Mit Putin telefonieren

Machen wir uns keine Illusionen: Viele in Europa wären über eine rasche Niederlage der Ukraine erleichtert. Anstatt zu helfen, telefonieren sie mit dem Aggressor

Der Elysée-Palast teilte am Samstag, dem 12. März mit, dass der französische Präsident Emmanuel Macron und Bundeskanzler Olaf Scholz erneut mit dem russischen Präsidenten Wladimir Putin in Sachen Krieg in der Ukraine telefoniert haben. „Die drei Staatschefs haben ein Telefongespräch geführt, in dem Frankreich und Deutschland von Russland die sofortige Einstellung des Krieges forderten“, so das Kommuniqué.

Nach Angaben des Elysée-Palastes hat Macron seit seinem letzten Treffen im Kreml am 7. Februar 2022 bereits neun Telefongespräche mit Putin geführt, darunter am Donnerstag, dem 3. März. Damals hieß es, dass „Macron und Scholz darauf bestanden, dass jede Lösung der Krise durch Verhandlungen zwischen der Ukraine und Russland erfolgen solle“. Macron, Scholz und Putin vereinbarten auch, in den kommenden Tagen weiterhin engen Kontakt zu halten.

Auf der einen Seite haben wir das Ausbremsen wirklich harter Sanktionen (Energieträgerembargo), die Russland in kürzester Zeit in die Knie zwingen könnten (auch wenn sie mit wirtschaftlichen Kosten für Europa verbunden sind), auf der anderen Seite den zwanghaften Hang zum Telefonieren mit dem Aggressor. Alle zwei oder drei Tage ein Anruf – immer mit dem gleichen Ergebnis. Der Nutzen dieser Telefonate für das Opfer, die Ukraine ist gleich Null, während gleichzeitig der Eindruck entsteht, dass Berlin und Paris psychologisch gar nicht in der Lage sind, einen harten, lang anhaltenden Konflikt mit Russland zu ertragen.

Man fragt sich wo wäre Polen, wenn es die Vereinigten Staaten nicht gäbe? Inwieweit könnte die Europäische Union, die ja von den beiden Telefon-Gesprächspartnern Putins dominiert wird, den Staaten im Osten, einschließlich Polen, eine robuste Sicherheit garantieren? Man wird den Eindruck nicht los, dass sehr viele in Westeuropa nach einer raschen Niederlage der Ukraine und dem Triumph Moskaus erleichtert aufatmen würden. Liebend gern würden sie danach erneut so etwas wie die Minsker Gespräche organisieren, bei denen die russischen Eroberungen besiegelt und die Ukraine politisch und militärisch mundtot gemacht würde, um sich reinen Gewissens wieder auf Putin einzulassen.

Aber man muss sich auch fragen: Wo stünden wir, wenn Macron und Scholz zumindest einen Teil der Energie, die sie für das antichambrieren im Kreml aufwenden, darauf verwendet hätten, wirksame Wege zur Bestrafung Russlands zu finden? Oder die Ukraine mit der den Waffen zu versorgen, die es ihr ermöglichen würden, der russischen Armee noch größere Verluste zuzufügen?

Sanktionen, Waffen, Hilfe für Flüchtlinge, Unterstützung für Staaten, die Ukrainer aufnehmen. So sollte die solidarische Antwort der freien Welt auf die russische Aggression aussehen. Alles andere ist in diesem Stadium des Krieges ein beschämendes Ausweichen.

RdP




Warum tust du das, Russland!? Polen fragen, Putins Mann antwortet

Nicht nur die Ukraine spaltet Russland und Polen. Niederschrift eines  denkwürdigen Gespräches.

Das ausführliche Interview mit dem russischen Botschafter in Warschau fand zwei Tage vor dem russischen Großangriff auf die Ukraine statt. Die Niederschrift dieses Gesprächs ist ein denkwürdiges Dokument. Es vermittelt tiefe Einblicke in die oft sehr brutale russische Denk- und Vorgehensweise, die auch in der Wortwahl russischer Beamter und Politiker ihren Ausdruck findet.

Sehr vieles von dem, was Botschafter Sergej Andrejew gesagt hat, wurde durch die nachfolgenden Ereignisse als unwahr widerlegt oder weitgehend relativiert. Es zeigt, wie naiv und gefährlich es sein kann, das was Wladimir Putins Russland von sich gibt, für bare Münze zu nehmen.

Sergej Andrejew.

Sergej Wadimowitsch Andrejew, geb. 1958 ist seit August 2014 russischer Botschafter in Polen. Vorher bekleidete er die Ämter des Botschaftsrates in Portugal, sowie des russischen Botschafters in Angola und Norwegen.

Frage: Herr Botschafter, es fällt uns schwer zu verstehen, warum Russland dem angeblich brüderlichen ukrainischen Volk so etwas antut: Armeeaufmarsch an den Grenzen, Einschüchterung, Terrorisierung. Warum das alles?

Sergej Andrejew: Die Ukrainer sind für uns nicht nur ein Brudervolk. Präsident Putin hat schon oft gesagt: wir sind in der Tat ein und dasselbe Volk.

Außerdem geht es uns nicht um das Volk, sondern um die Behörden, um das Regime, mit dem wir tatsächlich Probleme haben. Diese Leute verwandeln die Ukraine in einen Anti-Russland-Staat. Sie haben eine antirussische Haltung eingenommen. Antirussische Aktivitäten sind zum Sinn der Existenz dieses Regimes geworden. Ausländische Mächte nutzen das aus. Die Ukraine verwandelt sich zu einem Stützpunkt für ihre Aktionen gegen mein Land. Wir können das nicht ignorieren. Wir müssen daraus unsere Schlussfolgerungen ziehen.

Sie sprechen von einem „Regime“. Aber nach dem Maidan 2014 gab es eine Präsidentschaftswahl, die Präsident Poroschenko gewann, dann eine weitere, die er verlor, und Selenskyj wurde Präsident. Außerdem fanden demokratische Parlamentswahlen statt. Es gibt eine pluralistische Medienlandschaft und die Menschenrechte werden geachtet. Der in diesem Zusammenhang von Ihnen verwendete Begriff „Regime“ ist eine Umkehrung seiner Bedeutung. Vielmehr ist Russland ein stark zentralisierter Staat mit einer, wenn Sie den Ausdruck gestatten, weitgehend fiktiven politischen Szene.

Der 1954-1955 auf einer künstlichen Anhöhe, in einer der schönsten Gegenden im Zentrum von Warschau erbaute Komplex der sowjetischen (heute russischen) Botschaft ist ein kolossaler Prunkbau im Stil des stalinistischen Neoklassizismus. Er sollte den kolonialen Herrschaftsanspruch der Sowjets für alle sichtbar zum Ausdruck bringen. Ein vier Hektar großer Park umgibt die Gebäude.

Formal erkennen wir an, dass die ukrainische Verwaltung verfassungskonform bestimmt wurde und durch Wahlen legitimiert ist. Das Problem besteht darin, dass diese Verwaltung, unserer Meinung nach, nicht die wahren Interessen und den Willen des ukrainischen Volkes vertritt. Sowohl Poroschenko als auch Selenskyj sind mit den Losungen „Frieden“, „Beilegung der Krise im Osten des Landes“ und „Verbesserung der Beziehungen zu Russland“ in den Wahlkampf gezogen, und nachdem sie an die Macht gekommen sind, taten sie und tun weiterhin das Gegenteil.

Was das politische System Russlands betrifft, so gestalten wir es entsprechend den Bedingungen und Bedürfnissen unseres Landes, und legen dabei großen Wert auf die Gewährleistung von Stabilität, Entwicklung und Sicherheit. Dies entspricht den Interessen der überwältigenden Mehrheit der russischen Bürger. Das spiegelt sich in regelmäßigen, durchaus demokratischen und keineswegs fiktiven Wahlen wider. In Anbetracht des Bildes von einem politischen Bordell, das das politische Geschehen in der Ukraine seit vielen Jahre abgibt, erscheint die Wirksamkeit unseres politischen Systems umso offensichtlicher.

Selbst wenn es in der Ukraine so wäre, wie Sie sagen, ist es ein Merkmal der Demokratie, ein internes Recht der einzelnen Staaten, ihre eigenen Interessen festzulegen und sogar ihre politische Linie zu ändern. Wäre das eine Anschuldigung, die militärisches Vorgehen rechtfertigt, bliebe in der Welt kein Stein mehr auf dem anderen.

Nun, ich habe Ihnen nur zu erklären versucht, warum wir glauben, dass diese Regierung nicht das ukrainische Volk vertritt, nicht seinen wirklichen Interessen entspricht.

Proteste und Kämpfe auf dem Platz (Maidan) der Unabhängigkeit in Kiew zwischen November 2013 und Februar 2014 endeten mit der Flucht des prorussischen Staatspräsidenten Wiktor Janukowytsch und einem demokratischen Neuanfang in der Ukraine, dem sich Russland bis heute widersetzt.

Präsident Putin geht noch weiter. Kürzlich sagte er in einer seiner Reden, dass die Ukrainer nie eine echte Nation gewesen seien, dass die Ukraine ein untrennbarer Teil Russlands sei. Das, Herr Botschafter, ist demütigend für die Ukrainer und unwahr. Die nationale Identität wird durch den Volkswillen, die Sprache und die Geschichte bestimmt.

In diesem Fall jedoch, wird die nationale Identität durch die Verleugnung der wahren Geschichte der Ukraine, durch eine künstlich geschaffene Oppositionshaltung zu Russland und die Errichtung eines widernatürlichen Anti-Russlands geprägt. Das ist das Fundament der Daseinsberechtigung des Kiewer Regimes. In Wirklichkeit entbehrt diese Haltung jeder rationalen Grundlage. So etwas können wir nicht hinnehmen.

Welche Ukraine wäre nach Russlands Geschmack? Welche würde Russland in Ruhe lassen?

Wir möchten, dass die Ukraine ein friedlicher Staat ist, der wirtschaftlich und kulturell floriert und gute Beziehungen zu Russland unterhält.

Nach den Ereignissen des letzten Jahrzehnts erscheint die letzte Forderung unerfüllbar. Ein tiefer Graben ist entstanden, und es wurde Blut vergossen.

Wir sind der Meinung, dass eine Einigung zwischen unseren Völkern durchaus möglich ist, und wir wissen, dass die Mehrheit des ukrainischen Volkes das will. Den Ukrainern ist klar, dass die falsche Politik ihrer Behörden die Schuld daran trägt, was heute in den ukrainisch-russischen Beziehungen geschieht. So sollte es nicht sein.

Umfragen zeigen, dass in der Ukraine die Unterstützung für die Nato- und eine EU-Mitgliedschaft wächst. Es gibt auch keine Anzeichen für innere Spannungen. Im Gegenteil, die Ukraine ist geeint und solidarisch in Anbetracht eines womöglich bevorstehenden Überfalls.

Meine Herren, in der gegenwärtigen politischen und medialen Situation in der Ukraine, angesichts einer Welle kriegerischer Emotionen, ist es nicht möglich echte Meinungsumfragen durchzuführen. Doch selbst unter diesen Umständen zeigen die Umfragen, dass fast 20 Prozent der ukrainischen Öffentlichkeit die Politik ihrer Behörden gegenüber Russland ablehnt. Wie viele wären es, wenn es diese antirussische, banderistische, kriegsbefürwortende Kampagne nicht gäbe? Auf jeden Fall mehr.

Ist das wirklich eine Kampagne? Die ganze Welt sieht eine Truppenkonzentration, die darauf hindeutet, dass ein Angriff möglich ist. Diese Kriegsvorbereitungen werden nicht von der Ukraine, sondern von Russland getroffen. Das beschäftigt die führenden Politiker der Welt, und deshalb genehmigen sie die Lieferung von Verteidigungswaffen in die Ukraine.

Diese angeblichen Defensivwaffen werden in der sogenannten Anti-Terror-Operation im Osten des Landes eingesetzt. Gegen Menschen, die nicht vom Kiewer Regime regiert werden wollen. Das sind keine Verteidigungswaffen. Natürlich können wir groß angelegte Kriegsoperationen der Kiewer Behörden im Osten des Landes nicht ausschließen. Wir haben immer klar gesagt, dass wir in einem solchen Fall nicht gleichgültig bleiben können. Die Ukrainer haben es dennoch getan, und zwar kurz nachdem bekannt wurde, dass sich einige russische Truppen aus dem Übungsgebiet in ihre Stützpunkte zurückziehen. Zu diesem Zeitpunkt nahmen die Provokationen und der Beschuss in der Ostukraine drastisch zu.

Westliche Geheimdienste bestätigten weder den Rückzug der Truppen aus dem Übungsgebiet noch sahen sie eine Deeskalation.

Heute las ich in den polnischen Medien den Bericht eines Journalisten aus der Ukraine, der die Qualität der Arbeit westlicher Geheimdienste, einschließlich des amerikanischen, stark kritisierte. Und das ist wahr. Einmal ist von 100.000 Soldaten an den Grenzen die Rede, dann von 150.000 und schließlich von 170.000. Eine einfache Zählung, so der Autor, ergibt eine Zahl von höchstens 65.000, was für eine größere Offensivoperation nicht ausreicht.

Worum geht es also? Gibt es wirklich eine so große Konzentration von Armeen, dass man von einer Bedrohung sprechen kann? Es ist nicht der Fall, und bei der Kampagne, die seit Oktober und November läuft, handelt es sich einfach um eine riesige Desinformationsaktion. Ständig wird von der Gefahr einer großen russischen Operation gesprochen, und es werden Szenarien für die Besetzung Kiews und die Besetzung des ganzen Landes entworfen.

Vielleicht würde es genügen, sie überzeugend zu widerlegen?

Wir haben das von Anfang an getan. Wir legen die Fakten dar, aber niemand will auf uns hören, denn es geht nicht darum, dass die Menschen die Wahrheit kennen, sondern es geht um diese Kriegsstimmung. Man möchte, wenn letztendlich keine Invasion stattfindet, verkünden können, dass Politiker von Weltrang den Weltfrieden gerettet haben.

Die tatsächliche, groß angelegte Verlegung russischer Truppen, auch nach Weißrussland, ist die Hauptursache und Quelle der Spannung, der Angst um die Nato-Ostflanke sowie der Ursprung der Unterstützung des Westens, einschließlich Polens, für die Ukraine.

Sie lesen ja ukrainische Medien und wissen auch, dass selbst diese von Anfang an gesagt haben, dass die Bedrohung nicht so groß sei, wie sie von den Amerikanern dargestellt wird. Sie wussten, dass diese Panik die ukrainische Wirtschaft schädigen wird. Und genau das ist geschehen.

V. l. n. r.: Wladimir Putin (Russland), François Hollande (Frankreich), Angela Merkel (Deutschland) und Petro Poroschenko (Ukraine) verhandeln die Minsker Vereinbarungen im Februar 2015.

Jetzt haben wir die Entscheidung Russlands, die sogenannten Lugansker und Donezker Volksrepubliken anzuerkennen. Das ist ein Verstoß gegen das Völkerrecht, ein Versuch Grenzen in Europa zu verändern, was zu vielen Kriegen führen kann. Diskussionen darüber, ob Grenzen gerechtfertigt oder nicht gerechtfertigt sind, können den Beginn einer europäischen Katastrophe markieren.

Lassen Sie uns die Fakten ordnen. Es gab die Minsker Abkommen von 2014 und 2015. Das Problem war, dass die ukrainischen Behörden von Anfang an nicht umsetzen wollten, was sie selbst vereinbart hatten. Alles, was getan werden muss damit Frieden herrscht, ist dort verankert und in der Resolution des UN-Sicherheitsrates bestätigt.

Die Kiewer Behörden haben das alles zwar unterschrieben aber nicht geliefert. In letzter Zeit sagen Präsident Selenskyj und sein Gefolge ganz offen, dass sie die Minsker Vereinbarungen nicht mögen und nicht die Absicht haben, sie umzusetzen. Es wird behauptet, dass Präsident Poroschenko gezwungen wurde, diese Abkommen zu unterzeichnen, und dass ihre Umsetzung zum Auseinanderbrechen des Landes führen wird. Nun, man kann Verschiedenes sagen, aber die Dokumente sind da. Die Ukraine sollte sich daran halten.

Der russische Präsident Boris Jelzin, der amerikanische Präsident Bill Clinton, der ukrainische Präsident Leonid Kutchma und der britische Premierminister John Major (v.l.n.r.) am 5. Dezember 1994 bei der Unterzeichnung des Budapester Memorandums.

Davor gab es das Budapester Memorandum vom Dezember 1994, in dem sich die USA, Großbritannien und Russland verpflichteten, die Souveränität und territoriale Integrität der Ukraine zu achten, wenn diese im Gegenzug ihre Atomwaffen aufgibt. Dieses hat Russland durch die Besetzung der Krim gebrochen.

Niemand garantierte der Ukraine die Anerkennung der Ergebnisse eines Staatsstreichs. Niemand hat den illegalen Behörden, die nach dem Maidan-Putsch von 2014 und vor den darauf folgenden Präsidentschaftswahlen entstanden sind, das Recht gegeben, den russischsprachigen Teil der Bevölkerung im Osten des Landes zu unterdrücken. Niemand hat garantiert, dass er das Vorgehen der illegalen Behörden gegen die Bevölkerung unterstützen wird, die diesen Staatsstreich abgelehnt hat.

Herr Botschafter, Sie wissen doch sehr gut, dass es im Leben jeder Nation dramatische Momente und schmerzhafte Veränderungen geben kann. Es ist wichtig, dass anschließend die Legitimität durch freie Wahlen wiederhergestellt wird. Auch Verfassungen sind nicht ewig gültig.

Wahlen nach einem Staatsstreich sind immer Wahlen, die nicht ganz glaubwürdig sind. In diesem Zusammenhang ist der Verweis auf das Budapester Memorandum nicht gerechtfertigt, da die Änderungen der ukrainischen Grenzen durch interne Ereignisse verursacht wurden. Auch die Minsker Vereinbarungen beruhen auf dieser Sichtweise. Sie sollten den Ausstieg der Ukraine aus dieser Situation erleichtern. Die Kiewer Behörden unterzeichneten sie, taten dann aber nichts, um sie umzusetzen. Anschließend erklärten sie, dass diese nicht umgesetzten Vereinbarungen nicht funktionierten. Wir jedoch glaubten, dass das die einzig mögliche Grundlage für die Lösung dieses Problems war.

Aber Sie haben die Abspaltung der Republiken Lugansk und Donezk anerkannt. Das ist das Ende der Minsker Vereinbarungen.

Ja, es gibt sie nicht mehr, aber die Schuld dafür liegt allein bei den Kiewer Behörden.

Können diese Republiken, aus der Sicht Russlands, in die Ukraine zurückkehren?

Wir haben ihre Unabhängigkeit anerkannt.

Russland hat gefordert, dass die Ukraine die Minsker Vereinbarungen umsetzt. Aber sie waren nicht umsetzbar. Die dort empfohlene Föderalisierung wäre gleichbedeutend mit der Übernahme der Kontrolle über die Ukraine durch Russland gewesen, und das Land selbst hätte aufgehört als einheitliches Gebilde zu existieren.

Sie können sagen, was Sie wollen. Es gab das Abkommen und das, was darin stand: Verfassungsreform, Sonderstatus für die Regionen Donezk und Lugansk, Amnestie, Austausch von Gefangenen, Wahlen, Anerkennung der Behörden in den beiden abtrünnigen Regionen und schließlich Wiederherstellung der ukrainischen Kontrolle über die Grenze.

Es ist schwer vorstellbar, dass in Donezk und Lugansk freie Wahlen stattfinden können, auch wegen der Vertreibung eines Teils der dortigen Bevölkerung und des Fehlens freier Medien.

Auch in der Ukraine waren nach dem Putsch Wahlen nur schwer vorstellbar.

Wird Russland versuchen, das von den Donezker und Lugansker Volksrepubliken kontrollierte Gebiet auf den gesamten Bereich ihrer Verwaltungsgrenzen auszudehnen? Der westliche Teil dieser Republiken befindet sich weiterhin in ukrainischer Hand.

Russland hat die Volksrepubliken Donezk und Lugansk innerhalb der in ihren Verfassungen verankerten Grenzen anerkannt. Wir gehen davon aus, dass die territorialen Fragen bei Gesprächen zwischen den Volksrepubliken und den Behörden in Kiew geklärt werden, sobald das möglich ist.

Der Preis für die jüngsten Ereignisse ist die Aussetzung des Starts von Nord Stream 2.

Diese Gaspipeline wird sich noch als notwendig erweisen. Die Nachfrage nach russischem Gas ist sehr groß. Das Fernleitungsnetz auf ukrainischem Gebiet ist in einem schlechten Zustand, und es ist nicht klar, wie lange es noch funktionieren wird.

Dazu eine allgemeine Bemerkung: Es ist heute klar, dass es ohne langfristige Verträge keine stabile Gasversorgung geben kann. So teure Anlagen wie die Pipelines kann man nicht ohne eine Abnahmegarantie rentabel verlegen und betreiben. Russland hält sich an alle seine Vereinbarungen. Es stimmt nicht, dass wir Energie für politische Erpressung benutzen, denn wir sind von diesen Geschäften genauso abhängig wie die Gasabnehmer.

Russischer Nationalstolz auf der besetzten Krim.

Russland hat die Krim besetzt, was international nicht anerkannt wird. Hätte Kiew die Minsker Vereinbarungen umgesetzt, hätte Russland dann die Krim an die Ukraine zurückgegeben, zu der die Halbinsel völkerrechtlich immer noch gehört?

Die Krim ist zu Russland zurückgekehrt, und zwar für immer. Die Krim wurde zufällig ein Teil der Ukraine. Hätte Boris Jelzin Ende 1991 bei dem Treffen zur Auflösung der Sowjetunion im Belowescha-Wald die Krim erwähnt, hätte der damalige ukrainische Präsident Leonid Krawtschuk sie ihm ohne Probleme zurückgegeben. Jeder wusste, dass die Halbinsel in Wirklichkeit ein Teil Russlands war, den Chruschtschow 1954 willkürlich der Ukrainischen Sozialistischen Sowjetrepublik zugeschlagen hatte.

Die dortige Bevölkerung ist zu fast 70 Prozent russisch und zu 90 Prozent russischsprachig. Nach dem Maidan-Staatsstreich in Kiew von 2014 sahen diese Menschen, was geschah und was sie erwartete. Sie wollten nicht in einer Welt leben, in der sie nicht einmal frei Russisch sprechen dürfen. Ich weiß, dass das Referendum, das dort stattgefunden hat, vom Westen nicht anerkannt wird. Aber jeder, der die Situation auf der Krim kennt, weiß, dass eine Wiederholung jederzeit zu demselben Ergebnis führen würde.

Sie wissen, Herr Botschafter, wie heftig Russland gegen die tschetschenischen Unabhängigkeitsbestrebungen gekämpft hat und mit welcher Empörung es auf die Abspaltung des Kosovo von Serbien reagiert hat. Ihr Land sah damals ein, dass die territoriale Integrität von Staaten sehr wichtig ist für den Frieden und für die Grundsätze des Völkerrechts. Und heute reißen sie die Ukraine auseinander.

Auf der Krim haben alle Einwohner gewählt, niemand ist gegangen, niemand ist dazugekommen. In Tschetschenien musste die Hälfte der Einwohner vor Extremisten und Terroristen fliehen. Im Kosovo gab es kein Referendum, auch nachdem die serbische Bevölkerung geflohen war. Diese Situationen sind daher nicht miteinander vergleichbar.

Sie sagen, dass die heutigen ukrainischen Behörden nicht repräsentativ seien. Repräsentativ für Russland waren nur die Zustände vor dem Maidan 2013 bis 2014.

Aber liegt das Problem nicht woanders? Ist es nicht so, dass das was Russland anderen Nationen anzubieten hat, schlicht und einfach nicht attraktiv und interessant genug ist? Sogar die Weißrussen haben rebelliert. Beide Gesellschaften, die weißrussische und die ukrainische, die die Transformation langsam hinter sich lassen, schauen sich um und nehmen den Weg in den Westen. Sie vergleichen und sehen, dass sich die Länder des Westens schneller entwickeln und die Menschen dort viel besser leben. Das lässt sich nicht leugnen, auch wenn es für Ihr Land sehr unangenehm ist.

Die Situation ist nicht so eindeutig. Bis 2013 entwickelte sich die Ukraine ohne Konflikte und Kriege, aber sie hatte ernsthafte Probleme. Was Weißrussland angeht, so war nur ein kleiner Teil der Gesellschaft unzufrieden.

Es kam jedoch zu großen Demonstrationen, Protesten und schließlich zu einer Massenauswanderung.

Das ändert nichts an der Tatsache, dass es kein bedeutender Teil der weißrussischen Gesellschaft war. Und die Attraktivität der Annäherung an Russland lässt sich nicht daran messen, was die westlichen Eliten dazu sagen.

Außer Kriege zu führen gibt es eine Menge anderes für Russland zu tun.

Sollte Russland seine Energie nicht auf die Ansammlung von Kapital, auf die wirtschaftliche Entwicklung, die Verbesserung der Lebensqualität und Verlängerung von Lebensdauer, den Ausbau des Straßennetzes, die Bekämpfung der demografischen Krise und der Entvölkerung des Fernen Ostens richten? Träumt Russland nicht etwa einen imperialen Traum und verschließt dabei die Augen vor der Wirklichkeit?

All das tun wir bereits, trotz der Pandemie, mit großem Erfolg. Die letzten Jahre waren nicht einfach, aber die Lebenserwartung ist gestiegen. Die Einkommen der Bevölkerung sind, trotz Sanktionen und der Notwendigkeit, die Wirtschaft daran anzupassen, stabil geblieben. Wir bauen Straßen, wir haben viele Sozialprogramme aufgelegt, wir entwickeln den Fernen Osten.

Das darf jedoch nicht auf Kosten der Sicherheit gehen. Auch all die Erzählungen über die angeblich außergewöhnliche Bewaffnung Russlands sind nicht wahr. Der russische Verteidigungshaushalt bleibt auf dem gleichen Niveau wie der Großbritanniens und Frankreichs, und ist um ein Vielfaches geringer als der der Vereinigten Staaten.

Das, Herr Botschafter, ist keine vollständige Beschreibung der Situation. Die Kaufkraft des Geldes ist bei ihnen eine andere, sie besitzen zudem ihre eigene Rüstungsindustrie.

Ja, diese Faktoren spielen eine Rolle, aber selbst wenn man sie berücksichtigt, ist die mediale Beschreibung der angeblich großen Aufrüstung Russlands unzutreffend. Unter allen Gesichtspunkten: Militärausgaben, Anzahl der Streitkräfte, Waffentypen, liegt Russland weit hinter der Nato zurück. Es ist schon sehr erstaunlich, dass Russland als eine große militärische Bedrohung angesehen wird.

Das liegt daran, dass niemand sonst an den Grenzen seiner Nachbarn einschüchternde Manöver veranstaltet.

Warum einschüchternd? Das sind normale Übungen. Auch die Nato hält Übungen ab, zum Beispiel im Baltikum, in Polen, und sie sind für uns keineswegs weniger einschüchternd, als die russischen Übungen für die Nato.

Es gibt eine Häufung von Erfahrungen, dass das heutige Russland nicht davor zurückschreckt, Gewalt anzuwenden.

Auch wir haben Erfahrungen mit dem Verhalten der Nato gesammelt, die sich hartnäckig auf Russland zubewegt, ohne ihre früheren Versprechen einzuhalten. Und wir haben eine Anhäufung von historischen Erfahrungen, die zeigen, dass wir immer wieder angegriffen wurden.

Einmarsch und die verheerenden sowjetischen Verluste in Finnland 1939-1940.

Nur um zwei erst beste Beispiele zu nennen: Von Polen im September und von Finnland im November 1939 wurden sie nicht angegriffen.

