Bleierne Vergangenheit, flüchtige Moderne

Am 9. Januar 2017 starb Zygmunt Bauman.

In seinem langen Leben hat Zygmunt Bauman einen weiten und kurvigen Gesinnungsweg zurückgelegt. Vom Lobhudler der kommunistischen Ideologie in ihrer menschenfeindlichsten, stalinistischen Ausprägung, zum eifrigen Verfechter der Postmoderne. So wurde aus dem kommunistischen Einpeitscher nach und nach ein beherzter Vordenker der Linken, der die Menschheit an die Hand nahm, um sie durch das verworrene Labyrinth der Jetztzeit zu führen. Kritiker bescheinigten ihm darin eine geradezu chamäleonhafte Geschicktheit.

Er hatte ein bewegtes Leben, wie beinahe alle Europäer aus seiner Generation. Den Zweiten Weltkrieg erlebte Bauman am Anfang kurz als wehrloser Zivilist und gegen Ende als Soldat. Er hatte als Jude das Glück fern abseits des Holocaust überlebt zu haben. Den Stalinismus schlieβlich vollstreckte er acht Jahre lang eifrig und engagiert als dessen Scherge.

Im Jahr 1925 im westpolnischen Poznań/Posen geboren, entstammte Zygmunt einer armen weitgehend polonisierten, jüdischen Händlerfamilie. Er war vierzehn, als Deutschland am 1. September 1939 Polen überfiel. Als am 9. September die Wehrmacht kampflos in Poznań einzog, befanden die Baumans sich bereits auf der Flucht.

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September 1939. Deutsches Flugzeug, polnische Flüchtlingskolonnen.

Mal zu Fuβ auf den verstopften Straβen, die immer wieder von deutschen Tieffliegern bombardiert und beschossen wurden, mal ein Stück des Weges mit der Bahn zurücklegend, gelangten sie nach Ostpolen. Das war kurz nach dem 17. September 1939, dem Tag als die Rote Armee Polen vom Osten her überfallen hatte und schließlich die Hälfte des Landes besetzte.

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Sowjetischer Einmarsch in Polen am 17. September 1939.

 

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Deutsch-sowjetische Eintracht im eroberten Polen.

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Stalins Gefangener,…

Die Sowjets deportierten die jüdische Flüchtlingsfamilie in ein Arbeitslager im Norden Sibiriens. Das Holzfällen im hohen Schnee bei Minustemperaturen von zwanzig Grad und darunter, mit primitivsten Werkzeugen, das war Vernichtung durch Arbeit. Wer die hohe Arbeitsnorm nicht schaffte, bekam nur noch die halbe Essensration. Woche für Woche kamen Dutzende von Gefangenen um: Frauen die in Sommerkleidern verhaftet worden waren, Intellektuelle, die nie zuvor eine Axt in der Hand hatten, Kinder, Alte…

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Gleichberechtigt unter den Sklaven des Kommunismus. Frauen aus dem eroberten Polen und Baltikum als Holzfällerinnen.

Wie die Baumans, verschleppten die Sowjets etwa eine halbe Million polnischer Bürger in der Zeit zwischen September 1939 und Juni 1941, als sie selbst noch Hitlers engste Komplizen waren. Weitere rund einhunderttausend Menschen, darunter etwa fünfundzwanzigtausend gefangengenommene Offiziere der polnischen Armee, des Grenzschutzes, der Polizei, wurden von ihnen ermordet.

Im Sommer 1941, kurz nachdem Deutschland die Sowjetunion überfiel und das rote Riesenreich unterzugehen drohte, nahm Stalin, auf Vermittlung der Briten hin, Verhandlungen mit der polnischen Exilregierung in London auf. Das Ergebnis war eine „Amnestie“ für die verschleppten Polen, obwohl sie keine Verbrechen begangen hatten. Die wehrfähigen Männer unter ihnen sollten in der Sowjetunion eine der Exilregierung unterstellte polnische Armee bilden. Von den Sowjets und den Briten ausgerüstet, sollte diese an der Seite der Sowjets in den Kampf ziehen. Ihr Kommandeur war General Wladyslaw Anders.

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General Władysław Anders versuchte 1941-1942 im Auftrag der polnischen Exil-Regierung in London eine polnische Armee in der Sowjetunion aufzubauen.

