29.05.2023. Deutschlands Geld und die Versöhnung

In öffentlichen Debatten über Reparationen, die Deutschland Polen für Kriegsschäden schuldet, wird jenseits der Oder oft das folgende Argument angeführt: Da eine Versöhnung zwischen unseren Nationen stattgefunden hat, ist es nicht angebracht, Ansprüche aus der Vergangenheit zu stellen. Manchmal wird in diesem Zusammenhang sogar der berühmte Brief der polnischen  an die deutschen Bischöfe aus dem Jahr 1965 mit den denkwürdigen Worten „Wir vergeben und bitten um Vergebung“ zitiert. Als  hätte der Episkopat im Namen des polnischen Staates auf Reparationen verzichtet.

Dies ist eine klassische Verwechslung zweier Perspektiven: der moralischen und der rechtlich-politischen, wo symbolische Gesten finanzielle Verpflichtungen angeblich aufheben. Interessanterweise misst die deutsche Politik dieselbe Angelegenheit mit zweierlei Maß, abhängig davon, ob es sich um west- oder osteuropäische Staaten handelt, von Israel ganz zu schweigen.

Es gab einige bedeutende Versöhnungsgesten deutscher und französischer Staatsoberhäupter und Regierungschefs. Erinnern wir an Konrad Adenauers und General de Gaulles Teilnahme an der Versöhnungsmesse in der Kathedrale von Reims im Juli 1962 und an die Umarmung der beiden anlässlich der Unterzeichnung des Élysée-Vertrages im Januar 1963. Viele haben bis heute vor Augen, wie Helmut Kohl und François Mitterrand im September 1984 Hand in Hand auf dem Schlachtfeld von Verdun stehen.

Von Geld war anlässlich dieser symbolträchtigen Zeremonien nie die Rede. Ob Reims oder Verdun, wie selbstverständlich zahlte die Bundesrepublik Reparationen aus dem Ersten Weltkrieg an Frankreich weiter. Die letzte Tranche von 70 Millionen Euro hat die Bundesbank im Jahr 2010 nach Paris überwiesen.

Dass Berlin auch ein anderes Maß anwenden kann, das haben die Tschechen schmerzlich erfahren müssen. Es lohnt sich, daran zu erinnern, denn es kann eine wichtige Lehre für andere sein.

Nach der Samtenen Revolution und dem Sturz des Kommunismus wurde Václav Havel Präsident der Tschechoslowakei und war entschlossen, eine Aussöhnung mit Deutschland herbeizuführen. Das lag zum einen an seiner Überzeugung, dass der Weg in den Westen über Deutschland führte, und zum anderen an der zutiefst moralischen Perspektive, die er der politischen Realität zugrunde legte. Es ist daher nicht verwunderlich, dass er bei seinem ersten Auslandsbesuch am 2. Januar 1990 in Bonn bei einem Treffen mit Bundespräsident Richard von Weizsäcker das Prinzip der kollektiven Verantwortung und die Gewalt verurteilte, die die Sudetendeutschen während der 1945 durchgeführten Vertreibung aus der Tschechoslowakei auf der Grundlage der Beneš-Dekrete erfahren hatten.

Václav Havel verstand seine Worte als eine großzügige Geste des guten Willens, die den Weg zur Versöhnung öffnete. Er wollte durch einen symbolischen Akt, der seiner Meinung nach die historische Gerechtigkeit widerspiegelt, die Hand zur Aussöhnung reichen. Die Deutschen hingegen sahen darin ein Zeichen der Schwäche und einen Beweis für die Legitimität der von ihren Landsleuten erhobenen Ansprüche. Sie zogen politische Konsequenzen aus dem moralischen Akt und begannen, unter Berufung auf Havels Worte, die Rückgabe ihres in der Tschechoslowakei verbliebenen Eigentums zu fordern.

Dabei ignorierten sie völlig die Gründe, warum die Deutschen nach dem Krieg aus dem tschechischen Sudetenland vertrieben wurden. Sie hatten in der Zwischenkriegszeit eine fünfte Kolonne gebildet, die auf Hitlers Befehl zur Liquidierung des tschechoslowakischen Staates wesentlich beitrug. Prag wollte nicht, dass sich eine ähnliche Situation in Zukunft wiederholen würde.

Die deutschen Ansprüche an die Tschechische Republik wurden in den Folgejahren zu einem Zankapfel zwischen den beiden Staaten. Helmut Kohl und Hans-Dietrich Genscher weigerten sich entschieden, den deutsch-tschechischen Nachbarschaftsvertrag zu unterzeichnen, solange dieser eine Bestimmung über die rechtliche Absicherung des Eigentums der Tschechen im ehemaligen Sudetenland nach der Wende enthielt. Die Verhandlungen zogen sich aufgrund der unnachgiebigen Haltung Berlins in die Länge, aber Prag war hartnäckiger und setzte sich schließlich durch. Das Dokument wurde erst 1996 unterzeichnet, während ein ähnlicher Vertrag zwischen Polen und Deutschland bereits 1991 unterschrieben und ratifiziert wurde.

Die Haltung der Deutschen war die größte Enttäuschung Havels in seiner Außenpolitik. Berlin hatte die moralische Geste eines Idealisten und Romantikers auf das Feld der kalten und rücksichtslosen Realpolitik überführt.

Jetzt erleben wir ein ähnliches Verhalten in der Frage der Kriegsreparationen, die Polen geschuldet werden: Der erwähnte Brief der Bischöfe oder die Umarmung zwischen Kohl und Mazowiecki im niederschlesischen Krzyżowa/Kreisau im November 1989 werden auf die finanzielle Dimension reduziert, als ob symbolische Gesten die fälligen Reparationen aufheben würden. Frankreich hatte es da besser.

RdP




24.04.2023. Angela die Ausgezeichnete

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat der ehemaligen Bundeskanzlerin Angela Merkel für außergewöhnliche Verdienste das Großkreuz des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland „in besonderer Ausführung”verliehen. Es ist die höchste deutsche Auszeichnung.

Deutsche Bundespräsidenten erhalten es von Amts wegen, aber in der Nachkriegsgeschichte der Bundesrepublik haben bisher nur zwei Bundeskanzler, Konrad Adenauer und Helmut Kohl, diesen Orden erhalten. Nicht einmal Willy Brandt, immerhin der einzige Friedensnobelpreisträger unter allen deutschen Kaisern, Königen, Staatspräsidenten und Kanzlern, wurde für würdig genug befunden, derart geehrt zu werden.

Anders Angela Merkel. Sie hat Putin in der internationalen Politik und wirtschaftlich stets gestärkt und so letztendlich, wenigstens indirekt, die Saat des Krieges gemehrt. Und nun, nach all der Kritik an Merkels langjähriger Politik, Deutschland in ein Bündnis mit Putins Russland zu drängen, geht der höchste deutsche Orden an die wichtigste Architektin dieses Vorhabens.

Der ehemaligen DDR-Bürgerin wird nachgesagt, dass sie auf ihrem Schreibtisch stets das Porträt einer anderen souveränen ostdeutschen Frau stehen hat, das von Sophie von Anhalt-Zerbst, der späteren russischen Zarin Katharina II., die 1729 in Pommern geboren wurde. Sie hat Russland in ein Imperium verwandelt. Die Tilgung Polens von der Europakarte für 123 Jahre gehört mit zu den „Glanzleistungen” ihrer Politik. Aus dem westlichen Teil Pommerns, ihrem Wahlkreis jenseits der Oder, wurde  Angela Merkel viele Jahre lang in den Bundestag gewählt.

Ihr irritierendes Beharren darauf, dass sie im Grunde alles richtig gemacht hat, wurde mit der nun vorgenommenen Ehrung im Nachhinein geadelt. Musste das unbedingt sein?

Steht der deutsche Bundespräsident etwa in der Schuld von „Mutti“? Steinmeier ist zwar Sozialdemokrat, aber als Außenminister in zwei Merkel-Kabinetten (2005-2009 und 2013-2017) gehörte er zu den engagiertesten Putinverstehern unter den deutschen Spitzenpolitikern überhaupt und setzte Merkels Russland-Politik hartnäckig um. Weder die Annexion der Krim, noch der Krieg im Donbas und die KGB-Morde an russischen Oppositionellen haben ihn eines Besseren belehrt. Die „deutsch-russische Partnerschaft” war durch nichts zu erschüttern.

Im Gegenzug schlug ihn Angela Merkel 2016 als Kandidaten der GroKO für die Wahl zum Bundespräsidenten vor und hievte ihn so in das höchste deutsche Staatsamt. Jetzt bekam sie von ihm die höchste deutsche Auszeichnung, obwohl (oder vielleicht gerade weil?) sie jede Selbstkritik scheut. Steinmeier hat sich zwar nach dem russischen Überfall auf die Ukraine von seiner prorussischen Haltung sanft distanziert, aber so ganz falsch konnte sie ja nicht gewesen sein, wenn ihre wichtigste Verfechterin in solcher Weise geehrt wird. Und das gut ein Jahr nach Beginn der russischen Attacke, als auf der Hand liegt, was Putin angerichtet hat.

Das alles setzt ein bitteres Nachdenken in Gang. Trotz der Beteuerungen, Deutschland habe aus dem Flirt mit Putin gelernt, bleibt die deutsche Politik ein Kontinuum. So wie Merkel die SPD-Politik von Bundeskanzler Gerhard Schröder, ein Bündnis mit dem Kreml aufzubauen, fortgesetzt hat, so ehrt nun Bundespräsident Steinmeier, ein ehemaliger SPD-Politiker und Schröders ehemaliger Staatssekretär, Merkel für die Fortsetzung des Flirts mit dem russischen Bären.

Es fällt schwer, dieses nicht auch als eine Geste in Richtung Kreml zu deuten: Wir sind mit euch, wir schämen uns für nichts, wir haben uns nichts vorzuwerfen und wir freuen uns darauf, mit euch bald wieder ‚Geschäfte as usual‘ zu machen. Und die Politikerin, die das Symbol unserer Allianz mit euch ist, schmücken wir so ehrenvoll, wie wir können.

