Das Wichtigste aus Polen. 30. Oktober bis 24. Dezember 2023
Aleksandra Rybińska und Janusz Tycner diskutieren über die Auswirkungen der Parlamentswahlen in Polen ♦ Kurzzeitregierung Morawiecki ♦ Regierung Tusk. Kurswechsel um 180 Grad ♦ „Demokratisierung“ mit brachialen Methoden ♦ Neue Ukraine-Politik im Fahrwasser Berlins.
26.12.2023. Radio+TV. Wie die Rechtsstaatlichkeit in Polen gesundet
Die Ereignisse der letzten Tage vor Weihnachten haben die polnische Politik grundsätzlich verändert. Zum ersten Mal seit dem Ende des Kommunismus sind die Sicherungen des Systems im politischen Konflikt durchgebrannt, sodass der Kampf um die Macht nun chaotisch und ungebremst ausufert.
Bisher war es immer so, dass diejenigen, die die Wahlen gewannen und nach der Macht griffen, ihre vertrauten Juristen einsetzten, um herauszufinden, welche Gesetze angewendet werden könnten und welche geändert werden müssten, um die mit ihren Vorgängern besetzten oder von ihnen geschaffenen Institutionen zügiger als eigentlich vorgeschrieben zu übernehmen. Manchmal wurde dabei das geltende Recht gedehnt, gebogen, aber die rote Linie blieb unangetastet. Prozeduren und Zuständigkeiten wurden eingehalten, entsprechende, demokratisch gewählte, Mehrheiten waren vorhanden.
Dieses Mal jedoch kamen die neuen Machthaber unter Donald Tusk zu dem Schluss, dass ein solcher „Formalismus“ unnötiger Aufwand oder Zeitverschwendung ist, wenn die Dinge schneller und einfacher erledigt werden können.
Die Regierungsmehrheit im Parlament begab sich deswegen nicht auf den umständlichen Weg des Gesetzgebungsverfahrens, der Verabschiedung eines neuen Gesetzes oder der Änderung eines bestehenden, mit drei Lesungen, der anschließenden Debatte im Senat und dem Bangen um die Unterschrift des Staatspräsidenten. Sie verabschiedete stattdessen eine einfache, rechtlich nicht verbindliche Entschließung, die die Regierung dazu aufruft, die öffentlich-rechtlichen Medien einem „Gesundungsprozess” zu unterziehen.
Daraufhin verkündete der neue Kulturminister, dass er alle Organe der öffentlich-rechtlichen Medien auf einen Schlag entlassen habe, obwohl das Gesetz eine solche Befugnis nur dem vom vorherigen Parlament gewählten Medienrat, dessen Amtsperiode erst in eineinhalb Jahren ausläuft, nicht aber dem Minister zugesteht.
Muskelmänner eines privaten Sicherheitsdienstes, der Donald Tusk im Wahlkampf beschützte, überrannten handstreichartig die Gebäude und jagten, im wahrsten Sinne des Wortes, den Intendanten des Fernsehens und die Intendantin des Rundfunks kurzerhand aus ihren Büros. Das Sendesignal des eindeutig nationalkonservativ gefärbten öffentlichen TV-Nachrichtenkanals TVP Info wurde kurzweg, mitten im Sendebetrieb, abgeschaltet. Nicht auszudenken der weltweite Aufschrei der Empörung, wenn sich die Partei von Jarosław Kaczyński so etwas leisten würde.
Die Belegschaften der Fernseh-Nachrichtenzentrale und der Polnischen Presseagentur PAP, die auch ein öffentlich-rechtliches Medium ist, ließen sich nicht überrumpeln und hielten, als dieser Kommentar geschrieben wurde, immer noch ihre Redaktionsräume gemeinsam mit Abgeordneten von Recht und Gerechtigkeit besetzt. Sie hindern „neuberufene” Redaktionsleiter daran, ihre Posten anzutreten. Die massiv aufgefahrene Polizei umstellt die Gebäude, verhält sich jedoch überwiegend passiv. Solidaritätsdemonstrationen finden statt. Eine in einem externen Studio produzierte „Not-Tagesschau” ist die Umkehrung der bisherigen. Sie huldigt Donald Tusk und den seinen.
Tusks Kulturminister und Oberleutnant der Sicherheitsdienste, Bartłomiej Sienkiewicz, störte es nicht, dass jemand anderes juristisch berechtigt sei, die genannten Entscheidungen zu treffen. In einem Kommuniqué verkündete er, dass er den Staat vertritt, dem die Medien gehören, und er daher in dieser Hinsicht freie Hand habe. Das ist etwa so, als würde ein Polizeichef eine Universität betreten und erklären, dass er für die Ordnung im Staat verantwortlich ist und deshalb den Rektor und die Professoren, die ihm nicht passen, entlasse.
Auf diese Weise geht „Kulturminister” Sienkiewicz in die Geschichte der polnischen Demokratie als Schöpfer eines bedeutenden Präzedenzfalls ein. Er besteht darin, dass Behörden die systemimmanenten Spielregeln ablehnen, die aufgestellt wurden, um zu verhindern, dass der politische Kampf zu einem Catch-as-catch-can, auch Wrestling genannt, entartet.
Die Bedeutung dieses Präzedenzfalls ist groß, denn das Schauspiel mit dem Titel „Wiederherstellung der Rechtsstaatlichkeit”, Regie: Donald Tusk, bei dem noch einige Aufzüge angekündigt sind, geht weiter, aber bereits ohne Regeln.
Schließlich haben Tusk und der besagte Sienkiewicz im Wahlkampf gedroht, ihre Vollstrecker, die „kräftigen Männer”, werden auch den „PiS-Nationalbankpräsidenten” und die „PiS-Richter” am Verfassungsgericht im Handumdrehen an die frische Luft setzen. Als juristische Grundlage sollen weitere Sejm-Entschließungen dienen. Eine von ihnen will Justizminister Bodnar dazu nutzen, die knapp viertausend seit 2017 ernannten und vom Staatspräsidenten vereidigten „PiS-Richter” ihrer Ämter zu entheben.
Wie weit die neue „proeuropäische” Mehrheit, wie sie liebevoll in den deutschen Medien umschrieben wird, gehen will, bleibt abzuwarten. An welche Regeln wird sie sich halten? Welche Gesetze gelten noch und welche nicht mehr? Seitdem die „Mutter aller Regeln”, die garantiert, dass überhaupt Regeln in Kraft sind, kurz vor Weihnachten außer Kraft gesetzt wurde, ist alles offen. So auch das Ausmaß des jetzt schon heftigen Widerstandes.
RdP
Einhundert und ein Jahr Menschlichkeit
Am 24. Oktober 2023 starb Wanda Półtawska.
Die Deutsche Presseagentur (DPA) erklärte sie in ihrem kargen Nachruf kurzerhand zur Jüdin. Offensichtlich erschien den DPA-Redakteuren nur so alles, was sie durchlitten und geleistet hatte. „gut genug”, um postum erwähnt zu werden. Die in Deutschland oft angewandte Rangordnung der Opfer wurde wieder einmal gewahrt. Die Polin Wanda Półtawska hätte es sicherlich mit einem Achselzucken quittiert. Deutschland und den Deutschen begegnete sie bar jeglicher Illusionen.
Nur wenige Menschen können von sich sagen, dass sie ein ganzes Jahrhundert in Würde gelebt haben. Niemand, weder deutsche Gestapobeamte, SS-Aufseher und SS-Mordärzte, noch heimische Kommunisten vermochten sie ihr zu nehmen. Ihr schier unerschöpfliches Gottvertrauen, die unversiegbare Ausdauer, Selbstbeherrschung und Zuversicht machten sie innerlich unangreifbar. Während und nach dem Krieg immer wieder vom Tod belauert, verschrieb sie sich dem Engagement für das Leben. Das brachte ihr nicht nur Respekt und Anerkennung, sondern auch erbitterten Hass ein.
Pfadfinderin im Widerstand
Sie kam 1921 in Lublin als dritte Tochter des Postbeamten Adam Wojtasik und seiner Frau Anna zur Welt. Wanda Wojtasik, die Musterschülerin des Ursulinen-Gymnasiums, engagierte sich mit Leib und Seele bei den Pfadfindern, verinnerlichte deren vom Patriotismus, Glauben, von Selbstlosigkeit und Kameradschaft geprägtes Ethos. Mit ihren Gefährtinnen schloss sich die 18-Jährige im Herbst 1939, gleich nach dem Beginn der deutschen Besatzung, dem Widerstand an.
Tausende von vierzehn- bis achtzehnjährigen Pfadfindern stellten im besetzten Polen einen wesentlichen Teil des Verbandes des Bewaffneten Kampfes (ZWZ) dar, der im Februar 1942 in Armia Krajowa (Heimatarmee, Abkürzung: AK) umbenannt wurde. Sie unterstand der polnischen Exilregierung in London und war, nach eigenem Selbstverständnis, die reguläre Polnische Armee, die sich zeitweilig im Untergrund befand. Nach und nach stellte die AK immer mehr Partisanenabteilungen in der Provinz, betrieb aber vor allem, wie man heute sagen würde, eine Stadtguerilla.
Die jungen Leute nahmen nicht unmittelbar am bewaffneten Kampf teil. Die Jungs wurden auf ihn vorbereitet, vor allem militärisch geschult und mit der sogenannten „kleinen Sabotage” betraut: Herunterholen von Hakenkreuzfahnen, Vernichtung deutscher Propagandalosungen und Schautafeln, Lautsprecheranlagen zur Übertragung von Siegesmeldungen und Marschmusik, Flugblattaktionen, Aufmalen von antideutschen Sprüchen an Hauswänden usw. Wen die deutsche Polizei oder Feldgendarmerie dabei erwischte, der war so gut wie tot.
Die Mädchen wurden für den Sanitätsdienst ausgebildet. Sie waren auch die „łączniczki” (phonetisch; lontschnitschki), die Überbringerinnen von Befehlen und Nachrichten, die auf dünnem Löschpapier verfasst wurden, das man bei Gefahr schnell zerknüllen und herunterschlucken konnte. Sie transportierten Flugblätter sowie die handzettelgroßen Exemplare der Untergrundpresse, brachten den Widerstandskämpfern falsche Papiere, Waffen, meistens Pistolen und Granaten, in die Nähe des nächsten Kampfeinsatzes, nahmen sie anschließend wieder in Empfang, um sie zurück in die Verstecke zu bringen.
Jung, unscheinbar und findig hatten sie die besten Chancen, bei Straßenrazzien und Ausweiskontrollen davonzukommen. Wanda Wojtasik war eine von ihnen, bis die Gestapo Anfang 1941 durch Ermittlungen und Zuträger tief in die Strukturen der Lubliner ZWZ eindringen konnte. Die Verhaftungswelle erfasste am 17. Februar 1941 auch Wanda.
Der Weg durch die Hölle
Ihr Martyrium begann in der Lubliner Gestapo-Dienststelle in der Uniwersyteckastraße, wo sie zwei Tage und Nächte lang bei Verhören mit Knüppeln und Tischbeinen geschlagen wurde. Sie verriet niemanden. Danach landete sie im deutschen Polizeigefängnis im Lubliner Schloss.
Zellen, die für sechs Gefangene gedacht waren, bevölkerten zwanzig und mehr Frauen. Gang zur Toilette einmal am Tag, ansonsten ein ständig überlaufender Eimer mit Exkrementen in der Ecke. Läuse, Kakerlaken. Tägliche Essensrationen bestehend aus 200 Gramm Brot und einer Kelle undefinierbarer Brühe. Keine Seife, einmal in der Woche kalt duschen im Schnelldurchlauf.