Doch in den drei hierfür eingerichteten Auffanglagern kamen vom Hunger, der Sklavenarbeit und nach wochenlangen Transporten ausgezehrte Menschen an. Es fehlten Lebensmittel (die Sowjets lieferten Anfang 1940 nur 40 000 Essensrationen für 70 000 Soldaten) und Medikamente um sie wieder aufzupäppeln. In den primitiven Baracken und in Zelten, in denen sie den Winter 1941-1942 verbringen mussten, lichtete der Tod schnell ihre Reihen. Zu den Sammelpunkten strömten auch tausende zuvor verschleppter polnischer Zivilisten, meistens Frauen, viele Waisenkinder, die auf diese Weise der Sowjethölle entkommen wollten.

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In den Rekrutierungslagern der Anders-Armee kamen vom Hunger, der Sklavenarbeit und nach wochenlangen Transporten ausgezehrte Menschen an.

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Stalin hatte, in der Not der ersten Niederlagen, dem britischen Ministerpräsidenten Churchill mit seiner Polen-Vereinbarung einen Gefallen getan. Er brauchte Churchills Hilfe. Doch eine polnische Armee, die nicht direkt seiner Kontrolle unterstand, bestehend aus Menschen die auf Grund ihrer Erlebnisse die Sowjets und ihren Kommunismus zutiefst hassten, wollte Stalin nicht auf Dauer auf seinem Gebiet dulden.

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London 30. Juli 1941. Der polnische Ministerpräsident im Exil General Władysław Sikorski (links) und der sowjetische Botschafter in Groβbritannien Iwan Maiski (rechts) unterzeichnen das Abkommen u. a. über die Bildung eine polnischen Armee in der UdSSR. In der Mitte die Vermittler: der britische Auβenminister Anthony Eden und Premierminister Winston Churchill.

Er drängte darauf die ersten zwei mühsam aufgestellten, kaum kampffähigen Divisionen an verschiedene Frontabschnitte zu schicken, wo sie umgehend aufgerieben worden wären. Die polnische Exil-Regierung dagegen verlangte, dass die gesamte polnische Armee an einem Ostfrontabschnitt eingesetzt wird, erkundigte sich immer wieder nach dem Verbleib der von den Sowjets im Herbst 1939 gefangengenommenen polnischen Offiziere. Die Russen taten so, als hätten sie keine Ahnung. Das Katyn-Massaker sollte erst im April 1943 bekannt werden.

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August 1942. Knapp 120 000 „General-Anders-Polen“ , darunter 80 000 Soldaten, und 40 000 Zivilisten wurden aus der Sowjetunion in den britisch besetzten Iran evakuiert.

Am Ende lieβ Stalin die ungewollten Verbündeten gehen. Im August 1942 wurden die knapp einhundertzwanzigtausend „General-Anders-Polen“ in den britisch besetzten Iran evakuiert, darunter nicht ganz achtzigtausend Soldaten und achtzehntausend Kinder. Die Truppe, später das 2. Polnische Korps, zog weiter über den Irak nach Palästina und kam ab April 1944 bei den schweren Kämpfen in Italien (Monte Cassino, Ancona, Bologna) zum Einsatz.

…Stalins Verehrer

Zurückgeblieben in der Sowjetunion waren hunderttausende Menschen aus Polen, darunter die Baumans. Gemäβ der „Amnestie“ vom Sommer 1941 hatte man sie Ende 1941 aus dem Lager nach Gorki (heute Nischnij Nowgorod) entlassen. Baumans Vater Maurycy, der im Lager beinahe umgekommen war, wollte mit der Familie zu einem der Sammelpunkte der Anders-Armee gelangen, doch die Sowjets blockten ab. Juden, Weiβrussen, Ukrainer, die bis 1939 in Polen gelebt hatten und polnische Staatsbürger waren, durften nicht zur polnischen Armee. Sie wurden endgültig „Bürger der UdSSR“.

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Sowjetischer Milizionär (Polizist) regelt Anfang der 40er Jahre den Verkehr in Moskau. So soll Baumans Dienst 1943 ausgesehen haben.