Im Kreml hat man dieses Signal aus Deutschland ganz gewiss mit Genugtuung registriert. Auch das offizielle Warschau hat es wahrgenommen. Das Vertrauen in die deutsche Politik wird es in Polen nicht stärken.

RdP




Deutsche Jugendämter, polnische Klagen

Und weg ist das Kind.

Im Dezember 2018 veröffentlichte RdP einen umfangreichen, seinerzeit viel gelesenen und kommentierten Beitrag über den Umgang deutscher Jugendämter mit polnischen Kindern und deren Eltern. (Den Link zu diesem Bericht  finden Sie am Ende dieses Beitrags). In den letzten fünf Jahren hat sich an den Verhältnissen, die, wie es sich zeigt, nicht nur in Deutschland lebende Polen betreffen, leider nichts geändert. Deswegen greifen wir das Thema erneut auf.

Gespräch mit Kosma Złotowski, Mitglied des Europäischen Parlaments.

Kosma Złotowski, geboren 1964. Politiker der Partei Recht und Gerechtigkeit. 1990 bis 1994 Journalist. 1994 bis1995 Stadtpräsident von Bydgoszcz/Bromberg, 1997 bis 2001 und 2011 bis 2014 Abgeordneter des Sejm. 2004 bis 2010 Mitglied des Senats (obere Parlamentskammer). Seit 2014 MdEP.

Der Petitionsausschuss des Europäischen Parlaments (PETI) hat im Anschluss an eine Reise nach Deutschland, bei der er die Tätigkeit der Jugendämter unter die Lupe genommen hat, einen Bericht angenommen, den Sie mitverfasst haben.

Seit Jahren erhält der Petitionsausschuss des Europäischen Parlaments Informationen und Gesuche von verzweifelten Eltern, denen die deutschen Jugendämter und Familiengerichte Unrecht angetan haben. Die Zahl und die Gewichtigkeit der Klagen ist so groß, dass beschlossen wurde, eine Mission des PETI-Ausschusses nach Deutschland zu schicken, um die Situation vor Ort zu erkunden und die uns zugegangenen Informationen, zu überprüfen.

Die Mission hatte es leider nicht einfach. Deutsche Behörden, bei denen wir vorgesprochen haben, zeigten sich völlig ahnungslos, behaupteten, sie wüssten nichts von den Entgleisungen der Jugendämter und hätten keine Kenntnis von den Fällen, die wir ihnen vorlegten. Das lähmte von Anfang an unsere Arbeit, weil wir, ohne die Position der deutschen Behörden zu kennen, die in der Kritik stehenden Maßnahmen nicht überprüfen und nicht beurteilen konnten.

Auf der einen Seite sind die Eltern, die uns erschütternde Geschichten erzählten. Sie verglichen die Art und Weise, wie ihnen ihre Kinder weggenommen wurden, mit Entführungen. Kinder, die ohne Bedenken von ihren Eltern hätten erzogen werden können, landeten bei Fremden.  Auf der anderen Seite hatten wir die deutschen Behörden, die uns offensichtlich auf die Schnelle abspeisen wollten, sich offenbar nicht einmal die Mühe gemacht hatten, sich ausreichend auf unsere Gespräche vorzubereiten.

Diskriminieren deutsche Behörden und Gerichte Kinder ausländischer Herkunft und deren Eltern?

Das geht aus allen Beschwerden hervor, die beim Petitionsausschuss des Europäischen Parlaments eingegangen sind. Auch in Polen ist dieses Problem nicht unbekannt. Wir wissen, dass die Familiengerichte in Deutschland sich praktisch in allen Fällen auf die Seite der Jugendämter stellen. Die Eltern haben vor den Gerichten das Nachsehen, vor allem, wenn sie Ausländer sind. Dabei spielt die Nationalität eigentlich keine Rolle. Ob  Rumänen, Polen oder Franzosen, allen werden fast schon obligatorisch die Kinder weggenommen. Wer kein Deutscher ist und Kinder hat, der sollte sich vor den Jugendämtern und Familiengerichten sehr in acht nehmen.

Wie viele Beschwerden gehen bei Ihnen ein?

Das ist kein Thema, das erst in letzter Zeit aufgetaucht ist. Seit gut zwanzig Jahren gehen in jeder Legislaturperiode des Europäischen Parlaments Dutzende, wenn nicht Hunderte von Beschwerden ein. Schon in der letzten Legislaturperiode des EP wurde eine Parlamentariermission nach Deutschland geschickt, um die Situation zu untersuchen. Da sich seither nichts geändert hat, wurde jetzt eine weitere Mission erforderlich.

Wie erklären die Deutschen ihr Vorgehen?

Sie verstecken sich immer hinter den in ihrem Land geltenden Gesetzen. Sie sagen, dass diese nie übertreten werden, und dass die Kindesentnahmen von Gerichten überwacht werden. Rein formell gesehen ist das alles richtig. Nur sind die diesbezüglichen deutschen Gesetze und Vorgehensweisen eindeutig familienfeindlich. Die Praxis weist zudem eindeutig auf eine unterschiedliche Behandlung von rein deutschen gegenüber ausländischen Familien, beziehungsweise solchen mit einem ausländischen Elternteil, hin.

Haben sich die dortigen Beamten wirklich nichts vorzuwerfen?

Nein, denn für sie zählt nur, dass sie sich an das geltende Recht halten, und das erlaubt ihnen oft, sehr willkürlich einzuschreiten. Sie sagen, sie tragen Sorge für das Wohl des Kindes und das sei ja auch der Hauptzweck der Arbeit der Jugendämter. Dieses Kindeswohl ist jedoch so definiert, dass es dem Kind grundsätzlich in einem Waisenhaus oder bei einer Pflegefamilie viel besser geht, als bei seinen Eltern.

Der Begriff des Kindeswohls ist offensichtlich zu weit gefasst. Gibt es Empfehlungen, Hinweise an die Deutschen, ihre Gesetze anders zu fassen?

Im Anschluss an die neueste Mission in Deutschland, hat der Petitionsausschuss einen Bericht zu dem Thema angenommen. Er enthält eine Reihe von Empfehlungen, aber leider fand sich in dem Dokument kein Platz für eine eindeutige Forderung an Deutschland, die natürlichen Rechte der Familie zu achten. Es wurden zwar Forderungsvorschläge zu diesem Thema gemacht, aber es fand sich keine Mehrheit, um sie in den Bericht einzubringen.

Der deutsche Druck hinter den Kulissen war sehr wirksam und hat das verhindert. Generell kann man sagen, dass deutsche Abgeordnete aller Couleur im Europäischen Parlament an vorderster Front stehen, wenn es darum geht, die moralische Keule zu schwingen, Resolutionen gegen andere Länder zu verfassen und zu verabschieden. Wir in Polen, können ein Lied davon singen. Die Abgeordneten halten sich aber strikt an Anweisungen aus Berlin, die sie diskret über die einzelnen Parteischienen erreichen. So muss es auch in diesem Fall gewesen sein. Und die Möglichkeiten mit Versprechungen oder angedeutetem Liebesentzug Mehrheiten aufzubauen, sind angesichts der deutschen Dominanz in Europa groß.

Aus der Sicht des Petitionsausschusses ist also alles in Ordnung. Wir sind hingefahren, wir haben einen Bericht verfasst, der aber Deutschland in dieser Hinsicht nicht wehtut. Und ich bin sicher, dass bald neue Klagen und Beschwerden eingehen werden, in denen weitere schockierende Fälle über die Zerstörung von Familien beschrieben werden. Dann wird es eine weitere PETI-Mission geben, und die Deutschen werden uns wieder sagen, dass sie zu den von uns vorgelegten Fällen nicht Stellung nehmen können, weil sie sich nicht darauf vorbereitet haben und die Fälle nicht kennen. Und der Kreis wird sich wiederum schließen, so wie er sich nach den ersten beiden Missionen geschlossen hat.

Kann das Europäische Parlament in dieser Frage wirklich nichts mehr tun?

Es kann, aber das ist, wie ich gerade geschildert habe, sehr schwierig.  Deshalb sollte jeder, der die Möglichkeit dazu hat, das Thema lautstark ansprechen. Nur ein massiver internationaler Druck kann zu Veränderungen führen.

Seit Jahren berichten Eltern massenhaft, dass die Beamten der Jugendämter ihren Kindern nicht erlauben, in ihrer Muttersprache Kontakt zu den Eltern aufzunehmen. Hat sich in dieser Hinsicht etwas geändert?

Nichts hat sich geändert. Das ist ein weiteres Beispiel für die unerbittliche deutsche Hartnäckigkeit. Das Gesetz garantiert, dass ein Kind mit seinen Eltern in der Sprache sprechen kann, in der es kommunizieren möchte: Rumänisch, Französisch, Polnisch, Ungarisch und so weiter. Hier ist gesetzlich eine vollständige Freiheit gesetzlich garantiert. Andere Bestimmungen im Gesetz besagen jedoch, dass der Beamte, der bei diesem Gespräch verpflichtend anwesend ist, unbedingt den Inhalt kennen  muss. Dadurch sind die Eltern gezwungen, mit ihrem Kind  Deutsch zu sprechen, da das oft die einzige Sprache ist, die der Beamte versteht.

Kommen die Klagen, die Sie erreichen, auch von in Deutschland lebenden Polen?

Nicht nur von ihnen, sondern auch von Deutschen polnischer Herkunft. Auch die Rumänen haben sehr viele Probleme mit den örtlichen Behörden. Des Weiteren gibt es nicht wenige Petitionen von Franzosen. Keine Nationalität ist vor den Aktionen des Jugendamtes sicher.

Wenn es dem Europäischen Parlament nicht gelingt ihnen zu helfen, dann muss es anderswo geschehen. Ich zähle sehr auf die Unterstützung der Medien. Sie konnten den Europäern erschreckende Beispiele für die Wegnahme von Kindern präsentieren.

