufhin in Gdańsk und in dem nahegelegenen Gdynia zu ersten Arbeitsniederlegungen. Arbeiter zogen friedlich vor die Danziger Parteizentrale und forderten Verhandlungen, doch niemand wagte sich zu ihnen heraus. Am Nachmittag kam es dann zu ersten Straβenschlachten mit der Miliz. Die Lawine kam ins Rollen.

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Gdańsk im Dezember 1970. Arbeiter tragen einen toten Kameraden durch die Stadt.

Kociołek bat Gomułka nach Gdańsk gehen zu dürfen. Er, der noch vor kurzem dort Parteichef gewesen war, wisse wie man mit den Leuten vor Ort reden müsse, wie man mit politischen Mitteln Herr der Lage werden könne. Als er am Dienstag, dem 15. Dezember eintraf, dauerte der Sturm der Demonstranten auf das Parteihaus, das ebenso wie der Hauptbahnhof und einige weitere Gebäude gerade in Flammen aufging, bereits einige Zeit an. Die ersten sechs Toten waren bereits zu beklagen. Schwere Unruhen wurden auch aus Szczecin/ Stettin und Elbląg/ Elbing gemeldet.

Kociołek trup
Gdańsk im Dezember 1970. Ein Toter wird geborgen.

Durch die Unerfahrenheit der kommunistischen Machthaber bei der Lösung einer solchen Krise, spitzte sich die Lage noch zu. Keine Verhandlungen mit den streikenden Belegschaften, brutalstes Vorgehen der Ordnungskräfte, die wie wild um sich schossen und Festgenommene, oft noch Schüler, bis zur Bewusstlosigkeit zusammenschlugen. Zudem fehlte es an der notwendigen Koordination. Manche Befehle wurden den Militär- und Milizeinheiten direkt aus Warschau erteilt. In der Dreistadt (Gdańsk-Sopot-Gdynia) gab es aber ebenfalls einen militärischen Krisenstab. Hinzu kamen Kociołek und seine Begleiter, als weiteres Entscheidungszentrum. Zudem agierte ein zweiter Gomułka-Vertrauter, das Politbüromitglied Zenon Kliszko, auf eigene Faust.

Kociołek trupy
Gdańsk im Dezember 1970. Erschosssene Demonstranten.

Am 16. Dezember sendete der lokale Fernsehsender am späten Nachmittag, mit einer Wiederholung am Abend, Kociołeks Rede an die Bevölkerung. Sie war nur in Gdańsk und Umgebung zu empfangen. Kociołek sprach von Aufruhr und Rowdytum, begründete damit das Vorgehen der Ordnungskräfte, denen er Dank für ihren Einsatz zollte, appellierte an die Vernunft, stelte fest(ohne die drastischen Preiseröhungen beim Namen zu nennen), dass die Forderungen der Protesiterenden nicht erfüllbar seien und schloss mit der Aufforderung an die Bevölkerung, die Arbeit wieder aufzunehmen.

Derweil befahl Kliszko am selben Tag gegen 16 Uhr, Truppen nach Gdynia zu schicken, die dortige Werft zu schlieβen und abzuriegeln, damit auf diese Weise ein zu erwartender Streik verhindert werden könne. Anschlieβend flog Kliszko nach Warschau, um an einer für 18 Uhr anberaumten Krisensitzung mit Gomułka teilzunehmen. Das Verhängnis nahm seinen Lauf.

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Gdańsk im Dezember 1970. Das Parteigebäude brennt.

Kociołek behauptete bis zu seinem Tod, zum Zeitpunkt seines Aufrufs von Kliszkos Anordnungen nichts gewusst zu haben. Als ihm das drohende Unheil später jedoch bewusst wurde, habe er mitten in der Nacht verfügt Boten zu den Arbeiterwohnheimen zu schicken, mit der Anweisung, am nächsten Morgen doch nicht zur Arbeit zu gehen. Beweise dafür wurden bis heute nicht gefunden.

Doch wie auch immer, wäre es nicht wirksamer gewesen, beim örtlichen militärischen Krisenstab den Abzug der Einheiten aus Gdynia zu erwirken? Oder wenigstens den S-Bahn-Verkehr einzustellen? Kociołek meinte, auf diese Ideen sei er damals nicht gekommen.