Maurycys Sohn Zygmunt hatte sehr schnell den Bazillus des Kommunismus geschluckt. In der Schule trat er dem kommunistischen Jugendverband Komsomol bei, war Feuer und Flamme für Stalin und den Marxismus-Leninismus. Im November 1943, gleich nach seinem 18. Geburtstag, bekam er die Einberufung zur Moskauer Miliz (Polizei) und wurde, nach eigenen Angaben, bei Verkehrskontrollen eingesetzt.

Derweil werkelte Stalin ab Mitte 1943 an einer neuen polnischen Armee an seiner Seite. Diesmal unter streng kommunistischen Vorzeichen, befehligt und kontrolliert von ihm treu ergebenen Polen, die in seinem Namen das künftig kommunistische Land verwalten sollten. Tausende Verschleppte meldeten sich freiwillig zu dieser 1. Polnischen Armee, meistens ohne Stalins Vorhaben zu durchzuschauen.

Jedoch gab es kaum polnische Offiziere. Stalin hatte sie im April 1940 in Katyn ermorden lassen, behauptete nach der Entdeckung des Verbrechens, es seien die Deutschen gewesen und brach die diplomatischen Beziehungen zur Londoner polnischen Exilregierung ab. Wer von den Offizieren überlebt hatte, zog Mitte 1942 mit General Anders in den Nahen Osten. Deswegen mussten Offiziere der Roten Armee in polnische Uniformen schlüpfen, gleichzeitig wurde das Riesenreich nach geeignetem polnischen „Menschenmaterial“ durchforstet.

So kam man auch auf Zygmunt Bauman: jung, intelligent, vom Kommunismus verblendet, Polnisch sprechend. Auf diese Weise gelangten, neben anderen, damals auch viele polnische Juden, die in der UdSSR Zuflucht gefunden hatten, in den gerade in der Sowjetunion aufgebauten polnischen kommunistischen Machtapparat, ins Propagandawesen, in die Strukturen der politischen Geheimpolizei, zum Militär. Hier war die Gründungs-Machtelite der künftigen Volksrepublik Polen entstanden, die zusammen mit der Roten Armee ins Land einrückte.

Politoffizier, Zuträger, Fanatiker

Leuten wie Bauman stand eine Blitzkarriere offen. Er wurde mit 19 Jahren Politoffizier und als solcher nahm er teil an den schweren Kämpfen um Kolberg/Kołobrzeg (März 1945, 1 200 gefallene Polen) und am Endkampf um Berlin (April – Mai 1945), erlitt eine Verwundung.

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März 1945. Nach dem Abzug der Anders-Armee, unter kommunistischen Vorzeichen in der Sowjetunion gebildete 1. Polnische Armee während der verlustreichen Kämpfe um den Pommernwall und die Stadt Kolberg/Kołobrzeg. Bauman war dabei.

In Polen zurück (die Ablegung der sowjetischen Staatsbürgerschaft war jetzt kein Problem) wurde seine Einheit in das sogenannte Korps der Inneren Sicherheit (KBW) eingegliedert. Es war die „Haustruppe“ des Ministeriums für Staatssicherheit, die in enger Zusammenarbeit mit Einheiten der sowjetischen Staatssicherheit (NKWD) den bewaffneten polnischen antikommunistischen Widerstand bekämpfte.

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Major Zygmunt Bauman. Foto aus der Stasi-Militärakte.

„Zwanzig Tage lang“, so heiβt es z. B. in einem Beförderungsantrag von 1950, „befehligte er eine Abteilung, die sich durch die Festnahme einer groβen Zahl von Banditen hervortat. Bauman wurde mit dem Tapferkeitskreuz ausgezeichnet.”

Bereits 1944 warb die Hauptverwaltung Information (Główny Zarząd – phonetisch: Saschond – Informacji – GZI) Bauman als ihren Zuträger (Deckname „Semion“) an. Die GZI war die politische Polizei der Armee, fest in der Hand sowjetischer Berater. Es war ein schreckliches Terrorinstrument, ständig auf der Suche nach „inneren Feinden“, das sich unermüdlich zwischen 1944 und 1956 eine breite, blutige Schneise durch die Reihen der kommunistischen polnischen Armee bahnte. Ihre Verhörmethoden waren bestialisch. Bauman wusste das.