Was Finnland betrifft, so kann man darüber diskutieren. Tatsache jedoch ist, dass vor dem Krieg 1941-1945, als Finnland zu einem Verbündeten Deutschlands wurde, die Grenze weg von Leningrad verlegt werden musste und das geschah im Frühjahr 1940. Ohne das, hätten wir die Stadt vor den Deutschen nicht verteidigen können. Was die Ereignisse in Polen, im September 1939 betrifft, so nehmen wir diese, wie Sie wissen, anders wahr, als es in Polen allgemein der Fall ist.

Viele Beobachter glauben, dass die russischen Behörden Angst vor dem ansteckenden Beispiel der Ukraine haben. Vor einem demokratischen Land, das sich zudem wirtschaftlich erfolgreich entwickeln könnte.

Wo sehen Sie die besonderen wirtschaftlichen Erfolge der Ukraine? Hunderttausende von Ukrainern gehen auf der Suche nach Arbeit nach Russland oder nach Polen.

Das Wirtschaftswachstum war anständig, die Armee wurde gestärkt und der Staat brach nicht zusammen.

Das Wirtschaftswachstum war nach der Pandemie überall anständig. Es fällt mir sehr schwer, Erfolge in der Ukraine zu sehen. Im Gegenteil, selbst in der Mannschaft, die die letzten Wahlen gewonnen hat, entbrannten interne Konflikte. Oppositionelle, darunter der ehemalige Präsident Poroschenko, wurden verfolgt.

Auch Länder, die derzeit Nato- und EU-Mitglieder sind, wie Estland, Lettland und Litauen, machen sich Sorgen um ihre Zukunft.

Als Nato-Mitglieder haben sie doch die von ihnen gewünschten Sicherheitsgarantien bekommen. Was sollen sie noch befürchten? Unsere westlichen Partner erzählten uns seinerzeit, die baltischen Staaten hätten Angst vor uns, aber wenn sie der Nato beiträten, würden sie sich beruhigen und unsere Beziehungen würden sich verbessern. Doch es geschah ganz anders. Sie kommen nicht zur Ruhe und jagen ihren Nato- und EU-Verbündeten immer wieder Angst und Schrecken vor dem „gefährlichen Russland“ ein.

Diese Ängste beziehen sich auf Ereignisse, die auch wir aus der eigenen Geschichte kennen. Ja, die Möglichkeit der Auslöschung der biologischen Existenz der Polen und aller anderen Slawen, im Falle eines deutschen Sieges im Zweiten Weltkrieg, war akut gegeben. Der Einmarsch der Sowjets hat sie abgewendet.

September 2019. Eine der vielen Beerdigungen einst anonym verscharrter, jetzt wiedergefundener, exhumierter und identifizierter Opfer des kommunistischen Terrors in Polen.

Doch anders als in Russland behauptet wird, konnte der sowjetische Soldat Polen nicht die Freiheit bringen, weil er sie selbst nicht hatte. Die Folterkeller der sowjetischen politischen Polizei NKWD und der von ihr angeleiteten polnischen Stasi UB. Die Massendeportationen von Polen nach Sibirien. Der Versuch ganze gesellschaftliche Schichten auszulöschen. Die Hölle der Folterungen und politischen Prozesse, durch die die gegen die Deutschen kämpfenden Helden des polnischen Widerstandes nach dem Krieg gehen mussten. Die Unterdrückung der Kirche. Das Aufzwingen des heuchlerischen und ineffizienten kommunistischen Systems. All das sieht das heutige Russland, das von der „Befreiung Europas vom Hitlerismus“ schwärmt, nicht.

Doch, es sieht das, weil wir selbst eine zwiespältige Haltung zu unserer eigenen Geschichte nach 1917 haben. Niemand in unserem Land sagt, dass die Roten nur gut und die Weißen nur schlecht waren. Wir versuchen, unsere Geschichte ausgewogen zu betrachten, um zu verstehen, warum bestimmte Prozesse stattgefunden haben, was sie verursacht hat. In jeder Periode, sowohl in der Zeit vor 1917 als auch in der Sowjetzeit, gab es Gutes und Schlechtes. Man kann nicht sagen, dass alles nur ein Albtraum war, ein „schwarzes Loch“. Dies gilt selbst für die Zeit des Stalinismus.

Warschau im April 1992. Tausende Polen kamen zu den Veranstaltungen der zum ersten Mal aus Moskau angereisten Mitarbeiter der russischen Gedenkvereinigung Memorial, auf der Suche nach Informationen über ihre in die sowjetischen Lager in Sibirien und Kasachstan zwischen 1939 und etwa 1947 verschleppten und verschollenen Angehörigen.

Die ausgehungerten, gemarterten Millionen Opfer des Kommunismus lassen eine solche Sichtweise nicht zu. Das hieße, sie erneut zum Tode zu verurteilen. Derweil wird in Russland heute sogar die Gedenkvereinigung Memorial aufgelöst, die, neben vielem anderen, Erhebliches bei der Aufdeckung der Schicksale und der Förderung des Gedenkens an die polnischen Opfer des Kommunismus und des Gulag geleistet hat.

Die Gründe für die Auflösung von Memorial waren ausschließlich auf die Gesetzesverstöße des Vereins zurückzuführen. Die siebzig Jahre dauernde Sowjetzeit war eine Zeit enormer Fortschritte in der Entwicklung unseres Landes, seiner Wirtschaft, Wissenschaft, Kultur, im sozialen Bereich und bei der Beseitigung der Klassenunterschiede. Es ist die Zeit des Sieges über den Hitlerismus. Wir erinnern uns an die Opfer der Unterdrückung besser als jeder andere, denn sie waren unsere Vorfahren.

Wir sehen aber auch, wie ausländische Pseudo-Verteidiger der Menschenrechte dieses schmerzhafte Thema nutzen, um unsere Geschichte zu besudeln. Ich betone: In jeder Epoche der Geschichte muss man das Positive und das Negative sehen. Niemals darf ausnahmslos alles auf der Müllkippe der Geschichte abgeladen werden: all die Anstrengungen von Generationen und ihre Errungenschaften.

Hätte jemand das Dritte Reich dafür gelobt, dass es Autobahnen gebaut und die Sozialfürsorge entwickelt hat, wären Sie, Herr Botschafter, der Erste gewesen, der sich empört hätte.

Das Dritte Reich ist eine absolute Ausnahme. Es gab keinen anderen Staat, der sich die physische Vernichtung ganzer Völker, die Ausrottung von Kindern, Frauen und Männern zum Ziel gesetzt hat. Das Naziregime wurde von unserem Land, einer „versklavten“, wie Sie sagen, Nation, beseitigt, als nur wenige in Europa bereit waren, es zu bekämpfen und ihre Freiheit in einem Kampf auf Leben und Tod zu verteidigen.

In den Äußerungen von Präsident Putin schwingt immer wieder die Sehnsucht nach der Sowjetunion mit. Sind auch Sie der Meinung, dass das eine Art Vorschlag für die Länder und Völker sein könnte, die einst im sogenannten Ostblock gefangen waren?

Auch ich verspüre eine Sehnsucht nach der Sowjetunion. Denn ich habe in diesem Land gelebt, bis ich 33 Jahre alt war. Es war die Zeit meiner Kindheit, Jugend und meines Studiums. Es gab viele gute Dinge in der Sowjetunion, an die wir uns heute noch gerne erinnern. Natürlich gab es auch schlimme Dinge, und wir verschließen nicht die Augen vor ihnen, denn wir wissen, dass sie zum Zusammenbruch der UdSSR geführt haben. Aber hier kommen wir wieder auf denselben Punkt zurück: Können ganze Generationen, viele Jahrzehnte menschlicher Arbeit als ein historisch nicht existierendes schwarzes Loch betrachtet werden? Selbst wenn man es versucht, wird es nicht funktionieren.

Aus den Worten, aber auch aus den Taten von Präsident Putin kann man schließen, dass das Ziel darin besteht, die Sowjetunion wieder zu errichten.

Das hat er nie gesagt.

Aber diese Signale der Sehnsucht deuten darauf hin.

Die Sehnsucht haben die meisten, die in der UdSSR gelebt haben. Ich glaube, es war Oleksandr Moros, einst Vorsitzender des ukrainischen Obersten Sowjets, der sagte, dass derjenige, der sich nicht nach der Sowjetunion sehnt, kein Herz, aber derjenige, der sie unter den gegenwärtigen Umständen wiedererrichten möchte, keinen Verstand hat. Diese Aussage hat Präsident Putin mehr als einmal erwähnt.

Diese Vision, diese Sehnsucht, erschreckt die Völker, die während der Sowjetära versklavt waren.

Versklavt? Von welchen Nationen sprechen Sie?

Von den Balten, Georgiern, Moldawiern, Rumänen, Ungarn, den Polen und vielen anderen.

Sie waren nicht versklavt!

Sie waren es, und wir waren es auch.

So denken wir nicht. Wir haben versucht, eine Gemeinschaft befreundeter Nationen aufzubauen, und es wurden große Anstrengungen unternommen, auch mit Polen gute Beziehungen aufzubauen. Das ist uns nicht gelungen.

Heute sind alle Beziehungen eingefroren, auch die kulturellen. Es gab Versuche, wenigstens die kulturelle Zusammenarbeit zu intensivieren, aber Russland lehnt das ab. Woher kommt diese Einstellung?

Dies ist auf die Haltung der polnischen Seite zurückzuführen, die 2014 beschlossen hat, die politischen Beziehungen einzufrieren.

Nach der Besetzung der Krim.

Man sagte uns rundheraus, dass es keine Kontakte auf ministerieller und höherer Ebene geben wird, keine parlamentarischen Kontakte, und dass Polen westliche Sanktionen gegen Russland anstreben würde. Das „Polnische Jahr“ in Russland und das „Russische Jahr“ in Polen, die für 2015 geplant waren, wurden abgesagt. Heute beschränkt sich der kulturelle Austausch, der ohne staatliche Unterstützung stattfindet, auf kommerziell organisierte, private Veranstaltungen. Eigentlich gibt es in diesem Bereich nur noch zwei Ausnahmen: das russische Filmfestival „Sputnik“ in Polen und das polnische Filmfestival „Weichsel“ in Russland.

Auf die Initiative Polens hin, wurde der kleine Grenzverkehr mit Kaliningrad ausgesetzt. Das geschah bereits unter der jetzigen Regierung von Recht und Gerechtigkeit. Noch unter der vorangehenden Regierung der Bürgerplattform wurde der Abriss von Ruhmesdenkmälern für die Sowjetarmee, die Armee der Befreier, die nicht mehr als Befreier anerkannt werden, angekündigt. Und das passiert jetzt. All das lässt in der russischen Öffentlichkeit ein Bild von Polen entstehen, als einem Land, das sich nicht um eine Normalisierung der Beziehungen zu Russland bemüht. In allen Fragen steht Polen immer gegen Russland.

Dabei gibt es keine wirklichen Hindernisse für eine Verbesserung der russisch-polnischen Beziehungen. Es ist jederzeit möglich, die politischen Kontakte wieder aufzunehmen, die wirtschaftliche Zusammenarbeit mit Unterstützung der zuständigen zwischenstaatlichen Kommission zu aktivieren, die kulturellen, wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Beziehungen zu beleben und die „Megafon-Diplomatie“ einzustellen. Die polnische Seite verspürt jedoch keinen solchen Willen, folglich brauchen wir das ebenso wenig wie unsere polnischen Partner. Es bleibt also vorerst alles beim Alten.

Staatspräsident Lech Kaczyński am 12. August 2008 auf der Kundgebung in Tbilisi, während des russisch-georgischen Krieges. Neben ihm die Staatspräsidenten der Ukraine Juschtschenko, Litauens Adamkus, Estlands Ilves und der lettische Ministerpräsident Godmanis, die Kaczyński gebeten hatte mit ihm nach Tbilisi zu fliegen.

Wir können dazu nur sagen, dass die polnische Überzeugung, Russland wolle sein Imperium auf Kosten seiner Nachbarn wieder aufbauen, richtig war. Solche Stimmen häufen sich auch in der westlichen Presse, die zugibt, dass der verstorbene Staatspräsident Lech Kaczyński Recht hatte, als er im August 2008, auf der berühmten Kundgebung in Tiflis sagte: „Heute Georgien, morgen die Ukraine, übermorgen die baltischen Staaten, und später könnte die Zeit für mein Land, Polen, kommen“. Russische Truppen standen damals wenige Kilometer entfernt von der georgischen Hauptstadt.

Ich möchte Sie daran erinnern, dass Staatspräsident Lech Kaczyński das nach dem Nato-Gipfel von Bukarest im April 2008 sagte, auf dem bekannt gegeben wurde, dass Georgien und die Ukraine, nicht sofort, aber in der Zukunft, der Nato beitreten werden. Dieses Versprechen ermutigte den georgischen Präsidenten Saakaschwili zu einem wahnwitzigen Angriff auf Südossetien und die russischen Friedenstruppen dort. Schon damals konnte der polnische Staatspräsident ernsthafte Probleme wegen der Nato-Beitrittspläne der Ukraine vorhersehen. Er hat jedoch in diesem Kontext Polen und die baltischen Staaten unnötigerweise erwähnt. Als Nato-Mitglieder wurden sie, damals wie heute, ganz sicher von niemandem mehr bedroht.

In Bezug auf Georgien und die Ukraine wurde in Bukarest 2008 eine allgemeine Ankündigung der Politikrichtung vorgenommen. Auf den folgenden Nato-Gipfeln rückte diese Aussicht in sehr weite Ferne.

Ja, aber es war dennoch ein klar umrissener politischer Plan. Es war zu erwarten, dass es Probleme geben würde, wenn jemand versuchte, ihn umzusetzen. Wir haben das immer offen gesagt.

Aber die Nato greift niemanden an! In der Geschichte hat es keinen solchen Fall gegeben. Es ist ein Verteidigungsbündnis.

Ja? Und Jugoslawien?

Dort beendeten die Nato und die Amerikaner ein blutiges Gemetzel, das Europa nicht beenden konnte.

Was ist mit dem Irak? Was ist mit Libyen? Was ist mit Syrien? Was ist mit den Farbrevolutionen oder hybriden Kriegen, die von der Nato angezettelt wurden, lange bevor man anfing, Russland solcher Kriege zu beschuldigen?

Soziale Explosionen in nicht-demokratischen Regimen allein auf westliche Inspiration zurückzuführen, das hält der Kritik nicht stand. Die Farbrevolutionen, wie die Orange Revolution in der Ukraine 2004 oder die Jasminrevolution in Tunesien 2010 bis 2011 brachen aus, weil die Menschen der oligarchischen Systeme müde wurden, weil sie ihre Kritik, ihren Unmut nicht anders äußern konnten. Könnten westliche Geheimdienste wirklich ganz Weißrussland aufgebracht haben, das ein Vierteljahrhundert lang von einer Person regiert wurde, oder hatten die Weißrussen davon einfach die Nase voll?

Ganz gewiss haben ausländische Geheimdienste zu diesen Ereignissen beigetragen. In Weißrussland gewann Alexander Lukaschenko die Wahl im Jahr 2020. Daran gibt es keinen Zweifel.

Er hat angeblich mit 80 Prozent gewonnen!

Etwas weniger, etwas mehr, ich weiß es nicht. Es besteht jedoch kein Zweifel daran, dass er die Wahlen gewonnen hat und nicht Frau Tichanowskaja. Die anschließenden Demonstrationen und Proteste waren ein Versuch, die Rechtsordnung von Weißrussland zu untergraben.

In Warschau, unter anderem in der Nähe der Botschaft, in der wir gerade sprechen, finden ebenfalls verschiedene Demonstrationen statt, von denen die meisten sehr regierungsfeindlich sind. Darum geht es ja bei der Meinungsfreiheit, aber wahrscheinlich nicht in Russland oder Weißrussland.

Man darf demonstrieren, aber ohne Gewalt und ohne gegen die Gesetze zu verstoßen.

Demontiertes Ruhmesdenkmal in Dąbrowa Górnicza/Dombrowa, Oberschlesien.

Demontiertes Ruhmesdenkmal in Inowrocław/Hohensalza.

Herr Botschafter, Sie haben die Entfernung von Ruhmesdenkmälern für die Sowjetarmee, die nicht entstanden sind, weil die polnische Gesellschaft sie errichten wollte, erwähnt. Die Öffentlichkeit in Russland lebt jedoch in dem Irrglauben, dass es sich bei den Entfernungen um Friedhöfe handelt. Diese Friedhöfe werden jedoch gut gepflegt und geschützt, wovon man sich in Masowien, z. B. in Warschau oder in der Nähe von Pułtusk, schnell überzeugen kann.

Es war unterschiedlich. Manchmal ging die Initiative vom Kommando der vor Ort stationierten sowjetischen Truppen aus, das der gefallenen Kameraden gedenken wollte. Oft jedoch entstanden die Ruhmesdenkmäler auf polnische Initiative.

Ruhmesdenkmal in Warschau. Demontage 2011. In ganz Polen gab es 306 Ruhmesdenkmäler der Roten Armee.

Selbst wenn das so war, dann geschah das unter den Bedingungen der Unfreiheit. Die Initiative ergriffen offizielle, kommunistische Stellen. Wer sich widersetzte, dem drohten Verhöre, Inhaftierung, Folter, manchmal der Tod.

Sie selbst haben die biologische Bedrohung für die Existenz der polnischen Nation im Falle eines deutschen Sieges erwähnt. Einigen wir uns also darauf, dass durch diese Ruhmesdenkmäler nicht der Befreiung, sondern der Rettung der polnischen Nation gedacht werden sollten. Ein Verdienst, für das es sich lohnt, ein Denkmal zu setzen, nehme ich an? In jenen Tagen teilten die meisten Polen diese Dankbarkeit für die Befreiung vom schrecklichen Faschismus, sie erinnerten sich daran, was ihnen gedroht hätte, wenn die Sowjetarmee nicht gekommen wäre.

Die massenhafte Beseitigung der Ruhmesdenkmäler, die Leugnung der Tatsache, dass Polen von der Roten Armee befreit wurde, und der Vorwurf der Okkupation werden von uns als Beleidigung des Gedenkens an 600.000 sowjetische Soldaten und Offiziere empfunden, die im Kampf gegen die Nazis auf polnischem Gebiet gefallen und hier begraben sind. Damit werden wir uns nie abfinden.

Wir entfernen auch Denkmäler, die polnischen Persönlichkeiten gewidmet sind, deren Gedenken nicht dem Willen des Volkes entsprach. Aber die Friedhöfe sind heilig.

Was die Denkmäler für Polen betrifft, so geht uns das nichts an. Was die Gräber betrifft, so erhalten wir jeden Monat Informationen über Vandalismus.

Das geschieht auch auf polnischen Friedhöfen und Denkmälern. Das können auch Provokationen sein.

Ich sage, wie es ist. Polnische Behörden vertreten in Bezug auf die Friedhöfe der sowjetischen Soldaten den Standpunkt, dass diese, ebenso wie die Friedhöfe der deutschen Soldaten und anderer, geschützt sind. Für sie ist es nicht wichtig, wer gestorben ist und wofür.

Sowjetischer Soldatenfriedhof in Warschau.

Wir haben kürzlich eine Bestandsaufnahme der sowjetischen Soldatenfriedhöfe durchgeführt. Ein Drittel ist stark renovierungsbedürftig, die Hälfte ist sanierungsbedürftig. Gemäß den Vereinbarungen zwischen unseren Ländern, ist Polen für die Pflege der Friedhöfe zuständig, doch kann dies mit Genehmigung der Provinzbehörden auch von russischer Seite geschehen. Da die von den polnischen Behörden bereitgestellten Mittel für größere Renovierungsarbeiten nicht ausreichen, renovieren wir jedes Jahr drei bis vier Friedhöfe. In den Jahren 2020 und 2021 wurde uns die Genehmigung dazu mehrfach verweigert. Wir werden sehen, ob es sich um einen Zufall oder um eine dauerhafte Erscheinung handelt.

1940 nach Kasachstan zur Zwangsarbeit deportierte polnische Kinder.

Nach der Öffnung der von den Deutschen 1942 in Katyń bei Smolensk entdeckten Massengräber mit den, von den Sowjets 1940 ermordeten, polnischen Offiziere.

Russland vereinfacht die Geschichte stark in seinem Interesse. Den Polen fällt es schwer, den Molotow-Ribbentrop-Pakt, auch bekannt als Hitler-Stalin-Pakt, zu vergessen. Er öffnete der deutschen Maschinerie den Weg zur Eroberung Europas und spaltete die Nationen. Dann war da noch 1940 die Ermordung Tausender polnischer Offiziere in Katyń. Und in russischen Filmen beginnt alles immer im Juni 1941. 

Denn für uns begann damals der Krieg. Hier liegt keine Falschdarstellung vor. Der Weg zum Krieg wurde nicht durch den sowjetisch-deutschen Pakt geebnet, sondern durch das Münchner Abkommen von 1938, nach dem das deutsch-sowjetische Abkommen unvermeidlich wurde.

Und wir erinnern uns daran, dass es schon 1939 und 1940 lange Eisenbahntransporte aus den besetzten Gebieten der Republik Polen in die sowjetischen Lager in Sibirien und Kasachstan gab, dass es massenweise Verfolgungen, Hinrichtungen und die Morde von Katyń gegeben hat. Gleichzeitig lieferte die UdSSR in riesigem Ausmaß Getreide und Rohstoffe nach Hitlerdeutschland.

Einmarsch der Sowjets in Polen am 17. September 1939.

Deutsche und sowjetische Kommandeure nehmen am 29. September 1939 die gemeinsame Siegesparade der Wehrmacht und der Roten Armee im Polnischen Brześć/Brest ab.

Erstens: 1939 gewann die Sowjetunion von Polen die zur Ukraine und zu Weißrussland gehörenden Gebiete zurück. Zweitens: waren zu diesem Zeitpunkt weder Polen noch Großbritannien oder Frankreich bereit, eine große Koalition zur Abwehr der deutschen Aggression einzugehen. Stalin musste angesichts des Scheiterns der Gespräche mit den späteren Verbündeten eine Entscheidung treffen und beschloss, einen Nichtangriffspakt mit Deutschland zu schließen. Er wollte Zeit gewinnen, um sich auf den unvermeidlichen Krieg mit dem Dritten Reich vorbereiten zu können. Ich weiß, dass Polen und die Polen eine andere Sichtweise haben, aber unsere ist die, die ich dargestellt habe.

Eine Einigung ist hier in der Tat schwierig. Gleiches gilt für die Ursachen und den Verlauf der Tragödie des Flugzeugabsturzes von Smolensk am 10. April 2010. Es ist jedoch unbestreitbar, dass die Russische Föderation das Wrack des polnischen Flugzeugs, das Eigentum der Republik Polen ist, zurückhält. Es ist das wichtigste Beweismittel, das es ermöglichen würde, die Verfahren zur Untersuchung der Katastrophe abzuschließen.

Wir haben bereits mehrfach darüber gesprochen. Auf der Website unserer Botschaft gibt es einen ganzen Abschnitt mit den Erklärungen des Präsidenten und anderer hoher Beamter zu diesem Thema. Die Situation hat sich seit Jahren nicht geändert. Wir sind der Meinung, dass die Angelegenheit längst geklärt ist und die Ermittlungen eingestellt werden können.

Die polnische Seite ist dazu nicht bereit. Die polnische Staatsanwaltschaft setzt ihre Arbeit fort, ebenso wie die Kommission unter Leitung von Minister Antoni Macierewicz. Ihr Bericht sollte eigentlich veröffentlicht werden, aber wir warten immer noch darauf. In dieser Situation können auch unsere staatlichen Organe ihre Arbeit nicht abschließen. Unser Untersuchungsteam arbeitet, denn seine Aufgabe ist es, auf alle von der polnischen Seite vorgebrachten Behauptungen und Beweise zu reagieren, ihre Fragen zu beantworten und Besuche zur Inspektion des Unglücksortes und der Wrackteile zu organisieren. Und nach unserem Gesetz müssen die materiellen Beweismittel, in diesem Fall das Wrack, den Ermittlungsbehörden zur Verfügung stehen, solange die Ermittlungen andauern.

Das ist eine Art Erpressung: „Ihr müsst unseren Thesen zustimmen, eure Untersuchungen abschließen. Erst dann werden wir euch die materiellen Beweise liefern, die eure Schlussfolgerungen ändern könnten“.

Das Wrack wurde mehrfach von polnischen Experten untersucht.

Das Wrack des am 10. April 2010 abgestürzten polnischen Präsidentenflugzeuges verrottete einige Jahre lang unter freiem Himmel , bis es in einer Stahlbaracke auf dem Militärflugplatz von Smolensk eingelagert wurde.

Sie durften nur für kurze Zeit, unter strenger Kontrolle, ohne irgendwelche eingehenden Untersuchungen das Wrack in Augenschein nehmen, fotografieren, aber nicht einmal anfassen.

Das Wrack wurde von allen Seiten gründlich untersucht. Ich habe schon oft gehört, dass dieses Wrack eine emotionale, symbolische Dimension hat.

Auch.

Das kann ich nicht verstehen. Die Leichen der Opfer wurden sehr schnell, bereits drei Tage nach der Katastrophe, an die polnische Seite übergeben, da dies ihr Wunsch war. Die Eile, mit der dieses Verfahren durchgeführt wurde, führte später zu Beschwerden über den Zustand der Leichen und ihre Identifizierung, aber das ist keine Frage an uns. Innerhalb von zwei oder drei Tagen hat die russische Seite alles getan, was sie konnte. Aber ich habe noch nie gehört, dass ein Wrack irgendwo auf der Welt zu einem Gedenkobjekt wird.

Dieses Flugzeug war ein Stück der Republik Polen, ein Ort, an dem der amtierende Präsident und viele Mitglieder der Staatselite starben.

Für uns ist es nur ein wesentliches Beweismittel im Rahmen einer Untersuchung.

Die nachfolgenden Ereignisse, die Morde in Großbritannien, das Schicksal des vergifteten Nawalny und schließlich, und dabei bleiben wir, die Aggressionsabsichten gegen die Ukraine, haben bestätigt, dass der russische Staat zu den weitreichendsten und brutalsten Aktionen fähig ist.

Die „Aggression gegen die Ukraine“ lassen wir mal beiseite. Die Ereignisse auf der Krim und im Donbass heißen anders, das haben wir schon diskutiert. Was die Fälle Litwinenko, Skripal und Nawalny betrifft, so hat in keinem dieser Fälle jemand einen Beweis für die Schuld Russlands vorgelegt. In Großbritannien gab es einen gerichtlichen Prozess im Fall Litwinenko. Und was ist passiert? Nichts.

Es gibt Tonaufnahmen, die Nawalny vor seiner Rückkehr nach Russland vorgelegt hat. Dort bestätigen russische Beamte die Vergiftungsaktion und beschreiben sie im Detail.

Die Aufnahmen können bearbeitet und verfälscht sein. Wir haben von Anfang an bei den Behörden in Deutschland und anderen Ländern nachgefragt, wo angeblich Substanzen aus dem Körper von Nawalny auf Beweise untersucht wurden. Um welche Substanz handelt es sich?

Nowitschok.

Wir bitten um Beweise, nicht um eine Meinung. Alles, was wir immer wieder hören, ist: Ihr wisst, worum es geht, ihr müsst eure Schuld zugeben. So kann man nicht miteinander reden.

Russland erkennt keine Beweise an.

Wir sind bereit für eine ernsthafte, substanzielle Diskussion unter Beteiligung von Experten. Unsere westlichen Partner vermeiden diese Diskussion. Es geht nur um Anschuldigungen und „Megafon-Diplomatie“.

Haben Sie nicht den Eindruck, dass das Vorgehen Russlands den Westen in einem Ausmaß geeint hat, der noch vor wenigen Jahren kaum vorstellbar gewesen wäre? Selbst Deutschland schämt sich mittlerweile für seine Russland-Politik. Auch die Ukraine wurde nicht gebrochen oder eingeschüchtert. Russland ist dabei, das Spiel zu verlieren.

Wir spielen keine Spielchen. Es geht nicht darum, den Westen zu spalten oder die Ukraine einzuschüchtern. Unser Ziel ist es, die Sicherheit Russlands jetzt und in Zukunft zu gewährleisten. Seine Interessen sollen respektiert werden und es soll eine solide Grundlage für beiderseitig vorteilhafte Beziehungen mit unseren Partnern im Westen geschaffen werden. Leider hat es, als wir uns sanft, höflich und freundlich verhielten, nicht funktioniert.