Als man sie fünf Monate später, im Juli 1941, mit einem mehrere Hundert Frauen zählenden Transport in Viehwaggons ins Frauen-KZ Ravensbrück schickte, war sie bereits mit etwa sechzig weiteren Polinnen in Abwesenheit zum Tode verurteilt worden. Solche Verurteilungen erfolgten innerhalb von Minuten, während der Aktendurchsicht durch ein „Polizeigericht”.
Alle zum Tode verurteilten Frauen durften vorerst am Leben bleiben, denn sie waren als Geschenk für den SS-Arzt Karl Gebhard gedacht, der in Ravensbrück mit Experimenten an Menschen Forschung betrieb. Kurz nach ihrer Ankunft begann Gebhard, Kriegsverletzungen zu simulieren, indem er den Opfern unter Narkose beispielsweise eine Wade aufschneiden, Muskeln quetschen, Holz- und Glassplitter, Erde, Holzwolle in die Wunde einnähen ließ. Er testete verschiedene Sulfonamide (Antibiotika) nach den von ihm festgelegten Kriterien. Am vierten Tag der Versuchsreihe ließ er die eiternden Wunden chirurgisch behandeln. Es kam zu zahlreichen Todesfällen, unter anderem durch künstlich hervorgerufene Blutvergiftungen, bei denen Gebhard den Frauen Eiter in die Venen spritzte. Sie litten entsetzlich.
Das menschliche Versuchskaninchen Wanda Wojtasik hat Gebhards Eingriffe überlebt, aber noch Jahrzehnte später öffneten sich ihre Wunden und die damals eingenähten Verunreinigungen traten in kleinen Mengen heraus.
Knapp vier Jahre sollte sie ihr Dasein in Ravensbrück fristen. Schwerstarbeit auf den Feldern umliegender Bauernhöfe, beim Straßenbau und nach der Rückkehr der Arbeitskolonnen ins Lager nicht enden wollende Stehappelle, Misshandlungen sadistischer Aufseherinnen, fast jeden Abend das Aussortieren der Schwächsten, die bald darauf umgebracht wurden.
Gemeinsam mit einigen Gleichgesinnten rettete Wanda Wojtasik in Ravensbrück Säuglingen das Leben. Nachdem im Sommer und Herbst 1944 viele schwangere Frauen eingeliefert wurden, schaffte man im Lager Möglichkeiten zur Entbindung. Doch man ließ die Schwangeren und ihre Neugeborenen absichtlich unversorgt. Die meisten Babys starben nach wenigen Tagen oder Wochen. Frauen, die ihr Neugeborenes verloren hatten, stillten die lebenden Säuglinge. Wanda Wojtasik organisierte für sie immer wieder ein paar Scheiben trockenes Brot, ab und zu eine Decke, etwas Seife, sogar Zucker aus der SS-Kantine. Dreißig Babys konnten so gerettet werden, bis das Schwedische Rote Kreuz sie im April 1945 aufgrund einer Vereinbarung mit der SS nach Schweden evakuierte.
Im Nachhinein betrachtete sie die Zeit in Ravensbrück als „große Exerzitien“, in denen sie gelernt habe, wie man unter extrem widrigen Umständen überlebt. „Ich habe dort niemals meine innere Freiheit verloren. Ich habe nichts gegen meinen Willen getan. Niemand konnte mich dazu bewegen, etwas zu stehlen oder mich in ein Tier zu verwandeln. Du wirst diejenige, die Du sein willst. Erlaube niemandem, Macht über Deine Seele zu haben.“
Vor der anrückenden Roten Armee trieb die SS im April 1945 einen Teil der Ravensbrück-Frauen in das etwa 150 Kilometer weiter westlich gelegene Außenlager Neustadt-Glewe. Wanda war am Ende ihrer Kräfte. Für tot befunden lag sie in der Totenbaracke. „Aber ich lebte”, schrieb sie Jahrzehnte später. „Als ich an der kalten Leiche einer Zigeunerin liegend aufwachte, habe ich beschlossen, Medizin zu studieren und nach Krakau an die Jagiellonen-Universität zu gehen.” Am 2. Mai 1945 erfolgte die Befreiung.
Nur nicht verzagen
Das Wichtigste war jedoch, dass die grausamen Kriegserfahrungen sie nicht in den Abgrund der Verbitterung, der Mutlosigkeit, der Lebensverneinung stießen. Das war bei vielen Opfern der Fall. Sie konnten das Ausmaß der Demütigungen und Gräueltaten, die sie erlebt hatten, nicht verkraften. Wanda traf eine andere Entscheidung. Nachdem sie die düstere Allgegenwart des Todes erlebt hatte, griff sie nach dem Glauben an Gott und dem Beruf des Lebensretters, zwei Fäden, die zum Licht führen konnten.
Ihr Medizinstudium absolvierte sie 1951. Es folgte die Facharztausbildung zum Psychiater und die Arbeit am Psychiatrischen Klinikum der Krakauer Medizinischen Akademie. Auf den Doktortitel, den sie 1964 erwarb, sollte die Habilitation folgen. Die Habilitationsschrift war fertig. Im Jahr 1968 fehlte nur noch das Endkolloquium, als man das Verfahren auf Anweisung von oben stoppte. Angeblich „aus formalen Gründen”, die im Einzelnen nie ausgeführt wurden. Es lag jedoch auf der Hand, dass sie politischer Natur waren. Jemand, der der Kirche so nahestand, durfte kein Dr. habil. werden. Die herrschenden Kommunisten verhinderten auf diese Weise ihre weitere, bis zum Professorentitel führende wissenschaftliche Karriere. Sich verbiegen lassen, faule Kompromisse schließen, das war nicht ihre Sache. Prompt schmiss sie ihre Stelle als leitende Stationsärztin an der Medizinischen Akademie hin und widmete sich von nun an der praktischen Arbeit in der Frauen- und Familienseelsorge im Auftrag der Krakauer Bischofskurie.
Leben schenken, Leben schützen
Zwei Begegnungen, die sie kurz nach dem Krieg hatte, sollten ihr Leben nachhaltig prägen. Im Jahr 1946 lernte sie den Philosophiestudenten und Warschauer Aufständischen von 1944 Andrzej Półtawski kennen. Silvester 1947 heirateten die beiden, hatten vier Töchter und blieben bis Andrzejs Tod 2020 mehr als siebzig Jahre lang ein Ehepaar.
Wenn man davon ausgeht, dass es im Leben keine Zufälle, sondern nur Zeichen der Vorsehung gibt, dann war es ein Zeichen der Hoffnung für eine vom Krieg verwüstete Welt, als 1951 Kardinal Adam Sapieha den jungen Priester Karol Wojtyła, der gerade von seinem Studium in Rom zurückkehrte, in die Ärzteseelsorge in Krakau entsandte.
In der Zeit des wütenden Stalinismus und der heftigsten kommunistischen Kirchenverfolgung in Polen, unternahmen Pfarrer Wojtyła und eine Gruppe junger katholischer Krakauer Ärzte, darunter Wanda Półtawska, immer wieder Ausflüge in die nicht weit entfernten Tatraberge. Inspiriert durch die majestätische Ruhe der kolossalen Landschaft, entstanden aus den auf der Wanderschaft geführten Gesprächen zeitgemäße theologische Ansätze zu Fragen der Sexualität, zum Schutz des ungeborenen Lebens und schließlich der Eheethik.
Man vergisst heute, welch demoralisierenden Einfluss die erstmalige Freigabe der Abtreibungen in Polen durch die deutschen Besatzungsbehörden im Zweiten Weltkrieg hatte. Die Kommunisten legalisierten die uneingeschränkte Abtreibung auf Wunsch bis zur 12. Woche, ohne Beratung, im April 1956 ein zweites Mal. Jahre später erinnerte sich Wanda Półtawska daran, wie sehr sie der plötzliche Ansturm von Schwangeren zur Tötung ihres eigenen Kindes bedrückte.
Sie schrieb: „Ich traute meinen Augen nicht, aber vielleicht lag das daran, dass ich von vielen Dingen keine Ahnung hatte. Vor den Praxen der Gynäkologen sah ich Schlangen von Frauen, die plötzlich begannen, die Möglichkeiten zu nutzen, die das neue Gesetz bot. Zusammen mit anderen Ärzten, die das Drama dieser Mädchen verstanden, begannen wir spontan zu handeln. Wir versuchten, auf sie zuzugehen und ihnen zu erklären, dass eine Abtreibung einen Schatten auf ihr restliches Leben werfen würde. Einmal erhielt ich nachts um zwei Uhr einen Anruf von einem sehr besorgten Priester, dem ein Mädchen gestand, dass es am nächsten Morgen um neun Uhr einen Termin für eine Abtreibung hatte. Ohne groß nachzudenken, lief ich sofort in das Studentenheim und begann, sie zu überreden, diesen Weg nicht einzuschlagen“.
Wanda Półtawska half, den Aufbau eines kirchlichen Unterstützungssystems für solche Mädchen zu organisieren. So entstand eine Art lokale Krakauer Koalition für das Leben: Der Bischof von Krakau, Karol Wojtyła, Abtreibungsgegner wie Wanda Półtawska, mobilisierte Laien gegen Abtreibungen. Der Primas von Polen, Kardinal Stefan Wyszyński, und Kardinal Wojtyła stellten damals die Frau und ihr gezeugtes Kind in den Mittelpunkt der seelsorgerischen Aufmerksamkeit.
Sehr wichtig waren die Begriffe. Wanda Półtawska betonte stets, dass es keine „werdenden Mütter“ gibt. Eine Frau wird in dem Moment Mutter, in dem die Empfängnis stattfindet. Es gibt keinen Fötus, es gibt ein Kind. Die Abtreibung führt zum Tod des Kindes, also ist es eine Tötung. Das Kind ist kein Organ der Frau, das herausoperiert wird, sondern von Anfang an ein autonomer Mensch mit eigenen Fingerabdrücken und einer eigenen DNA. Es ist nicht vertretbar, Abtreibungen in irgendeiner Weise mit dem Krankenwesen in Verbindung zu bringen, denn eine Schwangerschaft ist keine Krankheit.
Die Antwort der Kirche auf die Freigabe der Abtreibungen in Polen war die Einrichtung kirchlicher Beratungsstellen, von Heimen für alleinerziehende Mütter und die Bildung von Selbsthilfegruppen. In einem Land, in dem es keine Kirchensteuer gibt, musste auch das, wie alle anderen Kirchenausgaben, durch die Kollekte finanziert werden. Es galt sich zudem mit der staatlichen „Gesundheitspropaganda” zu messen, die die Abtreibung als eine Errungenschaft des Sozialismus, als ein Recht und eine Verhütungsmethode pries, von der die selbstbestimmte, berufstätige Frau nach Belieben Gebrauch machen konnte. Die „reaktionäre”, „altbackene” Kirche will ihr diese Freiheit streitig machen, hieß es.
Dem konnte die Kirche nur ihre Sonntagspredigten entgegensetzen, denn die staatliche Zensur unterband alle Versuche, Anti-Abtreibungskampagnen zu organisieren. Zudem wussten viele Priester, vor allem der älteren Generation, nicht so recht, wie sie über diese Themen sprechen sollten. Sehr oft konzentrierten sie sich darauf, die Sünderin zu verurteilen, anstatt darüber nachzudenken, wie man ihr helfen und das Kind retten kann.