Ob, wen und weswegen „Semion“ Personen denunziert, der Verhaftung und der Folter preisgegeben hat, wissen wir nicht. Seine Zuträger-Akte hat nicht überdauert. 1946 trat Bauman in die KP ein.

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Erschossen und nummeriert 1946. Soldaten des antikommunistischen polnischen Widerstandes.

Acht Jahre lang diente er in den Truppen (KBW) der Staatssicherheit als hoher Politoffizier. Er war damals ein kommunistischer Fanatiker, dem sein Vater viel Kummer bereitete. Maurycy Bauman wollte z. B. nicht zustimmen, als Sohn Zygmunt beschloss die ziemlich armselige Haushälfte in Poznań, die sich im Familienbesitz befand, der kommunistischen Partei zu vermachen.

Im März 1953, Stalin war gerade gestorben, ging der Vater in die israelische Botschaft in Warschau, die, wie alle westlichen Vertretungen, lückenlos überwacht wurde, um sich nach einer Umsiedlung zu erkundigen. Wegen einer solchen „feindlichen Kontaktaufnahme“ landete man damals für gewöhnlich im Kerker. Maurycy Bauman blieb das erspart, dafür wurde der Sohn, Major Zygmunt Bauman schon am 15. März 1953, „wegen Verbindungen zu seiner klassen- und ideologisch entfremdeten Familie“ aus dem Stasi-Armeedienst entfernt. Nach einer schweren Auseinandersetzung brach der Sohn jeglichen Kontakt zum Vater ab.

Vorgetäuschte Ratlosigkeit

Der fanatische Stalinist hatte bereits während seiner Stasi-Militärzeit ein Fernstudium der marxistischen Philosophie begonnen. Geschasst, durfte er es als regulärer Student an der Warschauer Universität fortsetzten. Bereits im Mai 1953 verkündete Zygmunt Bauman während einer pompösen „wissenschaftlichen“ Uni-Konferenz zu ehren Stalins, dass „die objektive historische Gesetzmäβigkeit den Sieg der sozialistischen Revolution in der ganzen Welt vorankündigt.“

1954 war er mit dem Studium fertig, durfte zum Doktorandenstudium bleiben, als das politische Tauwetter begann. Der neue sowjetische Parteichef Nikita Chruschtschow hielt im Februar 1956 in Moskau, während des 20. Parteitages der KPdSU, eine fünfstündige Geheimrede „Über den Personenkult und seine Folgen“, in der er Stalins Verbrechen enthüllte. Schon bald gelangte diese Rede nach Polen, kursierte in Abschriften unter der Hand, sorgte für Aufregung, Entsetzten und, bei den Stalinisten, für Ratlosigkeit.

„Wieso sind wir erblindet? Wir haben uns doch für die Revolution entschieden, weil wir einen scharfen Blick und glühende Herzen hatten“, schrieb Bauman in „Po prostu“ („Schlicht und einfach“), der studentischen, damals rebellischsten, Wochenzeitschrift des Landes (bereits 1957 wurde sie im Zuge der „Normalisierung“, auf Geheiβ der Partei, eingestellt). Baumans Worte klangen bitter, glaubhaft waren sie nicht im geringsten. Gerade er wusste über die Verbrechen bestens Bescheid.

„Ich hatte nicht den Mut“

Die Soziologie, Ende der 40er Jahre als ein „bürgerliches Überbleibsel“ von den Hochschulen des Ostblocks verbannt, durfte in Polen wieder gelehrt werden. An der Warschauer Universität entstanden 1956 gleich zwei Lehrstühle.

Der erste, für „klassische Soziologie“, setzte die unterbrochene Tradition fort, geleitet von Prof. Stanisław Ossowski, einem der herausragendsten polnischen Humanisten jener Zeit, der in der stalinistischen Epoche (1948-1956) Lehrverbot hatte. Der zweite Lehrstuhl stellte das „Gegengewicht“ dar und betrieb „marxistische Soziologie“. Sein Chef, Prof. Julian Hochfeld, war ein brillanter Akademiker, der den Krieg als polnischer Jude in der Sowjetunion verbracht, und sich ganz und gar der Sache des Kommunismus verschrieben hatte. Der Doktorand Bauman machte unter seinen Fittichen wissenschaftliche Karriere.

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1963 an der Warschauer Universität. Zygmunt Bauman (rechts vorne), neben ihm Leszek Kołakowski.