Inwiefern hat es nicht funktioniert? Europa, einschließlich Osteuropa und Russland, erlebten drei Jahrzehnte des Friedens und der Entwicklung.

Ich möchte Sie daran erinnern, dass uns die westlichen Staats- und Regierungschefs am Ende des Bestehens der UdSSR versprochen haben, dass es keine Nato-Osterweiterung geben würde. Diese Zusicherungen erwiesen sich als inhaltsleer.

Es handelte sich lediglich um Fernseherklärungen des deutschen Außenministers Hans-Dietrich Genscher und des amerikanischen Außenministers James Baker im Jahr 1989, die kaum als völkerrechtliche Verpflichtung angesehen werden können. Nationen haben das Recht zu wählen, in welchen Bündnissen sie sein wollen.

Dies ist ein gutes Beispiel dafür, wie der Westen verfährt. Es handelte sich dabei um Erklärungen höchster Beamter so seriöser Länder wie der Vereinigten Staaten, Großbritanniens und Frankreichs. Sollen wir sie als unseriös betrachten? Ich verstehe, dass einige Länder in der Nato sein wollten, aber die Länder, die dieses Bündnis geschaffen haben, hatten auch das Recht zu entscheiden, ob sie es akzeptieren. Ob sie ihr Wort gegenüber Russland halten wollen. Ob es gut für ihre nationale Sicherheit ist. Es wäre besser, nach einem anderen System der internationalen Sicherheit zu suchen, nach gemeinsamen Garantien.

Sollte Polen nach dieser russischen Auffassung auch nicht in der Nato sein?

Außenminister Bronisław Geremek unterzeichnet am 12. März 1999 Polens Beitritt zur Nato.

Was geschehen ist, ist geschehen. Heute stellt sich die Situation wie folgt dar: Die Nato kann sich nicht weiter nach Osten ausdehnen, und es dürfen keine neuen Trennlinien in Europa geschaffen werden. Wir sollten uns dafür entscheiden, ein gemeinsames, geeintes Europa aufzubauen.

Unter der Mitaufsicht Russlands?

Nein, in gegenseitiger Harmonie, mit russischer Beteiligung.

Es fällt uns immer noch schwer zu verstehen, dass Russland, ein mächtiges Land mit 144 Millionen Einwohnern und einer Armee von fast einer Million Soldaten, Angst vor der Ukraine hat, deren Potenzial um ein Vielfaches kleiner ist. Sie hat auch Angst vor den baltischen Staaten, vor Polen.

Wir haben vor niemandem Angst.

Die russischen Staatsmedien behaupten allen Ernstes, die Ukraine bereite einen Angriff auf Donezk und Lugansk vor.

Wir lesen und hören Aussagen ukrainischer Nationalisten, dass der Kuban auch ihnen gehöre, Woronesch, ja sogar Sibirien. Wir nehmen das nicht ernst, wir haben vor niemandem Angst. Russland will nur ein nationales Sicherheitssystem aufbauen, in dem wir gemeinsam mit unseren westlichen Partnern die Grundsätze und Formen der Zusammenarbeit festlegen. Es kann nicht mehr so sein wie bisher: Die Nato entscheidet, die Europäische Union entscheidet, und Russland wird vor vollendete Tatsachen gestellt und kann sie entweder akzeptieren oder nicht, aber das interessiert niemanden mehr. So wird es nicht weitergehen.

In Russland singt man sogar, dass Alaska ihnen gehört.

Es handelt sich um ein Lied der Band „Lube“ mit dem Titel „Spiele nicht verrückt, Amerika“. Es ist nur ein Scherz.

RdP

Das Interview erschien im Wochenmagazin „Sieci“ („Netzwerk“) vom 28. Februar 2022.




Der letzte grosse Romantiker

Am 3. Februar 2022 starb Jarosław Marek Rymkiewicz. 

Es ist, als wäre plötzlich ein Vulkan erloschen. Wie kein anderer Autor hat Jarosław Marek Rymkiewicz im letzten Jahrzehnt die polnische politische Debatte durch seine sonderbaren Werke und seine prägnanten publizistischen Zwischenrufe befruchtet und befeuert. Das Parlament in Warschau gedachte seiner einhellig mit einer Schweigeminute. In einer gleichzeitig per Akklamation verabschiedeten Entschließung heißt es: „Der Sejm der Republik Polen hebt die Bedeutung des literarischen Werkes von Jarosław Marek Rymkiewicz hervor und würdigt sein Andenken.“

Für diejenigen, die er in seinen Bann zog, verkörperte Rymkiewicz geradezu vollkommen den hochintellektuellen und zugleich beredsamen Patrioten, den letzten polnischen Dichterpropheten, der sich ernste Sorgen um sein Land machte. In den Augen seiner erbitterten linksliberalen Gegner war er „eine Galionsfigur der Rechten“, „ein Nationalist“, „ein Wutschriftsteller“, der „mit seinen medialen Auftritten der verschwörungstheoretischen Zuspitzung rechtsnationaler Positionen Vorschub leistete“.

Schelte und Lob

Solcher und ähnlicher Umschreibungen bediente sich auch das winzige Häuflein deutschsprachiger Autoren, die sich der Person Rymkiewicz und seines Schaffens annahmen. Sie sahen ihre Aufgabe darin, den Literaten und sein Werk ihrem deutschen Publikum zu verleiden. Meistens traf das ins Leere, denn außer seinen zwei frühen Büchern: „Polnische Gespräche im Sommer 1983“ (bei Suhrkamp) und „Umschlagplatz“ (1988 bei Rowohlt) gibt es nichts auf Deutsch von ihm.

Jarosław Marek Rymkiewicz Ende der 1990er-Jahre.

Zähneknirschend sahen sich zugleich seine schärfsten polnischen wie auch seine deutschen Kritiker gezwungen, Rymkiewicz eine herausragende poetische und schriftstellerische Begabung zu bescheinigen. Angesichts der vielen angesehenen Literaturpreise, die er (so die FAZ) „abgeräumt“ hat, blieb ihnen auch nichts anderes übrig.

Sogar die „Gazeta Wyborcza“, das linksradikale Kampfblatt gegen alles traditionell Polnische, kam nicht umhin, Rymkiewicz 2003 mit ihrem Nike-Literaturpreis für seinen Gedichtband „Sonnenuntergang in Milanówek“ zu ehren. Der Preisträger blieb der Preisverleihung demonstrativ fern.

Im beschaulichen Milanówek übrigens, am Rande von Warschau, bewohnte Rymkiewicz seit 1995 mit seiner Frau Ewa – Sohn Wawrzyniec (fonetisch: Wawschinjetz) war längst erwachsen – bis zuletzt ein Haus mit großem Garten.

Das Lob der Gegner kam aufgesetzt und verklausuliert daher, aber es kam, z. B. im Jahr 2020 in der deutschen Fachzeitschrift „Osteuropa“. Nach der unvermeidlichen, seitenlangen, politisch korrekten Gesinnungsschelte hieß es dort immerhin:

„Rymkiewiczs Prosa fasziniert durch detailbesessene, suggestive Bilder wie auch durch eine kraftvolle und zugleich dichterisch sensible Sprache. Eine durchaus ironische Kommentierung des eigenen Schreibens sowie eine existenzielle, dunkle Reflexion machen sein Werk zu einem vielschichtigen und äußerst mehrdeutigen.“

„Rymkiewicz beherrscht (…) eine kraftvolle und mehrdeutige Sprache literarischer, darunter auch poetischer Bilder. Ohne Frage ist es die Letztere, die ihn zu einer schillernden Figur des radikalkonservativen Lagers macht.“

„Rymkiewiczs Prosa ist alles andere als schlichte Propagandaliteratur.“

„Osteuropa“ bescheinigte Rymkiewicz auch, er sei als Professor der Literaturgeschichte und Autor etlicher literaturhistorischer Bücher, ein „hervorragender Kenner der polnischen Romantik“ gewesen. Immerhin hat er zwischen 1987 und 2018 sechs spannende, umfangreiche Schriften allein Adam Mickiewicz gewidmet. Doch in Wirklichkeit war Jarosław Marek Rymkiewicz viel mehr: der wohl letzte große Romantiker in der polnischen Literatur.

Freiheit und die Mystik der Dichterpropheten

Abweichend vom Haupttrend im übrigen Europa, beschränkte sich die polnische Romantik nicht auf literarische und künstlerische Belange. Als sie sich in der polnischen Literatur um 1820 zu etablieren begann, war Polen seiner Unabhängigkeit beraubt, von der Europakarte getilgt, und das sollte noch generationenlang, bis 1918, so sein.

Polens Romantiker, allen voran Adam Mickiewicz und Juliusz Słowacki (fonetisch: Suowatski), befeuerten mit ihrer grandiosen Dichtung eine ideologische, philosophische und politische Bewegung, die die Ideale, Lebensweise und Sehnsüchte der polnischen Nation ausdrückte. Polens Romantiker schworen der reinen Vernunft ab. Das Ringen um Freiheit, sagten sie, egal wie aussichtslos, hat immer einen Sinn, denn auch aus den blutigsten Niederlagen erwachsen neue Ansätze für die Fortführung dieses Kampfes.

Die wichtigsten Erkenntnisse, Anregungen, Ideen schöpften die Romantiker aus und bezogen sie auf die Geschichte der eigenen Nation. Jetzt war Polen unfrei, konnte aber damals schon stolz auf gut achthundert Jahre eigener Staatlichkeit zurückblicken. Und so sangen sie Hohelieder auf althergebrachte Bräuche und Sitten, auf die einstigen nationalen Triumphe, auf das kleinadelige ländliche Dasein im „zaścianek“, dem „Edelweiler“, auf die Freiheit der Polen ihr Leben frei zu gestalten, so wie es in der Zeit der Adelsrepublik war.

Es war damals eine Haltung und Lebensart, die auf spezielle Weise das Polentum mit der christlichen und antiken Tradition verbunden und sich durch eine tiefe Religiosität ausgezeichnet hat. Vor allem aber idealisierten die Romantiker das Polen aus der Zeit vor den Teilungen als ein Musterbeispiel für einen Republikanismus, der die Freiheit des Einzelnen und der Völker verteidigte.

Viele polnische Romantiker flohen nach dem 1832 gescheiterten November-Nationalaufstand ins Ausland. Mit der sogenannten Großen Emigration, der Masse der damals von Verfolgung bedrohter polnischer Soldaten, Offiziere, Adeligen, Politiker strandeten sie zumeist in Frankreich. Ihr Schaffen wurde jetzt direkt von den Idealen des politischen Freiheitskampfes, vom Drang nach der Unabhängigkeit Polens beherrscht.

Ihr Schaffen bekam zudem zunehmend mystische Züge, was seinen höchsten Ausdruck in Adam Mickiewiczs Dramenzyklus „Die Ahnenfeier“ fand. Traum und Wirklichkeit, eine hochpoetische Vision der künftigen Wiedererstehung Polens und die Aufwallung des Zorns gegen das Leiden der geknechteten Nation, die sich in ein Aufbegehren gegen Gott verwandelt. Liebe und Verrat, Polen und Russland, Sein oder Nichtsein. Das alles vermengt sich auf der Bühne zu einem nationalen Hochamt, und das hypnotisierte Publikum erstarrt in andächtiger Stille.

Szene aus Adam Mickiewiczs „Ahnenfeier“. Ansichtskarte Ende 19. Jh.

Der romantische Poet wird hier zum „Wieszcz“ (fonetisch: wjeschtsch), zu einem Dichterpropheten, einem geistigen Führer der Nation, die für ihre Unabhängigkeit kämpft. In den Olymp der Dichterpropheten, deren Namen mit dem Zusatz „Wieszcz“ geschmückt werden, hat die polnische Nation nur drei ihrer besten Romantiker aufgenommen: Adam Mickiewicz (1798-1855), Juliusz Słowacki (1809-1849) und Zygmunt Krasiński (1812-1859).

Die drei Dichterpropheten: (v.l.) Juliusz Słowacki, Adam Mickiewicz, Zygmunt Krasiński.

Die Verwandlung Jarosław Marek Rymkiewiczs vom exzellenten Kenner zum eifrig praktizierenden polnischen Literaturromantiker vollzog sich im ersten Jahrzehnt unseres Jahrhunderts. Der Schriftsteller hatte damals, wie wir heute wissen, bereits etwa dreiviertel seines Lebens hinter sich gelassen.

Bereits viel früher war er zu der Überzeugung gelangt, dass die Kunst die Macht hat, die Welt zu verändern. Jetzt waren seine Begabung und Erfahrung reif dafür, dem Beispiel von Mickiewicz zu folgen und dieses Prinzip in die Tat umzusetzen. Nun konnte Rymkiewicz, wie es „Die Welt“ formulierte, so „richtig aufdrehen“.

Den deutschen Nachnamen abgelegt

1935 in Warschau als Jarosław Marek Szulc geboren, erlebte er ab September 1939, weitgehend bewusst, das Grauen der deutschen Besatzung und des Warschauer Aufstandes im August/September 1944. Die Familie entkam nur durch Zufall dem Inferno der Kämpfe, die in ihrer Intensität denen in Stalingrad in nichts nachstanden. Ende Juli 1944 für einige Tage zur Sommerfrische aufs Land dicht bei Warschau aufgebrochen, wurden sie vom Ausbruch des Aufstandes überrascht. An manchen Nächten war es fast taghell, erinnerte sich später Rymkiewicz. Warschau brannte lichterloh, man sah den roten Feuerschein verheerender Brände.

Jarosław Marek Rymkiewicz (i. d. M.) mit Eltern und Schwester auf dem Balkon ihrer Wohnung im Vorkriegswarschau.

Nach 63 Tagen, am 3. Oktober 1944, kapitulierten die Aufständischen. Einige Zehntausend Zivilisten die überlebt hatten wurden aus den Warschauer Ruinen vertrieben, damit sich die Deutschen ungehindert der planmäßigen Zerstörung der erhalten gebliebenen Reste der nun menschenleeren Stadt widmen konnten. Nach dreieinhalb Monaten, am 17. Januar 1945, „befreiten“ die Sowjets das entvölkerte Ruinenmeer. Zuvor hatten sie dem Treiben der deutschen Soldaten, ebenso wie dem Aufstand, vom östlichen Weichselufer tatenlos zugesehen.

Die Familie, die in Warschau alles verloren hatte zog in das unzerstörte Łódź/Lodsch und beantragte, unter dem Einfluss der Kriegserlebnisse, als Erstes die Ablegung des deutschen Nachnamens in polnischer Schreibweise: Szulc. Er wurde ersetzt durch Rymkiewicz, das literarische Pseudonym von Vater Władysław, eines Anwalts und in der Zwischenkriegszeit durchaus anerkannten Prosaautors. Mutter Hanna war Ärztin.

Rymkiewicz hat mit Deutschland nie Frieden geschlossen. In seinem Buch von 2008, mit dem deutschen Titel im Original: „Kinderszenen“, verarbeitete er seine Kindheitserlebnisse. Er schrieb: „Ich mache den Deutschen keine großen Vorwürfe. Ich möchte nur, dass sie wissen, was sie mir angetan haben“, denn seine „Kindheit war ein großes Loch voll schwarzen Blutes“ und deswegen „haben wir den Deutschen zu schnell und zu leicht vergeben. Es gibt Dinge in der Geschichte, die werden nie vergeben.“

Da blieb er konsequent. Den FAZ-Korrespondenten wollte er nicht zu Hause treffen. Ein Gespräch ja, aber nur am Telefon. Das war 2016.

Erst verblendet, dann gewendet

Rymkiewicz wuchs in der schlimmen Zeit des Stalinismus auf, der Ende der 1940er-Jahre, auf Geheiß Moskaus, auch von Polen Besitz ergriff. Die Eltern traten in die kommunistische Partei ein. Der Sohn, zunächst als Gymnasiast, dann als Student der Polonistik an der Universität Łódź, war Mitglied im Kommunistischen Jugendverband.

„Ich war völlig indoktriniert. Ich habe gedacht, was man mir befahl. Sowjetrussland erschien mir als das ideale Modell der Zukunft. Und als ein Entwurf für das größte Glück der Menschheit. Ich habe Stalin geliebt. Ich habe als Kind einen Verbrecher geliebt“, erinnerte er sich Jahrzehnte später. Stalin starb im März 1953. Rymkiewicz war damals knapp 18 Jahre alt. Die Scheuklappen der ideologischen Sturheit hat er schnell abgelegt.

Jarosław Marek Rymkiewicz 1957 in Łódź.

Im politischen Tauwetter nach Stalins Tod  veröffentlichte der erst 22-jährige Rymkiewicz 1957 seinen ersten Gedichtband, auf den, bis 2017, fünfzehn weitere folgten. Bald begann er, Komödien und antikebezogene Dramen zu schreiben sowie Gedichte ins Polnische zu übersetzen: Calderón, Flaubert, Mandelstam, Wallace Stevens. Die Kritik war angetan von dem Jungliteraten, einem Sprachvirtuosen, zu dessen wichtigsten Künstlergaben ein feiner, eindringlicher Beobachtungssinn gehörte.

Der einst radikale Jungstalinist verwandelte sich in einen weitgehend angepassten Universitätsdichter, der damit beschäftigt war, das Fundament seiner literarischen Karriere zu gießen. Rymkiewicz wurde in den Schriftstellerverband aufgenommen, bekam 1965 eine Stelle im Warschauer Institut für Literaturforschung (IBL) der Polnischen Akademie der Wissenschaften, einem Hort kluger und kritischer Köpfe.

Jarosław Marek Rymkiewicz Ende der 1950er-Jahre mit seiner zukünftigen Ehefrau Ewa.

Noch wagte er nicht offen aufzumucken und unterschrieb, auf Geheiß der kommunistischen Partei, im April 1964 den sogenannten „Gegenbrief“, signiert von etwa sechshundert polnischen Autoren. Es war ein von oben befohlener Protest gegen „eine von der westlichen Presse und dem subversiven Radiosender Free Europe gegen Volkspolen organisierte Verleumdungskampagne“.

Westliche Medien berichteten damals ausführlich über den sogenannten „Brief der 34“. Vierunddreißig polnische Intellektuelle hatten im März 1964 zum ersten Mal den Mut aufgebracht, in einem offenen Schreiben an den damaligen Ministerpräsidenten Józef Cyrankiewicz, gegen die Verschärfung der Pressezensur zu protestieren. „Die Unterzeichner“, hieß es in dem Brief, „die das Vorhandensein der öffentlichen Meinung, des Rechtes auf Kritik, freie Diskussion und verlässliche Information als einen notwendigen Bestandteil des Fortschritts betrachten, fordern eine Änderung der polnischen Kulturpolitik im Sinne der durch die Verfassung des polnischen Staates garantierten Rechte und im Einklang mit dem Wohle der Nation“.

In jener Zeit äußerte Rymkiewicz im kleinen Kreis bereits immer wieder Kritik am Kommunismus. Er wurde denunziert und seine Kritik kam der Staatssicherheit zu Ohren. Der Historiker Piotr Gontarczyk hat Rymkiewiczs Stasi-Akte analysiert und stellte fest, dass die polnische Stasi sich ihn bereits 1963 vorgenommen hatte. Man hat ihn immer wieder über längere Zeitabschnitte beschattet, Denunzianten wurden auf ihn angesetzt. Später, als sich Rymkiewicz der intellektuellen Opposition anschloss, regte die Stasi Schmähungen an, die in der offiziellen Presse über ihn veröffentlicht wurden, streute ehrrührige Gerüchte über ihn. Sein Telefon wurde abgehört, seine Post geöffnet, er durfte nicht ins Ausland reisen, die Zensur zerpflückte regelmäßig seine zur Veröffentlichung vorbereiteten Texte.

Rymkiewicz-Stasiakte.

Erfolge waren den Verfolgern damit nicht beschieden. „Der Dichter“, so der Historiker Gontarczyk, „verhielt sich distanziert, war nicht sehr gesprächig und pflegte nicht viele Kontakte“. Bereits in den 1960er-Jahren vermerkte ein Stasi-Beamter in seiner Akte: „JMR hat sich trotz zahlreicher moralischer und materieller Repressalien, die wir ihm auferlegt haben, nicht verändert“. So blieb es bis zum Ende des Kommunismus 1989.

Ein Schöngeist wird politisch

Vorher waren da noch die sechzehn Monate (September 1980 bis Dezember 1981) der Freiheit mit Solidarność. Sie endeten am 13. Dezember 1981 mit der Verhängung des Kriegsrechts durch General Jaruzelski.

Jarosław Marek Rymkiewicz 1975.

Die Niederschlagung der Solidarność war noch in lebhafter und bitterer Erinnerung, als Rymkiewiczs Prosadebüt „Polnische Gespräche im Sommer 1983“ zuerst im Untergrund in Polen und bald darauf auf Polnisch in einem Exilverlag in Paris erschien.

„Polnische Gespräche im Sommer 1983“. Deutsche Ausgabe.

Vordergründig handelt es sich hier um eine Plauderei unter etwa einem Dutzend Urlaubern: zumeist Literaten und Wissenschaftlern, die jenen Sommer 1983 in einer Pension im idyllischen Nordosten Polens verbringen. Aber wenn es nicht gerade um die Suche nach Pilzen und Flusskrebsen geht, dreht sich das Gespräch um das frische Trauma, die abermalige Niederwalzung des ewigen polnischen Kampfes für Freiheit und Selbstbestimmung. Eine Plauderei, zeitweise auch ironisches Selbstgespräch, mit philosophischem Tiefgang. Einer der Teilnehmer, der „Herr Mareczek“ (die Koseform von Marek), ist Schriftsteller, das Alter Ego des Autors.

Die gute literarische Qualität des Romans und sein Erfolg brachten die kommunistischen Behörden in Rage. Rymkiewicz wurde 1985, zur Strafe, aus dem Warschauer Institut für Literaturforschung entlassen.

„Umschlagplatz“. Deutsche Ausgabe.

Bald darauf, 1988, machte er mit dem Roman „Umschlagplatz“ von sich reden. So nannten die Deutschen einen von hohen Mauern umgebenen, geräumigen Fabrikhof mit einer Eisenbahnrampe im Warschauer Ghetto, von der sie nach und nach etwa 300.000 Juden in ins Vernichtungslager abtransportierten. Hier tritt der Autor recht unvermittelt in Erscheinung: als junger Schriftsteller Jaroslaw, der mit seinem jüdischen Kollegen Icyk Mandelbaum nach dem Krieg im ausführlichen Dialog zu ergründen versucht, was geschehen war. Zugleich führt Rymkiewicz seine Leser wie ein Stadtführer durch das Warschau der damaligen Gegenwart, um materielle Spuren der Judenvernichtung zu sichten.

Zu viel der Versöhnung

Um die Jahrtausendwende vollzog sich bei dem Dichter und Schriftsteller aus Milanówek ein allmählicher Wandel. Immer mehr kam ein neuer Rymkiewicz zum Tragen. Als Mensch war er ganz der alte geblieben: zurückhaltend, freundlich, höflich, großmütig. Doch in seinem Schaffen wichen Feinsinnigkeit, Gelassenheit, Lust zur Ironie zunehmend einer leidenschaftlichen Engagiertheit.

Rymkiewicz ruderte damit heftig gegen den Strom an. Die im Lande vorherrschende Literaturkritik, eher linker Abstammung, predigte nämlich, verlangte geradezu, dass Schriftsteller, insbesondere die Jüngeren unter ihnen, sich im unabhängigen Polen von der Erfüllung traditioneller gesellschaftlicher Verpflichtungen befreit fühlen sollen.

Mit Lob und Preisen wurde und wird bis jetzt überhäuft, wer sich „modern“ und „europäisch“ gibt, sich von seinem Land lossagt. Unter den Bedingungen der Freiheit, so die Botschaft, habe nach etwa zweihundert Jahren die „romantische Grundauffassung” „endlich“ ihre Gültigkeit verloren. Sie habe die Sprache und die Botschaften der polnischen Literatur in der Zeit der nationalen und politischen Unterdrückung geprägt. Jetzt müsse Schluss damit sein.

Rymkiewicz derweil teilte voll und ganz die gesellschaftliche Diagnose, die ein anderer herausragender polnischer Dichter, Zbigniew Herbert (1924-1998), schon kurz nach dem Ende des Kommunismus stellte:

„Der wirtschaftliche Ruin, die ökologische Katastrophe usw., die uns die Kommunisten hinterlassen haben, sind Aufgaben, mit denen sich noch Generationen werden herumschlagen müssen.

Doch die moralisch-geistigen Verheerungen bei den Nationen, die besetzt waren, sind noch schwerer zu beseitigen, zumal sich niemand ernsthaft mit diesem Problem befasst. Das Chaos betrifft nicht nur solche elementaren Begriffe wie Gut und Böse, Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit, Verbrechen und Strafe. Auch solche gewöhnlichen, unendliche Male wiederholten Wörter wie Reform, Privatisierung, freier Markt oder Inflation haben ihre Bedeutung verloren. Mit einer Gesellschaft, die sich im Zustand einer schweren Orientierungslosigkeit befindet, kann man alles machen“, so Herbert.

Deswegen schloss sich Rymkiewicz bereits zu Beginn der 1990er Jahre den Kritikern der sogenannten demokratischen Umwandlung in Polen an. Er konnte nicht zusehen, wie sich ein Teil der alten Solidarność-Garde, allen voran die einstigen Helden des antikommunistischen Widerstandes: Lech Wałęsa und Adam Michnik, mit dem Ex-Diktator Jaruzelski und seinem kommunistischen Hofstaat geradezu verbrüderten. So sah die „nationale Aussöhnung“ aus, nachdem ein „dicker Strich“ unter die kommunistische Vergangenheit gezogen worden war.

Adam Michnik zu Besuch im Haus von General Jaruzelski am 13. Dezember 2000, dem 19. Jahrestag der Ausrufung des Kriegsrechts.

Der Begriff „dicker Strich“ stammt vom ersten nichtkommunistischen Ministerpräsidenten nach 1989, Tadeusz Mazowiecki (1927-2013). Kommunisten: all die Apparatschiks, Stasi-Leute, Wissenschaftler, Militärs, Richter, Wirtschaftsfunktionäre, die blitzschnell ihre roten Parteibücher gegen Scheckhefte eingetauscht und die auch Rymkiewicz jahrzehntelang das Leben verleidet hatten, durften nun, ohne Reue zu zeigen und Buße tun zu müssen, an dem neuen politischen und ökonomischen Vorhaben mit dem Namen Dritte Polnische Republik (III Rzeczpospolita) teilhaben.

Eine der wichtigsten Grundideen dieses Vorhabens war ein ungezügelter Vulgärliberalismus. Ein Kapitalismus aus den kommunistischen Karikaturen wurde Wirklichkeit. Raubprivatisierungen mehrten den Wohlstand Weniger und die Armut, Ausgrenzung und Arbeitslosigkeit Hunderttausender. Wer aus diesem Jammertal keinen Ausweg fand war selbst schuld. Schließlich haben wir doch alle einen Kopf, zwei Hände und sind somit Schmiede des eigenen Glücks. Die einen packen es, die anderen nicht, so ist es nun einmal.

Diese Allianz der Solidarność-„Fortschrittlichen“ mit den Postkommunisten, die in den 1990er- und Anfang der 2000er-Jahre Polens Politik, Wirtschaft und Kultur beherrschte, bevorzugte das einfachste und aus ihrer Sicht bequemste Modernisierungsmodell: das Kopiergerät-Prinzip. Bloß schnell den „Ballast“ der „rückständigen“ polnischen Lebensart, Kultur, Tradition, Geschichte über Bord werfen. Nur so erleichtert, konnte der polnische Ballon schnell und problemlos im siebenten EU-Himmel ankommen.

