Polens Nationalradikale. Besser nicht verbieten
Zum Stand einer politischen Debatte.
Gewiss, im Falle von ONR („Das Nationalradikale Lager“ – Anm. RdP) handelt es sich um eine radikale Organisation. Bis jetzt jedoch bewegt sie sich im Rahmen der polnischen Rechtsordnung. Ihr Verbot würde einen gefährlichen Präzedenzfall schaffen, der in Zukunft Tür und Tor aufstoβen könnte, zum Entzug der Legalität anderer unbequemer Gruppierungen.
So zu lesen im Wochenmagazin „Sieci“ („Netzwerk“) vom 2. September 2018, das damit seine Stimme in einer Debatte erhebt, die in Polen seit einigen Jahren immer wieder aufflackert: soll man ONR (polnisch Obóz Narodowo-Radykalny) verbieten? Nachfolgend die Übersetzung des Artikels mit geringfügigen Kürzungen.
Zum Jahrestag des Sieges über die Sowjets vor Warschau am 15. August 1920 hat ONR in diesem Jahr, zusammen mit anderen verwandten radikal nationalen Gruppierungen, zu einem offiziell angemeldeten und genehmigten Gedenkmarsch durch Warschau aufgerufen. Die radikale linke Krawallgruppe „Obywatele RP“ („Bürger der Republik Polen“ – Anm. RdP) stellte sich ihnen in den Weg.
Der Geistesgegenwart und der schnellen Reaktion der Polizei war es zu verdanken, dass es keine Ausschreitungen gab. Die Beamten leiteten die Gegner auf zwei Parallelstraβen aneinander vorbei. Sie trafen sich erst auf dem Schlossplatz, wo es der Polizei wiederum gelang sie voneinander fernzuhalten. Die Nationalradikalen grölten zu Füβen der Sigismundsäule die Nationalhymne und andere patriotische Lieder, die linken Krawallmacher brüllten in Sprechchören: „Warschau vom Faschismus frei“, „Es findet sich eine Keule für die Faschistenmäuler“, „Polizisten schützen Faschisten“.
Es war, als würde man an einer Zeitreise in die Dreißigerjahre des letzten Jahrhunderts teilnehmen. Damals gab es in Polen auch viele Zusammenstöβe zwischen radikalen Rechten und radikalen Linken, auch wenn sie bei weitem nicht das deutsche Ausmaβ aus der Weimarer Zeit erreicht haben.
Wie damals, meinen es die Widersacher auch heute todernst. Die einen sind davon überzeugt, sie seien der Vorposten des Polentums im Kampf gegen die jüdisch-bolschewistisch-Brüsseler Bedrohung. Die anderen sehen sich als das letzte Bollwerk im Kampf gegen eine vermeintliche braune Überflutung.
In Polen steht der Faschismus ausgesprochen niedrig im Kurs
Beide sind absolute Randgruppen. In Polen steht der Faschismus ausgesprochen niedrig im Kurs. Deswegen, um die Sprache der Volkswirtschaft zu bemühen, gibt es auch keine Nachfrage nach einem hysterischen Antifaschismus.
Den radikalnationalen Gruppierungen, wie dem ONR oder der Allpolnischen Jugend (Młodzież Wszechpolska – MW), gelingt es nur einmal im Jahr eine Groβveranstaltung auf die Beine zu stellen. Es ist der Unabhängigkeitsmarsch am 11. November in Warschau.
An Polens Nationalfeiertag marschierten 2017 etwa sechzigtausend Menschen mit. Neben den Veranstaltern und den Fuβball-Ultras, die rote bengalische Feuer entzündeten, beteiligten sich Abertausende ganz normale Bürger, oft Familien mit Kleinkindern. Sie trugen an diesem Tag ihr Polnischsein zur Schau, gingen anschlieβend nach Hause und dachten nicht im Entferntesten daran, sich den Nationalradikalen anzuschlieβen oder sie zu wählen.
Bei Wahlen bekommen nationalradikale Gruppierungen in Polen meistens nicht einmal ein Prozent der Stimmen. Ebenso ergeht es ihren Kandidaten bei Präsidentschaftswahlen. Es sind politische Sekten und politische Sektierer, die ganz am Rande der polnischen Gesellschaft ihr Gehabe zur Schau tragen. Anders als von deutschen Medien gesehen, die sich über den Warschauer Unabhängigkeitsmarsch 2017 dermaβen aufregten, dass ihnen darüber jedes Gespür für die Verhältnismäβigkeit abhandenkam.