Die Partei tat derweil alles, um das politische Tauwetter möglichst schnell zu beenden. Es sollte kein Zurück mehr zum brutalen Stalinismus geben, aber der neue Parteichef Władysław Gomułka wollte keine Anfechtungen der führenden Rolle der kommunistischen Partei dulden. Er öffnete die Tür einen Spalt breit für westliche kulturelle Einflüsse, überlieβ die Musik, die Malerei, teilweise den Film und die Literatur ihren Schöpfern. Die künstlerische Freiheit war ab Mitte der 50er Jahre in Polen unvergleichlich gröβer als in allen anderen „Bruderländern“. Diese Ventile sollten den Druck der permanenten Unzufriedenheit der Menschen mit der schlechten Versorgung, der politischen Gängelung, der wachsenden Zensur mildern.

An den humanistischen Lehrstühlen und Instituten der Warschauer Universität gab es jedoch nicht wenige Studenten und Dozenten, die das Ende des politischen Tauwetters nicht hinnehmen wollten. Bei den Philosophen, Soziologen und Ökonomen rumorte es am heftigsten. Einstige fanatische Stalinisten, wie Prof. Leszek Kołakowski, Prof. Włodzimierz Brus, Prof. Bronisław Baczko, Prof. Stefan Morawski, Dr. Krzysztof Pomian u. a. (die meisten jüdischer Abstammung) hatten sich inzwischen der Revision des bürokratisch-zentralistischen Sozialismus sowjetischer Prägung verschrieben, predigten die Einführung der Arbeiterselbstverwaltung, den Abzug der Partei aus vielen Lebensbereichen, die Einschränkung der Zensur usw.

Bauman war nicht dabei. „Leben ist überleben, wer überlebt – gewinnt.“, sagte er rückblickend gut dreiβig Jahre später in seiner Rede, die er anlässlich der Verleihung des Adorno-Preises 1998 in Frankfurt am Main hielt. Auch er hegte Mitte der sechziger Jahre in Warschau immer mehr Zweifel an der marxistischen Orthodoxie. Doch er wich der Konfrontation mit dem System aus, widmete sich der soziologischen Erforschung des Werdegangs der britischen Arbeiterbewegung. Jahre später gestand er ein: „Viele meiner Kollegen wurden aus der Partei geworfen. Ich hätte mich damals solidarisch zeigen können, aus der Partei austreten. Ich hatte nicht die Kraft, nicht den Mut dazu.“

Polen, Israel, England

Der Konflikt eskalierte im März 1968. Es kam zu mehrtägigen heftigen Studentenunruhen in Warschau, Protesten von Intellektuellen, Forderungen nach mehr Freiheit. Die Parteioberen griffen hart durch. Sie lieβen die Milizknüppel schwingen und gaben gleichzeitig das Startsignal zu einem Elitenwechsel. Junge, machthungrige Kader durften nun die Genossen fortjagen, die es sich in den höheren Etagen des kommunistischen Parteiapparates, der Wissenschaft, der Medien, der Diplomatie, der Wirtschaft, des Gesundheitswesens, der Armee bequem eingerichtet hatten. Viele der Davongejagten waren jüdischer Herkunft und Stalinisten der ersten Stunde.

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März 1968. Studentenunruhen in Warschau.

Das geschah kurz nach dem triumphalen Sieg Israels im Sechstagekrieg (Juni 1967) über die von der Sowjetunion bewaffneten und wirtschaftlich unterstützen arabischen Staaten. Auf Geheiβ Moskaus mussten in der Folge alle Ostblockstaaten die diplomatischen Beziehungen zu Israel kappen. Das von den „USA-Imperialisten“ massiv unterstützte Israel stieg für einige Jahre zum „Erzfeind“ des Ostblocks auf. Da passte es gut, die jüdischen Genossen als Zionisten zu diffamieren, eine „fünfte Kolonne“, die angeblich mit Israel gemeinsame Sache machte.

Das sonst vom Westen weitgehend abgeschottete kommunistische Polen öffnete nun Tür und Tor für seine ausreisewilligen jüdischen Bürger. Etwa fünfzehntausend gingen zwischen 1968 und 1972, darunter (im Juni 1968) Zygmunt Bauman, seine Ehefrau Janina und ihre drei Töchter.

