Geflüchtete Ukrainer. Gut für die Wirtschaft
Arbeitsplätze gibt es in Polen genug.
Mehr als zweieinhalb Millionen Ukrainer haben die polnische Grenze auf der Flucht vor dem Krieg überquert. Einige von ihnen wollen in andere Länder weiterreisen, aber der überwiegende Teil wird in Polen bleiben.
Die meisten Flüchtlinge sind Frauen und Kinder. Die Mehrzahl der Männer verteidigt ihre Heimat. Die enorme Herausforderung besteht momentan darin, den Ankommenden zunächst einmal eine sichere Bleibe zu bieten, was dank der großen Solidarität der polnischen Gesellschaft gelingt. Auch die Behörden leisten Außerordentliches. Ohne die Hilfe der Armee und Territorialverteidigung, von Polizei, Feuerwehr, Grenzschutz, Gesundheitsdienst und der Kommunen, wäre eine riesige humanitäre Krise an der polnischen Ostgrenze nicht zu vermeiden.
Die Logistik der Flüchtlingsaufnahme ist eine Herausforderung für das ganze Land. Kurzfristig wurde bereits viel getan, aber der verheerende Krieg kann länger dauern. Es ist daher wichtig, die Flüchtlinge in Arbeit zu bringen, damit sie ihren Lebensunterhalt verdienen können.
Ukrainische Arbeiter in Polen
Schon nach 2014 kamen vor allem Männer aus der Ukraine, um in Polen zu arbeiten. Die Einnahme der Krim durch Russland und der Krieg im Donbass hatten einen wirtschaftlichen Einbruch in der Ukraine verursacht. Zerstörte Industriezentren im Osten des Landes, der blockierte Handel mit Russland, der begrenzte Zufluss ausländischer Investitionen und die von der Inflation angeschlagene Landeswährung Hrywnja trugen zu einem enormen Rückgang der Wirtschaftsleistung in den Jahren 2014 und 2015 bei. Insgesamt betrug der Rückgang in diesem Zeitraum 16,5 Prozent. Die schlechte wirtschaftliche Lage motivierte Millionen von Ukrainern dazu, außerhalb ihres Landes nach Arbeit zu suchen, auch in Polen.
Statistiken belegen, dass die Ukrainer zunächst hauptsächlich einfache körperliche Arbeiten, einschließlich Saisonarbeit, in Polen verrichteten. Doch mit der Zeit kamen immer mehr Facharbeiter und Handwerker hinzu. Man schätzt, dass mittlerweile rund 60 Prozent der Arbeiter in der Bauindustrie aus der Ukraine stammen, mehr als 100.000 waren noch vor Kurzem in Polen als Fahrer tätig. Auch kamen immer mehr junge Leute von jenseits der Ostgrenze zum Studium nach Polen, von denen einige, gut ausgebildet und ausgestattet mit den entsprechenden Sprachkenntnissen, blieben.
Vor Ausbruch des Krieges lebten in Polen rund 550.000 Ukrainer, die hier legal beschäftigt waren und Sozialversicherungsbeiträge zahlten. Geht man davon aus, dass möglicherweise doppelt so viele Menschen keine Beiträge zahlten, also illegal arbeiteten, kommt man auf über 1,5 Millionen Ukrainer, die zum Zeitpunkt des Kriegsausbruchs am 24. Februar 2022 in Polen ihren Unterhalt verdienten. Die meisten von ihnen haben ihre Familien im Osten zurückgelassen. Das wird dadurch belegt, dass rund 60 Prozent der in Polen arbeitenden Ukrainer Geld nach Hause überweisen. Im Durchschnitt waren es mehr als 8.000 Zloty (ca. 1.700 Euro) pro Jahr. In den letzten Jahren beliefen sich die jährlichen Geldtransfers in die Ukraine auf insgesamt mehrere Milliarden Zloty.