Dass er vorsätzlich Menschen in den Tod geschickt hat, ist nicht anzunehmen. Einerseits war er der einzige in der Partei- und Staatsführung, der auf dem Höhepunkt der Krise zur Bevölkerung gesprochen hat. Doch durch seinen Fernsehauftritt, hat er gleichzeitig der Tragödie an der polnischen Ostseeküste 1970, sein Gesicht verliehen. Ab dem Augenblickt wurde er im Volksmund zum „Schlächter von der Küste“, zum „blutigen Kociołek“. Bis auf wenige Eingeweihte wusste bis zum Ende des Kommunismus in Polen niemand, was sich damals hinter den Kulissen abgespielt hat.

Neunzehn Jahre lang vor Gericht

Am 20. Dezember 1970 trat Parteichef Gomułka zurück. Sein Nachfolger Edward Gierek gelang es die Krise mit politischen Mitteln zu entschärfen. Das war auch das Ende der kometenhaften Karriere Kociołeks, der nun auf ein politisches Abstellgleis geriet. Bis 1978 war er polnischer Botschafter in Brüssel, dann kurz in Tunesien, von wo ihn der neue starke Mann Polens, General Jaruzelski, im Herbst 1980 wieder auf den Posten des Warschauer Parteisekretärs holte.

Es war die Zeit der ersten Solidarność, die nach den Massenstreiks des Sommers 1980, entstanden war. Der kommunistische Dogmatiker Kociołek sollte wieder einmal die Aufwiegler in den Parteireihen befrieden. Nachdem das Kriegsrecht am 13. Dezember 1981 ausgerufen wurde und der Ausbruch der Freiheit beendet war, setzte Jaruzelski Kociołek jedoch von seinem Warschauer Posten, auf dem er inzwischen zum Kristallisationspunkt unzufriedener orthodoxer Kommunisten geworden war, kurzerhand wieder ab. Kociołek war noch bis 1985 polnischer Botschafter in Moskau und wurde anschlieβend endgültig aufs Altenteil abgeschoben.

Im April 1995 begann vor dem Gericht in Gdańsk der Prozess gegen die zwölf zu jener Zeit noch lebenden Hauptschuldigen an der brutalen Bekämpfung der Arbeiterrevolte vom Dezember 1970. Angeklagt waren Stanisław Kociołek, General Wojciech Jaruzelski – damals Verteidigungsminister, Kazimierz Świtała – damals Innenminister, acht hohe Militärs – einst Kommandeure der an der Befriedungsaktion teilnehmenden Truppenteile und ein Oberst der Miliz.

Kociołek zabici
Gdańsk im Dezember 1970. Zivile Opfer der Proteste. Fotos aus den Akten der polnischen Stasi.

Der Prozess dauerte neunzehn (!) Jahre lang. Die Angeklagten legten immer wieder ärztliche Atteste vor und erschienen meistens nicht zu den Verhandlungsterminen. Das Verfassungsgericht und das Oberste Gericht wurden zwischenzeitlich eingeschaltet. Ein Beisitzer starb und das Verfahren musste neu aufgerollt werden. Anwälte legten reihum ihre Mandate nieder, ihre Nachfolger brauchten Monate, um die Akten zu lesen. 1999 wurde der Prozess nach Warschau verlegt, da die Angeklagten Probleme hatten nach Gdańsk zu kommen. Erst im Oktober 2001 gelang es dem Staatsanwalt die Anklageschrift bis zum Ende zu verlesen usw., usf.

Ausnahmslos alle Richter aus der kommunistischen Zeit konnten in Polen, im Rahmen der „nationalen Versöhnung“, gerade so als wäre nichts gewesen, ihren Beruf weiter ausüben. Eine so geprägte Justiz behandelte den Prozess gegen Leute, die an den Massakern vom Dezember 1970 (insgesamt 45 Tote, knapp 1.100 Verletzte) beteiligt waren wie eine heiβe Kartoffel, begünstigte geradezu die Verzögerungstaktik der Angeklagten und ihrer Verteidiger. Als das Warschauer Appellationsgericht im April 2014 das abschließende Urteil sprach, waren nur noch drei Angeklagte am Leben. Kociołek wurde freigesprochen, zwei Militärs bekamen jeweils zwei Jahre Haft auf Bewährung.