Zwei Jahre lang hielt Bauman es an den Universitäten in Tel Aviv und Haifa aus. Das gelobte Land blieb ihm fremd: „Jude zu sein in Israel war gewissermaβen ein Vollzeitjob“. Den wollte er nicht ausüben. Die drastische Militarisierung, das nationale Pathos, das ihm entgegenschlug, die jüdische religiöse Orthodoxie, die er nicht nachvollziehen konnte. Das alles verunsicherte ihn, ging ihm auf die Nerven. Und da war noch die Art, wie mit den Arabern umgegangen wurde. „Wir wollten keine verfolgte Minderheit sein, aber genauso wenig einer Mehrheit von Verfolgern angehören.“ Erleichtert folgte Bauman 1971 dem Ruf der britischen Universität Leeds und blieb ihr bis zu seinem Tod treu.

Schlüsselbegriff „Flüchtigkeit“

Er lehrte und forschte erfolgreich. Zuhörer und Leser schätzten seine ironischen, pointierten Schilderungen, reich an Methapern, klar in der Aussage. Wie funktionieren gesellschaftliche Ordnungen, was zerrüttet sie und was hält sie zusammen?

Das einst so geordnete, solidarische Gemeinwesen, so Bauman, weicht dem unbarmherzigen Wettbewerb vieler „Einzelkämpfer“, die sich zu immer mehr Konsum und Selbstvervollkommnung verführen lassen. Der Mensch heute verirrt sich irgendwo zwischen Cyberspace, den deregulierten Märkten und künstlich geweckten Sehnsüchten. Baumans scharfsinnige Beobachtungen glichen kleinen Bausteinen zum Legebild der Postmoderne oder wie Bauman sagte: einer flüchtigen Moderne.

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Vor Studenten der Universität Toruń/Thorn im November 2010. Zuhörer und Leser schätzten seine ironischen, pointierten Schilderungen, reich an Methapern, klar in der Aussage.

Diese gesellschaftliche Unrast, so seine Auffassung, macht Institutionen und Gemeinschaften durchlässig, konturlos. Sie geben den Menschen immer weniger Halt. Wirkmächte der Weltwirtschaft hebeln die Ökonomie des Nationalstaates und das soziale Netz aus. Menschen, die dem Tempo mobiler Geldströme und den flexiblen Arbeitszeiten nicht mehr gewachsen sind, werden ausgesondert, marginalisiert, kaum mehr wahrgenommen. Das Bedürfnis der vereinsamenden Individuen nach sozialer Bindung und Anerkennung wird im Zeitalter der flüchtigen Moderne nur noch durch soziale Medien befriedigt.

Ob arabischer Frühling, die Finanzkrise, der Flüchtlingsansturm oder der internationale Terrorismus, Bauman gliederte sie ein in seine Überlegungen, spann den Faden der flüchtigen Moderne immer weiter.

Bauman Nagrida im. Adorno
Bildunterschrift, „Frankfurter Rundschau“, 14. September 1998: „Stadtoberhaupt mit Amtskette, Urkunde und Preisträger. Petra Roth überreicht Zygmunt Bauman in der Frankfurter Paulskirsche den Adorno-Preis.“

Nach seiner Emeritierung 1991 wurde er erst so richtig produktiv. Was von seinem Werk bleiben wird, ist sicher der Schlüsselbegriff der „Flüchtigkeit“, den er seit seinem Buch „Liquid Modernity“ (2000) wie ein Markenzeichen immer wieder aufgriff: „Flüchtige Liebe“, „Flüchtige Angst“, „Flüchtige Zeiten“, „Flüchtige Aufsicht“ und zuletzt „Flüchtiger Teufel“ heißen die Variationen des Themas. Er recycelte sein Motiv so konsequent, dass ihm Kollegen vorwarfen, sich selbst zu plagiieren. In seinen Beschreibungen stets auf dem aktuellen Stand der Geschehnisse, war er als ein Vortragender und Interviewpartner sehr gefragt.