Wichtig war hier Półtawskas Einfluss auf die Priester. Aus Hunderten von Gesprächen mit verzweifelten jungen Frauen kannte sie das Ausmaß der Probleme, mit denen diese konfrontiert waren. Sie sensibilisierte die Priester dazu, vor allem zuzuhören. Unterstützt wurde sie dabei von Bischof Wojtyła, der bei den Treffen zu diesem Problem zu sagen pflegte: „Wer ist schuld daran, dass Mädchen ihr eigenes Kind töten wollen?“. Und er antwortete: „Wir sind alle schuld. Die einen, weil sie es tun, die anderen, weil sie nicht reagieren“.
Er nahm das dicke Notizbuch von Wanda Półtawska mit nach Rom, in dem sie die Berichte betroffener Frauen während ihrer Sprechstunden in der Krakauer katholischen Beratungsstelle niedergeschrieben hatte. Während der Sitzung der Familienkommission des Zweiten Vatikanischen Konzils zitierte Wojtyła mehrmals daraus. Die Schilderungen beeindruckten Papst Paul VI. so, dass er dem Druck nicht nachgab, die katholische Lehre in der Frage der Abtreibung zu lockern. „Humanae vitae“, die Enzyklika Pauls VI. von 1968 über die moralischen Grundsätze für die Weitergabe des menschlichen Lebens, wäre ohne die intellektuelle Arbeit von Wojtyła und Półtawska zur Definition des Übels der Abtreibung vielleicht nicht geschrieben worden. Der italienische Papst regierte ein weiteres Jahrzehnt, dann folgte das kurze Pontifikat von Johannes Paul I. und schließlich wurde der päpstliche Thron von einem polnischen Papst bestiegen. Die Ära von Johannes Paul II. stoppte weitere 27 Jahre lang die Versuche, die Lehre der Kirche über die Heiligkeit des Lebens zu ändern.
Das Gewissen des Arztes
Das Thema ließ Wanda Półtawska nie los. Sie war 93 Jahre alt, lag im Krankenhaus mit schweren Verbrennungen im Gesicht, die sie sich durch eine Ungeschicktheit zu Hause zugezogen hatte, als die von ihr im März 2014 in sechs Punkten zusammengefasste „Glaubenserklärung katholischer Ärzte und Medizinstudenten zum Thema menschliche Sexualität und Fruchtbarkeit“ in Polen für helle Aufregung sorgte. Sie löste eine heftige öffentliche Debatte über die Rolle, die Bedeutung und die Grenzen der Anwendung der Gewissensklausel durch Ärzte aus.
„Der Zeitpunkt der Zeugung eines Menschen und der Zeitpunkt des Verlassens dieser Welt hängen ausschließlich von der Entscheidung Gottes ab“, hieß es dort. Und: „Ohne jemandem ihre Anschauungen und Überzeugungen aufzuzwingen, haben katholische Ärzte das Recht, Respekt für ihre Ansichten und die Freiheit zu erwarten und zu fordern, ihre beruflichen Tätigkeiten in Übereinstimmung mit ihrem Gewissen auszuüben.“
Knapp viertausend Ärzte, Krankenschwestern und Medizinstudenten unterschrieben die Erklärung, darunter 59 Professoren der Medizin. Wie zu erwarten, erntete die greise Autorin heftigen Widerspruch, aber auch Hohn und Spott aus dem politischen Lager der Postkommunisten, die die Behörden aufforderten, die Gewissensklausel abzuschaffen und Ärzte, die sich zu ihr bekennen, aus der staatlichen Gesundheitsfürsorge zu entfernen. Ähnlich äußerten sich die in Polen dominierenden linksliberalen Medien.
Ein Gebet mit schneller Wirkung
Auch das Leben der Lebensretterin drohte abrupt zu enden, als sie gerade 41 Jahre alt war. Im Herbst 1962 stellte man bei ihr Darmkrebs im fortgeschrittenen Stadium fest. Die Ärzte gaben ihr keine großen Chancen. Ihr Duzfreund Karol Wojtyła weilte gerade in Rom zur ersten Sitzungsperiode des Zweiten Vatikanischen Konzils. Sie schrieb ihm, getragen von der Angst, sie könnte bereits tot sein, wenn er in einigen Wochen zurückkehrte.
Seine Reaktion? Am 17. November 1962 verfasste Wojtyła an Pater Pio, den Mystiker, Kapuzinerpriester und italienischen Volksheiligen mit Stigmata und dem scharfen Blick, einen kurzen Brief in lateinischer Sprache, mit der Bitte um ein Gebet. Der Überbringer nach San Giovanni Rotondo war ein Vatikanmitarbeiter namens Angelo Battisti, der einen guten Draht zu Pater Pio hatte. Laut Battisti sagte Pio: „Angelino, dazu kann man nicht nein sagen.“ Und: „Versichern Sie ihm, dass ich viel für diese Frau beten werde.“
Es war ein Gebet mit schneller Wirkung. Als bei Wanda Półtawska am 21. November, vor der geplanten Operation, noch einmal eine Untersuchung gemacht wurde, zeigte sich: Der Tumor war nicht mehr da, die Operation also überflüssig. Diese Nachricht gelangte schnell von Krakau nach Rom. Doch die wundersam Geheilte hatte keine Ahnung von Wojtyłas Brief, sie wusste nicht einmal, dass es einen Pater Pio gab. Die Wahrheit erfuhr sie im Dezember 1962 von Wojtyła, als er aus Rom zurückkam. Bei dem Mystiker persönlich bedanken konnte sie sich erst 1967, ein Jahr vor dessen Tod.
Verlässlichkeit, Respekt, geistiger Austausch. Die Freundschaft mit dem Papst
Bei dem was über die enge Beziehung der beiden geschrieben wurde, gab es auch einige weitgehende Unterstellungen sittlicher Natur, die man getrost auslassen kann. Johannes Paul II., dem alle nahen Verwandten schon in seiner Jugend weggestorben waren, schätzte die wenigen festen und verlässlichen Freundschaften aus seiner Krakauer Zeit sehr. Für ihn war es im Vatikan eine Art Familienersatz. Zu diesem engen Kreis gehörte übrigens auch Wandas Ehemann, Andrzej. Wojtyła war froh, wenn die Krakauer Freunde ihn besuchen kamen, fand immer Zeit für längere Gespräche. Auch lud er sie im Sommer nach Castel Gandolfo ein, damit sie ihn während des Urlaubs begleiteten. Arturo Mari, der persönliche Fotograf des Papstes, erinnerte sich später: „Wenn Wanda mit ihrem Ehemann und den Enkelkindern nach Castel Gandolfo kam, brachten sie viel Freude in das Leben des Papstes.“
„Thesen jedoch über einen großen Einfluss Półtawskas auf den Papst sind stark übertrieben. Sie haben zusammengearbeitet, sich ausgetauscht, aber Johannes Paul II. hat seine Dokumente, in denen er die Lehre der Kirche bestätigte, unabhängig verfasst“, sagt Tomasz Terlikowski, einer der führenden katholischen Publizisten und Kirchenkenner Polens.
Der Respekt, mit dem die allermeisten Polen ihrem Landsmann Johannes Paul II. begegnen, ist dem polnischen postkommunistisch-linksliberalen Lager seit Langem ein Dorn im Auge. Sie unternehmen viel, um den verstorbenen Papst herabzusetzen. Dazu gehört der Versuch, Johannes Paul II. als einen unselbstständigen Akteur darzustellen, der deswegen „irrte“, weil er den Einflüsterungen des „bösen Geistes“ Wanda Półtawska erlag.
Sie sei schuld daran, dass Paul VI. sich vehement gegen die Empfängnisverhütung ausgesprochen habe, denn schließlich habe sie mit Wojtyła zu einer Zeit zusammengearbeitet, als es in der Kirche eine Diskussion über dieses Thema gab. Sie soll Johannes Paul II. zum Schreiben der Enzyklika „Evangelium vitae“ mit dem Untertitel „Über den Wert und die Unantastbarkeit des menschlichen Lebens“ überredet haben. Półtawskas schlechter Einfluss auf Johannes Paul II. sei für die angeblich „pathologische Haltung der Kirche gegenüber dem Sex“ verantwortlich. Sie hat bewirkt, dass Johannes Paul II. Radio Maryja wohlwollend gegenüberstand usw., usf.
Wer mag, der soll es glauben, aber wer sich nur ein wenig mit Johannes Pauls II. Lebensweg, Lebens- und Denkart befasste, dem ist klar, dass er sich gerne mit klugen Menschen austauschte, und Półtawska war eine katholische Intellektuelle, die auf gleicher Wellenlänge wie er „sendete“. Aber seine theologischen Schlussfolgerungen zog und formulierte er selbst. Seine innere Autonomie war nicht zu brechen.
Wanda Półtawska hatte einen ständigen, ungehinderten Zugang zu ihm, wenn sie in Rom weilte, was oft zum Verdruss seiner engsten Mitarbeiter führte. Im Jahr 2001 nutzte der Rektor des Erzbischöflichen Priesterseminars in Poznań diesen Zugang, um sie darum zu bitten, seinen umfangreichen Brief direkt dem Papst zu übergeben. Alle Versuche, mit der Nachricht in den Vatikan durchzudringen, der Posener Erzbischof Juliusz Paetz sei durch seine ungezügelten homosexuellen Eskapaden nicht mehr tragbar, wurden bis dahin abgewehrt. Półtawska sagte zu. Der Papst zeigte sich tief erschüttert über Paetz‘ Verhalten und darüber, dass man den Skandal vor ihm verheimlicht hatte. Paetz musste sein Amt räumen.
Im Juni 2009 nahm Wanda Półtawska zum ersten und letzten Mal dazu öffentlich Stellung: „Ja, ich war der Briefträger, aber auch nichts anderes. Ich habe weder mit Paetz noch mit anderen gesprochen. Es gab nur den Brief, den mir der Rektor des Priesterseminars in Poznań anvertraute und den ich direkt übergab. Ich habe nichts referiert. Der Brief selbst war entscheidend. Der Heilige Vater reagierte umgehend.“
Wanda Półtawska gehörte zu den Auserwählten, die im Februar und März 2005 am Sterbebett Johannes Pauls II. harren durften. Sie hörte auch den letzten Satz des großen Mannes und Papstes: „Der Welt fehlt es an Weisheit.“
Spurt auf der Zielgeraden
Was nun? Plötzlich klaffte in ihrem Leben eine riesige Leere, aber Półtawska wusste, was sie zu tun hatte. Sie erinnerte sich an die Worte Papst Wojtyłas von vor Jahren: „Du wirst sehen, sie werden alle nach dir die Hände ausstrecken“. Und sie strecken sie aus. Warschau, Lublin, Rzeszów, Poznań, Gdańsk. Hier ein Treffen mit Ärzten, dort mit Priestern, Nonnen bitten sie zu kommen, ein Schulleiter ruft an und sie sagt ein Treffen mit Jugendlichen zu. Die Gespräche und Buchsignierungen dauern bis spät in die Nacht. Hier ein Familiensymposium, dort die Teilnahme an einer Konferenz über die Theologie Johannes Paul II. Dann wieder eine Vorlesung an einer Universität des Dritten Lebensalters, gefolgt von einem Vortrag für junge Mütter. Derweil ruft ein Bürgermeister an, mit der Bitte um Annahme der Ehrenbürgerschaft, und die Katholische Universität Lublin will ihr die Ehrendoktorwürde verleihen. Ihr Terminkalender war prall gefüllt, und man hörte ihr überall gespannt zu. Vier Stunden unterwegs, zwei Stunden Vortrag und zurück. Sie musste überdies immer wieder bei den einstigen Mitgefangenen von Ravensbrück vorbeischauen, auch wenn es von Mal zu Mal weniger wurden. Selbst in ihrem letzten Lebensabschnitt schienen Ihre Kräfte unbegrenzt zu sein.