Könnten Sie einen dieser Fälle schildern?

Es ging um eine rumänische Familie. Ein Kind hatte einen Unfall. Die Mutter brachte es in ein Krankenhaus. Das Krankenhaus stellte aber fest, dass der Unfall ohne die Nachlässigkeit der Eltern nicht passiert wäre. Sofort wurden Mitarbeiter des Jugendamtes hinzugezogen, die die Auffassung der Ärzte teilten.

Die Beamten nahmen die beiden Kinder sofort mit und brachten sie bei zwei Pflegefamilien unter. Sie erklärten, dass die Pflegefamilie, die eines der Kinder aufgenommen hatte, sich bereits um andere Kinder kümmere und nicht in der Lage sei, zwei Kinder aufzunehmen. Das war der Grund, weshalb die Geschwister getrennt wurden. Sie wurden nicht nur aus ihrem Zuhause gerissen, sondern es wurde ihnen auch das Recht verweigert, zusammenzuleben. Das Gericht ignorierte die Erklärungen der Eltern zu den Umständen des Unfalls völlig. Als ob es im Leben nie Situationen gäbe, die sich unserer Kontrolle entziehen. Aus solch scheinbar trivialen Angelegenheiten entstehen Familientragödien.

Lesenswert auch: „Deutsche Jugendämter, polnisches Leid“

RdP

Das Interview erschien in der Tageszeitung „Nasz Dziennik” („Unser Tagblatt”) vom 2. Mai 2023.




18.01.2023. Leo bleibt nicht in Lodz

Es gibt die Logik der Schützengräben und es gibt die Logik der politischen Kabinette. Nur manchmal, für eine gewisse Zeit, gelingt es, sie miteinander in Einklang zu bringen.

Es geschah am 1. März 2022. Wenige Tage nach Beginn des russischen Überfalls auf die Ukraine, hat eine ukrainische Aktivistin den damaligen britischen Premierminister Boris Johnson auf einer Pressekonferenz in Warschau zur Rede gestellt. Sie warf ihm vor, er habe Angst nach Kiew zu fahren, wo Bomben auf ukrainische Kinder fallen. Und die Nato wolle nicht für die Verteidigung der Ukraine kämpfen oder wenigstens ein Flugverbot für den ukrainischen Luftraum verhängen, um den Dritten Weltkrieg nicht herauszufordern.

Die Erwartung, die Nato würde sich auf einen Krieg mit der Atommacht Russland einlassen, galt sogar für die größten Freunde der angegriffenen Ukraine als unzumutbar. Außerdem ereignete sich der Zwischenfall in Warschau bereits einige Wochen vor der Entdeckung der russischen Kriegsverbrechen, die durch Butscha symbolisiert werden. Danach änderte sich im Westen die Einstellung zum Krieg. Boris Johnson reiste als einer der ersten westlichen Politiker nach Kiew, und sein Land wurde zu einem der wichtigsten Verbündeten der Ukraine, auch in Sachen Waffenlieferungen.

Eines hat sich sicherlich nicht geändert: Niemand im Westen, auch nicht Polen, will den Dritten Weltkrieg. Und das ist verständlich. Auch die Errichtung einer Flugverbotszone ist nach wie vor unmöglich.

Ansonsten ist es aber schon zur Regel geworden, dass die öffentliche Meinung den Politikern in der Frage der Waffenlieferungen an die Ukraine stets deutlich voraus ist. Unter ihrem Druck verschiebt sich die Grenze dessen, was den Ukrainern gegeben werden kann, darf und soll. Leider geschieht das viel zu langsam, auch wenn die Angst vor Putins nuklearer Vergeltung mit jeder überschrittenen Schwelle abnimmt.

Nach fast einem Jahr des Krieges ist man bei Panzern aus westlicher Produktion angelangt. Wir in Polen überlegen nur noch, wie wir unsere Leopardpanzer am schnellsten den Ukrainern zukommen lassen können. Derweil grübeln die Deutschen darüber nach, ob sie sie aus eigenen Beständen abgeben und den anderen, so auch uns, erlauben sollen, diese Panzer bereitzustellen. Als Hersteller der Leos hat Deutschland das letzte Wort.

Die Logik des Zauderns prallt wieder einmal mit der Logik der Schützengräben und der in Kälte, Dunkelheit und Ruinen ausharrenden Ukrainer zusammen: „Lasst uns die Angreifer vertreiben und ihnen die Möglichkeit nehmen, Raketen auf unsere Köpfe abzuschießen. So bald wie möglich!“.

Jeder Tag, an dem in Berlin beraten wird, bedeutet weitere tote Soldaten und Zivilisten, mehr Waisen, mehr Menschen, die für ihr Leben traumatisiert sind, und solche, die sich entschließen zu flüchten.

Die Logiken der Kabinette und der Schützengräben können miteinander in Einklang gebracht werden. Was noch im Wege steht, ist der Widerstand des deutschen Bundeskanzlers, der von Polen, Frankreich, Holland, Norwegen, dem Vereinigten Königreich, anderen Verbündeten und deutschen Politikern, auch aus seiner eigenen Regierung, unter Druck gesetzt wird. Am Ende seines schon zum Ritual gewordenen Zauderns wird Olaf Scholz nachgeben müssen.

Doch machen wir uns nichts vor. Dieser Einklang wird von kurzer Dauer sein und es wird so kommen, wie schon oft zuvor. In Anbetracht der Größe des ukrainischen Kriegsschauplatzes werden es zu wenige Panzer sein, und sie werden spät, vielleicht sogar zu spät kommen.

Der Verschleiß an Waffen und Munition ist auf der ukrainischen Seite gewaltig. Um den Sieg davontragen zu können, werden uns die Ukrainer schon bald um Kampfhubschrauber und Flugzeuge, um noch weiter reichende Kanonen und Raketenabschussvorrichtungen, womöglich gar um Kriegsschiffe bitten. So gesehen, blickt das deutsche Zaudern, Schwanken und Innehalten in eine große Zukunft.

RdP




30.12.2022. Polnischer Warnruf auf deutschen Irrwegen

Mut stand 2022 sehr hoch im Kurs. Gefragt waren in diesem vom Krieg geprägten „annus horribilis“ beherzte Politiker, Soldaten und Helfer, aber nicht nur. Am Jahresende sei hier an einen weitgehend verschwiegenen Akt christlichen Mutes erinnert und zwar an den Brief, den der Vorsitzende der polnischen Bischofskonferenz, Erzbischof Stanisław Gądecki (fonetisch: Gondetski) im Februar 2022 „Aus brüderlicher Sorge“ an den Vorsitzenden der Deutschen Bischofskonferenz, den „Lieben Bruder im Bischofsamt“, Georg Bätzing, gerichtet hat.

Was Erzbischof Gądecki schrieb erforderte Mut, weil es sich eindeutig gegen den vorherrschenden Zeitgeist richtet. Wer seine Treue zum Evangelium mit einer solchen Deutlichkeit öffentlich bekundet, der setzt sich unweigerlich tausendfach wiederholten Vorwürfen und Schmähungen aus, er sei frauenfeindlich, homophob u.s.w. „In der modernen Welt wird Gleichheit oft missverstanden und mit Uniformität gleichgesetzt. Jeder Unterschied wird als ein Zeichen von Diskriminierung behandelt“, stellt Erzbischof Gądecki dazu fest.

Dem Briefautor ging es um den sogenannten Synodalen Weg, auf den sich, dem Zeitgeist huldigend, die katholische Kirche in Deutschland auf der Suche nach Erneuerung begeben hat. Die Verwirklichung der Reformpläne käme einer so weitgehenden Abkehr von der katholischen Lehre gleich, dass am Ende eine Kirchenspaltung und der Einzug der deutschen Reformer in das Lager des liberalen Protestantismus stünden.

Dieser Gefahr galt „Die brüderliche Sorge“ des Metropoliten von Poznań. Er gliederte seinen Brief in fünf Teile, von denen jeder eine Warnung vor den Versuchungen enthält, denen nicht nur deutsche Katholiken von heute ausgesetzt sind.

Die erste Versuchung besteht darin, die Fülle der Wahrheit außerhalb des Evangeliums zu suchen. Das widerfährt gerade den deutschen „Reformkatholiken“. So etwas, schreibt Erzbischof Gądecki, ist im Laufe der Geschichte immer wieder geschehen.

Man denke nur an die sogenannte Jefferson-Bibel. Der dritte amerikanische Präsident, hauptsächlicher Verfasser der Unabhängigkeitserklärung und einer der einflussreichsten Staatstheoretiker der Vereinigten Staaten, behauptete, dass die Evangelien Passagen enthielten, die sehr weise und erhaben seien, und sicherlich direkt von Jesus stammen, aber auch törichte und triviale Stellen, die, so gesehen, von ungebildeten Aposteln stammen müssten.

In der Überzeugung, dass er über die Kenntnis verfüge, die einzelnen Aussagen nach diesen Kriterien trennen zu können, beschloss Jefferson, das mit einer Schere zu tun. So schuf er einen „moderneren“ Bibel-Text, der nach seiner Ansicht besser als das Original war. Doch gerade in den nach seiner Auffassung „weniger“ anspruchsvollen Abschnitten der Bibel, die unter die „Jefferson-Schere“ fielen, befand sich das proprium christianum – das, was allein dem Christentum eigen ist.

Die zweite Versuchung äußert sich im Glauben an die Unfehlbarkeit der Wissenschaft. Wer ihr erliegt, konfrontiert die Lehre Jesu ständig mit den neuesten Entwicklungen in der Psychologie und den Sozialwissenschaften. Wenn etwas im Evangelium nicht mit dem aktuellen Wissensstand übereinstimmt, versucht er das Evangelium zu „aktualisieren“, in dem Irrglauben Jesus davor schützen zu müssen, sich in den Augen der Zeitgenossen zu blamieren.