Dank der allgemeinen Akzeptanz der Arbeiter aus dem Osten, ihrer guten Landeskenntnisse und der im Laufe der Zeit entstandenen Kontakte, war es für viele von ihnen selbstverständlich, Polen als den Ort zu wählen, an dem sie den Schrecken des Krieges entkommen konnten. Auch spürten sie die unter der polnischen Bevölkerung weitverbreitete Solidarität mit dem ukrainischen Volk, die nach der russischen Aggression gegen ihr Land entstanden war.
Mangel an Arbeitskräften
Die polnische Wirtschaft wächst in einem sehr schnellen Tempo. Die Arbeitslosigkeit ist eine der niedrigsten in Europa, die Unternehmen sind auf der Suche nach Arbeitskräften. Im Februar 2022 wurden täglich mehr als 600.000 Arbeitskräfte in Online-Stellenbörsen gesucht. Da auch anderweitig nach Arbeitskräften gesucht wird, sind die Engpässe auf dem Arbeitsmarkt und der Bedarf an Arbeitskräften noch größer.
Die rasante Entwicklung bestimmter Wirtschaftszweige führt dazu, dass Fahrer, Verkäufer (einschließlich Kassierer), Hotel- und Gaststättenpersonal, Reinigungskräfte oder Produktionsarbeiter gesucht werden. Wichtig ist, dass es Arbeitsplätze sowohl dort gibt, wo eine besondere Ausbildung nicht immer erforderlich ist (Saisonarbeit wie Obstpflücken, Gartenarbeit, Gastronomie, Reinigung), als auch dort, wo qualifizierte Mitarbeiter (z. B. im Verkehrswesen oder auf dem Bau) und Fachleute (z. B. Programmierer oder Ärzte) benötigt werden.
Arbeitsplätze für Frauen
Arbeitsplätze für Flüchtlinge gibt es eigentlich genug, aber die derzeitige Situation ist spezifisch. Die meisten von ihnen sind Frauen mit Kindern. Dies wirft mehrere Probleme auf. Viele Angebote richten sich an Männer, nämlich genau dort, wo ukrainische Arbeitnehmer in den letzten Wochen nach Hause zurückgekehrt sind, um nach ihren Familien zu sehen und ihr Land zu verteidigen. Das ist insbesondere im Baugewerbe oder im Verkehrswesen der Fall. Viele Unternehmen dieser Branchen haben bereits jetzt Probleme mit der termingerechten Einhaltung laufender Aufträge. Schätzungen zufolge haben bereits mehr als 30.000 Fahrer aus der Ukraine Polen verlassen.
Damit Frauen arbeiten können, müssen sie nicht nur ein Dach über dem Kopf haben, sondern sie müssen auch dafür sorgen, dass ihre Kinder in das Schul- und Vorschulsystem einbezogen werden. Das stellt den polnischen Staat und die Kommunen vor eine große Herausforderung. Das Schulwesen ist in der Lage, Zehntausende ukrainischer Kinder und Jugendlicher aufzunehmen. Bei den Kinderkrippen und Kindergärten ist das bei Weitem nicht so.
Nur wenn ihre Kinder versorgt sind, werden Frauen arbeiten. Arbeit gibt es für sie genug. Polnische Lebensmittel-, Bekleidungs- und einige Produktionsunternehmen (z. B. für Hygieneprodukte) haben aufgrund des Konflikts an der Ostgrenze deutlich mehr Aufträge erhalten. Krankenhäuser suchen nach Hilfskräften, Logistikzentren und der Handel nach Verkaufspersonal, sowohl im elektronischen als auch im traditionellen Handel, und auch Reinigungsunternehmen haben einen Mangel an Arbeitskräften. Zudem werden die Fremdenverkehrssaison sowie die Saisonarbeit im Gartenbau und in der Landwirtschaft bald wieder beginnen.