Im Jahr 2016 dekorierte sie Staatspräsident Andrzej Duda mit der höchsten polnischen Auszeichnung, dem Orden des Weißen Adlers.
Półtawska und Simone Veil
Im 20. Jahrhundert zogen zwei Zeugen und Opfer der Barbarei in den Konzentrationslagern gegenteilige Schlussfolgerungen aus ihren schrecklichen Kriegserlebnissen. Simone Veil, ehemalige Insassin von Auschwitz-Birkenau, die die Ermordung ihrer Mutter und ihrer Schwester miterlebte, setzte als französische Gesundheitsministerin 1975 die Legalisierung der Tötung ungeborener Kinder auf Wunsch durch.
Wanda Półtawskas Erfahrungen im Lager Ravensbrück veranlassten sie, hartnäckig und zäh für die Anerkennung der Unantastbarkeit des menschlichen Lebens und gegen die „Zivilisation des Todes”, ein Begriff, den Johannes Paul II. formulierte, zu kämpfen. Es war ein sehr lange dauernder Kampf. Sie starb acht Tage vor ihrem 102. Geburtstag.
11.11.2023. Deutsche Medien. Polen richten, statt zu berichten
Acht Jahre lang, als die Nationalkonservativen an der Macht waren, wurden die deutschen Medien in ihrer Polen-Berichterstattung nicht müde, „die Einhaltung demokratischer Spielregeln“ an der Weichsel anzumahnen. Doch plötzlich, nach den am 15. Oktober 2023 abgehaltenen Parlamentswahlen, hat der sattsam bekannte Einstimmen-Chor der deutschen Polen-Berichterstatter einen radikalen Repertoirewechsel vollzogen und schmettert nun die Kantate vom „Willen des Souveräns”, der durch nichts eingeschränkt werden darf.
Das hat damit zu tun, dass Staatspräsident Andrzej Duda dem bisherigen Ministerpräsidenten Mateusz Morawiecki den Vortritt bei der Bildung einer neuen Regierung gelassen hat. Die Morawiecki-Partei Recht und Gerechtigkeit hat die Wahlen gewonnen, bildet die größte Fraktion im Sejm, hat aber die absolute Mehrheit verfehlt. Morawiecki hat nun zwei Wochen Zeit, um eine Koalitionsregierung auf die Beine zu stellen. Es ist ein wahrlich schwieriges Unterfangen, denn drei andere Parteien signalisieren den festen Willen, gemeinsam ein Kabinett mit dem deutschen Publikumsliebling Donald Tusk an der Spitze zu bilden, und sie verfügen über eine klare Mehrheit.
Ohne mit der Wimper zu zucken haben, in Anbetracht von Dudas Entscheidung, TAZ und FAZ, Bild und Welt, Spiegel, Tagesspiegel, Tagesschau und alle anderen, von heute auf morgen, eine völlige Umkehr der Rhetorik vollzogen, und niemand stört sich daran.
In den letzten acht Jahren nämlich haben sie unermüdlich darauf hingewiesen, dass, obwohl Recht und Gerechtigkeit zweimal (2015 und 2019) klar die Parlamentswahlen gewonnen hat und ihr Kandidat zweimal (2015 und 2020) ins Staatspräsidentenamt gewählt wurde, das Urteil der Mehrheit der Bürger keine absolute Instanz sei. Das Gegenteil sei der Fall. In einer gesunden Demokratie müsse es „Sicherungen” geben, die diesen „Willen des Souveräns” begrenzen. Man müsse darauf achten, dass das Urteil der Mehrheit nicht in „Autoritarismus“ ausartet und dass es „nicht die Rechte von Minderheiten verletzt“.
Und jedes Mal wenn einer der führenden Politiker von Recht und Gerechtigkeit es wagte, auf den „Willen des Souveräns“ oder auf das „Urteil der Mehrheit“ hinzuweisen, bekamen die deutschen Hüter der polnischen Demokratie Anfälle von Hysterie mit Komplikationen, in Form von düsteren Visionen vom Aufkommen des Faschismus oder Autoritarismus in Polen. Seit dem 15. Oktober 2023 jedoch sagen sie das genaue Gegenteil von alldem. Nun ist der „Wille der Mehrheit“ für sie unantastbar und darf nicht infrage gestellt werden.
So kommt es, dass die Entscheidung des Staatspräsidenten, den Vertreter der größten Partei im Sejm, des Wahlsiegers, als ersten mit der Regierungsbildung zu betrauen, als „ein Anschlag auf den Willen der Wähler“ dargestellt werden kann. Eine Entscheidung, die dem Buchstaben und dem Geist der polnischen Verfassung und den parlamentarischen Gepflogenheiten der Polnischen Republik entspricht. Wo, bitte schön, bleibt hier der Respekt vor den, bis vor Kurzem angeblich noch so wichtigen, „Sicherungen der Demokratie“ (hier in Form der Befugnisse des Präsidenten der Republik)? Wo bleibt die Sorge um die „demokratischen Spielregeln“? Wo die Aufforderung, die demokratischen Gepflogenheiten zu wahren und Brachialitäten zu vermeiden?
Stattdessen überschüttet der deutsche mediale Polen-Chor das polnische Staatsoberhaupt mit Hohn und Boshaftigkeiten. Doch was Wunder, wenn man sieht, wie wenig es braucht, um in den deutschen Medien Polen-Fachfrau oder Polen-Fachmann zu werden. Der streng erhobene Zeigefinger an genehmer Stelle genügt.
RdP
6.11.2023. Vom Glanz der PiS-Ӧkonomie
Ginge es nach den liberalen Kritikern, die immer wieder ein zweites Griechenland, Argentinien bzw. eine zweite Türkei an der Weichsel herbeiredeten, müsste Polen schon längst den Staatsbankrott verkündet haben. Anlass zu solchen Äußerungen gab ihnen die Wirtschafts- und Sozialpolitik der nationalkonservativen Regierung. Sie sprachen verächtlich von einer PiS-Ӧkonomie, deren Grundlagen die „monströse” Wählerbestechung und die Errichtung eines politisch gelenkten Staatskapitalismus wie im benachbarten Weißrussland seien. Nur so, behaupteten sie, konnte sich „das Regime” an der Macht halten.
Dem angeblichen „Regime” gelang es zwar, die Wahlen am 15. Oktober 2023 zu gewinnen, aber ein drittes Mal reichte es nicht zu einer absoluten Mehrheit. Die Opposition, eine Koalition aus drei Parteien, ergreift jetzt die Macht. Jedoch nicht durch eine Revolution und Massendemonstrationen. Nicht durch kühne Angriffe auf die Regierungszentren oder mächtige Proteste, die das Land erschüttern. Sie ergreift sie auf eine langweilige, flache, kleinbürgerliche Art und Weise, nachdem sie ihre Anhänger mobilisiert und eine rechnerische Mehrheit gegenüber ihrem Gegner erreicht hat. Was für ein albtraumhaftes Klischee, nach all der Hysterie der deutschen Medienberichte: eine Wahl gewinnen, die Mehrheit im Parlament erlangen und das ohne einen Aufstand!
Damit geht ein acht Jahre andauernder und sehr interessanter Versuch eines sozialen und politischen Wandels zu Ende. Während im Westen (vor allem nach der Finanzkrise von 2008) über die Notwendigkeit eines solchen Wandels nur geredet und geschrieben wurde, fand er an der Weichsel zur gleichen Zeit tatsächlich statt. Die Partei Recht und Gerechtigkeit nahm auf eine Art und Weise, die in anderen entwickelten Ländern praktisch keine Entsprechung hat, eine echte Korrektur des Modells des neoliberalen Kapitalismus vor. Dieses Modell war und bleibt ein teuflisch schwieriger Gegner, denn es beruft sich auf eine Wesensart der Freiheit, auf die freie Marktwirtschaft. Seine Verfechter erheben gerne den Anspruch, dass dieses Modell allein richtig und damit unangreifbar sei.
Recht und Gerechtigkeit hat es verändert. Es hat Polens Wirtschaft in eine Richtung geführt, die noch immer keinen angemessenen Namen hat. Es ist nicht das erste Mal, dass die Theorie der Realität hinterherhinkt.
Dennoch kann man auf jeden Fall sagen, dass dieses neue System, das wir seit 2015 in Polen haben, eine gerechtere Ordnung ist. Denn die Einkommens-, Status- und wirtschaftlichen Ungleichheiten haben in Polen in den letzten Jahren nicht mehr zugenommen, sondern sind in vielerlei Hinsicht erheblich zurückgegangen. Das ist vor allem auf eine bewusste Wirtschafts- und Sozialpolitik zurückzuführen, die darauf abzielte, die Schwachen in der Gesellschaft: alte, behinderte, kinderreiche, sozial unterprivilegierte und in der Provinz abgehängte Menschen zu fördern. Bis dahin durfte, wer von ihnen genügend Kraft hatte, in Deutschland Spargel stechen oder in London abwaschen.
Dass sich das änderte, ist das Ergebnis mehrerer seit 2016 eingeleiteter Maßnahmen: Einführung eines allgemeinen monatlichen Kindergeldes von 500 Zloty bis zum 18. Lebensjahr (es soll ab dem 1. Januar 2024 auf 800 Zloty (ca. 180 Euro) erhöht werden). Einer 13. (für alle) und 14. (für die Ärmsten) Rentenzahlung. Der „Antiinflationsschutzschilder” (null Prozent Mwst. auf Lebensmittel, das Aussetzen der Stromsteuer u.v.m.). Kostenloser Medikamente für Rentner ab 65. Der regelmäßigen Erhöhung des Mindestlohns usw.
Hinzu kamen enorme Investitionen in die Entwicklung der abgelegenen Provinzregionen, in deren Wiederanbindung an die von den Vorgängerregierungen stillgelegten Eisenbahnstrecken und Buslinien, in die Wiedereröffnung der geschlossenen Postämter, Polizei- und Krankenstationen. Das alles ging einher mit der Stärkung der Position der Arbeitnehmer sowie der Gewerkschaften.
Dennoch wurde Recht und Gerechtigkeit auch von der polnischen und der westeuropäischen Linken, der eine solche Politik eigentlich sehr nahe sein müsste, heftig bekämpft. Denn diese Politik war verbunden mit dem Hochhalten der traditionellen Werte, vor allem der herkömmlichen Familie. Die polnische Linke derweil, die vor allem im aussterbenden einstigen kommunistischen Establishment, das seine roten Parteibücher gegen goldene Kreditkarten eingetauscht hat und im jungen Hipster-Milieu der Großstädte ihre Anhänger hat, blickt mit bodenloser Verachtung auf die sozialen Niederungen und ihre Bewohner herab. Ihr Metier sind Cannabis-Freigabe, das Töten ungeborener Kinder auf Wunsch, LGBTusw.-Probleme.