Rymkiewiczs Polen

Für Rymkiewicz war die Frage, ob und wie Polen als Nation überleben werde, von grundlegender Bedeutung. Der zunehmende ideologische, linksliberale Herrschaftsanspruch der EU und die Globalisierung als neueste Gefahr für alles Lokale verstärkten seine Besorgnis noch. Rymkiewicz forderte „Widerstand“.

Der Sarg Lech Kaczyńskis auf einer Geschützlafette. Beisetzungsfeierlichkeiten am 18. April 2010 in Kraków.

Den stärksten polnischen Widerständler sah er im konservativen Parteiführer Jaroslaw Kaczyński, auf den er, zur Ermutigung, eines seiner politischen Gedichte schrieb. Das war im April 2010, als der beim Flugzeugabsturz nahe Smolensk ums Leben gekommene Bruder Jaroslaws und Polens Staatspräsident Lech Kaczyński zu Grabe getragen wurde.

„Und wieder gibt es zwei Polen – zwei seiner Antlitze

[…]

Zwei Polen – das eine, das gekannt haben die Propheten

Und das andere, das in die Umarmung des Zaren des Nordens getreten

Zwei Polen – das eine will den Applaus der Welt erfahren

Und das andere, das wird auf der Geschützlafette zum Friedhof gefahren

[…]

Was uns entzweit hat, das lässt sich nicht mehr kitten

Man darf Polen nicht Dieben feilbieten

Die es uns klauen wollen, um es der Welt zu verkaufen

Jarosław! Was Sie Ihrem Bruder schulden, ist nicht abgelaufen!“(Übersetzung RdP)

In den bewegenden und bewegten Tagen nach der Smolensk-Flugzeugkatastrophe, in denen das Gedicht entstanden ist, sprach Rymkiewicz Millionen von Menschen tief aus der Seele. Das unmittelbare politische Engagement Rymkiewiczs, der von jetzt an als „PiS-Schriftsteller“ von seinen Gegnern kleingeredet wurde, blieb jedoch eher dürftig.

Zwei Jarosławs: Rymkiewicz und Kaczyński im Juni 2016.

Er meldete sich ab und an dezidiert in den Medien zu Wort, schrieb seine viel beachteten, mit klaren Botschaften versehenen Prosabände, aber Wahlkampfauftritten und anderen rein politischen Veranstaltungen blieb er stets demonstrativ fern. Da war ihm etwa der „SPD-Schriftsteller“ Günter Grass um vieles voraus.

Es war damals, am Ende des ersten Jahrzehnts des 21. Jahrhunderts, an der Zeit, so Rymkiewiczs Überzeugung, den Polen, über die Literatur, einen anderen Weg zu zeigen. Nicht den Weg der Anpassung, den Weg der von der neuen, linksliberalen Elite verordneten Einsicht in die Notwendigkeit des Kleinbeigebens, der Entwurzelung durch erzwungene Massenemigration, des Vertröstetwerdens von den Vulgärliberalen auf eine unbestimmte Zukunft, in der der Tisch der Reichen endlich so voll gedeckt sein würde, dass auch für die gebeutelten Massen etwas mehr abfällt.

Der Romantiker Adam Mickiewicz verfasste 1833 eine seiner wichtigsten politischen Schriften mit dem Titel „Über vernünftige und wahnsinnige Menschen“. Er stellte dem rationalen Handeln, dem Sich-Abfinden mit der Niederlage, den moralischen Widerstand entgegen: die Grenzüberschreitung, Selbstaufopferung, den Todesmut, die der rational Handelnde als „Wahnsinn“ bezeichnen würde. Mickiewicz unterteilte die Polen in „Vernünftige“ und „Wahnsinnige“. Letzteren galt seine Sympathie. Ohne sie werde das aufgeteilte Polen im Nebel der Zeit in Vergessenheit geraten. „Wer wird es rufen, das vergessene Volk aus grauem Zwielicht?“

Rymkiewicz griff diese Zweigliederung auf und setzte sie in einen jetztzeitgerechten Bezugsrahmen, in dem er die angepassten, „vernünftigen“ polnischen Europäer ihren „wahnsinnigen“ Landsleuten gegenüberstellte. Er schrieb dazu:

„Man muss also wählen: Entweder werden wir vernünftige Menschen sein und verlieren Polen oder wir werden zu wahnsinnigen Menschen und tragen zur Rettung Polens bei.“

Ginge es nach den „Vernünftigen“, gäbe es uns nicht

In die polnische Literaturgeschichte ist Rymkiewicz vor allem mit seinem Spätwerk eingegangen. Es sind vier Bücher: „Wieszanie“ („Das Henken“, 2007), „Kinderszenen“ (so der deutsche Titel im Original, 2008), „Samuel Zborowski“ (2010) und „Reytan. Upadek Polski“ („Reytan. Der Untergang Polens“, 2013).

In diesen einzigartigen, breit kommentierten essayistischen Prosabänden ging Rymkiewicz auf die Geschehnisse der polnischen Geschichte ein, in denen sich das für die Polen typische Aufbegehren gegen Fremdherrschaft, ihr Hang zu einer radikal verstandenen Freiheit und ihre Verachtung für den Tod offenbaren. Scheinbar sind es nur vernunftwidrige, gar wahnsinnige Gesten und Taten gewesen. Rymkiewicz sah das wie Adam Mickiewicz.

Gleichzeitig zog er Parallelen zwischen Vergangenheit und Gegenwart, kommentierte auf dem Umweg über die Geschichte die Situation im heutigen Polen.

Wie funktionierte das? In seinem Buch „Das Henken“ bildet er essayistisch eine blutige Episode aus der Geschichte des Aufstands von 1794 nach. Es war der letzte verzweifelte Versuch, die endgültige Aufteilung Polens zu verhindern. Aufgebrachte Warschauer zerrten von Russland bezahlte Verräter: Politiker und Geistliche an den Galgen. Rymkiewicz lässt sich breit über die Bedeutung (auch die metaphysische) dieses Ereignisses aus, verteidigt die Wut dieser „wahnsinnigen“ Polen. Und irgendwann bringt er mit seinem leicht sarkastischen Humor sein Bedauern darüber zum Ausdruck, dass es nach 1989 nicht zu ähnlichen Exekutionen von Kommunisten gekommen sei.

In „Kinderszenen“ nahm Rymkiewicz ein Ereignis aus dem Warschauer Aufstand von 1944 zum Gegenstand. Ein mit Sprengstoff gespicktes, wahrscheinlich absichtlich zurückgelassenes deutsches Panzerfahrzeug ging in die Luft, inmitten einer ausgelassenen Menge, die die Trophäe begutachtete. Mehrere Hundert Aufständische und Zivilisten kamen ums Leben. Ihre zerfetzten Leiber und Eingeweide hingen herab von Bäumen und Balkonen.

Auch dieses Ereignis nimmt Rymkiewicz zum Anlass, den Aufstand zu rechtfertigen. Die „Vernünftigen“, vor allem die Kommunisten nach dem Krieg, haben ihn oft genug als ein Ergebnis politischer Verantwortungslosigkeit dargestellt. Alle Aufstände waren für sie sinnlos und überflüssig.

Rymkiewicz sah das anders. „Ihrer Hingabe, dem vergossenen Blut von Generationen ist es zu verdanken, dass wir heute als Polen existieren. Mag sein, dass wir kümmerliche Polen sind, ihrer Opfer unwürdig, aber es gibt uns. Ginge es nach den „Vernünftigen“, gäbe es uns nicht.“

Jarosław Marek Rynkiewicz war zweifelsohne einer von den „Wahnsinnigen“. Er hat immer wieder herausgestellt, dass seine Familie ursprünglich tatarischer und deutscher Herkunft sei und im Grunde kein Tropfen polnischen Blutes in seinen Adern floss. Dennoch hat er sein herausragendes schriftstellerisches Talent in den Dienst eines Polen gestellt, das ihn beeindruckte und das ihm wichtig war.

Anders als das „vernünftige“, sah das „unvernünftige“ Polen in ihm den modernen Dichterpropheten. Das war ihm, dem Dichter der klaren Aussagen, auch recht so: „Was uns entzweit hat, das lässt sich nicht mehr kitten“.

© RdP




Das Wichtigste aus Polen 19. Dezember 2021 bis 5. Februar 2022

Aleksandra Rybińska und Janusz Tycner diskutieren die wichtigsten Ereignisse der letzten Zeit in Polen ♦ Kampf gegen die Inflation: Massive Steuersenkungen bremsen  Teuerungswelle aus ♦ Polnischer Deal: Große Steuerreform mit Anlaufschwierigkeiten ♦ Pegasus-Abhöraffäre:  Viel heiße Luft, keine Beweise ♦ Ukraine-Krise: Ein böses Spiel, das Polen stärkt.




Rakete im Fahrradsattel

Am 1. Februar 2021 starb Ryszard Szurkowski.

Das Jedermannrennen Rund um Köln war zu Ende und Ryszard Szurkowski war nicht auffindbar. Am 10. Juni 2018 warteten seine Freunde an der Ziellinie vergebens auf ihn. Normalerweise war es der einstige Rad-Champion, der seinen Oldboy-Freunden vom „Team Szurkowski“ seit Jahren regelmäßig davonfuhr, und sie an den Zieleinfahrten in Empfang nahm.

Bald wurde klar, dass er in einen Massenunfall verwickelt sein musste, den es einige Kilometer vor dem Ziel gegeben hatte. Nach langem Herumtelefonieren bestätigte endlich eine der Kliniken, dass bei ihr ein Schwerverletzter eingeliefert worden war. Er hatte keine Papiere bei sich, war gut 60 Jahre alt und trug gelbe Fahrradschuhe.

Briefmarke 1. Friedensfahrt 1948

Jahrelang hat man Ryszard Szurkowski am Gelben Trikot erkannt. Es war das Trikot des Gesamtführenden während der Friedensfahrten von 1970, 1971, 1973 und 1975, die er gewonnen hat. Jetzt, in Köln, fuhr er in gelben Schuhen.

Team Szurkowski

Es war die 102. Auflage des Eintagesrennens Rund um Köln. 4.500 Radfahrer am Start. Profis, die mehr als 200 Kilometer zurücklegen mussten. Amateure hatten 126 Kilometer zu fahren. Die Veteranen, die in verschiedene Altersklassen eingeteilt wurden, nur 60 Kilometer.

Ryszard Szurkowski am Start zum letzten Rennen in seinem Leben in Köln am 10. Juni 2018

Ryszard und seine Freunde starteten in der Gruppe 60+. Sie trugen schwarze, kurze Hosen und gleiche T-Shirts mit der Aufschrift „Team Szurkowski Poland“. Sie präsentierten sich ansehnlich, das Logo machte auf sie aufmerksam und erfüllte sie mit Stolz. Der Mannschaftsführer fuhr mit der Startnummer auf Trikot und Helm.

„Ich erinnere mich an alles, denn überraschenderweise habe ich nicht einen Moment lang das Bewusstsein verloren“, erzählte Szurkowski Monate später einem Journalisten im Rehabilitationszentrum in Konstancin bei Warschau.

Ryszard Szurkowski nach seinem Unfall in der Kölner Klinik in Juni 2018

„Es passierte ein paar Kilometer vor dem Ziel. Eine breite Straße und ein unglaubliches Tempo. Gut 40 Kilometer pro Stunde. Wir näherten uns einer Insel. Die meisten Fahrer wichen ihr auf der rechten Seite aus, aber die beiden vor mir wollten die Insel wahrscheinlich von links umfahren. Sie kollidierten mit ihren Lenkern und im Bruchteil einer Sekunde lagen sie am Boden. Eigentlich nichts Besonderes, aber ich hatte keine Chance. Ich kippte über den Lenker und schlug mit dem Gesicht auf den Asphalt. Danach prallten zwei Radfahrer auf mich, dann etwa noch ein Dutzend, vielleicht sogar mehrere Dutzend weitere. Ich hörte das Klacken von Fahrrädern, Rufe und das Martinshorn des Krankenwagens“.

Einer der größten Sportler Polens im 20. Jahrhundert

Bis 2018 wurde die Kölner Veranstaltung von dem radsportbegeisterten Artur Tabat organisiert. Szurkowski und Tabat kannten sich seit Anfang der Neunzigerjahre gut.

Ryszard Szurkowski auf dem Höhepunkt seiner Popularität Mitte der Siebzigerjahre

Als Tabat 1971 die Verantwortung für das heute älteste Radrennen Deutschlands übernahm, gewann Szurkowski jenseits des Eisernen Vorhangs zum zweiten Mal die Friedensfahrt. Die Leser von „Przegląd Sportowy“ („Sport-Rundschau“), der führenden Sportzeitung im kommunistischen Polen, kürten ihn zum besten polnischen Sportler des Jahres, was sich 1973 wiederholen sollte.

Briefmarke 5. Friedensfahrt 1952

Im Jahr 1971 erhielt er auch noch den Fair-Play-Preis der UNESCO für eine nicht alltägliche Geste. Bei den polnischen Meisterschaften 1970 überließ Szurkowski sein Rad Zygmunt Hanusik, dessen Pläne durch einen Defekt der eigenen Rennmaschine vereitelt worden wären, und so gewann Hanusik den Meistertitel. Szurkowski schätzte diese UNESCO-Auszeichnung ebenso sehr wie seine Siege, von denen es unzählige gab.

Ryszard Szurkowski, Weltmeister im Einzelrennen. Barcelona 1973

Ganz oben auf der Liste stand der am 1. September 1973 in Barcelona gewonnene Weltmeistertitel im Einzelrennen. Danach gab es zwei Weltmeistertitel im Teamrennen (1973 und 1975) sowie zwei olympische Silbermedaillen in derselben Disziplin (in München 1972 und 1976 in Montreal). Bei der Wahl zum besten Athleten in den (damals) bisherigen 30 Jahren des Bestehens der Volksrepublik Polen belegte Szurkowski 1974, hinter der Sprinterin Irena Szewińska, den zweiten Platz.

Szurkowski war zudem fünffacher polnischer Meister im Straßenrennen (1969, 1974/1975, 1978/1979) und polnischer Meister im Querfeldeinrennen 1968. Damit zählt er zu den größten Sportlern Polens im 20. Jahrhundert.

An den Rollstuhl gefesselt

Der Unfall in Köln hat all das überschattet. Szurkowski erinnerte sich später: „Computertomografie. Ich spürte, wie sie mein Hemd und meine Shorts zerschnitten. Danach schoben sie mich in den OP. Zuerst kam die Operation an der Wirbelsäule. Am nächsten Tag die zweite, wegen der Schädelverletzung. Nach einer Woche die Gesichtsrekonstruktion. Der Kiefer war an mehreren Stellen gebrochen, die Nase deformiert und die Lippe gequetscht. Die Operation hat über sieben Stunden gedauert. Die Chirurgin scherzte, dass sie ein neues Gesicht für mich machen müsse. Heute kann ich sagen, dass sie meine ursprüngliche Physiognomie mit Bravour wiederhergestellt hat“.

Briefmarken 6. Friedensfahrt 1953

Iwona Szurkowska, seit 2012 die dritte Ehefrau von Ryszard, hat ihre eigenen Erinnerungen an den Unfall. „In Köln wurde die Diagnose gestellt: Geschädigtes Rückenmark, Querschnittslähmung und nach der Gesichtsoperation war ich nicht sicher, ob mein Mann überhaupt überleben würde. Nach drei Wochen wurde er in die Rehaklinik in Herdecke verlegt. Zwei Monate später haben wir beschlossen nach Polen zurückzukehren.“

Ryszard Szurkowski. Mit 72 Jahren an den Rollstuhl gefesselt

Ein Sanitätsflugzeug brachte Szurkowski nach Warschau und von dort kam er in Polens beste Rehaklinik in dem nahegelegenen Konstancin. Drei Monate später folgte die Verlegung in eine auf seine Defizite noch besser spezialisierte Einrichtung in Kamień Pomorski/Cammin in Pommern unweit von Szczecin/Stettin.

Szurkowskis eiserner Wille sich bei den Rehaübungen ins Zeug zu legen brachte seine Trainer oft an die Grenzen der Belastbarkeit. Doch die Fortschritte blieben mäßig. Die Querschnittslähmung fesselte den einstigen Rad-Champion mit 72 Jahren dauerhaft an den Rollstuhl.

Schneller Fahrer, stiller Mitläufer

Szurkowski wurde 1946 im Dorf Świebodów/Frankenburg, Kreis Milicz/Militsch in Niederschlesien geboren. Hier lernte er als Teenager Fahrradfahren. Hier erfuhr er aus dem Polnischen Rundfunk zum ersten Mal von den Erfolgen Stanisław Królaks (1931-2009).

Stanisław Królak bei der Friedensfahrt 1958

Der Radrennfahrer aus Warschau gewann 1956 die Friedensfahrt, ein internationales Großereignis auf der Strecke zwischen Warschau, Prag und Ostberlin, das immer im Mai stattfand und bis in die späten Achtzigerjahre wahrscheinlich die größte Tour für Amateure in der Welt war. Es war, wenn man so will, das osteuropäische Pendant zur Tour de France, organisiert von den drei kommunistischen Parteizeitungen: „Trybuna Ludu“, „Rudé Právo“ und „Neues Deutschland“. Millionen Menschen im ganzen Ostblock fieberten an Rundfunkgeräten, später vor den Fernsehern und auch entlang der Renntrassen den Etappen- und Gesamtsiegen ihrer Nationalmannschaften entgegen.

Briefmarken 7. Friedensfahrt 1954

Królaks überbordende Popularität war nur mit der von Täve Schur in der DDR vergleichbar. Schur gewann die Friedensfahrt 1955 und 1959. Als Stanislaw Królak in dem für Polen denkwürdigen Jahr 1956 triumphierte (der Arbeiteraufstand in Poznań/Posen im Juni, der politische Durchbruch, weg vom Stalinismus, im Oktober und die Machtübernahme durch Wladyslaw Gomułka), wollten Hunderttausende polnische Jungs Radrennfahrer werden.

Briefmarken 8. Friedensfahrt 1955

Królak, der Warschauer Junge aus der Unterschicht, pfiffig und clever, ein geborener Überlebenskünstler und Schlingel, der im Krieg auf dem Schwarzen Markt bestens zurecht kam und etlichen deutschen Polizeirazzien im besetzten Warschau zu entkommen wusste, blieb auch als Rennrad-Idol ein auf sich bezogener Querkopf, der vor allem Geld machen wollte. Die kommunistische Staatsmacht hatte mit ihm deswegen so manches Hühnchen zu rupfen, gönnte ihm aber am Ende ein in einem Land der staatlichen Planwirtschaft seltenes Privileg, nämlich in Warschau ein eigenes, privates Fahrradgeschäft zu betreiben.

Täve Schur (im Vordergrund) bei einer DDR-Volkskammersitzung 1988

Schur und Szurkowski verbindet, dass sie sich vom kommunistischen System haben politisch vereinnahmen lassen. Schur war 32 Jahre lang FDJ- und SED-Abgeordneter im DDR-Scheinparlament, der Volkskammer, und vertrat vier Jahre lang die PDS im Bundestag. So manche Verherrlichung der DDR brachte ihm den öffentlichen Vorwurf der DDR-Dopingopfer ein, er sei eine „zentrale Propagandafigur des kriminellen DDR-Sports gewesen“, ein „notorischer Geschichtsleugner, der das missbräuchliche Tun im DDR-Sport banalisiert und die Opfer kalt diskreditiert habe.“

Ryszard Szurkowski am Hof der Macht. Der kommunistische Ministerpräsident Piotr Jaroszewicz empfängt den Sieger der Friedensfahrt 1975

Szurkowski ging nie so weit. Vor der Mitgliedschaft in der kommunistischen Partei konnte er sich immerhin erfolgreich drücken, ließ sich aber vom Jaruzelski-Regime, für eine Legislaturperiode (1985-1989), im damaligen polnischen Pseudoparlament, dem Sejm, als „parteiloser Abgeordneter“ installieren und hob bei allen Abstimmungen „für die Sache des Sozialismus“ brav die Hand. Im Jahr 2005 stellten ihn die Postkommunisten als Kandidaten bei den Sejm-Wahlen auf, aber er fiel durch. Zehn Jahre später ließ sich der stille Mitläufer überreden und wurde Mitglied im Unterstützungskomitee des für eine zweite Amtsperiode kandidierenden postkommunistenfreundlichen Staatspräsidenten Bronisław Komorowski. Es half nichts, Komorowski verlor die Wahl.

Briefmarke 9. Friedensfahrt 1956

Szurkowski hat sich seine Zeit nicht ausgesucht, aber er hatte auch keinen Grund den Kommunismus zu hassen. Sein Talent wurde entdeckt, gefördert und gefeiert. Er meinte, sich dafür mit der einen oder anderen politischen Gefälligkeit bedanken zu müssen.

Doch der für seine tollkühne und äußerst offensive Fahrweise bekannte Radrennfahrer gab sich bei offiziellen Anlässen auffallend schüchtern, passiv, zurückgezogen, überfordert. Ein Statist, der die Politik über sich ergehen ließ und zusah, wie er schnellstmöglich wieder auf die Piste kam. Anders als der kommunistische Polit-Aktivist Täve Schur, war der gradlinige, politisch unerfahrene Szurkowski weder willens noch fähig für den Kommunismus öffentlichkeitswirksam eine Lanze zu brechen.

Briefmarken 10. Friedensfahrt 1957

Dafür hat er es in seiner aktiven Zeit geschafft, die Akademie für Leibeserziehung in Wrocław zu absolvieren. Sein Diplom wies ihn als Sportlehrer und Radsporttrainer aus.

Couch statt Preisgeld

„Ich wollte wie Królak sein: ein Fahrrad haben, Rennen gewinnen“, erinnerte sich Jahrzehnte später Szurkowski. Hartnäckig, wie er war, sparte der kleine Ryszard eisern, bis er sich mit 15 Jahren endlich das tschechische „Favorit“-Rennrad, den Traum aller jungen Królak-Nachahmer, leisten konnte.

Radrennen in der Provinz, in der er lebte, wurden damals von den Dorfsportclubs (poln. Abkürzung: LZS) aus Anlass des 1. Mai, des kommunistischen Nationalfeiertages am 22. Juli oder zum Erntedankfest im Frühherbst veranstaltet. Die Teilnehmer mussten sich selbst um alles kümmern: Fahrräder, Schläuche, Ersatzteile, Verpflegung. Szurkowskis erste Siegesprämie war eine 1,5 Kilogramm schwere Schinkenkonserve.

Diesmal hatte Ryszard Szurkowski (r. i. B.) kein Schwein. Es ging an einen DDR-Kollegen

Meistens waren es volkseigene Betriebe aus der Umgebung, die Preise für Etappensiege bei Radrennen beisteuerten. Das konnte ein Zelt, ein Feldbett, ein Bügeleisen, ein Stoffballen, ein Rundfunkgerät, eine Uhr sein. Manchmal waren es ein Paddelboot, eine Couch, ein Schrank oder sogar ein Ferkel, die der Sieger, notgedrungen, auf die Schnelle und meistens für billiges Geld veräußern musste, bevor er am nächsten Tag wieder aufs Rad stieg.

Briefmarken 15. Friedensfahrt 1962

Große Preise winkten nur bei den ganz großen Veranstaltungen, wie der Friedensfahrt. Ihr vierfacher Sieger Szurkowski erstrampelte sich jedes Mal einen Pkw: Einen Polski Fiat oder einen Skoda.

Ein Rohdiamant wird geschliffen

Der junge, gesunde, kräftige Szurkowski war ein geborenes Radrenntalent. Mit zwei Kumpels aus dem Dorf, die er überredet hatte diesen Sport zu betreiben, radelten sie endlos durch die Umgebung und träumten von den ganz großen Rennen. Wie ein Rohdiamant, dessen Qualität und Reinheit erst nach dem Schleifen und Polieren erkennbar wird, harrte Szurkowski am Anfang seiner Karriere eines Trainers, der seine Stärken fachmännisch fördert und formt, seine Schwächen ausbügelt.

Diese Zeit kam erst, als er zur Armee eingezogen wurde. Seine Einheit hatte man im Sommer 1966 auf einen Truppenübungsplatz in der Nähe von Radom verlegt. Der Kompanieführer erlaubte dem radbegeisterten Quälgeist Szurkowski aus einem Kurzurlaub sein Rennrad in die Einheit mitzubringen, erlaubte ihm auch, nach dem Dienst in der Umgebung zu fahren.

Ryszard Szurkowski (l. i. B) beim Wehrdienst 1965

So traf der einsame Radler eines Tages auf eine Gruppe trainierender Rennfahrer. Man kam ins Gespräch. Es waren Athleten des Sportklubs Radomiak aus der unweit gelegenen Stadt Radom mit ihrem Trainer Ryszard Swat. Szurkowski schloss sich dem Tross an. Eine Stunde später wusste Swat bereits, dass ihm das Schicksal ein ausgesuchtes Rennfahrertalent zugespielt hatte.

Jetzt galt es nur noch, sich mit dem Vorgesetzten des Kompanieführers, wie man in Polen sagt, „diesbezüglich an die Schanktheke zu lehnen“. Kurz darauf durfte Szurkowski nicht nur trainieren, sondern auch an Wochenenden Rennen fahren.

Briefmarke 20. Friedensfahrt 1967

Seine Motivation, seine Entschlossenheit, Sturheit und Hartnäckigkeit waren enorm. Als er die Armee nach dem zweijährigen Pflichtwehrdienst verließ, hatte er bereits einige wichtige sportliche Erfolge vorzuweisen. Von Radomiak wechselte er nun zum Sportverein Dolmel in Wrocław/Breslau.

Dolmel war die Abkürzung für Dolnośląskie Zakłady Wytwórcze Maszyn Elektrycznych – Niederschlesische Elektromaschinen-Produktionswerke. Der Großbetrieb entstand auf den Ruinen der während der erbitterten Kämpfe um die Festung Breslau zwischen Januar und Mai 1945 zerstörten deutschen Linke-Hofmann-Werke. Wie fast alle staatlichen Großfirmen im kommunistischen Polen hatte auch Dolmel einen Sportverein, und in diesem war besonders der Radsport sehr gut aufgestellt.

Ryszard Szurkowski zu Besuch zu Hause in seiner Dolmel-Zeit

Szurkowski, der nicht die leiseste Ahnung von Elektromaschinen hatte, bekam einen gutdotierten Arbeitsvertrag als Ingenieur und eine Wohnung zugeteilt, ein Gut, auf das der Normalbürger bis zu einem Vierteljahrhundert warten musste. Das war die Grundversorgung. Die Extras musste Szurkowski sich erstrampeln. Den Betrieb hat er von innen nie gesehen. So funktionierte das Prinzip Leistungssport im Kommunismus.

Der beste polnische Radrennfahrer aller Zeiten…

Seine Turbinenbau-Brotherren hat Szurkowski jedoch nie blamiert. Schon zwei Monate nach der Arbeitsaufnahme gewann der 22-jährige „Ingenieur“ im März 1968 die polnische Meisterschaft im Querfeldein-Radfahren. Das wiederum erregte die Aufmerksamkeit Henryk Łasaks (1932-1973), des Nationaltrainers und Begründers der größten Erfolge des polnischen Radsports, der Szurkowski von da an unter seine Fittiche nahm.

Briefmarke 25. Friedensfahrt 1972

Seitdem hagelte es Medaillen und Rekorde, von denen eingangs schon die Rede war. Szurkowski galt als der polnische Eddy Merckx. Er konnte sich allerdings nur einmal, 1974 beim Rennen Paris-Nizza, bei dem eine polnische Mannschaft mit einer Ausnahmegenehmigung zugelassen worden war, unmittelbar mit ihm messen. Normalerweise durften die „Berufsamateure“ aus dem Ostblock bei Profirennen im Westen nicht antreten. Im Warschauer Stadtteil Wola, in der Ciołka-Straße 35, wo der Weltmeister aus Barcelona seinen Fahrradladen hatte, nahm das Foto, auf dem Szurkowski gemeinsam mit Merckx zu sehen ist den Ehrenplatz ein.

Sein Umzug von Wrocław nach Warschau, wo er beim Sportverein KS Polonia angeheuert hatte, fand bereits Mitte der Siebzigerjahre statt.