Stanisław Kociołek behauptete immer wieder, er trage die politische und moralische, aber keine strafrechtliche Verantwortung für das Geschehene.

Bilder der oftmals entstellten Gesichter der Toten, bei den Leichenschauen gemacht und nach 1990 in den Akten der polnischen Stasi gefunden, begleiteten Kociołek auf seinem letzten Weg, hochgehalten von schweigenden Demonstranten entlang der Warschauer Friedhofsallee, auf der die Urne mit seiner Asche zu Grabe getragen wurde.

© RdP




Unsterblich oder geduldet. Polens Vietnamesen

Eine Welt für sich.

Zarter Jasminduft schwebt in der Luft. Weiβe, teefarbene und rosarote Orchideen blühen auf den Fensterbänken. An milchigen, schmalen Tischchen feilen schwarzhaarige Mädchen die Fingernägel der Kundinnen. Wehmütig miauender Gesang strömt aus kleinen Lautsprechern. Der Besuch hier ist wie eine Reise nach Vietnam, nur braucht man längst nicht so weit zu fahren. Das „Asian Nail Studio“ befindet sich in einem der vielen Verkaufspavillons an der Aleja Jana Pawła II., mitten in Warschau.

Die Chefin hier, ist Lan Huong Le Hoang, zu Deutsch: Jasminduft. Ihr Vater hatte vor 24 Jahren in Warschau ein Doktoranden-Stipendium bekommen und durfte die Familie mitbringen. Sie hatten sich schnell eingelebt, die Freiheit schätzen gelernt, ins kommunistische Vietnam zurück wollten sie schon bald nicht mehr.

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Intergration gelungen? Vietnamesiches Hochzeitspaar legt, ganz nach polnischer patriotischer Sitte, Blumen am Warschauer Grabmal des Unbeklannten Soldaten nieder.

Lan absolvierte alle Stufen des polnischen Schulwesens und brachte ihr Jurastudium an der Warschauer Universität zum Abschluss. Gemeinsam mit einer vietnamesischen Freundin, die großes Geschick darin besaß, bemalten beide sich zum Spaβ immer wieder mal die Fingernägel. Aus diesem Spaβ wurde irgendwann ein Hobby, dann eine Leidenschaft, schlieβlich der Beruf, für den Lan die Jursiterei aufgab.

Die Kundinnen kommen gerne zu ihr. Nicht nur, weil der Nagellack, den sie bei Lan aufgetragen bekommen lange hält. Manche schätzen es auch, dass sie mit den vietnamesischen Manicure-Mädchen nicht plaudern müssen, da es deren bescheidene Polnisch-Kenntnisse einfach nicht erlauben.

Ab und an schaut Lans Tochter Angela vorbei. Sie besucht die elfte Klasse, spricht kaum mehr Vietnamesisch, geht an Nachmittagen zum Zeichen- und Tanzunterricht, und fühlt sich als hundertprozentige Polin. Die Mutter macht für sie im Salon-Hinterzimmer schnell eine Portion Jasminreis warm.

Manchmal gibt es auch noch eine zweite Schüssel. Angelas Schwarm ist drei Jahre älter und heiβt Antoni Trang. Alle rufen ihn, wie es in Polen üblich ist, mit dem Kosenamen Antek. Im nächsten Jahr will er im zweiten Anlauf das Abitur in Polnisch schaffen. Die Sprache bereitet ihm, anders als Angela, immer noch Probleme. Antek heiβt eigentlich mit Vornamen An, aber der Vorname, dem ihm seine polnischen Kumpels gegeben haben gefällt ihm besser. Anteks Eltern kamen aus der ehemaligen DDR nach Polen als er gerade Zwei wurde.