Die Versuchung, sich zu „modernisieren“, betrifft inzwischen insbesondere den Bereich der sexuellen Identität. Dabei wird jedoch vergessen, dass sich der Stand der wissenschaftlichen Erkenntnisse oft ändert, manchmal sogar dramatisch. Man braucht nur die einst durchaus vorherrschenden wissenschaftlichen Theorien wie Rassismus oder Eugenik zu erwähnen.

Die dritte Versuchung ergibt sich daraus, dass die Katholiken von heute, so Erzbischof Gądecki, unter dem enormen Druck der öffentlichen Meinung leben, was bei vielen von ihnen Scham und Minderwertigkeitskomplexe hervorruft. Der Glaube ist heute kein selbstverständlicher Bestandteil des allgemeinen Lebens mehr, sondern wird oft geleugnet, an den Rand gedrängt und lächerlich gemacht. Daraus ergeben sich die Relativierung und das Verbergen der eigenen christlichen Identität und der religiösen Überzeugungen angesichts eines zunehmend glaubensfeindlichen öffentlichen Lebens.

„Getreu der Lehre der Kirche dürfen wir nicht dem Druck der Welt oder den Modellen der gerade vorherrschenden Kultur nachgeben, weil das zur moralischen und geistigen Bestechlichkeit führt. Es gilt die Wiederholung abgedroschener Slogans und Standardforderungen wie die Abschaffung des Zölibats, das Priestertum der Frauen, die Kommunion für wiederverheiratete Geschiedene oder die Segnung von gleichgeschlechtlichen Partnerschaften zu vermeiden. So ist die „Aktualisierung“ der Begriffsbestimmung der Ehe in der EU-Grundrechtecharta lange noch kein Grund, das Evangelium zu verzerren“, schreibt Erzbischof Gądecki.

Die vierte Versuchung besteht darin, das gesellschaftliche Leben zu kopieren. „Ich bin mir bewusst, dass die Kirche in Deutschland kontinuierlich Gläubige verliert und dass die Zahl der Priester von Jahr zu Jahr abnimmt. Die Kirche steht in dieser Hinsicht vor der Gefahr eines korporativen Denkens: »Es gibt einen Personalmangel, wir sollten die Einstellungskriterien senken«. Daher die Forderung, die Verpflichtung zum priesterlichen Zölibat aufzuheben, Frauen ins Priesteramt zu berufen und gleichgeschlechtliche Partnerschaften zu segnen“.

Und schließlich die fünfte Versuchung, sich dem Druck zu beugen. Hierzu stellt der polnische Oberhirte unter anderem fest: „Trotz Empörung, Ächtung und Unpopularität, kann die Katholische Kirche, die der Wahrheit des Evangeliums treu ist und gleichzeitig von der Liebe zu jedem Menschen angetrieben wird, nicht schweigen und diesem falschen Menschenbild zustimmen, geschweige denn es segnen oder fördern.“

Das wohldurchdachte, mit vielen starken Argumenten versehene Schreiben von Erzbischof Gądecki, das hier nur fragmentarisch wiedergegeben werden konnte, hat in Deutschland keine Diskussion ausgelöst. Nur einige kurze Notizen in kircheninternen Zeitschriften waren ihm gewidmet. Im Grunde wurde es totgeschwiegen.

Darüber hinaus wiesen deutsche Bischöfe, die am Veränderungsprozess am aktivsten beteiligt sind (Bischof Bätzing ist einer von ihnen), mit einem Eifer, der einer besseren Sache würdig ist, darauf hin, dass Erzbischof Gądecki den Brief nur in seinem eigenen Namen und nicht im Namen des polnischen Episkopats geschrieben habe.

Das ist richtig, aber es ändert nichts an der Tatsache, dass der Brief den Kern des Problems trifft. Er umschreibt sehr präzise die Versuchungen, denen die Katholiken in Deutschland ausgesetzt sind und die Situation in vielen anderen Ländern, darunter, leider, teilweise auch die Lage der Kirche in Polen.

Ist Erzbischof Stanisław Gądecki ein einsamer Rufer in der Wüste? Zum Glück noch nicht, und außerdem, wie man sieht, wer dem Evangelium vertraut, hat nicht auf Sand gebaut.

RdP




Das Wichtigste aus Polen 3. Oktober bis 24. Dezember 2022

Aleksandra Rybińska und Janusz Tycner diskutieren die wichtigsten Ereignisse der letzten Zeit in Polen ♦ Polens Energiesituation: Anlass beunruhigt zu sein gibt es nicht. ♦ Parlamentswahlen im Herbst 2023. Der Vorwahlkampf hat begonnen. Kommt es zu einem Machtwechsel? Trends, Prognosen, Aussichten ♦ Deutscher Führungsanspruch versus deutsches Versagen. Warum  eigentlich soll sich Polen von Deutschland führen lassen?




19.11.2022. KoKoPol. Die Vernunft bezwingt Deutschland

Eine Schwalbe macht bekanntlich noch keinen Sommer. Dennoch sollte man einen Lichtblick in dem seit einigen Jahren ansonsten ausgesprochen getrübten deutsch-polnischen Verhältnis nicht unerwähnt erlöschen lassen. Wie aus Berlin zu erfahren ist, soll es zum ersten Mal staatliches Geld für die Errichtung und den Betrieb eines Kompetenz- und Koordinierungszentrums für die Polnische Sprache (KoKoPol) auf Bundesebene in Deutschland geben. Das jedenfalls sieht der Entwurf des Bundeshaushalts vor, über den der Bundestag Ende November 2022 abstimmen soll.

Damit dürfte ein Konflikt beigelegt werden, der über dreißig Jahre hinweg anschwoll und sich vor knapp einem Jahr deutlich verschärfte. Damals hat die nationalkonservative Regierungsmehrheit die jährliche staatliche Subvention für den muttersprachlichen Unterricht an den Schulen der deutschen Minderheit in Polen, in den Woiwodschaften Opole/Oppeln und Śląsk/(Ober)Schlesien, um umgerechnet knapp 9 Millionen Euro gekürzt. Die Summe verringerte sich dementsprechend auf umgerechnet ca. 42,5 Millionen Euro und die etwa 50.000 Schüler erhalten nun, statt bisher drei, nur noch eine Stunde Deutschunterricht pro Woche.

Die erste Reaktion Berlins war helle Empörung. Der Bund der Vertriebenen protestierte, einige deutsche Politiker meldeten sich in dramatischem Ton zu Wort und schließlich verurteilte sogar der Europarat die Entscheidung der polnischen Behörden. Doch nach einiger Zeit hat diese Entscheidung endlich den von Polen erhofften Wandel in der Berliner Politik ausgelöst.

In dem 1991 unterzeichneten polnisch-deutschen Vertrag über gute Nachbarschaft und freundschaftliche Zusammenarbeit verpflichteten sich beide Staaten u. a. dazu, „sich zu bemühen, die ethnische, kulturelle, sprachliche und religiöse Identität der Angehörigen der deutschen Minderheit in Polen (…) und der Personen in der Bundesrepublik Deutschland, die polnischer Abstammung sind (…), auf ihrem Hoheitsgebiet zu schützen und (…) entsprechende Möglichkeiten für den Unterricht ihrer Muttersprache oder in ihrer Muttersprache in öffentlichen Bildungseinrichtungen (…) zu gewährleisten.“

Seither wurden in Warschau Jahr für Jahr wachsende Summen für den muttersprachlichen Deutschunterricht in den Minderheitenschulen automatisch im Staatshaushalt bewilligt. Auf der deutschen Seite gab es jedoch von Anfang an Probleme.

Zwar unterzeichnete Polen den Vertrag von 1991 gemeinsam mit der deutschen Bundesregierung, die aber erklärte sich jahrzehntelang für nicht zuständig und verwies auf die Bildungshoheit der Bundesländer.

Bildlich gesprochen wäre es Berlin am liebsten gewesen, wenn der polnische Botschafter die sechzehn Bundesländer abgeklappert hätte, um dort immer wieder von Neuem wegen einer Verpflichtung, die die deutsche Zentralregierung eingegangen ist, zu   antichambrieren. In jedem Bundesland sollten zudem die dort lebenden Polen zusehen, wie sie die Behörden dazu bringen können, Polnisch als Muttersprache unterrichten zu lassen. Überall wurde natürlich Wohlwollen bekundet, doch bekanntlich gilt: „Herrengunst und Lerchensang klinget wohl und währt nicht lang“.

In manchen Bundesländern, wie in Brandenburg, war die „Herrengunst“ von Dauer und der Polnischunterricht an den dortigen Schulen kann sich sehen lassen. In vielen anderen nicht. Vor Ort wurde blockiert und wer in Berlin intervenierte, wurde wegen „Nichtzuständigkeit“ abgewiesen. Die deutschen Behörden haben dieses Katz-und-Maus-Spiel perfekt einstudiert und es funktionierte auch jahrzehntelang bestens. Deutschlandhörige Regierungen in Warschau, wie die des Postkommunisten Leszek Miller oder des Angela-Merkel-Zöglings Donald Tusk, und die von ihnen nach Berlin entsandten Botschafter haben das brav hingenommen. Auch die Nationalkonservativen warteten sechs Jahre lang, bis, wie man in Polen sagt, „die Sense den Stein traf“ und Warschau endlich die Reißleine zog.

Druck, wie man sieht, macht Sinn. Nicht polnische Minister und Botschafter, sondern der Bund soll die von ihm im Namen Deutschlands eingegangenen Verpflichtungen im eigenen Land durchsetzen, und der Vertragspartner Polen soll eine zentrale Kontaktbehörde bekommen, bei der er vorsprechen kann. Die gestrichenen neun Millionen Euro werden in diesem Fall, so das Versprechen Warschaus, wieder bewilligt.

Eine solche Entwicklung bahnt sich an und es ist zu hoffen, dass sie so umgesetzt wird. Wenn ja, dann hat nicht Polen, sondern die Vernunft den Sieg davongetragen.