Im Vergleich zu den politisch bedeutungslosen polnischen Nationalradikalen vom ONR und der MW, sind die NPD oder DVU (2011 Fusion beider Parteien – Anm. RdP) geradezu politische Riesen, die im letzten Jahrzehnt immerhin viermal den Sprung in deutsche Landtage geschafft haben.
Interessanterweise schwangen auch Schwarzafrikaner und Vietnamesen, die in Polen leben, in dem Unabhängigkeitsmarsch polnische Fahnen. Zwischenfälle gab es deswegen keine. Jeder kann kommen, Transparente werden nicht kontrolliert, deswegen tauchen auch manchmal Spruchbänder auf, die es besser nicht geben sollte, wie „Für ein weiβes Europa brüderlicher Völker“.
Nicht genügend Beweise und Indizien
Das heiβt nicht, dass die polnischen Nationalradikalen ganz und gar harmlos sind. Es gibt unter ihnen Leute deren Denken und Tun man nicht gutheiβen kann. Das Nationalradikale Lager (ONR) bezieht sich auf eine faschistoide Organisation, die im Vorkriegspolen ihr Unwesen trieb, bis sie 1934 verboten wurde und ihre Anführer hinter Gitter wanderten. Auch heute pflegen ihre Nachfolger die Vorliebe für Uniformen, Armbinden und Fahnen. Doch so unappetitlich es vielen von uns vorkommen mag, das allein reicht nicht aus für ein Verbot.
Jedoch, es geht nicht nur um das Gehabe eines Randgrüppchens der Gesellschaft, sondern auch um die Schädlichkeit ihres Tuns. Wer niedrigen Instinkten wie Rassenhass frönt, und das auch noch kundtut, der schlieβt sich selbst aus der demokratischen Gesellschaft aus. So etwas ist unannehmbar, weil es die Gesellschaft spaltet, die Menschen verfeindet und sollte individuell geahndet werden.
Patriotismus heiβt sich zum eigenen Volk und Staat, zu seiner Geschichte und seinen Errungenschaften offen zu bekennen, ohne andere Staaten und Völker zu erniedrigen. Der Nationalismus hingegen erzielt seine erbauende Wirkung, indem er sich über andere erhebt.
Doch gibt es genügend Beweise und Indizien, um das ONR und ähnliche, noch kleinere Grüppchen, als Faschisten zu bezeichnen, das heiβt als solche, die dem demokratischen Staat gefährlich werden können? Als solche, die rechtswidrig handeln, weil sie ein totalitäres System einführen wollen und einen rassisch, ethnisch und religiös bedingten Hass anpreisen?
Die Antwort ist nicht so einfach. Gewiss, es gibt unter diesen Leuten Antisemiten oder Rassisten, doch das ist nicht die offizielle Ideologie dieser Gruppierungen. Wäre sie das, würden diese Organisationen von Gerichten nicht registriert und somit zugelassen werden. Auβerdem sind ihre Mitglieder sehr erfinderisch, wenn es darum geht mit den verbotenen Ideologien nicht in Verbindung gebracht zu werden.
Sie tragen Uniformen? Das tun sie, doch auch wenn die Uniformen an diejenigen aus den Dreißigerjahren anknüpfen, sind es keine faschistischen Uniformen. Sie tragen Armbinden mit einem Kreuz versehen? Ja, doch es ist kein Hakenkreuz sondern das Keltenkreuz. Nur eines gelang ihnen nicht, und zwar der Öffentlichkeit einzureden, der Hitlergruβ, den manche verwenden, sei in Wirklichkeit der Saluto romano, der römische Gruβ, der auch mit einem ausgestreckten Arm bezeugt wird.
Das Wichtigste jedoch ist, dass sie zumeist keine Gewalt anwenden, auch wenn sie dazu provoziert werden. Erinnern wir an den Gazeta-Wyborcza-Journalisten Jacek Hugo Bader, der sich das Gesicht schwärzte und einige Stunden lang unter Teilnehmern des Warschauer Unabhängigkeitsmarsches am 11. November 2016 herumlief, in der Hoffnung als „Neger“ zusammengeschlagen zu werden. Doch nichts passierte.
Schreckgespenst sehr erwünscht
„Antifaschisten“ haben Mühe stichhaltige Beweise für das faschistische Wesen des Nationalradikalen Lagers ONR und verwandter Organisationen zu erbringen. Anna Tatar von der Vereinigung „Nigdy Więcej“ („Nie wieder“ – Anm. RdP) berichtete in einem Gespräch mit dem linken Sender „Rado Tok FM“, dass ihre Organisation das ONR seit 2001 beobachtet und zählte die Sünden dieser Gruppierung auf: „Sie veranstalten xenophobe Demonstrationen, stören bei den alljährlichen Gleichheitsparaden der Schwulenbewegung verbreiten Hass im Internet, stören Veranstaltungen mit Schwulenaktivisten“.