Genauso halten es die in Polen sehr zahlreichen Verfechter des Sozialdarwinismus, die ihre politische Heimat vor allem in der Tusk-Partei Bürgerplattform gefunden haben. Tusk selbst hat das im Wahlkampf (am 11.05.2023) so formuliert: „In Polen ist seit einigen Jahren alles auf den Kopf gestellt, d.h. Könige des Lebens sind diejenigen, die saufen, ihre Kinder schlagen, ihre Frauen verprügeln und sich seit vielen Jahren nicht mit Arbeit befleckt haben. Das ist die politische Traumkundschaft für Machthaber, die selbst sehr ähnlich denken wie diese Klientel.”
Die Vorwürfe an die PiS-Ӧkonomie sind schnell aufgezählt. Sie fördert das Nichtstun der Proleten, erhöht die Arbeitslosigkeit, weil sie den wichtigsten „Vorzug” Polens, eines Billiglohnlandes und den eines Zulieferers von billigen Arbeitskräften vor allem nach Deutschland, abschafft, und sie ruiniert die Staatsfinanzen.
Derweil gelang es den Nationalkonservativen, die größten sozialen Ungerechtigkeiten zu beseitigen, ohne das Land zugrunde zu richten. Sie haben die gigantischen Steuerlecks gestopft und die Staatseinnahmen, trotz enormer Steuersenkungen, verdoppelt.
Faulheit? 2015, als die Tusk-Partei die Wahlen verlor, arbeiteten 62 Prozent der beschäftigungsfähigen Bevölkerung. Heute sind es 72 Prozent.
Arbeitslosigkeit? Obwohl der gesetzliche Mindestlohn seit 2015 kontinuierlich von 1.750 Zloty (ca. 390 Euro) auf 4.300 Zloty (ca. 960 Euro) angehoben wurde, fiel die Arbeitslosigkeit in dieser Zeit von 10,7 auf 5 Prozent, trotz des dauerhaften Zuzugs von einer Million Ukraineflüchtlingen.
Ruinierte Staatsfinanzen? Polens Staatsverschuldung liegt heute bei 50 Prozent des BIP. Im Jahr 2015 betrug sie 51 Prozent. Zum Vergleich: Deutschland aktuell 66 Prozent, Frankreich 110 Prozent, Italien 150 Prozent, Griechenland 180 Prozent. Behauptungen, die Nationalkonservativen verstecken viele Staatsausgaben durch Taschenspielertricks außerhalb des offiziellen Haushalts, werden durch Angaben, Berichte und Einstufungen des Eurostat und der internationalen Ratingagenturen eindeutig widerlegt. Ihnen entgeht nichts.
Der PiS-Ӧkonomie gelang es, ein Wirtschaftsmodell umzusetzen, das sich, soweit wie es im Kapitalismus möglich ist, an den Bedürfnissen der Menschen und nicht des Kapitals orientiert, und zu diesem Zweck das volle Potenzial des demokratischen Staates nutzt. Polen wurde dabei nicht in den Realsozialismus zurückgedrängt.
Der Kampf gegen den neoliberalen Kapitalismus war noch vor einigen Jahren im Westen sehr populär. Vor allem in der Theorie, in den Träumen und Appellen der linken Meinungseliten. In Polen hingegen wurde dieses Modell tatsächlich umgesetzt, aber von „den Falschen”. Ein Großteil der sogenannten Linken (in Polen wie im Westen) hat sie deswegen heftig bekämpft.
Das Wahlergebnis zeigt, dass dieses Experiment, wie auch immer wir es nennen, gestoppt werden wird. Und mit der Zeit, wenn die sozialen Hierarchien, die Recht und Gerechtigkeit umgestoßen hat, sich erneut verfestigen, wird so mancher merken, dass er sich, wider die eigenen Interessen, für einen Kampf gegen ein imaginäres „Regime” hat missbrauchen lassen.
RdP
Das Wichtigste aus Polen nach der Wahl. 15. bis 29. Oktober 2023
Aleksandra Rybińska und Janusz Tycner diskutieren über die Auswirkungen der Parlamentswahlen in Polen ♦ Die „siegreiche Niederlage“ der Nationalkonservativen und deren Gründe ♦ Welche Bilanz hinterlässt die scheidende Regierungspartei ♦ Gemeinsamkeiten und Gegensätze der neuen Regierungskoalition und ihr „Programm der Abrissbirne“ ♦ EU und Berlin können wieder mit einem gehorsamen Polen rechnen.
21.10. 2023. Polen. Ein demokratisches Land in Europa
Die Kassandrarufe der polnischen totalen (noch) Opposition und ihrer deutschen politischen und medialen Unterstützer und Wegbegleiter haben sich nicht bewahrheitet. Acht Jahre lang bombardierten sie uns mit der Botschaft, dass die Demokratie in Polen im Sterben liege. Wenn irgendetwas an der Weichsel in den letzten Jahren tatsächlich gestorben ist, dann war es ihr Monopol, die Wirklichkeit zu benennen und den Menschen zu sagen, was sie denken sollen. Das hat jedoch nichts mit dem Tod der Demokratie zu tun. Denn was für den etablierten liberalen Mainstream gut ist, muss nicht unbedingt gut sein für die Demokratie oder für Polen. Und meistens ist es das auch nicht.
Was hinter uns liegt, ist eine Wahl, die unter den Bedingungen einer lebendigen und pluralistischen demokratischen Debatte stattgefunden hat. Vor den Polen breitete sich ein weites politisches Spektrum aus: viele Parteien mit unterschiedlichen politischen Farben, Programmen und Empfindlichkeiten.
Auch die Wahl zwischen den beiden größten Akteuren: der Regierungspartei Recht und Gerechtigkeit (PiS) und der Anti-PiS-Koalition war eine echte Wahl. Es handelte sich um zwei grundsätzlich unterschiedliche Visionen von Polen, Europa, der Wirtschaft, der Kultur, der Vergangenheit und der Zukunft.
Die Menschen sahen das und nutzen dieses Angebot. Schon bei früheren Parlaments- und Präsidentschaftswahlen, die nach einer ähnlichen Logik abliefen, war die Wahlbeteiligung rekordverdächtig hoch. Dieses Mal wurde mit knapp 75 Prozent eine neue Rekordmarke aufgestellt. Das ist der beste Beweis dafür, dass die polnische Demokratie lebendig ist. Sie ist nicht nur ein leeres Ritual. Und die Menschen, anders als in manchen westlichen Ländern, winken nicht resignierend ab und denken sich: „Wenn Wahlen wirklich etwas bewirken könnten, wären sie schon längst verboten worden“.
Auch ist keine der alarmistischen Vorhersagen über das Abweichen Polens vom demokratischen Weg eingetreten. Das Polen des Jahres 2023 ist ein Land, in dem Wahlen pünktlich abgehalten werden, die Opposition volle politische Rechte genießt und ihre erklärten Anhänger einen hohen sozialen und materiellen Status haben. Die Kritiker der Partei Recht und Gerechtigkeit sagen offen auf der Straße, am Arbeitsplatz und in den nationalen Medien, was sie von Kaczyński und Morawiecki halten. 24 Stunden am Tag, sieben Tage die Woche.
In Polen gilt der Grundsatz der demokratischen politischen Kontrolle über die Armee, und die Rücktritte von zwei einflussreichen Generälen vor den Wahlen haben gezeigt, dass dieser Grundsatz weitestgehend respektiert wird. Es gibt keine politischen Gefangenen. Kein einziges Internetportal, keine Zeitung, kein Sender wurde von Amtswegen geschlossen. Die größte Oppositionszeitung des Landes, die „Gazeta Wyborcza”, residiert weiterhin in ihrem riesigen Glaspalast inmitten von Warschau und der Agora-Verlag, ihr Herausgeber, verzeichnete 2022 immerhin einen Umsatz von umgerechnet knapp 260 Millionen Euro.
Polen ist ein Land, in dem das Oberhaus (Senat) und alle Großstädte von der Opposition kontrolliert werden. Die Gerichte urteilen so oder so. Erst kürzlich wurde der Vorsitzende der Regierungspartei, Jarosław Kaczyński, rechtskräftig zu einer astronomischen Geldstrafe von 750.000 Zloty (ca. 170.000 Euro) verurteilt, weil er gegenüber einem Oppositionspolitiker eine falsche Anschuldigung geäußert haben soll. Kaczyński stand vor dem Ruin und schickte sich schon an, sein bescheidenes Haus in Warschau zu verkaufen. Eine von seinem Kontrahenten im Nachhinein vorgeschlagene außergerichtliche Einigung reduzierte die Verbindlichkeit auf umgerechnet ca. 11.500 Euro zugunsten der Ukrainehilfe.
Deutsche Medien haben seinerzeit mit allem Ernst Tatarennachrichten kolportiert, Kaczyński werde den Ausnahmezustand ausrufen, um die Wahlen zu verhindern. Dann hieß es, in der Wahlnacht werde er die Armee auf die Straßen schicken. Wer so etwas behauptet, befindet sich im geistigen Ausnahmezustand der Paranoia. Derweil haben sich Recht und Gerechtigkeit und dessen Vorsitzender schon einmal, 2007, nach verlorenen Wahlen, für acht Jahre anstandslos auf die Oppositionsbänke begeben und sie werden es, wenn sie keinen Koalitionspartner finden, wovon auszugehen ist, auch dieses Mal tun.
Selbst der Oberste Rechnungshof wird von einem Politiker geleitet, der es sich zum Ziel gesetzt hat, die Regierungspartei zu zerstören. Schließlich ist Polen ein Land, in dem die Bürgerrechte und die Rechte von Minderheiten in der Regel nicht weniger geachtet werden als irgendwo sonst in Europa. Wenn dies das Bild einer Musterdiktatur sein soll, dann muss man sich fragen, welches Land in der Welt in der Lage wäre, eine so hohe Messlatte für Demokratie zu überspringen. Die USA mit ihrer politischen Macht, die offen am Laufband der Plutokratie wandelt? Frankreich mit seiner Polizei, die jedes Jahr mehr als ein Dutzend Bürger bei verschiedenen politischen Demonstrationen tötet? Oder wie wäre es mit Deutschland mit seiner von Politikern bestimmten Zusammensetzung der obersten Gerichte?
Niemand behauptet, dass Polen perfekt ist. Das ist es nicht. Oder dass es nicht besser werden kann. Das kann es. Aber es geht auch darum, der Hysterie und der maßlosen Übertreibung Grenzen zu setzen. Polen ist, im Gegensatz zu dem was u. a. deutsche Medien gebetsmühlenartig verkünden, nicht von einer schweren Krankheit befallen. Weder vom Autoritarismus noch von der Antidemokratie oder sonst etwas. Es gibt keinen Grund, die Hände dort zu ringen, wo es eigentlich etwas zu feiern gibt.
Die polnische Demokratie ist so gesund wie eh und je. Und sie hat sich dieses Mal, genauso wie 2015 und 2019, als Recht und Gerechtigkeit die Wahlen gewann, die Regierung gewählt, die sie haben will. Ob das die richtige Entscheidung war, steht auf einem anderen Blatt.
RdP
15.09.2023. Wehrhaftes Polen mit Deutschland im Rücken
Der US-Kongress hat in diesen Tagen grünes Licht für den Verkauf von 96 Hubschraubern des Typs AH-64E „Apache” an Polen gegeben. Bis die Maschinen geliefert werden, will Washington Polen Hubschrauber aus Beständen der US-Armee ausleihen.