Rege, duftend, höflich

Sie waren Vertragsarbeiter, die im vereinigten Deutschland plötzlich vor dem Nichts standen. Der groβe volkseigene Betrieb wurde schnell abgewickelt, die Umgebung war feindselig, die Behörden drängten zur Ausreise. In Polen arbeiteten sie auf dem Bau, in vietnamesischen Bars, bis sie genug Geld hatten, um am stillgelegten Warschauer Sportstadion, auf dem östlichen Weichselufer, eine Box zu mieten und dort preisgünstige Unterwäsche zu verkaufen. Das machen sie bis heute. Als das alte Stadion abgerissen wurde, um einer modernen Arena für die Fuβball-EM 2012 zu weichen, zogen Anteks Eltern mit ihrem Kleinhandel um nach Wólka Kosowska.

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Wólka Kosowska bei Warschau. Handel, Wandel, vietnamesiche Betriebsamkeit.

Knapp 20 km südlich von Warschau haben chinesische und vietnamesische Kaufleute ein ansehnliches Handelszentrum gebaut, in dem hunderte von Asiaten alles feilbieten, was ihre Landsleute und die Polen an Asiatischem begehren. Es ist eine Welt für sich, in der es vor ein paar Jahren zu Krawallen kam, als die asiatischen Eigentümer die asiatischen Händler mit hohen Mietpreisen in die Verzweiflung trieben. Etwas später verwüstete dann ein Groβbrand die engen Boxen- und Ladenzeilen. Von Brandstiftung war die Rede, aber welcher Staatsanwalt oder Polizist schafft es schon in die verschwiegene Welt der Asiaten vorzudringen. Der Wiederaufbau ging schnell vonstatten und der Handel läuft, von außen betrachtet, ab wie eh und je: rege, von exotischen Düften umhüllt, stets höflich.

Direkt in Warschau vermischen sich der polnische und der vietnamesische Handel in trauter Eintracht auf dem riesigen überdachten Basar in der Marywilska Straβe. Schlüpfer und Socken kosten bei den Vietnamesen 2 Zloty (50 Cent), ein Paar Jeans 40 Zloty (10 Euro), ein Winteranorak 50 Zloty (ca. 12 Euro). Natürlich darf man nicht erwarten, dass die Sachen lange halten.

Antek redet mit seinen Eltern Vietnamesisch, zu Hause wird vietnamesisch gegessen. Mutter Trang bemüht sich alle heimatlichen Feste zu begehen und deren Riten zu pflegen, aber Antek geht es genauso wie Angela: Polen ist seine Heimat. Vier Mal hat er schon die Groβeltern in Vietnam besucht, aber dort fühlt er sich fremd, auch wenn sich Oma, Opa und der Rest der Familie alle Mühe geben, ihm sein Kommen mit allerlei Annehmlichkeiten zu versüβen.

Ba Lan zieht an

Mehr Vietnamesen als an der Weichsel findet man in Europa nur in Frankreich (ca. 500.000) und in Deutschland (ca. 100.000). In Polen stellen sie die gröβte ständig hier lebende Ausländergruppe. Offiziell sind es 20.000, aber Pfarrer Edward Osiecki, der betreuende Seelsorger, schätzt ihre Zahl auf bis zu 60.000. Die Polen haben Probleme einzelne Vietnamesen voneinander zu unterscheiden, dank diesem Umstand sind viele „unsterblich“. Wenn jemand stirbt, wird sein Pass mit dem begehrten Aufenthaltsvisum teuer an einen frisch zugereisten Landsmann weiterverkauft.

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Verhaltensregel Nr. 1: bloβ nicht auffallen, Polizei und Behörden im weiten Bogen umschiffen.

Viele Vietnamesen besitzen überhaupt keine Papiere. Anfang der 90er Jahre begannen organisierte Schleusergruppen sie illegal nach Polen zu bringen. Zunächst ging es per Flugzeug, mit russischem Visum nach Moskau und von dort, versteckt in LKWs, durch die Ukraine und Weiβrussland bis an die polnische Grenze. Die Familie in Vietnam musste bis zu diesem Zeitpunkt den noch fehlenden Anteil des Schleuserlohnes von bis zu 10.000 Dollar bezahlt haben, und nun begann das, manchmal wochenlange, Warten in Scheunen und verlassenen Barracken auf das denkbar schlechteste Wetter, um dann zu Fuβ die Absperrungen zu überwinden. Auf der polnischen Seite wartende Autos brachten die Illegalen innerhalb von zwei Stunden irgendwo in die Nähe von Wólka Kosowska, damit sie bei Ihresgleichen untertauchen konnten.