Ein großer Teil der Flüchtlinge sind gut ausgebildete Arbeitnehmer mit viel Berufserfahrung. Leider ist zu erwarten, dass die meisten nicht entsprechend ihrer Qualifikation eingesetzt werden können. Ein großes Hindernis sind die mangelnden Kenntnisse der polnischen Sprache sowie der landesspezifischen Gegebenheiten (z. B. im juristischen Bereich), aber auch die Notwendigkeit, Diplome vorab zu validieren (z. B. bei Ärzten).
Man sollte sich ebenfalls darüber im Klaren sein, dass die meisten offenen Stellen auf dem polnischen Arbeitsmarkt sich im unteren Qualifikationsbereich befinden, ein Phänomen, das bei Massenauswanderung häufig anzutreffen ist. Die Polen kennen es selbst, aus Großbritannien oder Deutschland, wo sie sehr oft unterhalb ihres Bildungsniveaus beschäftigt sind.
Chancen und Gefahren
Arbeitnehmer aus der Ukraine beheben die Engpässe in verschiedenen Branchen der polnischen Wirtschaft. Sie verrichten auch Arbeiten, die die Polen nicht übernehmen wollen. Der Mangel an einheimischen Arbeitskräften tritt vor allem in den Regionen auf, die sich am schnellsten entwickeln, die Ansiedlung zusätzlicher Arbeitskräfte ist erwünscht. Es wird geschätzt, so ein Bericht der Polnischen Nationalbank, dass der Zustrom von Arbeitskräften aus der Ukraine jedes Jahr mit fast 0,5 Prozent zum Wachstum der polnischen Wirtschaft beiträgt.
Viele Ukrainer sind zwar illegal beschäftigt. Ein großer Teil von ihnen (Ende März 2022 waren es knapp 670.000) zahlt jedoch, wie bereits gesagt, Sozialbeiträge und Steuern, die in das polnische Rentensystem und in den Staatshaushalt fließen. Zum Vergleich: Die Gesamtzahl der Ausländer, die Ende März 2022 legal in Polen gearbeitet haben, betrug 932.000.
Es besteht aber auch die Notwendigkeit, mehr Geld aus dem Staatshaushalt für die Finanzierung des Aufenthalts von Flüchtlingen in Polen auszugeben. Menschen, die vor einem brutalen Krieg fliehen, muss geholfen werden. Angesichts einer nationalen Tragödie, wie sie die Ukraine erlebt, treten wirtschaftliche Aspekte normalerweise in den Hintergrund, dennoch muss Polen die Tatsache zur Kenntnis nehmen, dass die Belastung für den Staatshaushalt beträchtlich sein wird.
Die ersten Schätzungen belaufen sich auf über 2,2 Milliarden Euro bis Ende 2022. Unter diesen Umständen kann das bereits ein Jahr lang dauernde Zögern der EU-Kommission, die Polen zustehenden Gelder aus dem „Wiederaufbaufonds“ endlich freizugeben, nur als ein sehr unwürdiges Spiel bezeichnet werden.
Der plötzliche gewaltige Anstieg der Zahl der Menschen aus der Ukraine ist eine Herausforderung für die Regierung und die gesamte Gesellschaft. Er wird einerseits neue Möglichkeiten für die Wirtschaft, aber andererseits auch vorübergehend Probleme schaffen.
Wenn Polens Wirtschaft weiterhin wächst, werden die Flüchtlinge die Lücken auf dem Arbeitsmarkt füllen und nicht etwa polnische Arbeitnehmer verdrängen. Die Geschichte lehrt uns aber auch (man erinnere sich an John Steinbecks Buch „Früchte des Zorns“ über Bauern, die aus den von Dürre heimgesuchten Staaten nach Kalifornien flüchten), dass bei einer wirtschaftlichen Stagnation und einem Wettbewerb um knappe Arbeit, Enthusiasmus und Hilfsbereitschaft sehr schnell in Gleichgültigkeit oder sogar Feindseligkeit gegenüber Flüchtlingen umschlagen können. Auch das muss man stets vor Augen haben.
Lesenswert auch: „Ansturm. Ukrainische Kinder an polnischen Schulen“, „Ukrainer in Polen. Nutzen und Gefahren“.
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