Glaubt man den technischen Beschreibungen, sind die „Apaches” wahre Wunder der Wehrtechnik, fliegende Höllenmaschinen. Gut gepanzert, ausgestattet mit zwei Typen von Panzerabwehrraketen, ferner mit Flugabwehrraketen, Laserleitmodulen, Feuerleitradaren, Raketenwarnsystemen u. v. m. können sie über einhundert Ziele gleichzeitig verfolgen und ein Dutzend von ihnen treffen. Sie sind kompatibel mit den US „Abrams”-Panzern, von denen Polen 220 Stück gekauft hat. Gemeinsam sollen die beiden Waffensysteme einen undurchdringlichen Riegel entlang der polnisch-weißrussischen Grenze bilden, von wo aus im Ernstfall ein russischer Vorstoß gegen Polen am wahrscheinlichsten ist.
Diese Barriere werden knapp fünfhundert hochmobile amerikanische HIMARS-Raketenwerfer ergänzen. Abhängig vom Raketentyp, mit dem sie bestückt sind, können sie Ziele in einer Entfernung zwischen 30 und 300 Kilometern vernichten. Die HIMARS haben ihre gewaltige Vernichtungskraft bereits im Ukraine-Krieg unter Beweis gestellt, wo sich etwa zwanzig im Einsatz befinden.
Die Liste der aktuellen polnischen Waffenkäufe ist lang. Sie reicht von 32 amerikanischen Tarnkappen-Mehrzweckkampfflugzeugen vom Typ F-35 über 1.000 südkoreanische K2-Kampfpanzer, 700 Pnzerhaubitzen des Typs K9 und 48 leichte FA-50-Kampfflugzeuge bis hin zu 48 Patriot-Flugabwehrraketensystemen, die das Rückgrat der polnischen Luftverteidigung bilden sollen. Hinzu kommen gewaltige Aufträge, die an eigene Rüstungsunternehmen vergeben werden, wie etwa die Bestellung von eintausend schwimmenden Schützenpanzern vom Typ „Borsuk” („Dachs”). Zudem soll die Zahl der Soldaten von jetzt 130.000 auf 300.000 ansteigen.
Polen gibt inzwischen fast vier Prozent seines Bruttoinlandproduktes für das Militär aus. Bald sollen es fünf Prozent sein. Für andere Nato-Staaten sind das unerreichbare Höhen.
In Deutschland derweil, ob am Stammtisch oder in der Politik, erntet Polens Aufrüstung viel Spott und Hohn. Nach dem Motto (Originalkommentare unter einem Medienbericht): „Größter EU-Nettoempfänger, aber auf dicke Hose machen” oder „Die Polen schwimmen im EU-Geld aus Deutschland und wissen nicht, wohin damit. Dann kauft man eben Panzer”. Kurzum: Ein paar rechtspopulistische Spinner in Warschau leben für deutsches Geld ihre Sandkastenkindheitsträume aus.
In einem ihrer spöttischen Berichte zum Thema, formulierte die deutsche Tageszeitung „Die Welt” den Vorwurf: „Polen rüstet auf, als ob es keine Verbündeten hätte” und traf damit unversehens den Nagel auf den Kopf.
Polen ist nämlich seit dem russischen Überfall auf die Ukraine Frontstaat geworden. Über sein Territorium laufen die meisten Waffenlieferungen für die Ukraine, kaputtes Kriegsgerät wird in Polen instand gesetzt, hier werden die meisten ukrainischen Soldaten ausgebildet.
Im Rücken hat Polen Deutschland mit seiner, trotz des vor eineinhalb Jahren eingerichteten Sondervermögens, heruntergewirtschafteten und auf Jahre kampfunfähigen Bundeswehr. Mit einer Bevölkerung, die, wie wir seit Neuestem wissen, mehrheitlich nicht mehr zur Unterstützung der Ukraine steht und sich zunehmend zur russlandfreudlichen AfD hinwendet. Im Ernstfall ist mit dem klima- und genderbewegten Deutschland nicht zu rechnen.
Die Amerikaner wiederum, die in Polen inzwischen etwa zehntausend Soldaten stationiert haben, sagen zurecht klipp und klar, dass sie Ihre Jungs nur dann in den Kampf schicken werden, wenn der polnische Verbündete sich selbst militärisch ernsthaft ins Zeug legt.
Und sollten die Russen angreifen, muss jeder Zentimeter polnischen Bodens bis zum letzten verteidigt werden, denn spätestens seit Butscha wissen wir, mit welch schlimmen Kriegsverbrechen eine russische Besetzung verbunden ist.
Die großen Rüstungsanschaffungen sollen vor allem der Abschreckung dienen. Sie sind allemal billiger und Leben schonender als ein durch Schwäche, wie im Falle der Ukraine, provozierter russischer Überfall. Es gibt niemanden, der für Polen diese Hausaufgabe macht. Wie heißt es so treffend: Wenn Du zählen kannst, dann zähle auf Dich selbst.
RdP
12.09.2023. Familie Ulma. Seligsprechung mit vielen Deutungen
Von deutschen Medien einhellig schweigend übergangen, fanden am 10. September 2023 in Markowa, im Südosten Polens, zum ersten Mal in der zweitausendjährigen Geschichte der katholischen Kirche zwei Ereignisse gleichzeitig statt. Die Seligsprechung einer ganzen Familie sowie die Verkündigung der Erhebung eines ungeborenen Kindes zu den Altären. Etwa 40.000 Menschen waren zugegen, darunter Polens Staatspräsident Andrzej Duda und Regierungschef Mateusz Morawiecki.
Die Seligsprechung war ein hochsymbolischer Akt in Zeiten, in denen die natürliche Familie, bestehend aus Mann, Frau und den von ihnen gezeugten Kindern, zunehmend infrage gestellt und das Recht auf Leben ungeborener Kinder weltweit zugunsten des angeblichen „Menschenrechts” auf ihre Abtötung abgeschafft wird.
Deutsche Gendarmen ermordeten am 24. März 1944 Józef Ulma, seine hochschwangere Ehefrau Wiktoria und ihre sechs Kleinkinder, weil sie in ihrem Haus acht Juden versteckt hielten, die auch alle umgebracht wurden. Heute gibt es in Markowa eine Gedenkstätte und ein den polnischen Judenrettern gewidmetes Museum.
Die Mörder der Ulmas handelten nicht unrechtmäßig. Sie töteten in Übereinstimmung mit dem von den deutschen Behörden erlassenen und im Generalgouvernement geltenden Gesetz. Nach diesem Gesetz waren die Verteidiger des Lebens, die Juden Unterschlupf gewährten, die Verbrecher. Die Mörder, Hauptmann Eilert Dieken, sein Stellvertreter Joseph Kokott und deren Kumpane waren lediglich die Vollstrecker dieses Gesetzes. Sie empfanden Genugtuung und fühlten keine moralische Schuld. Schließlich handelten sie im Einklang mit geltendem Recht.
Die Mörder kannten diese Begriffe wahrscheinlich nicht, aber sie vertraten eine Position namens Normativismus und Rechtspositivismus. Letzterer fußt auf der Idee, dass nur von Menschen gemachte Gesetze zählen und dass alle Geschichten über das Naturrecht oder das moralische Recht in den Papierkorb geworfen werden sollten.
Wenn also gesetzlich festgelegt wird, dass Menschen aufgrund ihrer Herkunft oder Rasse (oder diejenigen, die ihnen helfen) kein Recht auf Leben haben, dann muss das so sein und es gibt keine Diskussion. Nach dem gleichen Prinzip kann Menschen aufgrund ihres Alters (z.B. im vorgeburtlichen Entwicklungsstadium) der rechtliche Schutz des Lebens entzogen werden, und keine moralischen oder natürlichen Normen können das verhindern. Wenn alles im Rahmen der bestehenden Gesetze geschieht, sind moralische Skrupel fehl am Platze.
Einer der Hauptvertreter dieser Strömung in der Zwischenkriegszeit war der österreichische Professor Hans Kelsen, der die Trennung von Recht, Wahrheit und Moral predigte. Er analysierte den Prozess gegen Jesus von Nazareth im Lichte des damals geltenden Rechts und kam zu dem Schluss, dass die qualvolle Todesstrafe vollkommen legitim und gerecht war. Es ist also möglich, einen Unschuldigen im Glauben an die Majestät des Gesetzes umzubringen mit voller Überzeugung, dass man gerecht und korrekt gehandelt hat.
Es mag hart klingen, aber das ist es, was Christus, die Familie Ulma, die ermordeten Juden und die getöteten ungeborenen Kinder gemeinsam haben. Auch daran erinnert die Seligsprechung von Markowa.
Die zweitgrößte Wisentherde Polens ist vom Aussterben bedroht.
Den Bieszczady-Wisenten wird es langsam zu eng. Sie richten Schäden an, vor allem aber werden sie immer kränker. In freier Wildbahn kann man diese Tiere nicht erfolgreich behandeln. Sie müssen erlegt werden.
Die Wisente wurden im Herbst 1963 im Bieszczady-Gebirge, das sich im südöstlichsten Zipfel Polens erstreckt, angesiedelt. Aus einigen Kühen und Bullen entstand eine Herde der niederländisch-kaukasischen Rasse, die einzige ihrer Art in Polen. Sie vergrößerte sich im Laufe der Jahre und wurde zum Stolz der Förster und Naturforscher. Legendär wurde ein Bulle namens „Pulpit”, zu deutsch „Pult”, er begeisterte die Menschen in ganz Polen. Nachdem er im Herbst 1964 aus einem Gehege ausgebrochen war, zog er monatelang durch das Land und besuchte sogar Städte.
Der Wisent (Bison bonasus) ist Europas größtes wild lebendes pflanzenfressendes Säugetier. Er ist in Polen gesetzlich geschützt. Das Gewicht eines Bullen erreicht bis zu 900 Kilogramm, während die Kühe etwas leichter sind und bis zu 650 Kilogramm auf die Waage bringen. Der tägliche Futterbedarf für ein erwachsenes Tier liegt bei bis zu 30 Kilogramm Biomasse. In Polen leben Wisente an sechs Standorten in freier Wildbahn: im Bieszczady-Gebirge, in den Wäldern von Białowieża, Knyszyn und Augustów, in der Puszcza Borecka/Borkener Forst sowie in den westpommerischen Wäldern um Piła/Schneidemühl.
Tödliche Invasion
Als in der zweiten Hälfte der 1990er-Jahre die ersten Tuberkulosefälle in der Bieszczady-Population auftraten, ahnte noch niemand, dass dies nur der Anfang zahlreicher Probleme sein würde. Damals musste eine Herde aus der Oberförsterei Brzegi Dolne (jetzt Ustrzyki Dolne) bis auf das letzte Tier gekeult werden. Die Wisente sind bis heute nicht in diese Gegend zurückgekehrt. Später befiel diese Infektionskrankheit Herden in den Oberförstereien Lutowiska und Stuposiany, danach war Baligród an der Reihe. Jedes Mal mussten die Förster mit Hilfe der Veterinärdienste die angesteckten Tiere aufspüren und erschießen, da es keine Möglichkeit gibt, Wisente in freier Wildbahn zu behandeln.