Der beste polnische Radrennfahrer aller Zeiten widmete zwanzig Jahre seines Lebens, von 1964 bis 1984, dem Radsport. Zusammengezählt fuhr er zwei Jahre lang ununterbrochen Rennen. In dieser Zeit hat er etwa eine halbe Million Kilometer auf dem Fahrrad zurückgelegt. Er stand siebenhundert Mal auf dem Podest, davon 350 Mal als Sieger.

Briefmarke 30. Friedensfahrt 1977

Szurkowski war 38 Jahre alt, als er seine professionelle Karriere endgültig an den Nagel hängte. Vier Jahre lang trainierte er die polnische Rennrad-Nationalmannschaft. Er legte sein Amt nieder, als ihm das ständige Kämpfen um bessere Ausrüstung, um Trainingsmöglichkeiten in warmen Ländern, während Polen in nasskalten Wintern versank, zu viel wurde. Das wirtschaftlich schwer angeschlagene kommunistische Land hatte keine harten Devisen dafür.

Ryszard Szurkowskis Warschauer Radsportgeschäft

2010 nahm er noch für ein Jahr das Präsidentenamt im Polnischen Radsportverband an. Er war fit, fuhr aus Spaß an der Freude bei verschiedenen Amateurrennen mit, das Radsportgeschäft lief gut, ab und zu flatterte ein gut bezahlter Werbeauftrag ins Haus.

Ryszard Szurkowskis Sohn Norbert kam mit 31 Jahren beim Anschlag  auf das World Trade Center am 11.09.2001 ums Leben

In all dem ging fast völlig unter, dass ihn, bevor er Mitte 2018 an den Rollstuhl gefesselt wurde, ein anderer persönlicher Schicksalsschlag ereilt hatte.

Norbert Szurkowskis Name auf der Gedenktafel für die Opfer des Terroranschlags auf die WTC-Türme am 11.09.2001

Am 11. September 2001 kam sein Sohn aus zweiter Ehe, der 31-jährige Norbert Szurkowski, im 104. Stock eines der Türme des New Yorker World Trade Center, infolge des Terror-Anschlags ums Leben. Norberts Leiche wurde nie gefunden. Es gab keine Beerdigung, er hat kein Grab. Zäh wie er war, ließ sich der große Radrennfahrer nichts anmerken, er behielt diese Tragödie für sich.

… und die größte Persönlichkeit des polnischen Radsports

Szurkowski blieb bis zuletzt die größte Persönlichkeit des polnischen Radsports. Jedes Gespräch mit ihm war interessant, brachte neue Einsichten zutage im Hinblick auf den Sport als solchen und den Radsport im Besonderen. Er mochte Journalisten und sie respektieren ihn. Sein Wissen um die Probleme des Radsports, über die Trainingsmethoden, Ernährungsregeln, die  Dopingbekämpfung war bewundernswert.

Mit dem westlichen Profi-Radrennsport kam er während seiner „Berufsamateur“-Zeit in Polen nur einmal in Berührung. 1974 wollten sich die westeuropäischen Profis unbedingt mit dem polnischen „Wunderteam“ messen. Ryszard Szurkowski, der  damals  amtierende Weltmeister im Einzelrennen, und seine Kollegen bekamen ausnahmsweise die Erlaubnis, an dem Straßenradrennen Paris-Nizza teilzunehmen.

Am Ziel der ersten Etappe in Paris am 10. März 1974 war Szurkowski Zweiter hinter Eddy Merckx. Danach stand er noch zweimal auf dem Podium der Etappensieger und belegte am Ende den 28. Platz. Merckx wurde Dritter.  Auf Anhieb unter den weltbesten dreißig des Profi-Radrennsports zu landen, war für einen in diesem sehr spezifischen Metier unerfahrenen Ostblock-Berufsamateur ein Erfolg der sich sehen ließ.

10. März 1974. Eddy Merckx gewinnt knapp vor Ryszard Szurkowski (2 v. l. i. B.) die erste Etappe des Straßenradrennens Paris-Nizza

Die großen Rennen der Welt: Tour de France, Giro d’Italia, Vuelta a Espana verfolgte Szurkowski auf seine alten Tage aufmerksam, aber ohne Freude. Zu wenig Radsportfantasie, Spontaneität, Bravour zeichnete sie nach seinem Geschmack aus, dafür viel Langeweile. Heute, sagte er oft, entscheidet im Rennsport nur das Geld. Es gibt spektakuläre Siege, bei denen manche Straßenmeister zum Doping greifen.

Den heutigen Profi-Radsport beobachtete er sehr kritisch. Wenn ein Sponsor dutzendweise die besten Fahrer kauft, pflegte Szurkowski auf seine alten Tage zu sagen, hat er nichts zu verlieren. Die einen kauft er, damit sie auf der Zielgeraden gewinnen. Andere heuert er an, um in den Bergen zu triumphieren. Der Rest ist dazu da, um zu helfen. Alles ist arrangiert, geplant, nicht so wie zu seiner Zeit, als Kühnheit, Freude am Fahren, Mut und Unberechenbarkeit der Radfahrer auf der Strecke und im Ziel Millionen von Fans begeisterten.

Ryszrad Szurkowski, ein zäher, fast könnte man glauben, ein unverwüstlicher Kämpfer auf den Rennstrecken Europas und Meister der Sprintankunft, der die schönste Epoche in der Geschichte des Radsports entscheidend mitgeprägt hat, ist mit 75 Jahren seinem Krebsleiden erlegen.

Staaspräsident Andrzej Duda zeichnete ihn postum mit dem Großkreuz des Ordens Polonia Restituta (Orden der Wiedergeburt Polens) aus. Es ist, nach dem Orden des Weißen Adlers, die zweithöchste zivile Auszeichnung der Republik Polen.

Ryszard Szurkowski fand seine letzte Ruhestätte im Familiengrab auf dem Friedhof von Wierzchowice/Wirschkowitz in Niederschlesien, drei Kilometer entfernt von seinem Geburtsort Świebodów.

© RdP




Pausenlose Feindberührung. Die Cyberverteidigung der Polnischen Armee

Im Kampf gegen russische und weißrussische Eindringlinge.

Ein Gespräch mit Brigadegeneral Karol Molenda, dem Kommandeur des Nationalen Zentrums für Cybersicherheit (NCBC).

Brigadegeneral Karol Molenda, Jahrgang 1980, ist seit Februar 2019 Bevollmächtigter des Verteidigungsministeriums für den Aufbau der Cyber-Verteidigungstruppen. Sie sollen bis Ende 2024 ihre volle Kampfkraft erreichen und ab dann als die sechste Teilstreitkraft der polnischen Armee fungieren, neben dem Heer, der Luftwaffe, der Marine, den Spezialtruppen und der Territorialverteidigung. Zum Brigadegeneral (es ist der unterste der vier Generalsränge) wurde Molenda im März 2019 befördert.

Er ist Absolvent der Warschauer Technischen Militärakademie (Master-Abschluss als Ingenieur an der Elektronik-Fakultät und postgraduales MBA-Studium an der Fakultät für Kybernetik auf dem Gebiet der Cybersicherheit) sowie der Hochschule für Management in Warschau.

Molenda gilt als ein geborenes Organisationstalent und genießt zugleich den Ruf eines hervorragenden IT-Analytikers. Zwischen 2007 und 2019 war er beim Militärischen Abschirmdienst tätig, wo er zuletzt die Abteilung für Cyber-Spionageabwehr leitete.

General Molenda im Serverraum, dem Herzstück des Nationalen Zentrums für Cybersicherheit (NCBC) in Legionowo bei Warschau.

Er gibt zu, dass er sich schon immer sehr für Informations- und Kommunikationssicherheit interessiert hat. „Ich habe mich mit allem befasst, was Systeme zur Verarbeitung von Verschlusssachen angeht: Zertifizierung von Geräten und Verfahren, die zum Schutz eingesetzt werden, IKT-Sicherheitsakkreditierung, Härtung und Audits von IKT-Systemen und deren Überwachung“.

Molenda gilt als Experte für das Reagieren auf Computerzwischenfälle, für Computerforensik und die gezielte Suche nach Bedrohungen. Er war maßgeblich beteiligt an der Einrichtung eines der technisch fortschrittlichsten Labore für Computerforensik in Polen und wahrscheinlich in ganz Europa.

Seit Februar 2019 leitet Molenda das Nationale Zentrum für Cybersicherheit (NCBC). Es hat seinen Sitz auf einem streng abgeschirmten Gelände in Legionowo, einer Kleinstadt vor den Toren Warschaus. Von dort aus werden rund um die Uhr die gesamten Online-Aktivitäten der polnischen Armee überwacht, abgeschirmt und Cyberattacken abgewehrt.

Lageraum des Nationalen Zentrums für Cybersicherheit.

Frage: Im vor uns liegenden Jahr wird das Nationale Zentrum für Cybersicherheit drei Jahre alt. Wie stark hat die Bedrohung durch Cyberangriffe auf das polnische Militär und seine Einrichtungen in dieser Zeit zugenommen?

Wir haben hart gearbeitet, um die damit verbundenen Risiken so klein wie möglich zu halten. Noch vor wenigen Jahren war das Nationale Kryptologiezentrum für die Cybersicherheit in der Armee zuständig, und die Funktionsfähigkeit der militärischen Systeme wurde von der IT-Inspektion gewährleistet. Es handelte sich um zwei separate Einheiten mit unterschiedlichen Zielen, da ein System nicht gleichzeitig sicher sein und alle vom Nutzer erwarteten Funktionen bieten kann.

Februar 2019. Verteidigungsminister Mariusz Błaszczak beruft (damals noch) Oberst Karol Molenda zum Bevollmächtigten des Verteidigungsministeriums für den Aufbau der Cyber-Verteidigungstruppen.

Vor drei Jahren wurden die beiden Einrichtungen im NCBC zusammengeführt. Wir haben unsere Systeme gestrafft und das Sicherheitsniveau deutlich erhöht, manchmal auch auf Kosten der Funktionsvielfalt. Eine der ersten Maßnahmen war die Einführung von MFA (Multifactor Authentication) für die offizielle Post, d. h. eine mehrstufige Nutzer-Identifizierung, die zuvor weder im Verteidigungsministerium noch bei den Streitkräften Standard war.

Darüber hinaus haben wir die Systeme so eingestellt, dass eine Anmeldung ausschließlich über Dienstgeräte oder spezielle Zugänge (von NCBC entwickelt und installiert) möglich ist. Vieles davon konnte schnell erledigt werden, da das NCBC gleichzeitig Eigentümer aller Computersysteme in der Armee geworden ist.

Wenn also ein System in der Armee nicht mehr funktioniert oder ein Cyberangriff erfolgt, ist das NCBC dafür verantwortlich?

Wir sind das digitale Herz der Armee. Wir sind und fühlen uns für den Betrieb und den Schutz der gesamten militärischen Informations- und Kommunikationstechnik verantwortlich. Nur wir sind berechtigt, sämtliche Sicherheitslösungen in der gesamten militärischen Infrastruktur umzusetzen.

Das Warschauer Kreisgericht verhandelt gegen den ehemaligen Leiter der polnischen Huawei-Niederlassung, dem Spionage vorgeworfen wird und der, nach Angaben der Ermittler, ein verdeckter chinesischer Geheimdienstmitarbeiter war. Die Amerikaner weisen seit langem auf Gefahren hin, die mit dem Einsatz von Systemen und Geräten aus chinesischer Produktion verbunden sind. Verwendet die polnische Armee derartige Produkte?

Wir haben keine chinesische Technologie in unsere militärische Infrastruktur eingebaut. Wir verlassen uns ausschließlich auf die Lösungen unserer NATO-Partner, hauptsächlich aus den Vereinigten Staaten und der Europäischen Union. Auch diese Systeme und Lösungen werden von uns in Bezug auf ihre Sicherheit bewertet, bevor sie bei der Armee eingeführt werden.

„Wir haben keine chinesische Technologie in unsere militärische Infrastruktur eingebaut.“

Wir überprüfen auch alle Systemaktualisierungen. Für sich genommen, enthalten sie vielleicht keine Schwachstellen, aber sobald sie eingebaut sind, könnten sie Pforten öffnen, durch die versucht werden kann, in das System einzudringen. Deswegen bewerten wir vor der Einführung von Aktualisierungen, welche Veränderungen sie in unserem Netz verursachen könnten. Das gilt sowohl für nicht klassifizierte als auch für klassifizierte Systeme. Darüber hinaus unterliegen auch klassifizierte Systeme, gemäß dem Gesetz zum Schutz von Verschlusssachen, einer Sicherheitsakkreditierung, d. h. sie werden von den zuständigen Diensten automatisch auf ihre Sicherheit überprüft.

Chinesische Systeme und Ausrüstung sind für die polnische Armee also inakzeptabel?

China ist weder unser Partner noch ein Verbündeter der NATO oder der Europäischen Union. Außerdem sind chinesische Unternehmen gesetzlich verpflichtet, bestimmte Daten der von ihnen hergestellten Geräte an die dortigen Geheimdienste weiterzugeben. Das birgt erhebliche Gefahren. Deshalb verwenden wir keine chinesische Hardware.

So die aktuelle Praxis. Ich hoffe, dass die Änderung des Gesetzes über das nationale Cybersicherheitssystem uns auch die einwandfreie juristische Handhabe geben wird, die Nutzung nicht vertrauenswürdiger Systeme und Geräte, die eine Bedrohung für die Sicherheit darstellen könnten, vollständig zu blockieren.

Wie werden die private Ausstattung und die privaten E-Mail-Postfächer der Offiziere und der Beamten des Verteidigungsministeriums geschützt?

Kein System kann vollständig vor Missbrauch geschützt werden. Die Amerikaner haben dafür ein gutes Sprichwort: „There is no patch for human stupidity“ – sinngemäß, „Gegen menschliche Dummheit ist kein Kraut gewachsen“.

Daher können wir die Risiken nur durch Schulung und Beratung verringern. Ein Großteil unserer Arbeit besteht deswegen aus eindringlicher Bewusstmachung, wie wichtig Cyberhygiene ist. Das sind gemeinschaftliche Vorsichtsmaßnahmen von Sicherheitsfachleuten, Administratoren und Nutzern, um sich vor Angriffen zu schützen.

Wer sich ausschließlich auf Security-Experten verlässt, übergeht die Rolle, die ein einzelner Mitarbeiter bei der Gewährleistung der Sicherheit spielen kann. Wenn Mitarbeiter und alle Endanwender die grundlegenden Praktiken der IT-Hygiene verstehen, spielen sie eine wichtige Rolle beim Schutz der Geräte und Netzwerke.

„Selbst der elektronische Schriftverkehr zwischen Soldaten findet innerhalb des geschlossenen Systems statt. In den gesamten Streitkräften ist das der elementare Kommunikationskanal, der vollständig überwacht wird“.

Es geht also nicht nur um die ranghöchsten VIP‘s, die die vertraulichsten Geheimnisse des Verteidigungswesens kennen, sondern auch um all die Soldaten und Ministerialbeamten, die Zugang zu den von uns geschützten Netzwerken haben. Um sie alle in Sachen IT-Hygiene auf dem Laufenden zu halten, haben wir das Zentrum für IT-Sicherheitsschulung eingerichtet. Außerdem dürfen nach den Richtlinien des Verteidigungsministeriums dienstliche Informationen nur in den vom Ministerium verwalteten Systemen verarbeitet werden. Private E-Mail-Postfächer dürfen nur für den Versand privater Informationen genutzt werden.

In der Armee ist es also unmöglich, dienstliche Nachrichten an ein privates E-Mail-Postfach zu senden?

Das klassifizierte System, das u.a. alle Datenbanken umfasst, läuft vollständig separat, wodurch so etwas nicht möglich ist. In offenen Systemen hingegen, werden dienstliche E-Mails speziell gekennzeichnet und überwacht. So wird jede E-Mail, die an ein Postfach außerhalb des Verteidigungsministeriums geht detailliert ausgewertet.

Das ist notwendig, denn schließlich muss sich das Ministerium mit Institutionen außerhalb des Militärs elektronisch austauschen können. Private Postfächer dürfen hierfür jedoch nicht verwendet werden. Das offene militärische IT-System dient somit nur der notwendigen Unterstützung bei Kontakten nach außen. Jede Auffälligkeit bei der Nutzung wird eingehend analysiert, und die zuständige Sicherheitsdienststelle informiert im Zweifelsfall den Militärischen Abschirmdienst.

Selbst der elektronische Schriftverkehr zwischen Soldaten findet innerhalb des geschlossenen Systems statt. In den gesamten Streitkräften ist das der elementare Kommunikationskanal, der vollständig überwacht wird. Es ist nicht möglich, einen privaten, nicht verifizierten Datenträger an das Dienstsystem anzuschließen. So etwas wird sofort erkannt, blockiert und geahndet. Es gibt somit keine Möglichkeit, dass jemand beispielsweise Arbeit mit nach Hause nehmen würde.

Einem Bericht des amerikanischen Cyber-Sicherheitsunternehmens Mandiant zufolge ist Polen in letzter Zeit zu einem der Hauptziele massiver Cyberangriffe geworden. Sie werden von Gruppen durchgeführt, die mit den Geheimdiensten Russlands und Weißrusslands in Verbindung stehen. Können Sie das bestätigen?

Militärische Systeme sind ein gefundenes Fressen für ausgeklügelte, gut strukturierte Hackergruppen, die im Auftrag und Schutz ausländischer Geheimdienste arbeiten. Im Augenblick sind einige von ihnen sehr aktiv. Doch wir warten nicht darauf, bis wir von ihnen angegriffen werden, sondern machen mit Hilfe von Überwachungssystemen Jagd auf sie.

Gegner sind ausgeklügelte, gut strukturierte Hackergruppen, die im Auftrag und Schutz ausländischer Geheimdienste arbeiten.

Wir gehen ständig davon aus, dass sich jemand Zugang zu unserem System verschafft haben könnte. Wir suchen nach jeder Spur einer solchen Tätigkeit. Wir erstellen und aktualisieren Datenbanken über die Taktiken, Techniken und Verfahren, die unsere potenziellen Gegner anwenden. Sobald sich deren Arbeitsweise ändert oder sie ein neues Verfahren anwenden, setzen wir diese als Modell auf unseren Geräten ein, um so die neuartigen Aufklärungs- oder Eindringungsversuche zu erkennen.

Darüber hinaus, und das ist das Wichtigste, haben wir sehr stark in die Sicherheit unserer Netzlösungen investiert. Daher glaube ich, dass die Kosten eines Angriffs derzeit in keinem Verhältnis zu den Ergebnissen stehen würden. Es dürfte sich für einen Angreifer nicht lohnen, so viel Geld zu investieren, um in unser Netz einzudringen und sofort entdeckt zu werden. Daher ist es für solche Gruppen heute leichter, psychologische Operationen durchzuführen. Sie erstellen gefälschte Konten, verbreiten Desinformationen, dringen in private E-Mail-Postfächer ein.

Damit sind wir bei der „E-Mail-Affäre“, d. h. dem Durchsickern von Korrespondenz aus den elektronischen Postfächern der wichtigsten polnischen Beamten. Wie viele Vertreter der Armee und des Verteidigungsministeriums wurden gehackt, in wie viele private E-Mail-Postfächer wurde erfolgreich eingebrochen?

Uns liegen Informationen vor, wonach versucht wurde, auf diese Weise aktive wie auch pensionierte Offiziere anzugreifen. Es waren mehrere Personen. Jede von ihnen ist von uns informiert worden.

Wurden die Postfächer dieser Personen kopiert?

Das ist keine Frage für uns. Wir überwachen keine privaten E-Mail-Postfächer. Das liegt nicht in unserer Zuständigkeit. Für die gesamte Cyber-Spionageabwehr sind die Geheimdienste zuständig: der Militärische Abschirmdienst SKW und der Inlandsgeheimdienst ABW.

Wir können die Betroffenen nur dazu ermutigen, die Regeln der Cyberhygiene auch privat anzuwenden. Wir haben eine spezielle Online-Schulung dazu vorbereitet, wie sie ihren privaten Mailverkehr mittels mehrstufiger Nutzer-Identifizierung (MFA) sichern können und warum auch ihre nächsten Angehörigen dieses Instrument nutzen sollten.

„Ein Großteil unserer Arbeit besteht deswegen aus eindringlicher Bewusstmachung, wie wichtig Cyberhygiene ist“.

Jeder Mensch hat sein Privatleben und oftmals ist es nicht möglich, sich hier einzumischen oder jemanden zu zwingen bestimmte Verhaltensweisen zu beachten.

Meiner Meinung nach, war einer der Gründe, weshalb unsere Gegner in private E-Mail-Postfächer eingedrungen sind, dass sie es nicht schaffen unsere militärischen IT-Systeme zu knacken. In vielen Fällen war hierzu bei den privaten E-Mail-Adressen lediglich ein Login und ein Passwort erforderlich, was für jeden, der auch nur ein bisschen Ahnung von Social Engineering hat, ein Kinderspiel ist. Diese Methoden sind seit den Zeiten von Kevin Mitnick bekannt, der in den 1980er Jahren per Telefon Passwörter zu geheimen Systemen des US-Außenministeriums ausspionierte.

Kann man erwarten, dass die Hintermänner dieser Hackerangriffe auf E-Mail-Lacks bestraft werden?

Solche gefährlichen Aktivitäten im Cyberspace werden uns so lange begleiten, bis die Internetnutzer sich der damit verbundenen Risiken bewusst werden. Leider ist dies ein globales Problem. Nicht nur in Polen sind E-Mails von wichtigen Beamten durchgesickert. In den Vereinigten Staaten sind solche Vorfälle fast an der Tagesordnung, obwohl das Land enorme Ressourcen für die Cybersicherheit bereitstellt.

Denn wenn man die Internetnutzer wirksam vor solchen Lacks schützen wollte, müsste man ihre privaten Postfächer überwachen, und wir möchten nicht in einem Land leben, in dem es eine Institution mit solchen Befugnissen gibt. Deshalb können wir nur Hinweise geben und warnen.

Bald, nach vier Jahren der Vorbereitung, wird es endlich eine neue Komponente der Streitkräfte geben: Cyber-Verteidigungskräfte (WOC). Wann werden wir bereit sein, einen Angriff auf den Feind zu starten?

Unsere Teams bauen solche Kompetenzen auf oder haben sie bereits aufgebaut. Zurzeit nutzen wir unsere offensiven Ressourcen, um die Sicherheit unserer Systeme zu überprüfen. Denn es müssen rechtliche Lösungen gefunden werden, um beispielsweise zu definieren, wie militärische Teams in Friedenszeiten für Cyberoperationen eingesetzt werden können.

Dieses Thema wird im Rahmen der Arbeiten am Gesetzentwurf zur Landesverteidigung erörtert, in dem die Definition der Cyber-Verteidigungskräfte enthalten ist. Diese Frage erfordert eine Entscheidung auf strategischer Ebene.

„Wir sollten von den Erfahrungen unserer Partner profitieren“.

Wir sollten von den Erfahrungen unserer Partner profitieren. In den Vereinigten Staaten verfügt der Befehlshaber einer Cyber-Armee über eine sogenannte Executive Order – eine Ermächtigung des Präsidenten, im Falle eines Cyberangriffs auf die USA eine angemessene Vergeltungsmaßnahme durchzuführen. Er kann also sofort reagieren. Wenn er auf die Genehmigung des Präsidenten warten müsste, könnte das Stunden oder Tage dauern, und bei einem Cyberangriff ist das eine sehr lange Zeit.

Warschau im Juni 2019. US-Brigadegeneralin Maria Biank und Brigadegeneral Karol Molenda nach der Unterzeichnung eines Kooperationsabkommens zwischen dem United States Cyber Command und dem polnischen Nationalen Zentrums für Cybersicherheit.

Wie viele Soldaten werden in den Cyber-Verteidigungskräften (WOC) dienen?

Die genaue Zahl wird nicht mitgeteilt. Derzeit umfasst unsere Struktur – NCBC und direkt unterstellte Einheiten – mehr als 6.000 Vollzeitsoldaten und zivile Mitarbeiter. Diese Personen sind nicht nur für den Cyberspace, sondern auch für IT oder Kryptologie zuständig. Das mag nicht viel erscheinen, aber im Vergleich dazu hat das US-Cyber-Militär 7.000 bis 8.000 Soldaten.

NCBC-Erkennungsmerkmal. Aufnäher am rechten Uniformärmel.

Wichtig ist nicht die Quantität, sondern die Qualität. Die größte Herausforderung besteht heute darin, kompetente Teams aus hochrangigen Spezialisten zusammenzustellen. Das ist sehr schwierig. Schätzungen zufolge fehlen allein in Europa drei Millionen Cyber-Sicherheitsexperten.

Wie also kann man Fachleute mit einzigartigen Fähigkeiten davon überzeugen, dass es sich lohnt, den WOC beizutreten?

Wir zeigen die Perspektiven auf, die sich hochkarätigen Experten, die bei uns dienen, eröffnen. Natürlich kann man auf dem privaten Markt mehr Geld verdienen, aber dann ist man nur ein Rädchen, das Gewinne für die Konzerne erwirtschaftet.

Internetanzeige. „Das Militär baut eine Cyber-Armee auf und sucht Informatiker.“

Andererseits können sie bei uns ihrem Heimatland dienen und unmittelbar mit dem Feind in Berührung kommen, z. B. mit den sich weiterentwickelnden APT-Gruppen, die komplexe, zielgerichtete und sehr effektive Angriffe auf kritische IT-Infrastrukturen und vertrauliche Armeedaten starten. Sich mit ihnen zu messen ist eine der anspruchsvollsten Herausforderungen für einen IT-Experten.

Und was ist mit dem Geld? Wie viel kann ein solcher Spitzenexperte heutzutage in der Armee verdienen?

Wie ich bereits sagte, werden auf dem privaten Markt heute höhere Gehälter gezahlt als bei uns am NCBC. Das könnte sich jedoch bald ändern. Es ist ein Gesetz in Kraft getreten, das es ermöglicht, Cyber-Sicherheitsexperten mit einzigartigen Kompetenzen angemessen zu entlohnen.

Derzeit wird in der Kanzlei des Premierministers an einer Verordnung gearbeitet, in der alle damit zusammenhängenden Einzelheiten, einschließlich der möglichen Gehaltsspannen, festgelegt werden. Ich möchte zum jetzigen Zeitpunkt keine konkreten Beträge nennen, aber ich bin optimistisch.

Zu diesem Thema auch lesenswert:

Wohin marschiert die polnische Armee

RdP

Das Gespräch erschien im Wochenmagazin „Gazeta Polska“ („Polnische Zeitung“) vom 6. Januar 2022.




Das Wichtigste aus Polen 24.Oktober bis 18.Dezember 2021

Aleksandra Rybińska und Janusz Tycner diskutieren die wichtigsten Ereignisse der letzten Zeit in Polen ♦ Inflation bei knapp 8 Prozent. Die Regierung hält dagegen und behält die Oberhand ♦ Klimatismus, Ökologismus, Genderismus, Beseitigung der Nationalstaaten: Der deutsche Koalitionsvertrag verheißt  wenig Gutes für Polen  ♦ Erste Kontakte der neuen deutschen Regierung nach Polen: Der Lehrmeister sieht sich um.




Im Ernstfall. Deutschland will zusehen wenn Polen wird untergehen

Polnische Analyse für den Fall eines russischen Angriffs. 

Ob Besetzung der Krim, das russische Vorgehen im Donbas oder Lukaschenkos von Moskau abgesegnete „Migranten-Offensive“ auf die polnische Ostgrenze. Ein Angriff auf Polen und die baltischen Staaten kann nicht mehr als ganz und gar undenkbar betrachtet werden. Bei allen diesbezüglichen Denkspielen sollte man in Polen einen Aspekt unbedingt beherzigen: kannst Du zählen, zähle nicht auf Deutschland.

In der russischen Enklave Kaliningrad und in den russischen Gebieten, die unmittelbar an Lettland und Estland grenzen, befinden sich heute die gröβten Truppenansammlungen innerhalb Europas. Die militärische Schwäche der Nato in dieser Region und eine enorme bewaffnete Überlegenheit Russlands, laden Moskau regelrecht zu einem Vorstoβ ein.