RdP




15.10.2022. Polen aushungern, Deutschland erlösen

Am 16. Oktober 2022 jährt sich die Ermordung der Enthüllungsjournalistin Daphne Caruana Galizia auf Malta zum fünften Mal. Das Europäische Parlament widmete diesem Mord bisher nur eine Debatte. Eine zweite soll in diesen Tagen, am Jahrestag des Todes von Galizia, stattfinden. In einem anderen EU-Land, der Slowakei, wurden im Februar 2018 der Enthüllungsjournalist Jan Kuciak und seine Verlobte ermordet. Auch diese Tat war dem Europaparlament nur eine einzige Debatte wert.

Derweil widmete sich dieselbe Institution zwischen Januar 2016 und Dezember 2021 in 27 Debatten Polen. Hinzu kommen unzählige Ausschusssitzungen. Im Durchschnitt also wurde Polen in dieser Zeit alle zwölf Wochen von der linken Mehrheit im EP-Plenum durch Resolutionen an den Pranger gestellt. Länder, in denen politische Morde begangen werden, wurden dagegen mit Einzeldebatten „bestraft“.

Und da ist da noch Bulgarien, das seit seinem EU-Beitritt vor 15 Jahren die Liste der Länder mit der höchsten Korruption und einer gigantischen Verschwendung von EU-Geldern anführt. Zudem handelt es sich um ein Land, das so instabil ist, dass es dort innerhalb von eineinhalb Jahren bereits vier Parlamentswahlen gab. Und das alles ist lediglich einmal im Jahr, jeweils im Herbst, Thema einer EP-Debatte, die völlig folgenlos bleibt. Von Sanktionen gegen Bulgarien redet niemand.

Für Brüssel ist Polen das Problem schlechthin, und die Folgen sind gravierend. Was auf den ersten Blick wie ein groteskes Paradoxon aussieht, ist in Wirklichkeit die brutale Realität der europäischen Politik.

Und die sieht so aus, dass Russland, das in sein Nachbarland einmarschiert ist und dessen Bevölkerung tötet, und Polen, das riesige Anstrengungen zugunsten der Ukraine unternimmt, von Brüssel mit vergleichbar großen Sanktionen belegt werden. Polen wird die Auszahlung von knapp 36 Milliarden Euro aus dem sogenannten Wiederaufbaufonds verweigert, der im Februar 2021 aufgelegt wurde, um die wirtschaftlichen und sozialen Auswirkungen der COVID-19-Pandemie in den Mitgliedsstaaten einzudämmen und zu mildern. Der Wert der bisher von der EU geschnürten russischen Sanktionspakete beläuft sich in etwa auf dieselbe Summe.

Auch der Mechanismus, mit dem die EU Druck auf Moskau und Warschau ausübt, ist recht ähnlich. Ihre Institutionen wiederholen: Erfüllt unsere Forderungen und wir werden die Sanktionen aufheben. Nur dass es im Falle Russlands darum geht, Aggression und Mord zu stoppen, während es sich im Falle Polens, im Kern, längst nicht mehr um die Justizreform, sondern um die Erzwingung eines Machtwechsels an der Weichsel handelt.

Zudem gibt Brüssel der Opposition bewusst das Wahlargument in die Hand: „Wählt uns, dann kommt das EU-Geld!“

Im Herbst 2023 finden in Polen Parlamentswahlen statt. Die Nichtauszahlung der riesigen Summen aus dem Wiederaufbaufonds kann Ratingagenturen leicht dazu veranlassen, die Kreditwürdigkeit des Landes herabzustufen. Heute befindet sie sich auf dem erfreulichen Niveau „A-“ (stabil). In Zeiten der Hochinflation und Energiekrise könnte eine Herabstufung an den Grundfesten der Wirtschaft rütteln, die Unzufriedenheit schüren und der EU-ergebenen Opposition, angeführt von Brüssels Liebling, dem deutschlandhörigen Donald Tusk, zum Wahlsieg verhelfen.

Das weite Entgegenkommen Warschaus in Sachen Justizreform im Frühjahr 2022, zuerst akzeptiert und gelobt, wurde jedenfalls sehr schnell als „unzureichend“ abgelehnt. Neue Forderungen kamen hinzu, deren Erfüllung das polnische Justizwesen vollends ins Chaos stürzen würde. So sollten die vor der Reform ernannten Richter in zweiter Instanz Urteile von Richtern, die nach der Reform berufen wurden (und derer gibt es inzwischen etwa eintausend), nur aufgrund ihres Ernennungsdatums aufheben dürfen. Letztere seien „keine Richter“. Das wäre ein Zustand, in dem sich niemand in Polen mehr eines Gerichtsurteils sicher sein kann.

Die Forderung ist so gefährlich und zugleich absurd, dass sich Brüssel und Berlin gewiss sein können, dass die jetzige polnische Regierung sie auf keinen Fall akzeptieren kann. Und darum geht es auch. Das verspricht eine langwierige Pattsituation und die provokative Verhängung immer höherer Geldstrafen gegen Polen, deren Summe jetzt bereits 250 Millionen Euro übersteigt und sich immer weiter erhöht. Der Sanktionsdruck soll bis zu den polnischen Wahlen im nächsten Herbst wachsen. Nicht von ungefähr sprach die SPD-EU-Politikerin Katharina Barley vom „Aushungern“ Polens, während „Der Spiegel“ zum „Daumenschrauben anlegen“ riet.

Vor allem für Berlin, das hinter den Kulissen diese Vorhaben anregt und steuert, steht viel auf dem Spiel. Endlich, nach acht Jahren, eine ungehorsame und undankbare osteuropäische Regierung loszuwerden, die sich vehement der von Olaf Scholz geforderten „Führungsrolle“ Deutschlands in der EU widersetzt. Die kein zentralisiertes Europa, sondern ein Europa der Nationalstaaten will. Die Reparationen von Deutschland fordert. Die durch die Zusammenarbeit der ostmitteleuropäischen Staaten ein Gegengewicht zu Deutschland aufbauen möchte. Die, die, die…

Während im Falle der russischen Sanktionen Krieg, Tod und Zerstörung auf dem Spiel stehen, geht es bei den polnischen Sanktionen um nackte Macht.

RdP




8.10.2022. L’Europe au menu allemand. Berlin diniert à la carte

Seit einiger Zeit genehmigt die Europäische Kommission am laufenden Band nationale Hilfsprogramme, die Unternehmen und Bürgern bei der Bewältigung der Auswirkungen der Corona-Pandemie und der Energiekrise helfen sollen. Diese für Brüssel unüblich unbürokratische Vorgehensweise ist erfreulich, wäre da nicht das gigantische Ungleichgwicht zugunsten Deutschlands, das den Europäischen Binnenmarkt zu sprengen droht.

Nach Artikel 107 des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union, darf die Europäische Kommission staatliche Beihilfen genehmigen. Sie sind mit dem gemeinsamen Binnenmarkt vereinbar, wenn sie zur Beseitigung von Schäden dienen, die durch Naturkatastrophen oder sonstige außergewöhnliche Ereignisse in den Mitgliedsstaaten entstanden sind. Es handelt sich um Lohnkostenzuschüsse, die Aussetzung von Steuern bzw. Sozialversicherungsbeiträgen oder direkte Beihilfen für Firmen und Verbraucher.

So erreichte Warschau in diesen Tagen die freudige Nachricht, dass Brüssel einen großen Teil des Finanzschirms in Höhe von umgerechnet gut 15 Milliarden Euro bewilligt hat, mit denen die polnischen Behörden Kleinst-, Klein- und mittleren Unternehmen in der Pandemie unter die Arme gegriffen haben. Auf die Freigabe aus Brüssel wartet noch der Teil für Großunternehmen mit mehr als 249 Beschäftigten.

Alles in allem hat Polen in Brüssel drei große nationale Hilfsprogramme zur Akzeptanz vorgelegt. Sie belaufen sich insgesamt auf umgerechnet gut 67 Milliarden Euro. Das macht in etwa 12 Prozent des polnischen Bruttoinlandproduktes (BIP) aus.

Das ist für polnische Verhältnisse sehr viel, aber geradezu ein Klacks im Vergleich zu dem was Deutschland auffährt. Die bisher genehmigten staatlichen deutschen Corona- und Energiebeihilfen belaufen sich auf 990 Milliarden Euro (28 Prozent des BIP). Jetzt soll noch ein weiterer deutscher 200-Milliarden-Schutzschirm für Verbraucher und Firmen, „Doppel-Wumms“ genannt, hinzukommen.

Zum Vergleich: In Frankreich belaufen sich die von der EU genehmigten staatlichen Beihilfen auf 319 Milliarden Euro (13 Prozent des BIP), in Italien auf 204 MIliarden Euro (11,5 Prozent des BIP), in Belgien auf 53 Milliarden Euro (10,5 Prozent des BIP,) in Österreich auf 24 Milliarden Euro (6 Prozent des BIP) und in Spanien ebenfalls auf 24 Milliarden Euro (2 Prozent des BIP).

Das zeigt, was sich die einzelnen Mitgliedstaaten, je nach ihrer finanziellen Leistungsfähigkeit und dem Spielraum für eine Erhöhung der Staatsverschuldung im Verhältnis zum Bruttoinlandsprodukt, leisten können und wollen.

Schon jetzt macht das deutsche Paket 50 Prozent aller von der Kommission genehmigten EU-Beihilfen aus, das französische Paket 19 Prozent, das italienische Paket 12 Prozent, das polnische 4 Prozent, das belgische 3 Prozent und die übrigen Pakete belaufen sich jeweils auf nicht mehr als 1,5 Prozent.

Wenn die Kommission bereits jetzt so große Unterschiede in der Höhe der von den einzelnen Mitgliedsstaaten gewährten staatlichen Beihilfen zulässt, stellt sich die Frage, wie es dann mit dem Europäischen Binnenmarkt weitergeht, auf dem die so großzügig geförderten deutschen Unternehmen mit denjenigen konkurrieren werden, die sehr viel weniger oder überhaupt keine staatliche Unterstützung erhalten haben.