Die Tuberkulose bekam man zwar in den Griff, doch bald darauf folgte die Thelaziose. Sie wurde 2012 bei einem verendeten Bullen festgestellt, der vier Jahre zuvor aus Irland nach Polen gebracht worden war. Im Jahr 2019 begann die Krankheit weitere Wisente zu befallen, vor allem in den Oberförstereien Baligród und Komańcza. Und sie erwies sich als ein äußerst gefährlicher Gegner. Zumal die Förster wenig darüber wussten. Die letzten Fälle von Thelaziose wurden in den 1960er-Jahren im Urwald von Białowieża und in den Gehegen in Niepołomice/Niepolomitz unweit von Kraków sowie in Pszczyna/Pless in Oberschlesien verzeichnet.
Die durch Fruchtfliegen übertragene Krankheit wird durch Fadenwürmer der Gattung Thelazia verursacht. „Wisente infizieren sich im Frühsommer, und die Krankheitssymptome treten verstärkt im Juli, August und September auf“, erklärt Stanisław Kaczor, stellvertretender Bezirkstierarzt in Sanok. „Infizierte Tiere weisen eine Hornhauttrübung auf. Erosionen und Ulzerationen, die sogar zu einer Schädigung der Augenlinse führen, sind keine Seltenheit. Auch die Bindehaut schwillt stark an, sodass sich das Augenlid nicht mehr öffnen lässt. Eine eitrige Augenentzündung kann zu einer unumkehrbaren Erblindung führen.”
„Thelaziose ist eine sich sehr rasch ausbreitende Krankheit. Wenn sie bei einem Tier auftritt, greift sie leicht auf andere über“, erklärt Professor Wanda Olech-Piasecka von der Warschauer Universität für Biowissenschaften, eine Expertin für Wisente. Ihrer Meinung nach wird die Übertragung von Tuberkulose und Thelaziose durch die Herdenhaltung dieser Tiere begünstigt.
„Eine gewisse Rolle könnte dabei auch eine reduzierte Immunität spielen, die durch eine sehr geringe genetische Vielfalt verursacht wird, obwohl eine solche Auswirkung der Inzucht beim Wisent bisher nicht bestätigt wurde“, sagt Professor Kajetan Perzanowski, ein pensionierter Mitarbeiter des Museums und Instituts für Zoologie der Polnischen Akademie der Wissenschaften in Warschau. Er hat die Bieszczady-Wisente viele Jahre lang untersucht. „Die Ausbreitung der Thelaziose kann auch mit den jüngsten milden Wintern zusammenhängen, die eine geringe Sterblichkeit der Wirbellosen begünstigen.”
Eine traurige Notwendigkeit
Die von diesem gefährlichen Parasiten befallenen Wisente sind aggressiv (z. B. gehen sie mit ihren Hörnern auf andere Tiere in der Herde los), haben Schwierigkeiten bei der Nahrungssuche, verlieren ihren natürlichen Instinkt und haben keine Angst mehr vor Menschen. Manchmal verstümmeln sie sich selbst. In einem Fall tötete ein entfesselter Bulle sich selbst, indem er mit dem Kopf gegen einen Baum schlug. „Und dann ist da noch das sogenannte weiße Auge, ein offensichtliches Erkennungsmerkmal der Thelaziose. Die Tiere leiden furchtbar“, sagt Wojciech Głuszko, der Oberförster von Baligród. „Es ist unmöglich, gleichgültig zu bleiben, wenn man einen Wisent sieht, der sich sein eigenes krankes Auge ausgeschlagen hat.”
Noch vor wenigen Jahren war der Begriff Thelaziose den meisten Förstern völlig unbekannt. Niemand hatte erwartet, dass sich die Krankheit so schnell ausbreiten und fast die gesamte Bieszczady-Population des Bison bonasus, die hier seit sechzig Jahren gezüchtet wird, befallen würde. An den bisherigen Maßnahmen, wie der Überwachung der Herden und dem Abschuss kranker Tiere, hat sich nicht viel geändert, aber, wie Förster Głuszko betont, sie müssen fortgesetzt werden, denn bisher hat noch niemand eine wirksame Methode zur Behandlung frei lebender Wisente gefunden. „Wann immer Informationen über die Tötung eines geschützten Tieres bekannt werden, empören sich die Aktivisten. Sie verstehen nicht, dass niemand so etwas aus Vergnügen tut. Es ist eine Notwendigkeit.”
Ein einzelnes Tier in einer Herde zu töten, ist nicht möglich. Zu groß ist das Risiko, ein gesundes Tier zu erschießen und die anderen zu verschrecken. Ein einzelnes infiziertes Tier aufzuspüren, ist ebenfalls kein leichtes Unterfangen. Diese Wiederkäuer können sich tief im Wald verstecken und sind manchmal nicht einmal mit einem Fernglas zu erkennen. Der Schuss muss aber sicher sein, auf ein deutlich sichtbares Ziel, damit das Tier nicht leidet. „Die Jagd auf Wisente erfordert Zeit und Geduld, außerdem tragen die für die Sanierungsjagd ausgewählten Jäger eine große Verantwortung, weil es sich um eine streng geschützte Art handelt“, betont Wojciech Głuszko.
Schnelle Reaktion
Laut Professor Kajetan Perzanowski, dem Verfasser des Programms zum Schutz des europäischen Bisons in den Karpaten, sollte die Zahl dieser Tiere im polnischen Bieszczady-Gebirge 400 bis 450 Exemplare nicht überschreiten. Das ist die optimale Dichte für den Wisent und andere Nutzer des Gebiets. „Bei höheren Zahlen führt die Dichte zu mehr Schäden“, fügt Professor Wanda Olech-Piasecka hinzu. „Wisente sind eine Tierart mit geringer Wanderneigung. Bullen wandern manchmal über große Entfernungen, aber die Kühe bleiben im angestammten Gebiet. Daher nimmt die Bedrohung durch Krankheiten und Parasiten zu.“
Derzeit gibt es im Bieszczady-Gebirge zwei Teilpopulationen (die östliche und die westliche), die Ende 2022 insgesamt etwa 750 Wisente zählten. Bei einer solchen Anzahl verursachen die Tiere immer mehr Schäden in den Wäldern und geraten auch in Konflikt mit den Landwirten, da sie manchmal dieselben Wiesen nutzen, auf denen das Hausvieh weidet. Und dann ist es nur noch ein Schritt zur Verbreitung der einen oder anderen Krankheit. Die ersten Bieszczady-Wisente steckten sich vor Jahren bei Hausrindern mit Tuberkulose an.
Nur in der Gegend von Baligród gibt es vom Frühjahr bis zum Spätherbst etwa 300 Wisente (sie ziehen zum Überwintern in die Oberförsterei Lesko). Die Anzahl der Wisente in den Oberförstereien Komańcza, Lutowiska, Cisna und Stuposiany liegt etwas niedriger. Lediglich im Revier von Stupisiany wurden bisher keine an Thelaziose erkrankten Wisente beobachtet.
Eine kleine Herde im oberen San-Tal ist die einzige, die bisher die von Fachleuten und Förstern genannten Bedingungen für einen angemessenen Schutz der Wisente erfüllt. Die Idee ist, dass einzelne Herden getrennt voneinander leben sollten. Dann ist es möglich, die Tiere wirksam zu überwachen und schnell auf Bedrohungen zu reagieren. Außerdem werden kleine Gruppen von der lokalen Bevölkerung viel eher akzeptiert. „Sie akzeptiert die Auswirkungen, die dieses große Säugetier auf landwirtschaftliche Kulturen und den Wald hat“, betont Jan Mazur, stellvertretender Leiter der Regionaldirektion der Staatswälder in Krosno.
Ein erheblicher Anteil älterer Tiere schwächt zusätzlich den Zustand der Population, sie ist anfälliger für Krankheitserreger. In großen Wisentherden ist die Überwachung des Gesundheitszustands definitiv schwierig. Andererseits ist jeder Eingriff, der im Austausch von Tieren zwischen den einzelnen Herden besteht (die sogenannte Zuführung frischen Blutes), sinnlos geworden, weil sich die Inzucht in einer genetisch armen Population ohnehin ständig verstärkt.
Bisse, Zusammenstöße, Ertrinken
In den Jahren 2021 und 2022 wurden im Bieszczady-Gebirge 80 Wisente aufgrund von Thelaziose erlegt. Zwei Jahre zuvor waren es nur vier. Wisente verenden ebenfalls aus anderen Gründen, wenn auch in weitaus geringerer Zahl. Dazu gehören Stürze mit gebrochenen Gliedmaßen und anderen schweren Verletzungen, Bisse von Wölfen und Bären. Einzelne Tiere ertranken im Solina-Stausee, verendeten aufgrund eines Herz-Kreislauf-Versagens oder durch Zusammenstöße mit Kraftfahrzeugen. Insgesamt verendeten aus diesen Gründen in den Jahren 2021-2022 vierundzwanzig Tiere. Bei weiteren zehn konnte die Ursache nicht ermittelt werden.
Ständige Überwachung
Heute besteht die wichtigste Aufgabe darin, die Thelaziose zu bekämpfen. Am 25. Januar erteilte der Generaldirektor für Umweltschutz eine Genehmigung zum Abschuss von bis zu einhundert Wisenten im Bieszczady-Gebirge in den Jahren 2023 bis 2025. In dieser Zeit sollen einige gesunde Exemplare, insbesondere Jungtiere, gefangen und in das Niedere Beskidengebirge in der Nähe von Przemyśl umgesiedelt werden. Die Schaffung neuer isolierter Teilpopulationen ist notwendig. Ob sie wirksam sein wird, wird sich erst in einigen Jahren herausstellen. Außerdem müssen die Lebensräume, die die künftige Nahrungsgrundlage für den König des Waldes bilden, entsprechend gestaltet werden.
Eine solche Maßnahme würde zum einen die möglichen Auswirkungen der Überpräsenz der Wisente abmildern, zum anderen ist die Ausweitung des Populationsgebietes der beste Weg, ihren Fortbestand im Falle epidemischer Krankheiten zu sichern. Außerdem ist eine routinemäßige Überwachung erforderlich, die auch scheinbar gesunde Tiere einschließt. Alle bisherigen Erkenntnisse wurden durch die Untersuchungen von tot aufgefundenen oder wegen Erkrankung erlegter Wisente gewonnen.
Die Umsiedlung von gesunden Tieren und die Bildung kleiner Herden von bis zu 30-40 Exemplaren könnte die letzte Chance sein, den Bieszczady-Wisent zu retten.
25.08.2023. Referendum. Was Polen dürfen, dürfen Deutsche nicht
Mit wachsendem Erstaunen liest man die deutschen Kommentare zu dem Referendum, das zusammen mit den polnischen Parlamentswahlen am 15. Oktober 2023 abgehalten werden soll. Dass die deutschen Medien ungefähr zweimal pro Woche das Ende der Demokratie in Polen ausrufen, daran hat man sich gewöhnt. Seit dem ersten, 2019 wiederholten, Wahlsieg der Nationalkonservativen im Herbst 2015 sind schließlich acht Jahre vergangen.
Dass die deutsche mediale Einheitsfront, ob ARD, ZDF, FAZ oder TAZ, ausschließlich das weitergibt, was ihr Polens totale Opposition, wie sie sich selbst bezeichnet, in die Notizblöcke diktiert, ist auch nichts Neues. Doch die Idee, dass eine Volksbefragung sich gegen die Demokratie richtet und ein Boykott die Demokratie stärkt, bleibt für das Erste sehr gewöhnungsbedürftig.
Schließlich gibt es kaum eine demokratischere Form der Willensbekundung durch den Souverän. Alle Bürger können über wichtige Fragen zur Zukunft des Landes und des politischen Systems bestimmen. Haben am Referendum mehr als fünfzig Prozent der Wahlberechtigten teilgenommen, so die polnische Verfassung, ist das Ergebnis für die amtierenden und künftigen Regierungen und Parlamente bindend.