Ba Lan, wie Polen auf Vietnamesisch heiβt, zieht viele Vietnamesen an. Einerseits ist das Leben an der Weichsel schwer. Es gibt keinerlei staatliche Unterstützung, kein Begrüβungsgeld, kein Harz IV, keine staatlich finanzierten Eingliederungsprogramme. Nur wenige karitative Organisationen, wie die katholische Caritas oder einige Anlaufstellen in der Warschauer alternativen Szene, leisten bescheidene Hilfe. Wer nach Polen als Immigrant kommt, der muss sich selbst, wie einst Baron Münchhausen, am eigenen Haarschopf packen um sich aus den Niederungen der Gesellschaft heraus zu befördern.

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Handeln, Feilschen, Improvisieren, ungebunden sein, dem Staat möglichst aus dem Weg gehen, sein eigenes Ding machen, was viele Polen geradezu im Blut haben und leben, das ist auch das vietnamesiche Element.

Die genügsamen und fleiβigen Vietnamesen sind dazu imstande. Für sie hat Polen auch erhebliche Vorteile. Hier fällt das Abtauchen leichter als in Deutschland, die vietnamesischen Netzwerke funktionieren zuverlässig. Landsleute nehmen die Neuankömmlinge bei sich auf, geben ihnen Arbeit in ihren „Familienunternehmen“ oder Kredit zum Kauf der ersten eigenen Warenpartie. Es gilt noch die notwendigsten Worte, wie „pięć złotych“ („fünf Zloty“), „dwa złote“ („zwei Zloty“), „zielony“, „niebieski“ („grün“, „blau“) zu lernen, dann kann es losgehen. Handel, Wandel, Feilschen, Improvisieren, ungebunden sein, dem Staat möglichst aus dem Weg gehen, was viele Polen geradezu im Blut haben und leben, das ist auch ihr Element. Und noch etwas sehr Wichtiges: angefeindet werden sie äuβerst selten, und wenn, dann wissen sie sich handfest zur Wehr zu setzten.

Verhaltensregel Nr. 1 ist allerdings natürlich: bloβ nicht auffallen, Polizei und Behörden im weiten Bogen umschiffen. Zwischen 2007 und 2014 hat die polnische Grenzpolizei knapp 500 Vietnamesen beim illegalen Grenzübertritt festgenommen. Dazu kamen weitere 400, die im Landesinneren, zumeist ohne Papiere, aufgegriffen wurden. Sie kamen in Abschiebehaft, und man hoffte, die vietnamesische Botschaft würde ihre Identität bestätigen, doch das ist noch nie vorgekommen. Spätestens nach zwölf Monaten werden sie dann freigelassen und erhalten, seit 2008, eine Duldung.

Das Papier wird jedes Jahr automatisch erneuert, denn einen geduldeten Ausländer kann man praktisch nicht mehr abschieben. Nun dürfen sie legal arbeiten, Gewerbe treiben, sich sozialversichern, das Schulwesen in Anspruch nehmen, offiziell eine Wohnung mieten, nur um die polnische Staatsangehörigkeit dürfen sie nicht nachsuchen.

Asia-Food und Suppenkönig

Ein Fehler, wie Pfarrer Osiecki meint, denn sehr viele sind schon weit mehr als zehn Jahre im Lande und haben sich bestens integriert. Den Vietnamesen steht er seit gut elf Jahren bei, seitdem ihn ein junger Bursche einst auf der Straβe angesprochen hat. Der hatte Glück, denn Pfarrer Osiecki war damals gerade, nach zehn Jahren Missionsarbeit auf Papua Neuguinea, in seine Heimat zurückgekommen und zu jener Zeit dabei eine erste Anlaufstelle für Emigranten („Centrum Emigranta“) in der Warschauer Ostrobramska Straβe einzurichten. Dort konnten Fremde kostenlos Teetrinken und für 1 Zloty (ca. 25 Cent) ein Butterbrot bekommen, umsonst ins Internet gehen oder einen Polnisch Grundkurs besuchen. Osiecki und die ihn unterstützenden Ordensschwestern begleiten ihre Schützlinge ebenfalls zu den Ämtern.