Das reiche Deutschland versucht seine Haushalte und Firmen vor den steigenden Energiepreisen zu schützen, offensichtlich ohne sich darum zu scheren, dass staatliche Beihilfen in solch riesigem Umfang gegen die Wettbewerbsbedingungen im gemeinsamen Markt der EU verstoßen. Wie ist das möglich?

Ganz einfach. Ebenso diskret wie wirksam macht Deutschland seinen gewaltigen Einfluss in Brüssel geltend, um sich die eigene Vorgehensweise als „europäisch“ absegnen zu lassen. Derweil geben sich die deutsche Politik und die deutschen Medien nach Außen überrascht und ahnungslos. Kritik wird generell als „Neid“ abgetan und wenn sie aus Warschau kommt, ist das, wieder einmal, nur „nationalistische antideutsche Propaganda“.

Die Berliner Parole des Tages lautet: „Rette sich wer kann“. Solidarität als europäische Tugend ist dieses Mal nicht gefragt. In der Stunde der Not ist das deutsche Hemd viel näher als die üblicherweise so gern zur Schau getragene europäische Tracht. Ein gemeinsames Europa? Gerne, aber bitte nur à la carte.

RdP




12.09.2022. EU-Reform. Mehrheitsentscheidungen. Scholzes falsche Lehren

Der deutsche Bundeskanzler wünscht sich noch mehr Mehrheitsentscheidungen in der EU und beschwört damit Geister herauf, die eines Tages deren Untergang besiegeln könnten.

Als eine der Lehren, die aus dem Ukrainekrieg zu ziehen seien, so Scholz in einer Grundsatzrede in Prag am 29. August 2022, gelte es, die Einstimmigkeit in der EU, allen voran in der Außenpolitik, abzuschaffen. Die EU erweist sich nicht nur in seinen Augen umso stärker, je mehr Macht die nationalen Regierungen an die Brüsseler Institutionen abgeben. Dass dort vor allem Berlin in allererster Reihe die Register zieht, wird von den selbstlosen deutschen EU-Enthusiasten dabei gerne unterschlagen.

Im EU-Ministerrat, um den es hier geht, werden schon seit Jahren in vielen Politikfeldern Entscheidungen mit Stimmenmehrheiten getroffen, vor allem wenn es um den Außenhandel oder die Agrarpolitik handelt, wo die meisten Zuständigkeiten ohnehin in Brüssel liegen. Das geschieht entweder mit einfacher (14 Mitgliedsstaaten stimmen mit Ja) oder mit qualifizierter Mehrheit (55 Prozent der EU-Länder, die mindestens 65 Prozent der EU-Bevölkerung vertreten, geben ihre Zustimmung).

In der viel beschworenen „Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik“, wie sie amtlich heißt, hat Brüssel hingegen nicht viel zu vermelden. Die wichtigsten Instrumente halten weiterhin die Mitgliedsstaaten. Es gibt zwar einen Auswärtigen Dienst der EU, aber der kann nicht einmal Visa ausstellen. Und eine europäische Armee existiert schon gar nicht.

Anders als Scholz es darstellt, ist das kein überkommenes Festhalten an nationalem Eigensinn, sondern eine vernünftige Regelung. Auf keinem Politikfeld ist der Einsatz so hoch wie in der Außenpolitik. Letztendlich geht es um Krieg und Frieden, wie gerade wieder in der Ukraine zu beobachten ist. Die Vorstellung, man könne die Regierung eines oder mehrerer Mitgliedsländer bei Fragen von solcher Tragweite einfach überstimmen, ist befremdlich. Die Folgen eines solchen EU-Beschlusses müssen alle tragen.

Das gilt auch für die Sanktionspolitik, die Scholz im ersten Schritt in eine Mehrheitsentscheidung überführen möchte. Wenn die EU zum Beispiel mehrheitlich für die Einstellung des Handels mit einem Drittstaat stimmen sollte, dann müssten auch die Mitgliedsstaaten ihre Geschäftstätigkeit beenden, die dagegen waren. Eine Vergeltung träfe wiederum alle 27 EU-Länder. In einem gar nicht mehr so undenkbaren Szenario ist es vorstellbar, dass ein Land wie Russland auf europäische Sanktionen militärisch reagiert. Kann die EU solche Risiken wirklich eingehen, ohne dass alle Regierungen zugestimmt haben? Und wo soll das enden? Sollen eines Tages auch Militäreinsätze per Mehrheit beschlossen werden? In der NATO gibt es das aus gutem Grund nicht.

Was in solch zugespitzten Lagen passieren kann, kennt man aus der Innen- und Justizpolitik der EU. Dort gibt es keine Einstimmigkeit mehr. Im Jahr 2015 beschloss der Ministerrat mit Mehrheit, Flüchtlinge in der gesamten EU zu verteilen. Obwohl es sich um einen rechtskräftigen Beschluss handelte, weigerten sich mehrere osteuropäische Staaten erfolgreich, ihn umzusetzen, weil er bei ihnen innenpolitisch nicht durchsetzbar war. Auch in der Außenpolitik wäre das, bei starken Auffassungsunterschieden im Rat, eine wahrscheinliche Folge. Und der Schaden wäre sicherlich größer als der bei den manchmal unbefriedigenden Kompromissen, die heute in Brüssel eingegangen werden müssen.

Da die Einwohnerzahl berücksichtigt wird, begünstigen die Mehrheitsregeln im Rat die Großen. Scholz (und Macron) geht es letztlich darum, kleineren EU-Ländern das Vetorecht zu nehmen. Der deutsche Kanzler begründet seinen Vorschlag ausdrücklich mit künftigen Erweiterungen in Richtung Süden und Osten (Balkan sowie Ukraine), auch wenn niemand weiß, ob diese in absehbarer Zeit stattfinden werden.

Das ist genau die falsche Lehre, die aus den vielen politischen Fehlentscheidungen, die in Europa vor dem Krieg gefallen sind, gezogen wird. Es lag nicht an den Abstimmungsregeln, dass die Brüsseler Institutionen Putins Überfälle (Georgien, Krim, Donbass) immer wieder hingenommen haben und dass vor allem Westeuropa in eine verhängnisvolle Abhängigkeit von russischem Gas geraten ist. Es lag daran, dass Deutschland seine vermeintlichen Wirtschaftsinteressen mit harter Hand, gegen den Willen vor allem der östlichen EU-Mitglieder durchgesetzt hat.

Der Rückschluss daraus darf nicht sein, dass Deutschland, unterstützt von seinen treuen Satelliten (Frankreich, die Benelux-Länder, Österreich u. e. a. m.) diese Staaten künftig nach Lust und Laune überstimmen kann, sondern dass man deren Argumente ernst nimmt und ihre Belange berücksichtigt, so schwer das oft fallen mag.

Ein Konsens, der auf dem kleinsten gemeinsamen Nenner beruht, bringt die EU allemal weiter als der große Dissens in Folge von Kampfabstimmungen, nach denen die Überstimmten rebellieren. Deutschland muss nicht nur so tun als ob, sondern tatsächlich einvernehmlicher werden im Umgang mit Osteuropa. Es ist ernüchternd zu sehen, dass das nach siebzig Jahren „europäischer Einigung“ immer noch keine Selbstverständlichkeit ist.

RdP




21.08.2022. Russen, EU, deutsche Willkommenskultur à rebours

Als Monogenese bezeichnet man eine ungeschlechtliche Vermehrung, bei der die Nachkommen als identische Kopien der Vorfahren entstehen. Laut Bundeskanzler Olaf Scholz hat sich Wladimir Putin diese Fortpflanzungsmethode im gigantischen Ausmaß zu eigen gemacht. Zehntausende von Putins rauben, morden, stürmen und sterben seitdem in der Ukraine. Es ist ja, so Scholz, „ein Krieg Putins und nicht des russischen Volkes“. Folglich gibt es keinen Grund, den Russen die Freude am Bummeln durch das Berliner KaDeWe und am Geldverprassen an den Spieltischen von Baden-Baden zu verderben.

Deutschland ist dagegen, russischen Touristen fortan keine (Schengen) Einreise-Visa in die EU auszustellen. Angesichts der Tatsache, dass in Russland bisher größere Proteste gegen den Krieg ausgeblieben sind und man die spontane Unterstützung für die Aggression auf Schritt und Tritt erleben kann, ist die Behauptung von „Putins Krieg“ mehr als gewagt.

Das zweite deutsche Argument, man wolle Dissidenten und Fluchtwilligen die Ausreise nicht erschweren, wirkt überdies mehr als gekünstelt. Niemand schlägt vor, das Asylrecht ausgerechnet für Russen außer Kraft zu setzen. Wer an der Außengrenze der EU um Asyl bittet, hat ein Recht auf Einreise; dazu braucht er kein Touristenvisum.

Nach dem Eiertanz um Waffenlieferungen, geplatzen Ringtauschen, dem Veto Berlins Warenlieferungen von Russland in die Enklave Kaliningrad über EU-Gebiet (Litauen) zu unterbinden, lässt die deutsche Politik wieder einmal Umsicht im Umgang mit dem Aggressor walten. Argumente, wie das des ukrainischen Außenministers Dmytro Kuleba, lässt sie nicht gelten. „Die Russen unterstützen mit überwältigender Mehrheit den Krieg gegen die Ukraine. Ihnen muss das Recht genommen werden, internationale Grenzen zu überschreiten, bis sie lernen, sie zu achten.“

Seitdem die Luftverbindungen zwischen Europa und Russland im Rahmen der Sanktionen größtenteils gekappt sind, führt der Weg nach Westen für russische Reisende größtenteils über die Landgrenzen Russlands zur EU, also über Finnland, Lettland oder Estland. Es sind nur in den allerwenigsten Fällen Menschen, die Probleme mit Putin haben. Sie kommen, um sich mit Waren einzudecken, die sie aufgrund westlicher Boykottmaßnahmen in Russland nicht mehr kaufen können.