Die Fragen lauten:
1. Unterstützen Sie den Ausverkauf von Staatsvermögen an ausländische Unternehmen, der zu einem Verlust der Kontrolle der Polinnen und Polen über strategische Wirtschaftsbereiche führt?
2. Unterstützen Sie eine Anhebung des Rentenalters, einschließlich der Wiedereinführung eines höheren Renteneintrittsalters von 67 Jahren für Frauen und Männer?
3. Unterstützen Sie die Beseitigung der Barriere an der Grenze zwischen der Republik Polen und der Republik Weißrussland?
4. Unterstützen Sie die Aufnahme von Tausenden illegaler Einwanderer aus dem Nahen Osten und Afrika gemäß dem von der europäischen Bürokratie auferlegten Zwangsumsiedlungsmechanismus?
Alle diese hochbrisanten Themen bilden die Hauptachse, um die sich die politische Auseinandersetzung in Polen dreht. Die Bürger sind aufgerufen zu entscheiden, wie sie es haben wollen.
Privatisierung. In den acht Jahren der Tusk-Regierung zwischen 2007 und 2015 wurden etwa 1.200 Staatsbetriebe und Banken verkauft, viele unter dubiosen Umständen. Der Gesamterlös von 57 Milliarden Zloty (ca. 13 Milliarden Euro) verflüchtigte sich in den laufenden Staatsausgaben. Die verbliebenen Staatsunternehmen, wie die Fluglinie LOT, der Kupfergigant KGHM, der Energiekonzern Orlen, die einzige noch bestehende größere polnische Bank PKO BP u. e. m. dümpelten vor sich hin und harrten der Privatisierung.
Heute erwirtschaften sie für den Staatshaushalt satte Gewinne (Orlen 2022 nach Steuern knapp 4,5 Milliarden Euro, KGHM gut 1 Milliarde Euro, PKO BP 750 Millionen Euro), expandieren im In- und Ausland, waren und sind in Zeiten der Corona-Pandemie und des Ukraine-Krieges wichtige Instrumente des Staates zur Abmilderung der wirtschaftlichen Folgen dieser beiden Heimsuchungen.
Die Donald-Tusk-Partei Bürgerplattform (BP) hat kein Programm für Polen vorgelegt und will es auch nicht tun. Sie setzt ausschließlich auf das Hochkochen von Emotionen: „Kaczyński hat Polen in eine Hölle auf Erden verwandelt! Kaczyński muss weg! Er gehört eingesperrt! Auch Ministerpräsident Morawiecki, seine Vorgängerin Frau Szydło, Staatspräsident Duda, Justizminister Ziobro und viele andere sollen sich auf Jahre hinter Gittern gefasst machen!” Und ansonsten? Nach dem Wahlsieg sehen wir weiter. Das muss als Programm genügen.
Offiziell hütet sich Tusk, zu eventuellen Privatisierungen etwas zu sagen, doch die Stimmen aus seinem Umfeld lassen keinen Zweifel daran aufkommen: Die großen Staatsunternehmen, aber auch alle Häfen, Flughäfen, die Eisenbahn muss man „dringend” „verkaufen”, „zerschlagen”, „privatisieren”.
Renten. Tusk verspricht, das Renteneintrittsalter, das die jetzt Regierenden wieder auf das alte Niveau von 60 Jahren für Frauen und 65 Jahren für Männer gebracht haben, nicht zu erhöhen. Doch das hat er auch im Wahlkampf 2007 hoch und heilig versprochen. Nach seinem damaligen Wahlsieg erhöhte er es schlagartig auf 67 Jahre für beide Geschlechter. Für die Frauen war es ein Anstieg um sieben Jahre. Wird er es wieder tun?
Grenzbarriere. Als der weißrussische Diktator Lukaschenka ab Juli 2021 massenweise gut zahlende Migranten aus dem Mittleren Osten und Afrika in sein Land holte, um sie über die Grenze nach Polen zu treiben und das Land so zu destabilisieren, stimmte die Tusk-Partei im Sejm gegen den Bau des fünf Meter hohen elektronikgestützten Metallzauns entlang der Grenze. BP-Politiker, auch Tusk selbst, sprachen sich vehement gegen die Anlage aus, forderten ihren Abriss.
Zwangsverteilung von Migranten. Im Herbst 2015, während der großen „Wir schaffen das”-Migrantenkrise, als Tusk bereits nach Brüssel abgereist war, um EU-Ratspräsident zu werden, stimmte seine Nachfolgerin Ewa Kopacz der zwangsweisen Umverteilung von Migranten zu. Der Wahlsieg der Nationalkonservativen hat das verhindert. Tusk drohte daraufhin aus Brüssel seinem Land mit Sanktionen und finanziellen Strafen. Es ist davon auszugehen, dass er nach seinem eventuellen Wahlsieg diesem Dauermechanismus zustimmt.
Es sei denn, die Ergebnisse des Referendums hindern ihn daran.
Ein weiterer deutscher Vorwurf lautet: Die Volksbefragung verfolgt einen politischen Zweck. Gewiss, aber welches Referendum tut das nicht? Es heißt auch, es handelt sich um eine Manipulation. Doch was um alles in der Welt soll denn hier manipuliert werden? Schließlich steht es jedem frei, die Antwort zu geben, die er für richtig hält, oder gar keine.
Doch der waghalsigste Drahtseilakt, den deutsche Medien in diesem Fall vollbringen müssen, ist, dem Durchschnittsdeutschen, der selbst gerne eine Volksbefragung über die Einwanderung hätte, zu erklären, dass das Referendum in Polen ein demokratiefeindliches Vorhaben und das Nichtabhalten einer solchen Bürgerbefragung in Deutschland ein löblicher Akt der Demokratie ist.
RdP
13.06.2023. Steinmeier als Theologe, Jesus als Zauberer
Auf dem jüngsten Deutschen Evangelischen Kirchentag in Nürnberg (7. bis 11. Juni 2023) war Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier als der wichtigste Ehrengast zugegen. Er hielt dort nicht nur eine Rede bei der Eröffnung, sondern ließ sich während einer Veranstaltung innerhalb der Reihe Bibelarbeit zur Auslegung einer Passage aus dem Johannesevangelium verleiten, in der von dem Wunder Jesu bei der Hochzeit zu Kana berichtet wird.
Im Gottesglauben des deutschen Staatsoberhauptes scheint es demnach wenig Platz für die Wunder Jesu zu geben. Es habe „schon plausiblere Bibeltexte für eine Bibelarbeit auf dem Kirchentag“ gegeben, sagte Steinmeier. Diese Erzählung mache ihn „jedes Mal ratlos“. Er stellte die Grundsatzfrage, warum so eine Wundergeschichte es überhaupt in die Bibel geschafft habe, und schilderte den Anwesenden seinen quälenden Zweifel, indem er wörtlich fragte: „Jesus als Zauberer: Ist das nicht etwas dick aufgetragen?“
Steinmeier war sich jedenfalls sicher, dass diese Übertreibung nicht in sein persönliches Jesus-Bild passe, ja, ihn sogar aktiv störe. Er rechnete die Menge des verwandelten Wassers um und erläuterte, dass Jesus ungefähr 1.000 der heute gebräuchlichen Flaschen Wasser zu Wein umgewandelt habe. Dies sei eine unglaubliche Menge, die Darstellung klinge fast obszön und nach Lebensmittelverschwendung. Ihm komme „das schiere Übermaß an Wein“ „merkwürdig“ vor.
Dazu bot der deutsche Bundespräsident seine eigene Interpretation an. Positiv las er aus der Bibelstelle heraus, dass, weil der Wein für Lebensfreude und Kraft stehe, Gott uns Freude im Übermaß schenke und „uns zur Feier“ ermuntere.
Zudem sei Jesus auf einer Hochzeit in einem kleinen Dorf am Rande des Römischen Reiches erschienen, um zu zeigen, dass die Landbevölkerung nicht vernachlässigt werden dürfe, da die Demokratie ihre Legitimität verliere, wenn größere Teile der Gesellschaft nicht in die öffentlichen Debatten einbezogen würden. Die Geschichte, die der Evangelist erzählt, zeigt uns, seiner Meinung nach, dass sich die Dinge zum Besseren wenden können.
Als der Bundespräsident anschließend die Versammelten zu mehr Engagement für die Demokratie und zu rebellischem Mut angesichts der Krisen in der Welt aufrief und mit dem Ausruf „Gemeinsam werden wir die Demokratie in diesem Land verteidigen“ schloss, brach, laut Medienberichten, Begeisterung in dem voll besetzten Saal aus. So vollzog sich auf dem evangelischen Kirchentag in Nürnberg die wundersame Verwandlung des „Zauberers” Jesus in einen Altvorderen der deutschen Demokratie.
Frank-Walter Steinmeiers simple Bibelauslegung in Nürnberg regt zu vielen Überlegungen an. Wir wollen uns auf vier beschränken.
Erstens: Die Bibelexegese des Bundespräsidenten und der Beifall, mit dem sie bedacht wurde, sagen viel über den Zustand einer Glaubensgemeinschaft aus, die sich von einer religiösen Institution in eine gesellschaftspolitische Einrichtung verwandelt. Die senkrechte Dimension, die den Menschen mit Gott verbindet, verschwindet. Was bleibt, ist die waagerechte Dimension, die sich auf den Aufbau von zwischenmenschlichen Beziehungen beschränkt.
Zweitens: Die Ausrichter des Kirchentages haben zum ersten Mal den drei christlichen Organisationen, die sich der Tötung ungeborener Kinder widersetzten (Aktion Lebensrecht für Alle e. V./Fulda, Kooperative Arbeit Leben Ehrfürchtig Bewahren e. V./Chemnitz und Hilfe zum Leben e. V./Pforzheim) die Teilnahme an der Veranstaltung verwehrt. Das obwohl sie in ihrem Aufruf zur Online-Teilnahme am Kirchentag beteuerten, dass dieser eine Gelegenheit zum „offenen Dialog“, zum „Brückenbauen“ und zum „Entdecken von Gemeinsamkeiten“ bieten werde. Danach beklatschten sie, als wäre nichts gewesen, Steinmeiers Bibel-Auslegung, dass die Demokratie ihre Legitimität verliere, wenn größere Teile der Bevölkerung nicht in die öffentlichen Debatten einbezogen würden.
Drittens: Deutsche Medien haben die Teilnahme des Bundespräsidenten an einer religiösen Veranstaltung nicht kritisiert. Dieselben Medien rümpfen oft genug die Nase, wenn polnische Politiker an katholischen Veranstaltungen, z. B. an Debatten in der Journalisten-Hochschule von Radio Maria, teilnehmen oder dem Sender selbst Rede und Antwort stehen. Anders als in Bezug auf Polen kam es niemandem an Rhein und Spree in den Sinn zu behaupten, dass das Verhalten des Bundespräsidenten gegen den Grundsatz der Trennung von Kirche und Staat verstößt. Niemand warf ihm vor, er vermische zwei Aufträge, den politischen und den religiösen, oder biedere sich aus politischem Kalkül der Kirche an.
Viertens: Niemand behelligte Steinmeier, von Christ zu Christ, mit der Frage, wie viel Verwässerung verträgt der christliche Glaube eigentlich, bis er seine Substanz verliert?