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Der Warschauer Pfarrer Edward Osiecki steht den Vietnamesen seit elf Jahren bei.

Hilfe bekommt hier jeder. Osiecki fragt nicht nach dem Glauben. Unter den Vietnamesen sind die meisten entweder ohne Glauben oder Buddhisten. Nie ist es bisher vorgekommen, dass einer von ihnen zum Katholizismus konvertieren wollte, weil er sich davon im katholischen Polen Vorteile versprach. Das machen nur diejenigen, die einen Polen oder eine Polin heiraten, wenn das dem polnischen Partner wichtig ist, weil er kirchlich getraut werden und die Kinder katholisch erziehen möchte. Die meisten Katholiken unter den in Polen lebenden Vietnamesen kamen allerdings schon als Katholiken ins Land.

Immer mehr polnischen Vietnamesen gelingt es inzwischen aus ihrem angestammten Milieu: Asia-Food-Restaurants oder dem Handel mit Billigkleidung auszubrechen. Auffälligstes Beispiel: Tao Ngoc Tu, dessen Vermögen mittlerweile auf 250 Mio. Zloty (gut 60 Mio. Euro) geschätzt wird. Reich gemacht haben ihn die „Vifon“-Tütensuppen mit den markant zusammen gepressten und gewellten Nudeln Made in Vietnam. Heute verkauft seine Firma „Tan Viet“ Soβen, Nudeln, Trockengemüse, getrocknete Pilze und Dörrobst.

Tao Ngoc Tu foto
Vietnamesich-polnischer Tütensuppen-Millionär Tao Ngoc Tu.

Tao Ngoc Tu meidet tunlichst die Medien. Einzig vor zwei Jahren, lieβ er sich zum runden Firmenjubiläum in Gdańsk feiern. Die Veranstaltung fand in der Technischen Hochschule statt, die der heutige Millionär vor 25 Jahren selbst absolviert hat.

Mehr als einhundert junge Vietnamesen, so Pfarrer Osiecki, die in Polen studiert haben, arbeiten inzwischen an exponierten Stellen in Groβunternehmen oder betreiben Firmen, die in ihrer Branche als bedeutend eingeschätzt werden. So wie Karol Hoang, der sich im Warschauer Immobiliengeschäft erfolgreich etabliert hat.

Die gelbe Stasi ist immer dabei

Doch eine Idylle ist das Leben der polnischen Vietnamesen keineswegs. Die vietnamesische Oppositionelle Ton Van Anh, inzwischen polnische Staatsbürgerin, weiβ viel darüber zu berichten, wie die vietnamesische Stasi im Emigrantenmilieu schnüffelt, Intrigen schmiedet, Gerüchte streut, die einen gegen die anderen ausspielt, die Menschen verunsichert.

Ton Van Anh foto
„Volksfeindin“ daheim. Ton Van Anh hat inzwischen die polnische Staatsbürgerschaft bekommen.

Ihre Eltern, obwohl vermögend, flüchteten Anfang der 90er Jahre nach Polen, die Heimat Johannes Paul II. und der „Solidarność“, weil sie in Freiheit leben wollten. Anh hat Soziologie an der Warschauer Universität studiert. Als sie eine oppositionelle, unabhängige Zeitschrift gründete, erklärte die vietnamesische Botschaft kurzerhand ihren Pass für ungültig. Von nun an war sie eine „Volksfeindin“, der Weg nach Vietnam ist für sie versperrt.

Ton Van Anh : „Viele würden sich wundern, wenn sie erführen, wie viele politische Flüchtlinge, die in Gefängnissen und Arbeitslagern gesessen haben oder als katholische Christen in Vietnam verfolgt worden sind, es unter den anonymen Nudel- und Textilverkäufern gibt.“

© RdP