Die russische Übermacht äuβert sich vor allem in der Fähigkeit, aus dem Stand, zeitlich und räumlich begrenzte, unvermutete Blitzangriffe vornehmen zu können. Ein solcher Überfall auf Nato-Gebiet würde wahrscheinlich nicht unbeantwortet bleiben. Der Kreml kann jedoch dabei davon ausgehen, dass eine Erwiderung der Nato so viel Zeit in Anspruch nehmen wird, dass Westeuropa, allen voran Deutschland, vor vollendete Tatsachen gestellt, die russischen Eroberungen hinnimmt und den „Triumph der Vernunft“ verkündet.

So könnte der Ernstfall aussehen

Durchaus vorstellbar wäre, dass die Russen innerhalb von 72 Stunden zwei oder gleich alle drei baltische Staaten überrollen, und dann der Nato mit dem Einsatz von Atomwaffen drohen würde, sollte das Bündnis den Versuch wagen die besetzten Gebiete zurückzuerobern.

Die Nato-Ostflanke.

Bei einem Überraschungsangriff würden sich die Russen zudem größte Mühe geben, die symbolischen Nato-Truppenkontingente im Baltikum (insgesamt ca. 2.500 Soldaten an drei Standorten) friedlich und ohne Opfer außer Gefecht zu setzen. Die entwaffneten Mannschaften würden umgehend wieder im Westen landen. Solch eine „Geste des guten Willens“ würde ihre mildernde Wirkung ganz bestimmt nicht verfehlen.

Friedensbewegte Massenproteste in Westeuropa, vor allem in Deutschland, lautstarke Appelle „vernünftiger“ Politiker und Medien „mit Russland zu reden“ und „Russland zu verstehen“ könnten derweil das Schicksal des wieder einmal von Russland besetzten Baltikums schnell besiegeln.

Seine geographische Lage dürfte es Polen kaum erlauben, den drei baltischen Staaten zur Hilfe zu kommen. Wie eine geballte Faust schwebt die russische Enklave Kaliningrad über dem Land, und im Osten erstreckt sich das mit Russland militärisch eng verwobene Weiβrussland. Polen hätte groβe Mühe das eigene Territorium zu verteidigen.

Warschau liegt nur knapp 300 Kilometer von den Ausgangsstellungen des potentiellen Angreifers entfernt und wäre schnell Ziel eines starken russischen Zangenangriffs von Norden (Kaliningrad) und Osten (Weiβrussland), der die polnischen Streitkräfte im Raum der sog. Suwalki-Lücke umgehend von der polnisch-litauischen Grenze abschneiden würde.

Teile Polens, vielleicht sogar mit Warschau, würden den Russen in die Hände fallen. Von Moskau mit einem atomaren Angriff erpresst, könnte der Westen, auch das Biden-Amerika, ebenfalls im Falle Polens schnell „Ruhe geben“ und sich mit der durch die russische Aggression geschaffenen Tatsachen „realistisch“ abfinden.

Ob Moskau dieses düstere Szenario umsetzten könnte, würde vor allem von Deutschland abhängen. Ohne das Engagement des Schlüsselstaates der Nato in Mitteleuropa mit seinen ausgebauten US-Militäreinrichtungen, wäre ein Zurhilfekommen nicht denkbar. Aber hat Deutschland, etwas salopp ausgedrückt, Lust und Kraft, diese Aufgabe wahrzunehmen? Aus heutiger Sicht weder noch.

Deutsche würden östliche Nato-Partner bei Angriff alleinlassen

Meinungsumfragen lassen keinen Zweifel daran. Mehr als jeder zweite Deutsche ist dagegen, östlichen Bündnismitgliedern wie Estland, Polen oder Lettland militärisch beizustehen, wenn sie von Russland angegriffen werden. So die Antwort von 53 Prozent der Befragten bei einer entsprechenden Umfrage des renommierten Washingtoner Pew Research Center im Mai 2017.

Deutscher Antiamerikanismus.

In keinem europäischen Land, das für die Befragung untersucht wurde, ist die Ablehnung der sogenannten Beistandspflicht nach Artikel 5 – der das Herz der Nato bildet – so groß. Zum Vergleich: In den Niederlanden (23 Prozent), Polen (26 Prozent), in Kanada und den Vereinigten Staaten (beide 31 Prozent) sind die Gegner der Beistandspflicht klar in der Minderheit. In Frankreich und Großbritannien liegt die Ablehnungsrate bei jeweils 43 Prozent und in Spanien bei 46 Prozent.

In Deutschland sind vor allem Frauen dagegen, den östlichen Verbündeten im Falle eines russischen Angriffs zu helfen (62 Prozent). In Ostdeutschland unterstützen nur 29 Prozent der Befragten die Beistandspflicht, im Westen sind es immerhin 43 Prozent. Insgesamt sind nur vier von zehn Deutschen dafür, ein anderes Nato-Mitglied im Falle eines russischen Angriffs zu verteidigen.

Deutsche Zustimmung für Russland.

Spätere, wenn auch weniger repräsentative Umfragen, belegen diese Einstellung, die sich eher noch  verfestigt. Aber auch nur ein Blick in die deutschen Medien und in die Leserkommentare genügt, um sich das enorme Ausmaß der gesellschaftlichen Zustimmung für Russland und die gleichzeitige Ablehnung der Nato, der militärischen US-Präsenz in Deutschland und der Bundeswehr zu vergegenwärtigen. Diese weit verbreitete Haltung bleibt nicht ohne Einfluss auf den fortschreitenden Verfall der Bundeswehr.

Auch die deutsche Politik hält wenig von der Beistandspflicht

Daniel Kochis gilt als ein renommierter Analyst der konservativen Denkfabrik Heritage Foundation. In seinem auf dem Fachportal RealClear Defence veröffentlichten Artikel fordert er die neue deutsche Ampel-Regierung auf, Versprechen einzuhalten, die Berlin der Nato seinerzeit gegeben hat.

Es geht vor allem darum, die deutschen Verteidigungsausgaben auf 2 Prozent des BIP zu erhöhen. Leider muss man davon ausgehen, dass solche Appelle in Berlin weiterhin auf taube Ohren stoßen werden. Äußerungen der noch amtierenden CDU-Verteidigungsministerin und Erklärungen derjenigen, die Deutschland die nächsten vier Jahre lang regieren sollen, lassen keine andere Deutung zu.

Die neue Regierung dürfte in dieser Hinsicht noch unnachgiebiger sein. Das zeigt ein kürzlich veröffentlichtes zwölfseitiges Papier der angehenden Regierungskoalition, in dem Sicherheitsfragen nur in den letzten zehn Absätzen äußerst kurzsilbig behandelt werden.

Die Verhandlungsführer der Ampel-Koalitionsparteien betonen in dem Dokument, dass „die Nato das Fundament der Sicherheit ist“ und schreiben im nächsten Satz über den Willen, die Ausrüstung der deutschen Streitkräfte zu modernisieren. Daraus lässt sich schließen, dass Berlin immerhin neue Flugzeuge kaufen will, damit Deutschland weiterhin am Programm der nuklearen Teilhabe teilnehmen kann, aber nicht viel mehr.

Kochis erinnert daran, dass die Nato bereits 2006 die Notwendigkeit erörterte, die Verteidigungsausgaben auf 2 Prozent zu erhöhen, wovon mindestens 20 Prozent für „große“ Projekte zur Modernisierung der Ausrüstung aufgewendet werden sollten. Entsprechende Vereinbarungen wurden beim Nato-Gipfeltreffen in Newport/Wales, im September 2014 getroffen. Die Nato-Staaten wollten damals diese Verpflichtungen bis 2024 umsetzen.

Die Linke-Plakat.

Im Falle Deutschlands jedoch ist dies völlig abwegig. Berlin erklärte nämlich  schon vor der Pandemie, im Jahr 2019, als Deutschland, wohlgemerkt, noch einen Haushaltsüberschuss hatte, dass es das Zwei-Prozent-Ziel erst im Jahr 2031 erreichen könne. Das wäre ein Vierteljahrhundert nachdem es zum ersten Mal von den Verbündeten angepeilt wurde.

Gewiss, auch Berlin hat seine Militärausgaben erhöht. Heute gibt Deutschland 25 Milliarden Dollar mehr für die Verteidigung aus als 2015, aber das sind immer noch lediglich 1,53 Prozent des deutschen BIP.

Der zitierte Analyst der Heritage Foundation schreibt, dass selbst die Perspektive 2031, wenn Deutschland nach den jüngsten Erklärungen seinen Verpflichtungen endlich nachkommen will, ernsthaft gefährdet ist.

Erstens, weil die neue Regierungskoalition die Sozialausgaben deutlich erhöhen möchte, was sie höchstwahrscheinlich veranlassen wird, Einsparungen im Militärhaushalt vorzunehmen. Zweitens wächst in Berlin die Überzeugung, dass mit der Machtübernahme durch die Biden-Administration, die von Trump stark betonte „Zwei-Prozent-Frage“ nicht mehr so wichtig ist und man sie getrost zu den Akten legen kann.

Zwei-Prozent-Fetisch. Karikatur von Harm Bengen.

Sollten sich diese Vorhersagen bestätigen, so Kochis, „würde ein solches Signal in Moskau als Schwäche und in Osteuropa als Unbekümmertheit ausgelegt werden. In den USA würde es die Überzeugung festigen, dass die niedrigen europäischen Verteidigungsausgaben ein guter Grund für die USA sein sollten, Europa zu verlassen.“ Eine bessere Einladung an Moskau, wie die aus Berlin, militärisch im Baltikum und in Polen tätig zu werden, könnte es nicht geben.

Viel Geld für eine schlechte Bundeswehr

An dieser Stelle drängt sich die Frage auf: Wie ist der tatsächliche Zustand der deutschen Streitkräfte? Man könnte denken, dass ein Land wie Deutschland, das im Jahr 2020 58,9 Milliarden Dollar für die Verteidigung ausgegeben hat (berechnet nach der NATO-Methode und somit ohne Ausgaben für militärische Renten) über erhebliche Verteidigungsfähigkeiten verfügen muss. Polen gibt, nach derselben Berechnungsmethode, 7,8 Milliarden Dollar für seine Armee aus.

Auf dem Papier ist die Stärke der deutschen Landstreitkräfte, nach Angaben der britischen Denkfabrik IISS, die jedes Jahr den „Military Balance“-Bericht veröffentlicht, in dem der Zustand der Armeen aller Länder der Welt beschrieben wird, nicht viel größer als die Polens.

Die Deutschen haben 62.150 Soldaten und Offiziere, die Polen 58.500. In der deutschen Luftwaffe dienen 16.600, in der polnischen 14.300 Mann. Deutschland besitzt eine viel größere Kriegsmarine, während Polen über deutlich stärkere Spezialkräfte verfügt.

Wenn sich die „Auf-dem-Papier-Bestände“ der deutschen Streitkräfte nicht wesentlich von den polnischen unterscheiden, dann sind sie vielleicht in Bezug auf Ausrüstung, Ausbildung und Einsatzbereitschaft überlegen? Zur Beantwortung dieser Frage sei auf den soeben von der Heritage Foundation veröffentlichten Bericht „Index of Military Strength“ verwiesen, der unter anderem eine Analyse der Fähigkeiten der wichtigsten amerikanischen Verbündeten in der Welt enthält. Auch dem militärischen Potenzial Deutschlands wurde in dieser Studie einige Aufmerksamkeit geschenkt.

Nach Meinung der amerikanischen Fachleute „sind die deutschen Streitkräfte nach wie vor unterfinanziert und schlecht ausgerüstet“. Die Autoren der Studie zitieren einen anonymen deutschen Diplomaten, der von der „Financial Times“ mit den Worten zitiert wird, dass „Deutschland seinen Verteidigungshaushalt auf 3,0 bis 3,5 Prozent des BIP verdoppeln sollte, da es sonst Gefahr läuft, völlig taub, blind und wehrlos zu sein“.

Die deutschen Streitkräfte, die nicht nur in Litauen oder im Kosovo präsent sind, sondern auch Expeditionsaufgaben übernehmen, befinden sich, nach Meinung der amerikanischen Fachleute, immer noch auf einem niedrigen Niveau der Gefechtsbereitschaft, die heute bei 74 Prozent liegt.

Nach Ansicht der Experten der Heritage Foundation, sind die Anwesenheit der Bundeswehr bis vor kurzem in Afghanistan sowie weiterhin in Mali, aber auch z.B. die Teilnahme an der Überwachung des Luftraums der baltischen Staaten, nur möglich, weil deutsche Einsatzkräfte für die Durchführung dieser Missionen ihrer Ausrüstung in der Heimat „beraubt“ werden. Das wirkt sich nachteilig auf ihre Wirksamkeit und Ausbildung für die Heimatverteidigung aus.

Gängige Bundeswehr-Berichterstattung in Deutschland.

Das Ausmaß der Probleme wurde auch im Bundestagsbericht von 2021 noch einmal deutlich, in dem u.a. festgestellt wurde, dass nur 13 Leopard-2 Panzer einsatzbereit waren, statt der für die Ausbildung erforderlichen 35.

Auch die Personalprobleme sind nicht gelöst. Die Unzulänglichkeiten betreffen im Übrigen nicht nur die Bodentruppen, denn: „Fast die Hälfte der Piloten der Luftwaffe erfüllten die Anforderungen der NATO-Ausbildung nicht, da aufgrund des Mangels an verfügbaren Flugzeugen die Kriterien hinsichtlich der Flugstunden nicht erfüllt werden können.“

Auch fehlen Piloten, denn von den 220 Stellen für Kampfflugzeugpiloten sind nur 106 besetzt; bei den Hubschraubern ist das Verhältnis ähnlich: von 84 benötigten Piloten sind 44 im Dienst. Bei der deutschen Marine sieht es nicht besser aus, nicht nur wegen des Personalmangels, sondern auch, weil Einheiten aus dem Dienst genommen werden.

Wie im März 2021 bekannt wurde, verwenden mehr als 100 deutsche Schiffe, darunter auch U-Boote, russische Navigationssysteme, die nicht den NATO-Standards entsprechen. Es besteht die Möglichkeit, dass sie „gehackt“ werden, was den größten Teil der deutschen Marine die Einsatzfähigkeit kosten könnte.

Deutschland möchte seine Streitkräfte, vor allem die Reservekomponente, vergrößern. Nach Ansicht von Experten der Heritage Foundation werden diese Pläne, obwohl sie als sinnvoll erachtet werden sollten, nur schwer umsetzbar sein. Im Jahr 2020 ist die Zahl der Freiwilligen, die sich zur Teilnahme an der Ausbildung bereit erklärt haben, um 19 Prozent gesunken, und es gibt immer noch 20.200 offene Stellen bei der Bundeswehr. Das Durchschnittsalter der Soldaten ist seit 2012 um drei Jahre gestiegen und liegt heute bei 33,4 Jahren.

Im März 2021 hat der Bundestag die Beteiligung Deutschlands an einem gemeinsamen europäischen Drohnenbauprogramm (an dem auch Frankreich, Italien und Spanien beteiligt sind) gebilligt. Die Bundeswehr darf aber weiterhin keine Kampfdrohnen besitzen und Soldaten, die Beobachtungsdrohnen bedienen ist es nicht erlaubt den Einsatz von Drohnen als „taktische Waffen“ zu üben. Angesichts der stürmischen Entwicklung der Kampfdrohneneinsätze auf den modernen Schlachtfeldern sind die deutschen Streitkräfte auch in diesem Bereich ins Hintertreffen geraten.

Wenn die Russen bis 2031 warten, werden die Deutschen innerhalb von drei Monaten antreten

Im September veröffentlichte ebenfalls die schwedische militärische Denkfabrik FOI einen Sonderbericht über die Fähigkeiten der Bundeswehr. Ihre Erkenntnisse decken sich größtenteils mit dem, was die amerikanischen Fachleute geschrieben haben.

Es sei jedoch darauf hingewiesen, dass die Deutschen, nach Ansicht der Autoren der schwedischen Studie, im Kriegsfall in der Lage wären, innerhalb einer Woche vom Beginn der Kampfhandlungen an, nur 3 bis 4 mechanisierte Bataillone aufzubieten, und dies nur an ihren festen Standorten. Hinzu kämen 2, vielleicht 3 leicht bewaffnete Bataillone der Infanterie, die auf dem Luftweg ins Kampfgebiet gebracht werden könnten.

Auf die Antwort auf die von der Bild-Zeitung gestellte Frage ist man auch in Polen gespannt.

Das ist, angesichts der jährlichen Verteidigungsausgaben von knapp 59 Milliarden Dollar, kein beeindruckendes Potenzial, und schon gar nicht eines, das Moskau erschrecken und die russische Elite dazu bringen würde, auf mögliche aggressive Schritte zu verzichten. Das Ziel des deutschen Verteidigungsministeriums ist es, und das erst im Jahr 2031, innerhalb von drei Monaten nach Kriegsbeginn drei volle Divisionen an Bodentruppen „in die Schlacht zu werfen“.

Aus polnischer Sicht ist die Botschaft klar. Selbst wenn Berlin seine Pläne weiterverfolgt und endlich die 2014 eingegangenen Verpflichtungen 2031 erfüllt, könnte der deutsche „Entsatz“ erst drei Monate nach Kriegsbeginn an der Ostflanke eintreffen.

Natürlich nur wenn diese „ehrgeizigen“ Absichten nicht von der neuen Koalition blockiert werden, und wenn in Berlin die Entscheidung fallen würde gegen den russischen Aggressor zu kämpfen, was aus heutiger Sicht wenig wahrscheinlich erscheint.

Der Bericht erschien im Internetportal „wPolityce.pl“ („inderPolitik.pl“) am 5. November 2021

RdP




Das Wichtigste aus Polen 19. September bis 23. Oktober 2021

Aleksandra Rybińska und Janusz Tycner diskutieren die wichtigsten Ereignisse der letzten Zeit in Polen ♦ Ministerpräsident Mateusz Morawiecki legt im Europäischen Parlament die polnischen Standpunkte im Konflikt mit der EU dar  ♦ Ansturm der Lukaschenka-Migranten auf die polnische Grenze dauert an  ♦ Bittere Genugtuung. Polen hat gewarnt, Deutschland hat es nicht geglaubt, Putin triumphiert, der Erdgaspreis explodiert.




Reparationen für Polen. Ein Deutscher spricht Klartext

Deutschland hat sich fast umsonst von der Vernichtung Polens freigekauft.

„Polen sollte eine europäische Initiative zur Wiedergutmachung starten. Die deutsche Heuchelei muss aufgedeckt werden“, sagt Dr. Karl Heinz Roth, Jahrgang 1942, deutscher Historiker und Arzt, Experte der Stiftung für Sozialgeschichte des 20. Jahrhunderts (SfS) in Bremen, Autor des Buches „Verdrängt, aufgeschoben, abgelehnt. Die deutschen Reparationsschulden gegenüber Polen und Europa“.

Nachfolgend ein Gespräch mit ihm.

Einerseits sagen die Deutschen, dass sie ein tiefes Schuldgefühl für die Verbrechen des Dritten Reiches empfinden, dass sie ihre Vergangenheit aufgearbeitet haben und nichts leugnen. Andererseits lehnen sie nicht nur die Möglichkeit ab, Reparationen an Polen zu zahlen, sondern sogar die Diskussion darüber. Für sie ist der Fall abgeschlossen. Wenn Schuld vorliegt, sollte es eine Wiedergutmachung geben oder nicht?

Karl Heinz Roth.

Auf jeden Fall. Dass dies nicht der Fall ist, liegt am Zynismus der deutschen Machtpolitik. Dieser Zynismus führt dazu, dass die berechtigten Forderungen der Entschädigungsberechtigten als Betteln um Almosen dargestellt werden. Opfern wird das Recht verweigert, das einzufordern, was ihnen zusteht. Dadurch entsteht eine Art Missverhältnis: Ein mächtiger Schuldner entscheidet, wie er die Forderungen derjenigen behandelt, denen er Unrecht getan hat.  Das ist verwerflich und nicht annehmbar.  Deutschland behandelt Polen wie eine schwache, lästige Peripherie.

Sie kommen, zumeist zu bedeutenden historischen Jahrestagen, leisten Abbitte. 

Ja, denn dieses Schuldgefühl wird durch eine sehr wirkungsvolle, gut funktionierende Erinnerungskultur bedient. Aber es gibt keine Bereitschaft, die materielle Seite dieser Erinnerungskultur anzunehmen. Die Opfer und ihre Nachkommen, denen so viel Unrecht widerfahren ist, mussten irgendwie weiterleben. Sie müssen weiterleben. Indem ihnen das Recht auf materielle Entschädigung verweigert wird, wird ihnen erneut Schaden zugefügt. Sie werden auf die Rolle von Bettlern reduziert. Solange auf deutscher Seite keine Bereitschaft besteht, mit Polen unvoreingenommen über Reparationen zu sprechen, ist das ganze Gerede von Schuld nichts weiter als Heuchelei.

Warschau 1946.

Westdeutschland leistete in den 1950er und 1960er Jahren Reparationszahlungen an Israel und den Jüdischen Weltkongress, weil es nach dem Krieg in die internationale Gemeinschaft zurückkehren wollte, und Israel blockierte diese Bemühungen mit Erfolg. Man könnte also sagen, dass die Juden, wenn es um Deutschland ging, eine wirksame Methode gefunden hatten. Was kann Polen tun?

Polen verfügt nicht über ein solches Druckmittel, was unter anderem auf die Ereignisse der letzten Jahrzehnte zurückzuführen ist. Die Regierung in Warschau hat jedoch die Möglichkeit, auf verschiedenen Ebenen Druck auf Deutschland auszuüben.

Die erste Möglichkeit besteht darin, das Thema zu internationalisieren, damit Polen nicht allein handeln muss. Ein möglicher Ort für ein völkerrechtliches Vorgehen wäre, meines Erachtens, die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE), wo ein Schiedsverfahren angestrebt werden könnte, und auch der Internationale Gerichtshof. Das Thema sollte ebenfalls vor das Europäische Parlament gebracht werden und die Europäische Kommission sollte aktiviert werden. Kurzum, Polen sollte eine europäische Initiative zur Wiedergutmachung starten.

Zugleich sollten wir eine internationale Konferenz zu diesem Thema veranstalten. Damit dies gelingt, ist die Veröffentlichung des Berichts der Parlamentarischen Gruppe des Sejms für Wiedergutmachung über die Kriegsverluste Polens unabdingbar.

Im Fall von Griechenland hat sich die Situation dadurch völlig verändert. Die griechische Regierung hat der deutschen Regierung eine offizielle Note zu diesem Thema übermittelt. Heute fordern die deutschen Grünen, dass Berlin auf die Forderungen Griechenlands mit Respekt reagiert und sie berücksichtigt, anstatt sie einfach beiseite zu schieben.

Warschau im September 1945.

Die Grünen werden wahrscheinlich die neue Regierung in Deutschland mitbegründen. Wenn Polen seine Verluste bewertet und offiziell Reparationen fordert, kann die deutsche Seite dies nicht einfach ignorieren, wie sie es bisher getan hat. Sie wird diese Doppelmoral nicht länger aufrechterhalten können. Diese deutsche Haltung muss entlarvt werden. Zeigen Sie allen diese Heuchelei.

Die Deutschen behaupten jedoch, dass die kommunistische Regierung 1953 auf Reparationen verzichtet und dass das 2+4-Abkommen vom September 1990 die Frage endgültig abgeschlossen habe.

Das ist Unsinn. Für Reparationen gibt es keine Verjährungsfrist. Die Erklärung von 1953, in der die Volksrepublik Polen auf ihre Ansprüche gegenüber Deutschland verzichtete, ist aus völkerrechtlicher Sicht ungültig. Polen war damals kein souveräner Staat und hat diesen Schritt nicht freiwillig, sondern auf Druck der Sowjets, im Interesse ihrer damaligen Deutschlandpolitik getan. Es ging darum den Abschluss eines Friedensvertrags zu erleichtern und die deutsche Vereinigung unter sowjetischen Vorzeichen zu unterstützen, die letztendlich nicht zustande kam. Dieses Dokument ist daher nicht rechtskräftig.

Der 2+4-Vertrag, das Abkommen Deutschlands mit den vier Mächten, ist de facto ein Friedensvertrag, wird aber nicht als solcher bezeichnet, weil Deutschland nicht wollte, dass Reparationen in den Vertrag aufgenommen werden. Bis zur Unterzeichnung dieses Vertrages lehnte die deutsche Regierung jedes Gespräch über Reparationen ab, da sie behauptete, dies könne nur in einem Friedensvertrag besprochen werden.

Warschau im Oktober 1945.

Deshalb ist diese Frage noch immer nicht geklärt, und die Länder, die dieses Dokument nicht unterzeichnet haben, wie z. B. Polen, sind nicht daran gebunden. Deutschland hat Millionen von Menschen ermordet, deren Lebensgrundlagen zerstört und ihre Kultur geplündert. Es hat sich relativ billig aus der Misere herausgekauft. Das ist inakzeptabel.

Sehen Sie sich an, was mit den Reparationen für den deutschen Völkermord während der Kolonialzeit in Namibia geschehen ist. Ich kenne einen Historiker, der als Berater an den Verhandlungen teilgenommen hat. Er hielt mich über den Verlauf der Gespräche auf dem Laufenden. Dort war es dasselbe: Man versuchte, das Wort „Reparationen“ nicht zu verwenden, sondern sprach von freiwilliger Entwicklungshilfe für Namibia. Ein weiteres Almosen anstelle von Reparationen.

Ich habe mehrfach an Debatten über deutsche Kolonialverbrechen teilgenommen. Jedes Mal warnten mich fortschrittliche Kollegen davor, die Frage der Reparationen an Namibia zu richten, weil dann andere ehemalige Kolonien wie Kamerun oder Togo auf den Plan treten würden. Dies war auch 1975 der Fall, als Deutschland Polen ein Darlehen von 1 Milliarde Mark gewährte, das als „humanitäre Hilfe“ dargestellt wurde.

Peter Oliver Loew, Direktor des Deutschen Polen-Instituts in Darmstadt, sagte in einem Interview, dass die Deutschen Polen nicht mehr mit dem Krieg in Verbindung brächten und nicht sagen könnten, welche Nation am meisten unter dem Krieg gelitten habe. Und die rituellen Gesten, die anlässlich verschiedener Jahrestage gemacht werden, sind leer geworden. Wie wirkt sich dies auf die Reparationsdebatte aus?

Warschau im Juli 1945.

Es handelt sich in der Tat um ein bestimmtes Phänomen, das vor allem bei der jüngeren Generation der Deutschen zu beobachten ist. Bis heute ist es nicht gelungen, bei den Deutschen ein Bewusstsein für die Ungeheuerlichkeit der Verbrechen zu schaffen, die sich aus der deutschen Besatzungspolitik in Europa ergeben. Jedes Mal, wenn ich versuchte, die Frage der Reparationen für Polen mit Politikern der Grünen zu diskutieren, wollten sie nicht darüber sprechen. Junge Menschen. Dies ist ein großes Problem, dem wir uns stellen müssen. Wir müssen nach Möglichkeiten suchen, diese Blockade zu durchbrechen.

Ich war daran beteiligt, all diese griechisch-deutschen Initiativen auf den Weg zu bringen, die wahrscheinlich zu einem Kompromiss über Reparationen für Athen führen werden. Im Jahr 2013 schrieb ich über diese Reparationsschulden Deutschlands gegenüber Griechenland. Dadurch wurde mir klar, dass meine Sichtweise zu eng war, und ich habe sie erweitert. In den Jahren 2015 und 2016 fanden große Konferenzen mit deutschen und griechischen Historikern statt, die der Debatte neuen Schwung verliehen.

Ich denke, dass auch im Falle Polens solche zweiseitigen Initiativen notwendig und wirksam wären. Es muss Druck auf die deutsche Regierung ausgeübt werden, insbesondere von deutscher Seite. Die griechische Lobby in Deutschland spielte dabei eine wichtige Rolle. Auf polnischer Seite gibt es keine solche Lobby, und die Abneigung in Deutschland gegen Polen ist enorm und wächst.