Es fällt schwer in all diesen Aktivitäten Symptome des Faschismus zu entdecken. Genau das kann man auch den Krawallmachern vom „Komitee zur Verteidigung der Demokratie“ oder den „Bürgern der Republik Polen“ vorwerfen. Sie stören ebenso massiv Veranstaltungen der regierenden Nationalkonservativen, blockieren legale Demonstrationen, verbreiten Hass und Verachtung im Internet.
Anna Tatar stellte in dem Gespräch fest, das ONR sei „eine faschismusnahe Organisation“ und ihre Parole „Polen den Polen“ wird allgemein als „radikal nationalistisch und neofaschistisch“ angesehen. All das dürfte für die Gerichte viel zu wenig sein, um das ONR aus dem Vereinsregister zu streichen und somit ein Verbot auszusprechen.
Die Linke und die heutige polnische Opposition brauchen das Scheckgespenst des angeblich in Polen triumphierenden Faschismus. In Polen jedoch muss ein Häuflein von Idioten sich tief in einem Wald in Schlesien verstecken, weit weg von jeglicher Öffentlichkeit, um Hitlers Geburtstag zu feiern. Sie wurden dabei von einem TV-Sender gefilmt, aber sie wussten auch, jeglicher Versuch so etwas öffentlich zu tun, würde von Passanten und Polizei im Nu verhindert. Verbindungen zum ONR oder zur MW wurden in diesem Fall nicht festgestellt.
Im benachbarten Deutschland derweil sind es 2018 Tausende, die in die sächsische Stadt Ostritz fahren, um ganz offen dem Führer am 20. April zu huldigen.
Es geht hier nicht um Verharmlosung. Es geht nur um die Wahrung von Proportionen.
Polen, Deutschland und die Komplizenschaft
Die Linke in Polen erhebt zusammen mit der 2015 abgewählten Bürgerplattform immer wieder die Forderung das ONR zu verbieten. Dabei werden die Nationalradikalen immer wieder von ihnen, aber auch von den deutschen Medien, in die Nähe der regierenden Partei Recht und Gerechtigkeit gestellt. Ab und an wird beiden gar eine Komplizenschaft unterstellt.
In Wirklichkeit wird in Kaczyńskis Partei nicht mal ein Hauch von Antisemitismus hingenommen. Davon überzeugen konnte sich im Juni 2018 etwa der Parlamentarier Waldemar Bonkowski. Wegen einer antisemitischen Bemerkung auf seinem Twitter-Account wurde er umgehend aus der Partei ausgeschlossen. Für Kaczyński ist der Antisemitismus „eine Krankheit der Seele und des Verstandes, vom Teufel selbst übertragen“. Eine Krankheit, die „entschieden bekämpft werden muss.“
Warum also will die jetzige Regierungspartei das ONR, bei dessen Mitgliedern es an antisemitischen Äuβerungen nicht fehlt, nicht verbieten? Weil sie das ONR letztendlich doch als einen nützlichen, verdeckten politischen Verbündeten erachtet?
Niemand jedoch stellt die Frage, ob denn vielleicht die deutsche Politik und das Justizwesen nur so tun als seien sie gegen die NPD, und in Wirklichkeit stecken sie mit ihr unter einer Decke. Schlieβlich gab es sogar Verbindungen zwischen der NPD und der terroristischen Mordgruppe Nationalsozialistischer Untergrund (NSU). Dennoch ist die NPD, trotz aller Appelle und Verfahren, in Deutschland weiterhin legal.
Am Ende von zwei Verbotsverfahren (2001 bis 2003 und 2013 bis 2017) stellte das deutsche Bundesverfassungsgericht fest, die NPD sei zwar inhaltlich verfassungsfeindlich, angesichts ihrer Bedeutungslosigkeit im politischen Geschehen sei aber kein Verbot der NPD gerechtfertigt.
Umso mehr gilt diese Diagnose in Polen in Bezug auf das ONR (Nationalradikales Lager) und die MW (Allpolnische Jugend). Nicht zufällig vermeidet man in Westeuropa und in den USA so gut es geht Parteiverbote. Stattdessen werden die radikalen Gruppen beobachtet, mit V-Leuten der Staatschutzbehörden durchsetzt, öffentlich geschmäht und boykottiert. Ein Verbot ist stets das letzte Mittel.
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RdP