Die betroffenen Staaten wollen das nicht länger hinnehmen. Estland stellt vom 18. August an keine Schengen-Visa für russische Staatsbürger mehr aus. Lettland und Litauen wollen sich anschließen. Finnland kündigte an, die Zahl seiner Touristenvisa für Russen auf zehn Prozent zu drosseln.

Russen jedoch, die an der estnischen Grenze das Schengen-Visum (Gebühr 35 Euro) eines anderen EU-Landes vorweisen, etwa ein von Deutschland ausgestelltes, dürfen nicht abgewiesen werden. Darum drängen die Staaten mit einer Landgrenze zu Russland, unterstützt von Polen und Dänemark, auf europäische Solidarität. Sollte es keinen verbindlichen Beschluss europäischer Gremien geben, so die Vorpreschenden, müssten sich so viele einzelne Mitgliedsländer wie möglich dem Boykott anschließen.

Polen hat seine Grenze zur russischen Enklave Kaliningrad bis auf wenige Ausnahmen komplett geschlossen. Zudem gehört das Land zu den wenigen, die seit dem russischen Überfall auf die Ukraine keine Touristenvisa für Russen ausstellen. Trotzdem sind zwischen dem 24. Februar und Mitte August knapp 65.000 russische Staatsbürger nach Polen eingereist. Etwa ein Drittel von ihnen besaß ein nichtpolnisches EU-Schengen-Visum.

Gewiss, eine im Vergleich zur russischen Gesamtbevölkerung sehr kleine Gruppe hat sich in der Vergangenheit Demonstrationen und Protesten gegen Putin angeschlossen oder diese unterstützt und befindet sich seither in einer Art fortwährender innerer Emigration.

Doch die meisten haben ihren Frieden mit einem Regime gemacht, das Ordnung schuf, sie ihre Geschäfte machen ließ, Löhne und Renten pünktlich zahlte und im Gegenzug lediglich politische Enthaltsamkeit verlangte. Diejenigen, die es sich leisten können, frequentieren gern Luxusläden in Berlin, Paris und London oder mondäne Ski- und Badeorte im Westen, den sie gleichzeitig zumeist als naiv, dekadent, käuflich und russlandfremd verachten.

Es liegt auf der Hand, dass es sinnvoll wäre, sie spüren zu lassen, dass die Loyalität zu Putin ihren Preis hat. Erst wenn die Einkaufstour auf der Kö in Düsseldorf oder, weniger fein, in den gut bestückten Supermärkten an der finnisch-russischen Grenze nicht mehr möglich ist, könnte sich bei dem einen oder anderen Putin-Freund die Frage regen, ob der Preis für den Ukraine-Krieg nicht doch zu hoch ist.

In Deutschland sieht man das anders.

RdP




Der Freiherr hatte es schwer. Das Fiasko des deutschen Warschau-Botschafters

Von Loringhoven war der falsche Mann am falschen Ort.

Nach nur achtzehn Monaten musste der deutsche Botschafter in Warschau seinen Posten räumen. Die Abberufung markierte für Arndt Burchard Ludwig Freiherr Freytag von Loringhoven zweifelsohne einen Tiefpunkt in seiner bisher glanzvollen diplomatischen Karriere. Als gäbe es nicht schon genug Probleme in den polnisch-deutschen Beziehungen, wurde auch noch der deutsche Botschafter von Loringhoven zu einem polnisch-deutschen Problem.

Und so müssen dieser Betrachtung unbedingt zwei Fragen vorangestellt werden: Musste das alles wirklich sein? Mussten sich die Verantwortlichen in Berlin darauf versteifen, ausgerechnet den Freiherrn nach Warschau zu entsenden?

Nach sechs Jahren Amtszeit an der Spitze der deutschen Botschaft in Warschau wurde Ende Juni 2020 der ebenso liebenswürdige wie betuliche Rolf Nikel nach Deutschland abberufen. Zum Abschied bekam er noch mit auf den Heimweg von Staatspräsident Andrzej Duda einen polnischen Orden verliehen.

Deutsche Botschaft in Warschau.

Die Neugier darauf, wer Nikel nachfolgen werde, wich bei den offiziellen Warschauer Stellen bald einem wachsenden Unbehagen. Hie und da war sogar von Bestürzung und Empörung die Rede. Die Bekanntgabe der Kandidatur von Loringhovens warf sofort Fragen auf.

Hätte Berlin es gewagt, jemanden mit seiner Familiengeschichte Israel zuzumuten? Gab es in einem Land mit 80 Millionen Einwohnern wirklich niemanden, der keine Verbindung zu Hitlers Krieg hat? Hätte Berlin nicht eine Person benennen können, die Polen und die Polen gut kennt, sich für den Dialog einsetzt? Handelte es sich hier um eine eingefädelte Provokation mit dem Ziel, die ungeliebte Warschauer Regierung und den für seine Abneigung gegenüber Deutschland bekannten Jarosław Kaczyński in eine missliche Lage zu bringen?

Das Problem mit dem Baron

Einiges sprach in den Augen der Warschauer Offiziellen für Letzteres. „Einerseits haben sie tatsächlich einen ihrer besten Leute geschickt, und das sollte zeigen, dass sie Polen ernst nehmen“, konnte man damals, im Hochsommer 2020, in Warschau off the record aus manchem berufenen Munde hören.

Tatsächlich ist von Loringhovens Lebenslauf beeindruckend. Geboren 1956, studierte er Geschichte, Philosophie und Chemie in Deutschland und in Oxford. Im Herbst 2019 beendete er seine Tätigkeit als Beigeordneter Generalsekretär der NATO, wo er für den gesamten Nachrichtendienst des Bündnisses zuständig war. Drei Jahrzehnte lang war er in der deutschen Diplomatie tätig, zweimal in Moskau (u.a. als Leiter der politischen Abteilung) sowie in Paris und Prag, wo er als Botschafter fungierte. Zwischendurch war er von 2007 bis 2010 stellvertretender Chef des deutschen Spionagedienstes BND.

Am Ende seiner Kurzmission in Warschau behauptete von Loringhoven in einem Interview: „Zuvor war ich als Diplomat in drei weiteren Nachbarländern Deutschlands tätig: Frankreich, Belgien und der Tschechischen Republik. Aber nirgendwo habe ich eine ähnliche Allgegenwärtigkeit der Geschichte erlebt.“

Angenommen, was eher unwahrscheinlich klingt, er war sich dieser nicht zu übersehenden polnischen Spezifik nicht bewusst, so war sie denjenigen, die von Loringhoven nach Warschau schickten, auf jeden Fall wohlbekannt. Dennoch machten sie ihn zum Botschafter in Warschau und taten anschließend beleidigt, überrascht und ahnungslos, als die braune Familiengeschichte den Baron (so wird der Titel Freiherr in Polen übersetzt) sofort nach seiner Ernennung einholte. Hier beginnt das „Andererseits“.

Sein Vater, Bernd Freytag von Loringhoven trat 1933 in die Reichswehr ein. Im September 1939 war er Stabsoffizier bei der 1. Panzerdivision, die am Überfall auf Polen teilnahm. Sie beteiligte sich unter anderem am Angriff auf Częstochowa/Tschenstochau. Einheiten der 1. PD ermordeten polnische Zivilisten u. a. in den Dörfern Stobiecko Miejskie, Krzyżanów, Siomki und Cekanów. Anschließend nahmen sie an der Erstürmung Warschaus teil. Für seine Leistungen im „Polen-Feldzug“ bekam Bernd von Loringhoven das Eiserne Kreuz zweiter Klasse verliehen. Ein Jahr später das Kreuz Erster Klasse (für den Überfall auf Frankreich) und 1942 das Deutsche Kreuz in Gold (u. a. für die Schlacht um Stalingrad).

Als Adjutant des Generalstabschefs des Heeres Heinz Guderian und anschließend Hans Krebs, war Major von Loringhoven ab Februar 1945 an den täglichen Lagebesprechungen bei Hitler anwesend. Am Tag vor dem Selbstmord des „Führers“ floh er mit dessen Einverständnis aus dem „Führerbunker“. Deswegen wurde er am Ende seines Lebens immer wieder gebeten, von seinen Erlebnissen in Hitlers Betonbau zu berichten, und war an der Vorbereitung des Films „Der Untergang“ beteiligt.

Der neue Botschafter, sein Vater Bernd, der „Führer“. Bebilderung eines der Berichte über den neuen deutschen Botschafter in den polnischen Medien im Sommer 2020.

Natürlich, so seine Behauptung, wusste er nichts vom deutschen Völkermord. Und glaubt man dem Sohn, so hat der Vater „niemals den Nationalsozialismus unterstützt und war zugleich davon überzeugt, dass es seine Pflicht war, für sein Land zu kämpfen“. Später hat der Vater „natürlich“ den Nationalsozialismus verurteilt. All das tat der neue Botschafter im September 2020 in seinem ersten Presseinterview in Polen, kund. Es war kein guter Einstieg.

Es sollte kein Zurück geben

Man mag es akzeptieren oder ablehnen, aber die Verwurzelung des polnischen Denkens in der Geschichte ist nun einmal eine Tatsache und eine wichtige polnische Eigenart. Es würde sich besonders für die deutsche Diplomatie ziemen, das zu respektieren. Wäre die Ernennung von Loringhovens ausgerechnet nach Warschau, und nicht nach Stockholm oder Antananarivo auf Madagaskar, wo kein Hahn nach seinem Vater krähen würde, nur ein Versehen gewesen, man hätte es noch rechtzeitig sang- und klanglos korrigieren können.

In der diplomatischen Praxis wird es so gehandhabt, dass die Kandidatur des neuen Botschafters dem Empfängerstaat diskret mitgeteilt wird. In 99 Prozent der Fälle weltweit gibt es nach kurzer Zeit ein Okay des Gastgeberlandes und die Kandidatur wird publik gemacht.