Der Bundestag hat sich vorerst darauf geeinigt, in Berlin ein Denkmal für die polnischen Opfer des Krieges zu errichten, verbunden mit einem Begegnungszentrum. Ist das ein Trostpreis?

Warschau im Oktober 1945.

Dieses Denkmal ist ein weiteres Zugeständnis an die Erinnerungskultur. Ein kleiner Apfel, um uns vor der Ernte, d.h. vor den Reparationen zu schützen. Ein kleiner Schritt, um die Reparationsdebatte in Polen zu neutralisieren. Eine solche Gedenkstätte kostet wenig. Da sind wir also wieder beim deutschen Zynismus. Polen sollte sich mit einem Museum und einem Denkmal begnügen. Es bleibt die Frage, wann all diese Tricks aufhören werden.

Deutschland versteht sich heute als modernes, fortschrittliches, weltoffenes und tolerantes Land. Ein Land, auf das dieser düstere Abschnitt der Geschichte nicht mehr passt. Vielleicht ist das der Grund für die Zurückhaltung bei der Diskussion über Reparationen? Die Stiftungen deutscher Unternehmen, die früher von der Zwangsarbeit profitiert haben, wollen nicht mehr Geld für die Entschädigung der Opfer spenden, sondern Workshops für junge Menschen über Demokratie und die Notwendigkeit des Kampfes gegen den Faschismus organisieren.

Genau das ist der Fall, und ich habe es am eigenen Leib erfahren. Ich habe einmal in Köln einen Vortrag in einer Gedenkstätte gehalten. Der Vortrag wurde aufgezeichnet und von der Henkel-Stiftung übernommen. Er löste eine heftige interne Diskussion aus. Oder besser gesagt: einen Streit. „Hier muss man nach vorne schauen, in die Zukunft, während er sich mit der Vergangenheit beschäftigt.“

Deshalb muss der Druck auf Deutschland global sein, die USA und die jüdische Diaspora sollten Druck auf Deutschland ausüben. Ich habe mir das Abkommen zwischen Israel und Westdeutschland aus dem Jahr 1952 genau angesehen, und es ist ein klassisches Reparationsabkommen. Es finanzierte den Aufbau des Staates Israel. Die deutsche Bürokratie wird sich sicherlich dem Druck der Amerikaner und der jüdischen Lobby in den USA beugen. Bald wird mein Buch in Übersee erscheinen, und ich erwarte eine Diskussion, die auch die jüdische Welt mit einbeziehen wird.

Warschau im Februar 1946.

Ich möchte Sie nicht beunruhigen, aber die jüdische Welt zieht es vor, über die angebliche Mitschuld Polens am Holocaust zu debattieren und Forderungen an den polnischen Staat zu stellen.

Ich weiß, und auch hier ist eher eine offensive als eine defensive Haltung gefragt. Polen darf in diesem Kampf nicht alleinstehen, sonst verliert es seine Glaubwürdigkeit.

In der deutschen Debatte um die Reparationen wird immer wieder das Argument vorgebracht, dass Deutschland die von Polen geforderte Summe von fast 1 Billion Euro nicht aufbringen kann, dass andere Länder hinter Polen in die Schlange anstellen und die Zahlungen kein Ende nehmen werden.

Das deutsche Wirtschaftspotenzial ist so groß, dass das Land die Reparationen problemlos tragen kann. Deutschland hat über zwanzig Jahre hinweg 1,2 Billionen Euro für die Eingliederung der ehemaligen DDR ausgegeben. Das war überhaupt kein Problem. Die strukturellen Defizite der neuen Bundesländer, die sich sonst negativ auf das Wirtschaftswachstum des wiedervereinigten Deutschlands ausgewirkt hätten, wurden so beseitigt.

Warschau im Herbst 1945.

Die Zahlungen an die europäischen Länder, die am meisten unter der deutschen Besatzung gelitten haben, insbesondere an die sogenannten „kleinen Alliierten“, sollten daher kein Problem darstellen. Sie würden keine Krise in Deutschland auslösen.

Natürlich muss die Wiedergutmachung nicht ausschließlich finanzieller Art sein. Man kann sich Unterstützung für die von Deutschland zerstörten Städte vorstellen, Technologietransfer, Kapitalbeteiligung. Viele Opfer des Dritten Reiches leben heute in Armut. Der deutsche Staat sollte ihnen Renten zahlen.

Aber wir werden nur darüber reden können, wenn es uns gelingt, im Rahmen einer größeren europäischen oder internationalen Initiative Druck auf Berlin auszuüben. Polen braucht in diesem Kampf Verbündete. Andernfalls wird nichts geschehen.

Ein weiteres Problem besteht darin, dass die derzeitige polnische Regierung, nach Ansicht der liberalen Elite, einschließlich der in Washington, die falsche ist. Die Polen fordern Reparationen, weil sie die Deutschen nicht mögen oder weil sie eine antideutsche Stimmung auslösen wollen, um in der Innenpolitik Land gut zu machen. Wie kann das überwunden werden?

Das ist es, was mir die Masse der deutschen und anderen Historiker vorwirft. Dass ich die polnischen Rechtspopulisten und ihre bösen Absichten unterstütze. Wenn man keine anderen Argumente hat, greift man zum politischen Knüppel. Und ich bin ein alter Linker. Das ist natürlich nur ein Vorwand, um den gerechten Forderungen Polens nicht nachgeben zu müssen. Ziemlich erbärmlich, um genau zu sein.

Warschau im Herbst 1945.

Gibt es ein Land, das Reparationen von Deutschland fordert und jetzt eine Chance, diese zu erhalten, wenn auch nur teilweise?

Griechenland. Die so genannte Zwangsanleihe, die Griechenland während des Krieges dem Dritten Reich gewähren musste, wird wahrscheinlich zurückgezahlt werden. Ich hoffe, das wird vom neuen Bundestag verabschiedet, weil die griechische Lobby bei den Grünen stark vertreten ist. Wahrscheinlich werden die Grünen versuchen, das auch in den Koalitionsvertrag zu bringen.

Das könnte die Frage der polnischen Ansprüche positiv beeinflussen, allerdings nur, wenn der Bericht über die polnischen Kriegsverluste veröffentlicht wird. Das Fenster ist schmal und kann sich ebenso schnell wieder schließen, wie es sich öffnet. Diese Gelegenheit darf nicht verpasst werden.

Das Interview erschien im Wochenmagazin „Sieci“ („Netzwerk“) vom 18.Oktober 2021.

Lesen Sie dazu auch:

„Deutsche Reparationen – polnische Positionen“ Teil 1. Beweggründe, Argumente, Pläne.

„Deutsche Reparationen – polnische Positionen“ Teil 2. Akten, Aufstellungen, Analysen. Was hat Polen in der Hand.

„Deutsche Reparationen an Polen. Wie viel und wofür?

RdP




„Es lebe die EU souveräner Staaten!“ Morawiecki-Rede in Strassburg

Im Wortlaut.

Die Rede, die Polens Ministerpräsident Mateusz Morawiecki am 19. Oktober 2021 im Europäischen Parlament in Straßburg hielt, beleuchtet sehr einprägsam die polnischen Argumente im Streit mit der EU. In der anschließenden Debatte gingen die meisten Abgeordneten des EP auf Morawieckis Erläuterungen nicht ein. Dafür hagelte es wieder einmal Beschimpfungen, Drohungen und überzogene Vorwürfe.

Auch die deutschsprachigen Medien hatten, erwartungsgemäß, für Morawieckis Auftritt nur harsche Kritik übrig. Seine Rede war die eines „Scharfmachers“, „konfrontativ“, „unversöhnlich“, „spalterisch“, „eine Kampfansage“, „kein Dialogsignal“, „Beschimpfung der EU“, sie „säte Spaltung und Streit“, sie entstammte dem „Werkzeugkasten eines Rechtspopulisten“ .

Was ist wahr daran? Bilden Sie sich Ihr Urteil selbst. Nachfolgend bringen wir den unwesentlich gekürzten Wortlaut dieser Ansprache, eines zweifelsohne wichtigen Beitrags im Konflikt Polens mit der EU. Titel und Zwischentitel stammen von RdP.

Herr Vorsitzender, Frau Präsidentin, meine Damen und Herren,

ich stehe heute vor Ihnen im Europäischen Parlament, um unsere Standpunkte zu einigen grundlegenden Fragen darzulegen, die ich als ausschlaggebend für die Zukunft der Europäischen Union halte. (…)

Ich sage „wir“

Lassen Sie mich mit den Herausforderungen beginnen, die für unsere gemeinsame Zukunft entscheidend sind. Soziale Ungleichheiten, Inflation und steigende Lebenshaltungskosten, die alle Bürger Europas betreffen, dazu wachsende Staatsschulden, die illegale Einwanderung oder die Energiekrise, die die Herausforderungen für die Klimapolitik erhöht, das alles führt zu sozialen Unruhen und erweitert den Katalog mächtiger Probleme, vor denen wir heute stehen.

Polen und die EU. Briefmarke von 1994.

Die Schuldenkrise stellte zum ersten Mal nach dem Krieg die Frage, ob wir in der Lage sind, nachfolgenden Generationen ein besseres Leben zu ermöglichen.

An unseren Grenzen wird es immer unruhiger. Im Süden verwandelte der Ansturm von Millionen von Menschen den Mittelmeerraum in einen tragischen Ort. Im Osten messen wir uns mit der aggressiven Politik Russlands, das sogar Kriege entfesselt, um Ländern in unserer Nachbarschaft den Weg nach Europa zu versperren.

Heute stehen wir am Rande einer großen Gas- und Energiekrise. Absichtsvolles Handeln russischer Unternehmen verursacht rasant steigende Preise. Sie stellen viele Unternehmen in Europa vor die Wahl, die Produktion einzuschränken oder die Kosten an die Verbraucher weiterzugeben. Das Ausmaß dieser Krise kann Europa schon in den nächsten Wochen erschüttern.

Die Gaskrise kann durch unkontrollierte Kostensteigerungen viele Unternehmen in den Ruin treiben, Millionen Haushalte, Zigmillionen Menschen in ganz Europa in Armut und Not stürzen. Man muss auch mit dem Risiko des Dominoeffektes rechnen. Diese Krise kann eine Kaskade von Zusammenbrüchen nach sich ziehen.

Jedes Mal sage ich „wir“, weil wir keines dieser Probleme allein lösen können. Nicht alle diese Herausforderungen haben mein Land so dramatisch getroffen, wie manche anderen Staaten der Europäischen Union. Das ändert nichts daran, dass ich all diese Probleme als „unsere Probleme“ betrachte.

Hier sind wir, hier ist unser Platz

Für uns ist die europäische Integration eine zivilisatorische und strategische Entscheidung. Hier sind wir, hier ist unser Platz und von hier aus gehen wir nirgendwohin. Wir wollen Europa wieder stark, ehrgeizig und mutig machen. Daher schauen wir nicht nur auf unseren kurzfristigen Nutzen, sondern auch darauf, was wir Europa geben können.

Beendigung der polnischen EU-Beitrittsverhandlungen 1998-2002. Briefmarke von 2003.

Polen profitiert im Rahmen der Integration hauptsächlich vom Handel auf dem gemeinsamen Markt. Auch Technologie- und Kapitaltransfers sind sehr wichtig. Aber Polen ist nicht mit leeren Händen in die EU eingetreten. Die wirtschaftliche Integration hat die Möglichkeiten für Unternehmen aus meinem Land erweitert, zugleich jedoch große Chancen für deutsche, französische und niederländische Unternehmen eröffnet. Unternehmer aus diesen Ländern ziehen enormen Nutzen aus der Osterweiterung der Union.

Es reicht aus, allein den enormen Abfluss von Dividenden, Zinserträgen und anderen finanziellen Gewinnen aus dem weniger wohlhabenden Mitteleuropa in das viel reichere Westeuropa zu erwähnen. Wir möchten jedoch, dass es in dieser Zusammenarbeit keine Verlierer, sondern nur Gewinner gibt.

Meine Regierung gehört zur proeuropäischen Mehrheit in Polen

Polen hat die Einrichtung des sehr ehrgeizigen Wiederaufbaufonds tatkräftig unterstützt, damit den Herausforderungen der Klima-, Energie- und coronaepidemischen Transformation bedarfsgerecht die Stirn geboten werden kann. Es geht um ein starkes Wirtschaftswachstum und darum, Millionen von Kindern, Frauen und Männern Hoffnung einzuflößen, sie nicht wehrlos der Globalisierung auszuliefern. In diesen Fragen haben wir, gemeinsam mit dem Europäischen Parlament mit einer Stimme gesprochen.

Polen unterstützt nachdrücklich den europäischen Binnenmarkt. Wir sind für eine strategische Autonomie der EU, die die 27 Staaten stärkt.

Deshalb setzt sich Polen, genauso wie Deutschland, die Tschechische Republik und andere mitteleuropäische Länder für Lösungen ein, die die Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Wirtschaft stärken. Dabei geht es vor allem um eine noch bessere Durchsetzung der vier Grundfreiheiten: des freien Waren-, Dienstleistungs-, Kapital- und Personenverkehrs.

Gleichzeitig lehnt Polen die Duldung von Steueroasen ab (z,B. in  Luxemburg und Holland – Anm. RdP), was leider immer noch einige westeuropäische Länder tun, und dadurch die Steuereinnahmen ihrer Nachbarn schröpfen Ja, die Steueroasen, die wir innerhalb der Europäischen Union tolerieren, dienen der Aneignung von Geld durch die Reichsten. Ist das fair? Hilft das, das Los der Mittelschicht oder der Ärmsten zu verbessern? Passt das in den Katalog europäischer Werte? Das bezweifle ich  sehr.

Der Weg der neun Beitrittsländer: Estlands, Lettlands, Litauens, Maltas, Polens, der Slowakei, Sloweniens, Tschechiens und Zyperns ins vereinte Europa. Briefmarke von 2004.

Polen und Mitteleuropa befürworten auch eine ehrgeizige Erweiterungspolitik, die Europa in der Westbalkanregion stärken wird. Sie wird die europäische Integration geografisch, historisch und strategisch vervollständigen. Wir wollen, dass die EU global agiert, und stehen für eine starke europäische Verteidigungspolitik, deren Strukturen jedoch voll und ganz in die NATO eingebunden sind!

Heute ist die Ostgrenze der EU Ziel eines organisierten Angriffs, der zynisch die Migration aus dem Nahen Osten für eine Destabilisierung nutzt. Polen gibt Europa Sicherheit und schafft zusammen mit Litauen und Lettland eine Barriere, die diese Grenze schützt. Und da wir zudem unser Verteidigungspotential stärken, stärken wir die Sicherheit der Union im traditionellsten Sinne.

Ich möchte an dieser Stelle allen südeuropäischen sowie den polnischen, litauischen und lettischen Grenzschutzbeamten für ihren Einsatz und ihre Professionalität beim Schutz der Außengrenze der Union danken.

Sicherheit hat viele Dimensionen. Heute, wenn wir alle die steigenden Gaspreise zu spüren bekommen, ist es völlig klar, welche Folgen die Kurzsichtigkeit in Sachen Energiesicherheit haben kann. Schon jetzt schlagen sich die Politik von Gazprom und die Zustimmung zu Nord Stream 2 in Rekordgaspreisen nieder.

Während heute in den Gründungsländern der Gemeinschaften das Vertrauen in die Union auf einen historisch niedrigen Tiefpunkt gesunken ist, etwa 36 Prozent in Frankreich, bleibt das Vertrauen in Europa in Polen auf dem höchsten Niveau. Über 85 Prozent der polnischen Bürger sagen klar: Polen ist und bleibt Mitglied der Union. Meine Regierung und die dahinterstehende parlamentarische Mehrheit gehören zu dieser proeuropäischen Mehrheit in Polen.

Ein Europa doppelter Bewertungsmaßstäbe

Das jedoch bedeutet nicht, dass die Polen heute keine Zweifel und Ängste angesichts der Ausrichtung der Veränderungen in Europa empfinden. Diese Angst ist sichtbar und leider berechtigt.

Ich habe darüber gesprochen, wie viel Polen zur EU beigetragen hat. Aber leider hören wir immer noch von der Einteilung in Besser- und Schlechtergestellte, und allzu oft haben wir es mit einem Europa doppelter Bewertungsmaßstäbe zu tun. Das muss sich ändern.

Alle Europäer erwarten heute, dass wir uns gemeinsam den Herausforderungen mehrerer Krisen gleichzeitig stellen und nicht im Streit, auf Teufel komm raus, nach Schuldigen suchen, oder, besser gesagt, nach denen, die eigentlich nicht schuldig sind, denen man aber bequemerweise die Schuld zuschieben kann.

Fünfzig Jahre Römische Verträge. Briefmarke von 2007.

Angesichts einiger Praktiken der Institutionen der Union, stellen sich heute leider viele Bürger unseres Kontinents die Frage: Ist es nicht so, dass die extrem unterschiedlichen Entscheidungen und Urteile, die in Brüssel und Luxemburg, in sehr ähnlichen Fällen, in Bezug auf einzelne Mitgliedstaaten gefällt werden, de facto die Aufteilung in alte und neue, starke und schwächere, reiche und weniger wohlhabende Mitgliedsstaaten verfestigen? Ist es wirklich Gleichheit?

So zu tun, als ob es diese Probleme nicht gibt, hat sehr schlechte Folgen. Die Bürger sind nicht blind und sie sind nicht taub. Wenn selbstzufriedene Politiker und Beamte das nicht einsehen, werden sie nach und nach das Vertrauen verlieren. Und mit ihnen werden Institutionen Vertrauen einbüßen. Das geschieht bereits, verehrte Abgeordnete.

Politik muss auf Regeln basieren. Das Leitprinzip, zu dem wir uns in Polen bekennen und das ist auch die Grundlage der Europäischen Union, ist das Demokratieprinzip. Deshalb können wir nicht schweigen, wenn unser Land, auch in diesem Plenarsaal, unfair und parteiisch angegriffen wird.

Die Spielregeln müssen für alle gleich sein. Sie einzuhalten ist die Pflicht aller, auch der entsprechend den EU-Verträgen errichteten Institutionen. Das ist die Rechtsstaatlichkeit.

Sie ist inakzeptabel und ich lehne die Sprache der Drohungen und Erpressungen ab

Es ist inakzeptabel, Kompetenzen zu erweitern, indem man nach der Methode vollendeter Tatsachen handelt. Es ist nicht annehmbar, ohne eine entsprechende Rechtsgrundlage dafür zu haben, anderen Entscheidungen aufzuzwingen. Noch weniger tragbar ist es, sich zu diesem Zweck der Sprache der Finanzerpressung zu bedienen, über Strafen zu sprechen oder noch weitergehende Formulierungen gegenüber bestimmten Mitgliedstaaten zu verwenden.

Ich lehne die Sprache der Drohungen und Erpressungen ab. Ich bin nicht einverstanden damit, dass Politiker Polen erpressen und einschüchtern. Ich lehne es ab, dass Erpressung zur Methode der Politikausübung gegenüber einem der Mitgliedstaaten erhoben wird. Demokratien gehen so nicht miteinander um.

Wir sind ein stolzes Land. Polen ist eines der Länder mit der längsten Geschichte der Staatlichkeit und der Entwicklung der Demokratie. Im 20. Jahrhundert haben wir unter großen Opfern dreimal für die Freiheit Europas und der Welt gekämpft.

1920, indem wir Berlin und Paris vor dem bolschewistischen Ansturm gerettet haben. 1939, als wir als Erste in den mörderischen Kampf gegen Deutschland, das Dritte Reich, gezogen sind. Schließlich 1980, als Solidarność die Hoffnung auf den Sturz des anderen Totalitarismus, des grausamen kommunistischen Systems wachrief. Der Wiederaufbau Europas nach dem Krieg war dank der Opfer vieler Nationen möglich, aber nicht alle konnten ihn uneingeschränkt für sich nutzen.

Warschau, die Hauptstadt eines EU-Landes. Briefmarke von 2009.

Hohes Haus! Ich möchte jetzt ein paar Worte zum Thema Rechtsstaatlichkeit sagen. Ich denke, die meisten von uns würden zustimmen, dass es ohne ein paar Bedingungen keinen Rechtsstaat geben kann. Ohne das Prinzip der Gewaltenteilung, ohne unabhängige Gerichte, ohne das Prinzip der begrenzten Befugnisse jeder Behörde und ohne die Befolgung der Rangordnung von Rechtsquellen.

In den der Europäischen Union zugewiesenen Zuständigkeitsbereichen ist das EU-Recht dem nationalen Recht übergeordnet, und zwar bis auf die Ebene einzelner Gesetze. Dieses Prinzip gilt in allen EU-Ländern, aber die jeweilige Verfassung bleibt das oberste Gesetz.

Wenn die in den EU-Verträgen geschaffenen Institutionen ihre Zuständigkeiten überschreiten, müssen die Mitgliedstaaten über entsprechende Instrumente verfügen, um darauf zu reagieren.

Die Europäische Union ist kein Staat

Die Union ist eine große Errungenschaft der europäischen Länder. Sie ist ein starkes wirtschaftliches, politisches und soziales Bündnis. Sie ist die stärkste und am weitesten entwickelte internationale Organisation der Geschichte. Aber die Europäische Union ist kein Staat. Staaten sind die 27 Mitgliedsländer der Union! Sie sind der europäische Souverän, sie sind die „Herren der Verträge“. Die Staaten legen den Umfang der Zuständigkeiten fest, die der Europäischen Union anvertraut werden.

Wir haben der Union in den Verträgen einen sehr großen Kompetenzbereich anvertraut. Aber wir haben ihr nicht alles anvertraut. Viele Rechtsgebiete bleiben in der Zuständigkeit der Nationalstaaten.

Wir hegen keinen Zweifel am Vorrang des europäischen Rechts vor nationalem Recht in allen Bereichen, in denen die Mitgliedstaaten der Union Zuständigkeiten übertragen haben.

Aber wie die Tribunale vieler anderer Länder, wirft auch das polnische Verfassungsgericht die Frage auf, ob es die richtige Lösung ist, dass der Gerichtshof der Europäischen Union das Monopol besitzt, die tatsächlichen Grenzen der Übertragung dieser Kompetenzen zu bestimmen. Die Festlegungen des Europäischen Gerichtshofes in dieser Angelegenheit berühren die Verfassungen der Mitgliedsstaaten. Deswegen muss zur Verfassungsmäßigkeit solcher neuen Kompetenzen Stellung genommen werden, insbesondere weil der Europäische Gerichtshof immer mehr neue Zuständigkeiten aus den Verträgen für die EU-Institutionen ableitet.

Was hätte es andernfalls für einen Sinn gemacht, Artikel 4 in den Unionsvertrag aufzunehmen, der von der Achtung der politischen und verfassungsmäßigen Strukturen der Mitgliedsstaaten durch die Union spricht. Es wäre auch nicht sinnvoll gewesen, Artikel 5 in den Vertrag aufzunehmen. Er besagt, dass die Union nur im Rahmen der ihr übertragenen Kompetenzen handeln kann. Beide Artikel wären inhaltsleer und bedeutungslos, wenn, außer dem Europäischen Gerichtshof, keines der verfassungsrechtlichen Bestimmungsorgane der Mitgliedsstaaten zu dieser ständigen Ausweitung der EU-Kompetenzen Stellung nehmen dürfte.

Polnisches Verfassungsgericht, französischer Verfassungsrat, dänischer Oberster Gerichtshof, das deutsche BVG und einige mehr

Das jüngste Urteil des polnischen Verfassungsgerichtshofs ist Gegenstand eines grundlegenden Missverständnisses geworden. Wenn ich hören würde, dass der Verfassungsgerichtshof in einem anderen Land die EU-Verträge für nichtig erklärt hat, wäre ich wahrscheinlich auch überrascht. Vor allem jedoch würde ich versuchen herauszufinden, was der polnische Gerichtshof wirklich gesagt hat.

Polnische EU-Ratspräsidentschaft. Briefmarke von 2011.

Ich habe auch deshalb in der heutigen Aussprache um das Wort gebeten, weil ich Ihnen den eigentlichen Streitgegenstand darstellen möchte. Das ist weder das Märchen vom „Polexit“, noch ist es die Lüge von der angeblichen Verletzung der Rechtsstaatlichkeit. Deshalb möchte ich Ihnen dazu ein paar Zitate präsentieren:

„In der nationalen Rechtsordnung gilt der Vorrang des Unionsrechts nicht für die Bestimmungen der Verfassung. Die Verfassung steht an der Spitze der innerstaatlichen Rechtsordnung.“

„Der Grundsatz des Vorrangs des Gemeinschaftsrechts (…) darf in der innerstaatlichen Rechtsordnung die oberste Gewalt der Verfassung nicht untergraben.“

„Der Verfassungsgerichtshof kann die Ultra-vires-Prämisse prüfen (…), das heißt, er darf feststellen, ob EU-Institutionen Entscheidungen außerhalb ihres Kompetenzbereiches treffen. Aufgrund einer solchen Feststellung gelten die Ultra-vires-Entscheidungen, die also jenseits der Befugnisse zustande gekommen sind, nicht im Hoheitsgebiet des Mitgliedstaates.“

„Die Verfassung verbietet die Übertragung von Befugnissen, wenn der Staat danach nicht mehr als souveräner und demokratischer Staat angesehen werden kann.“

Ich überspringe die nächsten Zitate, um nicht zu viel Zeit in Anspruch zu nehmen. Ich komme zu den letzten beiden.

„Die Verfassung ist das höchste Gesetz Polens in Bezug auf alle für das Land verbindlichen internationalen Vereinbarungen, einschließlich Vereinbarungen über die Übertragung von Zuständigkeiten in bestimmten Angelegenheiten. Die Verfassung genießt den Vorrang der Gültigkeit und Anwendung auf dem Territorium Polens.“

Und das letzte Zitat:

„Die Übertragung von Zuständigkeiten an die Europäische Union darf nicht gegen den Vorranggrundsatz der Verfassung und gegen jedwede Bestimmungen der Verfassung verstoßen.“

Ich kann eine gewisse Erregung in Ihren Gesichtern erkennen. Soweit ich weiß, sind Sie in diesem Saal, zumindest teilweise, mit diesen Feststellungen nicht einverstanden. Nur, ich verstehe nicht weshalb. Das sind doch Zitate aus Entscheidungen des französischen Verfassungsrates, des dänischen Obersten Gerichtshofs, des deutschen Bundesverfassungsgerichts. Zitate aus Urteilen der italienischen und spanischen Gerichte habe ich weggelassen.

Die polnischen Urteile, aus denen ich zitiert habe, stammen aus den Jahren 2005 und 2010, also aus der Zeit nach dem EU-Beitritt Polens. Die Doktrin, die wir heute verteidigen, ist also seit Jahren etabliert.

Es lohnt sich auch, Prof. Marek Safjan, den ehemaligen Präsidenten des polnischen Verfassungsgerichtshofs, zu zitieren. Heute ist er Richter am Europäischen Gerichtshof:

„Auf der Grundlage der geltenden Verfassung gibt es keinen Grund für die Behauptung, dass das EU-Gemeinschaftsrecht der gesamten nationalen Rechtsordnung übergeordnet ist, also auch den verfassungsrechtlichen Normen. Es gibt keine Gründe dafür! Nach dem Wortlaut der Verfassung selbst ist sie das oberste Gesetz der Republik Polen (Artikel 8, Absatz 1). Die oben erörterte Regelung in Absatz 2, Artikel 91 sieht ausdrücklich den Vorrang einer gemeinschaftlichen Regelung im Konfliktfall mit einer Rechtsnorm, nicht aber mit einer Verfassungsnorm vor.“

Solche Positionen nationaler Verfassungsgerichte sind nichts Neues. Ich könnte Dutzende von Urteilen aus Italien, Spanien, Tschechien, Rumänien, Litauen und anderen Ländern zitieren.

Ich höre auch Stimmen, dass einige dieser Urteile andersgeartete Fälle von geringerer Tragweite betrafen. Das ist wahr. Jedes Urteil dreht sich um etwas anderes. Aber,um Gottes willen!, sie haben eines gemeinsam: Sie bekräftigen, dass die nationalen Verfassungsgerichte ein Überprüfungsrecht haben. Ein Recht auf Kontrolle, ob das EU-Recht in dem Rahmen angewandt wird, der der Union zugestanden wurde. Nur das und so viel zugleich!

Eine Zustimmung für die Erteilung von Anweisungen und Befehlen kann es nicht geben

Hohes Haus! Es gibt Länder unter uns, in denen es keine Verfassungsgerichte gibt, und andere, die sie haben. Es gibt Staaten, in denen EU-Mitgliedschaft in den Verfassungen verankert ist, und solche, wo es nicht so ist. Es gibt Länder, in denen Richter von demokratisch gewählten Politikern gewählt werden, und andere, in denen Richter Richter wählen.

Verfassungspluralismus bedeutet, dass es Raum für den Dialog zwischen uns, unseren Rechtssystemen gibt. Dieser Dialog findet auch über Richterurteile statt. Wie sollen die Gerichte sonst kommunizieren, wenn nicht durch ihre Entscheidungen? Eine Zustimmung für die Erteilung von Anweisungen und Befehlen an Staaten kann es jedoch nicht geben. Dazu ist die Europäischen Union nicht da.

Zehn Jahre polnische EU-Mitgliedschaft. Briefmarke von 2014.

Wir haben vieles gemeinsam und wir wollen noch mehr gemeinsam haben, aber es gibt Unterschiede zwischen uns. Wenn wir miteinander zusammenarbeiten wollen, müssen wir diese Unterschiede achten. Wir müssen uns gegenseitig respektieren.

Die EU wird nicht auseinanderbrechen, weil sich unsere Rechtssysteme voneinander unterscheiden. Wir funktionieren so seit sieben Jahrzehnten. Vielleicht werden wir eines Tages Änderungen vornehmen, die unsere Gesetzgebungen noch enger zusammenbringen. Dazu jedoch ist eine Entscheidung souveräner Mitgliedsstaaten notwendig.

Ein nicht-nationaler Superstaat? Holt Euch zuerst die Zustimmung aller europäischen Länder!

Heute können wir zwei Haltungen einnehmen. Wir können allen außergesetzlichen, außervertraglichen Versuchen zustimmen, die darauf abzielen, die Souveränität europäischer Staaten, einschließlich Polens, zu beschränken. Wir können uns mit der schleichenden Ausweitung der Zuständigkeiten von Institutionen wie die des Europäschen Gerichtshofes abfinden. Wir können tatenlos zusehen, wie eine „stille Revolution“, die nicht auf demokratischen Entscheidungen basiert, sondern mit Hilfe von Gerichtsentscheidungen bewerkstelligt wird stattfindet.

Wir können aber auch sagen: „Nein, unsere Lieben!“ Wenn Ihr in Europa einen nicht-nationalen Superstaat schaffen wollt, dann holt Euch zuerst die Zustimmung aller europäischen Länder und Gesellschaften ein.

Lassen Sie es mich noch einmal wiederholen: Die Verfassung ist das höchste Gesetz der Republik Polen. Sie ist anderen Rechtsquellen übergeordnet. Kein polnisches Gericht, kein polnisches Parlament und keine polnische Regierung darf von diesem Grundsatz abweichen.

Was hat der polnische Verfassungsgerichtshof tatsächlich festgestellt

Hervorzuheben ist jedoch auch, dass der polnische Verfassungsgerichtshof niemals, auch nicht in seinem letzten Urteil, festgestellt hat, dass die Bestimmungen des Vertrags über die Europäische Union in ihrer Gesamtheit im Widerspruch zur polnischen Verfassung stehen. Im Gegenteil! Polen respektiert die Verträge ohne Ausnahme.

Aus diesem Grund hat das polnische Gericht festgestellt, dass nur eine sehr spezifische Auslegung einiger Bestimmungen des Vertrags, die das Ergebnis der jüngsten Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs ist, nicht mit der Verfassung vereinbar ist.

Nach der Auslegung des Luxemburger Tribunals wären Richter polnischer Gerichte verpflichtet, den Grundsatz des Vorrangs des europäischen Rechts nicht nur auf nationale Gesetze anzuwenden, was keine Zweifel aufwirft. Sie müssten den Vorrang des EU-Rechts auch dann anwenden, wenn es sich um Verletzungen der Verfassung und Urteile ihres eigenen Verfassungsgerichts handelt!

Die Annahme einer solchen Auslegung des Europäischen Gerichtshofes kann folglich zu dem Schluss führen, dass Millionen von in den letzten Jahren ergangenen Urteilen polnischer Gerichte willkürlich angefochten und Tausende von Richtern ihres Amtes enthoben werden können. Richter dürften den Stauts und die Rechtmäßigkeit der Berufung anderer Richter in Frage stellen. So will es der Europäische Gerichtshof.

Fünfzehn Jahre polnische EU-Mitgliedschaft. Briefmarke von 2019.

Das verstößt gegen die Grundsätze der Unabhängigkeit, Unabsetzbarkeit sowie der Stabilität und Sicherheit des Rechts auf ein faires Verfahren, die sich direkt aus der polnischen Verfassung ergeben. Ist Ihnen nicht bewusst, wozu solche Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofes führen können? Will jemand von Ihnen wirklich Anarchie, Verwirrung und Gesetzlosigkeit in Polen einführen?

Dem hat der polnische Verfassungsgerichtshof durch sein Urteil in seinem Urteil einen Riegel vorgeschoben. Hätte es dies nicht getan, wären die Folgen eine grundlegende Absenkung des Verfassugsstandars des des gerichtlichen Schutzes der polnischen Bürger und ein unvorstellbares Rechtschaos.

Kein souveräner Staat kann einer solchen Auslegung zustimmen. Sie zu akzeptieren würde bedeuten, dass die Union aufhört, eine Union freier, gleichberechtigter und souveräner Länder zu sein. Dass sie sich selbst, nach der Methode des Schaffens von vollendeten Tatsachen, in einen zentral verwalteten, halbstaatlichen Organismus verwandeln würde. Seine Institutionen könnten direkt in ihren „Provinzen“ alles erzwingen, was sie für richtig befinden.

Dazu gab es nie eine Zustimmung. Das ist nicht das, was wir in den Verträgen vereinbart haben.

Das schlägt Polen vor

Es ist sicherlich einer Diskussion wert, ob sich die Union ändern sollte. Sollte sie nicht einen größeren Haushalt schaffen? Sollten wir nicht mehr für die gemeinsame Sicherheit einzahlen? Sollten Verteidigungsausgaben nicht aus dem Haushaltsdefizitverfahren herausgenommen werden? Das schlägt Polen vor!

Sollten wir nicht unsere Widerstandsfähigkeit gegenüber hybriden Gefahren und Cyber-Bedrohungen stärken? Sollten wir Investitionen in strategische Wirtschaftssektoren nicht besser kontrollieren? Wie finanziert man fair und effektiv die Energie- und Klimawende? Wie können wir unsere Entscheidungsprozesse effektiver gestalten? Was ist zu tun, um zu verhindern, dass sich unsere Bürger in der EU zunehmend entfremdet fühlen?

Ich stelle diese Fragen, weil ich glaube, dass die Antworten darauf die Zukunft der Union bestimmen werden.

All das sollten wir besprechen.

JA und NEIN 

Die Zuständigkeiten der Europäischen Union haben ihre Grenzen. Deshalb werde ich jetzt einige Worte der Frage der Grenzen der Zuständigkeiten der Union und ihrer Institutionen widmen. Wichtige Entscheidungen sollten nicht durch eine Änderung der Rechtsauslegung getroffen werden.

Der Erfolg der europäischen Integration beruhte auf der Tatsache, dass das Gesetz eine Ableitung von Mechanismen war, die unsere Länder in anderen Bereichen miteinander verbanden.

Der Versuch, dieses Modell um 180 Grad zu drehen und die Integration mit Hilfe von rechtlichen Mechanismen durchzusetzen, ist eine Abkehr von Grundsätzen, die dem Erfolg der Europäischen Gemeinschaften zugrunde lagen.

Das Phänomen eines Demokratiedefizits wird seit Jahren diskutiert. Und dieses Defizit wird immer schlimmer. Das war noch nie so sichtbar, wie in den letzten Jahren. Durch juristischen Aktivismus werden Entscheidungen zunehmend hinter verschlossenen Türen getroffen und es entsteht daraus eine Bedrohung für die Mitgliedsstaaten. Immer öfter werden Entscheidungen getroffen ohne eine klare Grundlage in den Verträgen, sondern durch kreative Neuinterpretationen, ohne jegliche Kontrolle. Dieses Phänomen wächst seit Jahren.

Heute ist dieser Prozess so weit fortgeschritten, dass gesagt werden muss: Halt! Die Zuständigkeiten der Europäischen Union haben ihre Grenzen. Wir dürfen nicht länger schweigen, wenn sie überschritten werden.

Deshalb sagen wir JA zum europäischen Universalismus und NEIN zum europäischen Zentralismus.

Wie Sie alle in diesem Saal, unterwerfe auch ich mich der demokratischen Kontrolle. Auf diese Weise werden wir alle für alle unsere Handlungen zur Rechenschaft gezogen. Ich vertrete eine Regierung, die 2015 zum ersten Mal in der Geschichte Polens die absolute Mehrheit erlangt hat. Deshalb hat sie ein ehrgeiziges Programm sozialer Reformen in Angriff genommen.

Und die Polen haben an ihrer Entscheidung festgehalten: Bei den nachfolgenden Wahlen 2018, 2019 und 2020 haben sie unsere Regierung demokratisch bewertet. Dank der höchsten Wahlbeteiligung in der Geschichte haben wir das stärkste demokratische Mandat in der Geschichte erhalten. Seit 30 Jahren erzielte keine Partei ein solches Wahlergebnis, wie Recht und Gerechtigkeit. Und das, ohne die Unterstützung des Auslands, ohne die Unterstützung des Großkapitals und mit nicht einmal einem Viertel des Einflusses auf die Medien, wie sie ihn unsere Konkurrenten besitzen, die Polen nach 1989 eingerichtet haben.

Polen lässt sich nicht einschüchtern

Die paternalistischen Belehrungen über Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, wie wir unsere Heimat gestalten sollen, dass wir schlechte Entscheidungen treffen, dass wir zu unreif sind, dass unsere Demokratie angeblich „jung“ ist, sind die fatale Richtung einer Erzählung, die einige von Ihnen vorschlagen.

Polen hat eine lange demokratische Tradition. Es ist in der Tat eine Tradition der Solidarität.

Strafen, Repressionen wirtschaftlich stärkerer Länder gegen diejenigen, die noch immer mit dem Erbe kämpfen, auf der falschen Seite des Eisernen Vorhangs gelebt zu haben, das ist nicht der richtige Weg. Wir alle müssen an seine Folgen denken.

Polen hält sich an die Regeln der Union, lässt sich aber nicht einschüchtern. Polen wartet auf einen Dialog in dieser Angelegenheit.

Um diesen Dialog zu erleichtern, lohnt es sich, institutionelle Veränderungen vorzuschlagen. Für einen dauerhaften Dialog, geführt nach dem Grundsatz der Kontrolle und des Gleichgewichts (checks and balances) könnte eine Kammer des Europäischen Gerichtshofs eingerichtet werden, die sich aus Richtern zusammensetzt, die von den Verfassungsgerichten der Mitgliedstaaten ernannt werden.

Heute präsentiere ich Ihnen einen solchen Vorschlag. Die endgültige Entscheidung muss dem Demos und den Staaten überlassen werden, aber die Gerichte sollten eine solche Plattform haben, um nach einem gemeinsamen Nenner zu suchen.

Vielfalt macht stark

Abschließend, meine Damen und Herren Abgeordneten, müssen wir auch die Frage beantworten, woraus Europa im Laufe der Jahrhunderte seine Vorzüge entwicklet. Was hat die europäische Zivilisation so stark gemacht?

Die Geschichte beantwortet diese Frage so: Wir sind mächtig geworden, weil wir der vielfältigste Kontinent der Erde waren.

Fünfzig Jahre seit Gründung des Europarates. Briefmarke von 1999.

Niall Ferguson schreibt: „Die monolithischen Reiche des Orients haben die Innovation gedämpft, während im bergigen, von Flüssen durchzogenen West-Eurasien zahlreiche Monarchien und Stadtstaaten miteinander einfallsreich konkurriert und kommuniziert haben.“

Europa hat gewonnen, indem es zu einer Balance zwischen kreativem Wettbewerb und Kommunikation gefunden hat. Zwischen Wettbewerb und Zusammenarbeit. Heute brauchen wir wieder beides.

Hohes Haus! Ich wünsche mir ein starkes und großes Europa, das für Gerechtigkeit, Solidarität und Chancengleichheit kämpft. Ein Europa, das in der Lage ist, autoritären Regimen ein Ende zu setzen. Ein Europa, das auf die neuesten Wirtschaftskonzepte setzt. Ein Europa, das Kultur und Traditionen respektiert, aus denen es hervorgegangen ist. Ein Europa, das die Herausforderungen der Zukunft erkennt und an den besten Lösungen für die ganze Welt arbeitet.

Das ist eine große Aufgabe für uns. Für uns alle, liebe Freunde. Nur so finden die Bürger Europas Hoffnung auf eine bessere Zukunft. Sie werden den Willen zum Handeln und den Willen zum Kampf finden. Es ist eine schwierige Aufgabe. Machen wir uns gemeinsam die Mühe. Es lebe Polen! Es lebe die Europäische Union souveräner Staaten! Es lebe Europa, der schönste Ort der Welt!

Vielen Dank.

RdP




Migranten attackieren Polens katholische Gewissen

Nicht jeder ist ein Gast.

Wie sollen Katholiken mit den Geschehnissen an der polnischen Ostgrenze umgehen? Steht die Empfindsamkeit des Herzens der Vernunft des Handelns im Wege? Soll man jenen helfen, die sich den Eintritt in unser Haus mit Gewalt verschaffen? Wie kann man helfen, ohne die Gesetze zu brechen?

Auf diese und viele andere Fragen geht ein hoher katholischer Geistlicher ein, der sein seelsorgerisches Amt unmittelbar am Ort des Geschehens versieht.

Erzbischof Józef Jan Guzdek.

Erzbischof Józef Jan Guzdek,

ist Jahrgang 1956 und Doktor der theologischen Wissenschaften. Er wurde 1981 zum Priester geweiht und empfing 2004 das bischöfliche Sakrament. Guzdek war Weihbischof der Erzdiözese Krakau und ist seit 2010 Militärbischof der polnischen Armee. In dieser Eigenschaft wurde er 2015 zum Brigadegeneral befördert. Im Juli 2021 ernannte ihn Papst Franziskus zum Erzbischof von Białystok.

Erzbischof Józef Jan Guzdek in seiner Eigenschaft als Militärbischof der polnischen Armee.

Die östliche Grenze der Diözese Białystok stimmt auf einer Länge von etwa 200 Kilometern mit dem Verlauf der polnisch-weißrussischen Grenze überein. Guzdek soll nach dem Willen des Papstes das Amt als Militärbischof bis zur Ernennung eines Nachfolgers weiterbekleiden.

Kürzlich haben Sie in einer Ihrer Predigten gesagt, dass Migranten, die versuchen, unsere Ostgrenze zu überqueren, auf verantwortungsvolle Weise geholfen werden sollte. Welche Art von Hilfe haben Sie gemeint?

Diözese Białystok

Ein Christ, der einen Menschen in Not sieht, sollte nicht nach dessen Herkunft, Wohnort oder Zugehörigkeit zu einer Religionsgemeinschaft fragen. Gemäß dem Geist des Evangeliums ist er verpflichtet, ihn als Nächsten zu sehen, an dem man nicht einfach vorbeigehen darf und der versorgt werden muss.

Allerdings muss jeder karitativen Hilfe eine Abwägung vorausgehen, was der in Not geratene Mensch braucht: Eine einmalige, vorübergehende Unterstützung oder eine langfristig angelegte Hilfe? Außerdem ist es wichtig, solche Menschen, wo immer möglich, dazu anspornen, selbst zurechtzukommen.

In jüngster Zeit sehen wir, wie notwendig es ist, Flüchtlingen und Migranten zu helfen, die nach dem Überqueren der polnisch-weißrussischen Grenze in Wäldern kampieren und dort vor allem durch Erschöpfung, Unterernährung, niedrige Temperaturen und manchmal durch Krankheiten dem Tod ausgesetzt sind. Die Botschaft des Gleichnisses vom barmherzigen Samariter besteht darin, die Empfindsamkeit des Herzens mit der Vernunft des Handelns, mit Sachverstand und einer gewissen Ordnung zu verbinden.

Deswegen ist es wichtig, an dieser Stelle den Rat des Apostels Paulus anzuführen: „Wer aber für seine Verwandten, besonders für die eigenen Hausgenossen, nicht sorgt, der verleugnet damit den Glauben und ist schlimmer als ein Ungläubiger“ (1. Timotheus 5,8). Einen ähnlichen Hinweis gab seinerzeit der Primas von Polen Stefan Kardinal Wyszyński (1901-1981 – Anm. RdP), der seit dem 12. September 2021 zum Kreis der Seligen gehört. Man solle zuerst an die „Pflichten gegenüber den Kindern der eigenen Nation“ denken und erst dann anderen Völkern helfen.

Viele Katholiken fragen sich, was sie in der gegenwärtigen Situation tun sollen. Die Grenze für Migranten öffnen oder sie schließen und niemanden hineinlassen? Und wenn doch jemand durchkommt, sollen wir ihm helfen oder die staatlichen Stellen informieren?

Migranten, die die Grenze illegal überquert haben, müssen unbedingt die notwendige Unterstützung erhalten: Lebensmittel, warme Kleidung, Gelegenheit zum Aufwärmen. Das darf jedoch nicht zu Rechtsverstößen führen, zum Beispiel zur Beförderung von Migranten ins Landesinnere oder in ein anderes Land. Migranten, die in unserem Land Schutz und Betreuung benötigen, müssen die für solche Fälle vorgesehene Rechtsordnung respektieren und entsprechende Verfahren durchlaufen. Es gibt Möglichkeiten, einen ordnungsgemäßen Asylantrag zu stellen.

Es ist nicht die Aufgabe eines barmherzigen Menschen, die Motive eines illegalen Migranten zu beurteilen. Ob es sich um einen Menschen handelt, der ein besseres Leben sucht, oder um jemanden, der Verbrechen begangen hat und vor der Justiz flieht. Jemand der hilft ist auch nicht in der Lage zu erkennen, ob der Ankömmling in mafiöse oder terroristische Aktivitäten verwickelt ist. Dafür sind entsprechende staatliche Stellen da. Sie müssen jeden überprüfen, der über die grüne Grenze gekommen ist.

Polen ist für seine Gastfreundschaft bekannt. Aber bezeichnen wir jemanden, der im Schutze der Dunkelheit oft unter Anwendung von brutaler Gewalt in unser Haus einbricht, als einen Gast? Jeder, der bei klarem Verstand ist, denkt darüber nach, wie er sein Haus sichern kann, damit ein Einbruch oder Überfall nicht vorkommt.

Allein in den letzten Jahren haben Hunderttausende von Ukrainern in Polen Zuflucht und Arbeit gefunden. Im letzten und in diesem Jahr kamen mehr als 30.000 Menschen aus Weißrussland. Sie sind mit offenem Herzen aufgenommen worden.

Doch verdienen diejenigen, die illegal und sogar gewaltsam in unser Land eindringen, dazu unsere Soldaten, Grenzschutzbeamten und Polizisten angreifen, einen gastfreundlichen Empfang? Emotionale Erpressung ist besonders unehrlich. Vor allem die Verwendung von Zitaten aus dem Evangelium durch radikale Aktivisten, die oft selbst Gewalt anwenden und nichts mit dem Dekalog, mit den Leitlinien des Evangeliums zu tun haben wollen.

Einige Migranten schaffen es über die Grenze und verstecken sich in den Wäldern. Sie haben oft nichts zu essen. Humanitäre Organisationen versuchen, ihnen zu helfen. Andererseits gibt es die Meinung, dass wir auf diese Weise andere dazu ermutigen, die Grenze zu überwinden. Wie stehen Sie zu dieser Frage?

Bei Treffen mit der Leitung der Caritas Polska und der Caritas der Erzdiözese Białystok haben wir betont, dass Hilfe nicht unter Verletzung der Gesetze geleistet werden darf.

Als Metropolit der Erzdiözese Białystok, die an der polnisch-weißrussischen Grenze liegt, kann ich reinen Herzens bezeugen, dass die Pfarrgemeinden, mit denen ich in ständigem Kontakt stehe, die Prüfung der christlichen Empfindsamkeit bestehen und den bedürftigen Migranten, wo sie nur können, helfen.

Meine Diözese sieht Migranten als Mitmenschen und eilt ihnen zu Hilfe. In den „Zelten der Hoffnung“ gibt es das Nötigste für erschöpfte, frierende und schwache Ankömmlinge. Jeder, der glaubt, eine solche Person treffen zu können, kann hier ein Hilfspaket bekommen. Es ist jedoch kaum anzunehmen, dass die Migranten von sich aus an solche Orte kommen werden. Sie versuchen, die Grenzdörfer und -städte zu meiden und unbemerkt ihr Ziel zu erreichen, das in der Regel Deutschland ist.

Es liegt in seiner eigenen Verantwortung, wie sich der Bewohner eines Grenzgebiets verhält, wenn er auf Migranten trifft, und ob er die staatlichen Stellen informiert oder nicht. Es ist richtig, dass wir auch für die Sicherheit der Europäischen Union verantwortlich sind, der wir angehören. Ich bin überrascht über Aussagen wie: „Gib ihnen zu essen, gib ihnen zu trinken und lass sie dann ihren Weg gehen… nach Deutschland“. Sollen wir etwa die Sicherheit eines Nachbarlandes außer Acht lassen?

Sie haben sich mit Priestern von Kirchengemeinden im Grenzgebiet getroffen. Wie beurteilen sie die Situation? Wie ist die Stimmung unter den Menschen, die in der Nähe der Grenze leben?

Ich war in der Grenzregion und habe mehrere Berichte von Geistlichen erhalten, und ich möchte noch einmal betonen, dass mich die Haltung der Pfarrer und Gemeindemitglieder der Grenzdörfer ermutigt. Seit August dieses Jahres teilen sie das, was sie haben, mit Migranten in Not. Die Caritas Polska und die Erzdiözese Bialystok haben außerdem weitere Lebensmittel- und Kleidungslieferungen bereitgestellt, als dies notwendig war, um einer größeren Gruppe, die den Weg nach Polen gefunden hat, zu helfen. Darüber hinaus sollen die ständig vor Ort anwesenden Caritas-Vertreter den aktuellen Bedarf ermitteln.

Die Gemeindepfarrer erwähnten auch eine gewisse Angst unter Menschen, die abgeschieden leben. Sie berichteten davon, dass Lebensmittel aus Wohnungen entwendet und Autos aufgebrochen wurden. Sie betonten auch, dass sich die Einwohner inzwischen, dank der Anwesenheit von Soldaten und Beamten, sicher fühlen.

Sie sagten, Herr Erzbischof, dass viele Bewohner der Grenzgebiete Fragen zu den Motiven und dem Verhalten der Migranten , die an der polnisch-weißrussischen Grenze auftauchen, stellen.

Die jüngsten Ereignisse an der Grenze, bei denen sich nicht wenige Migranten aggressiv gegenüber Beamten und Soldaten verhielten, haben zur Polarisierung der Einstellung gegenüber diesen Menschen beigetragen. Viele fragen sich, ob es wirklich so ist, dass sie in die Europäische Union kommen wollen, um unter Wahrung der europäischen Kultur und Sitten zu leben und zu arbeiten.

Die Gläubigen wollen den Bedürftigen helfen. Gleichzeitig wird das Bild des armen, hilfsbedürftigen Migranten oft mit teuren Handys und Designerkleidung sowie aggressiven, wütenden Verhaltensweisen, die sie an den Tag legen, in Verbindung gebracht. Das dämpft den Eifer.

Auch die Absichten mancher Politiker, Promis und Aktivisten, die ihre Hilfsbereitschaft kundtun, wirken zweifelhaft. Es stellt sich die Frage, ob sie wirklich diejenigen unterstützen wollen, die Hilfe brauchen. Oder vielleicht benutzen diese Menschen sie nur dazu, um sich in den Medien darzustellen?

Sie trafen sich mit Soldaten, den Beamten des Grenzschutzes und der Polizei, die die Grenze bewachen und Angriffe von Migranten abwehren. Wie beurteilen Sie die Haltung, den Zustand und die Moral dieser Menschen?

Ich beobachte das Engagement und eine bewundernswerte Gelassenheit der Beamten und Soldaten. Sie müssen auf Gewalt mit Gewalt reagieren, aber sie tun es stets angemessen zur Bedrohung. In anderen Ländern hätten die Ordnungskräfte auf solche gewalttätigen Angriffe mit mehr Nachdruck reagiert.

Wir dürfen jedoch nicht vergessen, dass die Beamten, die die Grenze verteidigen, nicht aus Stahl sind. Die andauernde Anspannung erschöpft sie körperlich und geistig. Für manche sind die bösartigen Unterstellungen, die verächtlichen Äußerungen einiger Prominenter und Politiker, die abschätzigen Kommentare von Journalisten eine zusätzliche psychologische Belastung. Sie zielen darauf ab, die Moral der Soldaten und Offiziere zu schwächen.

Aktivisten, Promis und Oppositionspolitiker haben sie öffentlich mit SS-Bewachern von KZs, mit Wachleuten an der Berliner Mauer verglichen. Sie wurden von ihnen als „Abschaum“, „Müll“, „Hunderudel“, als „herz- und gehirnlose Maschinen“ bezeichnet.

Deshalb ist es so wichtig, den Menschen in Uniform Wohlwollen und Herzlichkeit entgegenzubringen.

Werden Soldaten, die an der Grenze zu Weißrussland Dienst tun, von Seelsorgern unterstützt?

Die Soldaten wurden von verschiedenen Einheiten aus dem Landesinneren, in denen Seelsorger Dienst tun, an die Grenze geschickt. Ihre Pfarrer besuchen sie vor Ort,  sprechen mit ihnen und feiern, bei günstigen Umständen, mit ihnen die Heilige Messe. Da die Geistlichen die Soldaten und Beamten kennen und diese ihnen vertrauen, können sie deren Moral heben und sie psychisch aufbauen. Unter den Grenzschutzbeamten befindet sich auch ein Kaplan der Grenzschutzabteilung Podlachien, der in meiner Diözese dient. Mehrere Seelsorger bleiben über längere Zeit bei den Soldaten und Beamten an verschiedenen Orten, um sie geistig und psychologisch zu begleiten

Wie können wir den Soldaten und Beamten helfen, die unsere Grenze verteidigen?

Sie brauchen unser Wohlwollen, unsere moralische Unterstützung und vor allem unser Gebet. In den Garnisonkirchen werden beim gemeinsamen Gebet zwei Anrufungen hinzugefügt: eine für die Migranten und eine für die Soldaten und Beamten, die an der Ostgrenze Dienst tun.

Die Bewohner der Grenzregion bringen ihnen viel Dankbarkeit entgegen. Obwohl Soldaten und Beamte gut verpflegt werden, fällt es schwer, nicht gerührt zu sein, wenn ältere Menschen mit heißem Tee, Kaffee, Butterbroten und einem Stück Kuchen, aus den umliegenden Häusern zu ihnen zur Grenze kommen.

Ich hoffe, dass nicht nur die bevorstehenden Weihnachtsfeiertage eine gute Gelegenheit sein werden, all jenen zu danken, die die Grenzen unseres Landes verteidigen.

Das Gespräch erschien im katholischen Wochenmagazin „Gość Niedzielny“ („Der Sonntagsgast“) vom 28.11.2021.

RdP