Wenn das Land, das den Botschafter aufnehmen soll, innerhalb von drei Monaten nicht antwortet, sollte das Entsendeland die Kandidatur überdenken und der Anwärter von sich aus zurücktreten. Dann muss das Gastland nichts erklären. Schweigen ist eine Verneinung. Alle haben das Gesicht gewahrt.

Berlin muss die Ernennung von Loringhovens so wichtig gewesen sein, dass es sich an diese Regel nicht hielt. Vorgänger Nikel hatte seine Koffer in Warschau noch nicht fertiggepackt, da wurde bereits am 29. Mai 2020 der Name des Nachfolgers von Loringhoven öffentlich gemacht. Nicht direkt vom deutschen Auswärtigen Amt, sondern mittels eines kontrollierten Lecks im Internetportal Onet.pl, das dem deutsch-schweizerischen Konzern Ringier Axel Springer gehört.

Geringschätziger ging es kaum: Warschau sollte Berlins Willen aus den Medien erfahren und offensichtlich vor vollendete Tatsachen gestellt werden. Im ersten Wirrwarr machte zudem die Tatarenmeldung die Runde, der Sohn eines Hitler-Adjutanten soll die Bundesrepublik in Polen vertreten.

Warschau behält die Nerven

Im offiziellen, nationalkonservativen Warschau, das Deutschland ohnehin nicht traut, fühlte man sich in dieser Einstellung voll und ganz bestätigt. Doch was tun?

Die Kandidatur ablehnen konnte man nicht. Die Meinungs- und Interessenunterschiede zwischen Polen und Deutschland sind zwar groß, aber Deutschland ist kein Feindstaat. Und abgesehen von Situationen, die an einen Krieg grenzen, ist es nicht üblich, einem designierten Botschafter öffentlich das Agrément zu verweigern. Tut man das, muss man mit erheblichen Verwerfungen rechnen: Medienkrawall, Einschränkung der offiziellen Kontakte, Megafondiplomatie bestehend aus einem lautstarken Austausch von Vorwürfen, Dementis und Bissigkeiten.

Anders als vielleicht in Berlin gehofft, ließ man sich in Warschau in diese Spirale nicht hineinziehen. Die Antwort auf die deutsche Überrumpelung war, dass man während der gewöhnlicherweise vorgesehenen Frist von maximal drei Monaten die deutsche Seite in der Ungewissheit darüber ließ, ob man von Loringhoven akzeptieren wird oder nicht. Der Kandidat harrte derweil der Dinge in der Botschaft, zutiefst frustriert, wie es hieß, denn ohne das Agrément konnte er nicht seines Amtes walten.

Die ungewöhnliche Verzögerung im Agrément-Verfahren sollte zum Ausdruck bringen, welche Unruhe und Verwerfungen die Ernennung von Loringhovens und die Art, wie sie Warschau unterbreitet wurde, verursacht hatte. Der Botschafter-Anwärter seinerseits gab sich Mühe, Einsicht an den Tag zu legen. Er absolvierte einen ausgedehnten Rundgang durch das Museum des Warschauer Aufstandes und fuhr nach Berlin, um dem dortigen polnischen Pilecki-Institut einen Besuch abzustatten.

Das ersehnte Agrément erhielt von Loringhoven am 31. August 2020. Der 1. September, der Tag des deutschen Überfalls auf Polen vor 81 Jahren, war sein erster offizieller Arbeitstag in Warschau.

Der blockierte Botschafter

Erst hingehalten, dann hingenommen befand sich der Freiherr bei seinem Amtsantritt in einer lähmenden Defensive, die er im Grunde nie verlassen hat.

Die Familiengeschichte ließ sich nicht ausblenden. Immer wieder darauf angesprochen, stand er, was man menschlich gut verstehen kann, zu seinem Vater. Doch mit seinen bereits erwähnten Beteuerungen, dass Wehrmacht-Major von Loringhoven, obwohl er in Hitlers engster Umgebung verkehrte, „niemals den Nationalsozialismus unterstützt hat“, brachte er das polnische Publikum oft in Verlegenheit, manchmal in Rage.

Um zu zeigen, dass er es mit dem Nationalsozialismus genauso hält wie der Vater, widmete sich der Botschafter geradezu hyperaktiv dem Gedenken der Opfer. Glaubt man seinem Twitteraccount, besuchte er im Durchschnitt alle zehn Tage irgendwo in Polen eine Gedenkstätte, ein dem Kriegsgeschehen gewidmetes Museum, legte Kränze und Blumengebinde vor Gedenktafeln und Denkmälern nieder, nahm teil an Feierstunden, hielt Ansprachen und sprach mit Veteranen.

Diese ausgesprochen löbliche Tätigkeit, mit der er vor allem sein familiäres Handicap zu kompensieren suchte, stand im Widerspruch zu seinen ausgesprochen geringen Erfolgen, sich im politischen Warschau als deutscher Botschafter Geltung zu verschaffen.

Die regierenden Nationalkonservativen beschränkten die Kontakte mit ihm auf das protokollarisch korrekte Minimum. Die Art, wie er Warschau aufgedrängt worden war, wirkte nach. Doch noch schwerer wog, dass der Freiherr einen Bundeskanzler in Warschau vertrat, der seinen Drang, ständig mit Putin zu telefonieren, nicht bändigen konnte. Eine Regierung, die der kämpfenden Ukraine große Versprechungen machte, sie aber meistens nicht hielt. Einen friedens-, klima-, öko- und genderbegeisterten Verbündeten, der Polen gegen Putin nicht zur Hilfe kommen würde, mangels Willen und mangels einer funktionierenden Armee. Da gab es mit dem Botschafter nicht viel zu besprechen.

Des Botschafters Stolz. Deutsche Diplomaten auf der Warschauer Schwulenparade 2021.

Frustriert wandte sich von Loringhoven der polnischen „totalen“, wie sie sich selbst nennt, Opposition zu und wurde zunehmend deren Sprachrohr. Dort standen ihm alle Türen offen, dort fand er Trost, Zuspruch und Gehör. Die Politiker, die seit fast acht Jahren erfolglos gegen die Nationalkonservativen ankämpfen, und der ihretwegen ebenso erfolglose deutsche Botschafter verstanden sich auf Anhieb.

Stolz präsentierte der Freiherr auf Twitter Mitarbeiter der Botschaft, die im Mai 2021 in der Warschauer Schwulenparade mitmarschierten, vereint mit allen anderen Teilnehmern unter der gemeinsamen Losung und zudem dem wichtigsten Schlachtruf der totalen Opposition „PiS ficken!“.

Neben Zuspruch Kritik. Einer der vielen kritischen Kommentare auf Twitter: „Wenn der deutsche Botschafter nicht versteht, dass es unangemessen ist, dass deutsche Diplomaten an der Förderung einer Revolution der Sitten in einem benachbarten, kulturell anders gearteten Land teilnehmen, dann ist er entweder ungeeignet für sein Amt oder die Absichten Deutschlands gegenüber Polen sind offen feindlich.“

„Jetzt ist die Opposition komplett!“, lautete der Untertitel in einem Tweet, in dem ein Gruppenbild zu sehen ist mit führenden Politikern der totalen Opposition sowie dem deutschen Botschafter von Loringhoven. Gemacht wurde es, als Tausende von Warschauern Ende März 2022 vor dem Königsschloss auf die Rede des US-Präsidenten Joe Biden warteten.

Wenn der deutsche Botschafter (im Kreis) dabei ist, ist die totale Opposition komplett.

Auch bei seinen Huldigungen für die letzten noch lebenden Veteranen des antideutschen Widerstandes blieb der Freiherr seinen politischen Vorlieben treu. Nicht zufällig war seine wichtigste Ansprechpartnerin in diesem Kreis die hochbetagte Kämpferin im Warschauer Aufstand, Frau Wanda Traczyk-Stawska. Die Dame hat, wie sie sagt, den Deutschen und Deutschland längst vergeben. Niemals vergeben will sie dagegen Jarosław Kaczyński und meidet deswegen keine Gelegenheit, zornige Tiraden an die Adresse des Politikers und seiner Partei öffentlich von sich zu geben.

Nicht mehr zu gebrauchen

Die politischen Kommentare, die er öffentlich von sich gab, waren ein Abbild dessen, was in den Medien der Opposition zu lesen und zu hören war. Kaczyński sei im Grunde ein Verbündeter von Putin. Die Vorbehalte der Nationalkonservativen gegen Deutschland seien völlig unbegründet und dienten nur der Stimmungsmache. Deutsche Investoren, die sich normalerweise um Arbeitslager in China nicht scheren und bis zuletzt in Putins Russland, trotz aller Menschenrechtsverletzungen munter agierten, seien „äußerst besorgt“, so der Freiherr, wegen des Berufungsmodus von Richtern in Polen und erwägten gar, Polen zu verlassen. Man sah, der einst angeblich brillante Analytiker ist inzwischen in die Jahre gekommen und hatte, tief verbittert, nichts außer den sattsam bekannten Anti-PiS-Agit-Prop-Gemeinplätzen zu vermelden.

Menschlich lädiert, beruflich frustriert, vom polnischen Regierungslager isoliert, war der einst mit aller Gewalt der Diplomatie von Berlin forcierte Arndt Burchard Ludwig Freiherr Freytag von Loringhoven als Botschafter in Warschau nicht mehr zu gebrauchen. Wäre dem nicht so, hätte ihm die Berliner Ampel-Regierung die Anstandsfrist von drei Jahren auf seinem dortigen Posten in Warschau gegönnt, auch wenn er zum Nachlass von Angela Merkel gehörte.

Berlin hat mit viel Druck auf Warschau im Sommer 2020 seinen Willen durchgesetzt und einen Sieg errungen. Es sollte ein Pyrrhussieg werden.

RdP