Von der Vergangenheit eingeholt

Nur zu einem Thema schwieg Zygmunt Bauman eisern: zur eigenen Vergangenheit. Seine Ausführungen, das Wissen um seine jüdische Herkunft, um die aufgenötigte Ausreise aus dem kommunistischen Polen, seinen Bruch mit dem Marxismus, und nicht zuletzt, sein Äuβeres und sein Auftreten bewirkten, dass ihn eine Aura von Respekt und Bewunderung umgab, die sich, je älter er wurde, in Ehrfurcht verwandelte.

Die Nachricht über Aktenfunde, die belegten, dass Bauman jahrzehntelang seine stalinistische Vergangenheit verschwiegen und die Öffentlichkeit über seine Rolle im kommunistischen Terrorapparat getäuscht hatte, platze im März 2007 wie eine Bombe. Er bekannte sich zu den wichtigsten Tatsachen: sehr knapp und ohne Demut.

Ein einziges Mal stand er dem britischen „Guardian“ gegenüber hierzu Rede und Antwort. Doch er wich aus, indem er sagte, er könne sich an vieles nicht mehr erinnern. Er verharmloste die Zeit des Stalinismus, in der Schreckliches geschehen war, spielte seine eigene Rolle in dieser Zeit herunter, verglich die brutale Vernichtung des antikommunistischen Widerstandes mit der modernen Terrorbekämpfung.

Doch je mehr Zygmunt Bauman versuchte in Bezug auf seine Vergangenheit zur Tagesordnung überzugehen, umso heftiger wurde er von ihr eingeholt. Seine Glaubwürdigkeit hat groβen Schaden genommen, und wenn er in den letzten Jahren Polen als Gastvortragender besuchte, musste er mit Störungen und Boykott rechnen. Auf die Verleihung einer Ehrendoktorwürde in Wrocław/Breslau verzichtete er vorsorglich – unter dem Beifall seiner Gegner.

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Proteste gegen eine Bauman-Vorlesung an der Universität Wrocław/Breslau. Polizei räumte den Hörsaal. Juni 2013.

Mehrfach wurde er öffentlich als Schuft geschmäht, auch durch den prominenten nationalkonservativen Publizisten jüdischer Abstammung, Bronisław Wildstein:

„Wir kennen viele hervorragende Intellektuelle, die Schufte waren, die Schreckliches taten, dennoch lohnt die Auseinandersetzung mit ihrem Denken. Andererseits: Wenn jemand eine Rolle im gesellschaftlichen Leben spielt, dann müssen wir von ihm verlangen, dass er sich seiner Vergangenheit stellt.“

Flucht in die Flüchtigkeit

Die Auseinandersetzung mit seinem eigenen Gedankengut entpuppte sich damals für Bauman als sehr unangenehm. Bedenken kamen auf, die Thomas Assheuer in der „Zeit“ (29.03.2007) so formulierte:

„Es drängt sich die Frage auf, wie sich die Theoriebildung des berühmten Soziologen zu seiner kommunistischen Vergangenheit verhält. Gibt es eine untergründige, vielleicht auch entlastende Verbindung zwischen Baumans kommunistischen Jahren und der Wahl seiner wissenschaftlichen »Waffen«?“

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Anti-Bauman-Plakat. „Prof. Baumans goldene Gedanken. »Den Kampf der kommunistischen Behörden gegen den Untergrund im Nachkriegspolen kann man mit dem heutigen Krieg gegen den Terrorismus vergleichen« Aus dem Interview mit der britischen Zeitung »The Guardian«, 2007.“ Unten links: Bogdan Zdrojewski, Kulturminister in der Regerung Donald Tusk dekoriert Bauman mit der Medaille „Verdient für die Kultur – Gloria Artis“. November 2010.

„Wie weit“, so der Autor, „trägt die naheliegende Vermutung, Bauman habe mit einer Theorie Karriere gemacht, die ganz nebenbei auch ihren Autor entlastete? Eben mit einer postmodernen Soziologie, in der nicht der Einzelne für sein Handeln verantwortlich ist, sondern die Geschichte selbst, das große Ganze oder, noch plakativer, die »Dialektik der Aufklärung«.

Tatsächlich war Bauman international mit einem Buch bekannt geworden, das an seinen düstersten Stellen das 20. Jahrhundert als Diktatur monströser Zwänge beschreibt, als Lavastrom anonymer Gewalten und unentrinnbarer »Rationalitäten«. »Dialektik der Ordnung« hieß die Studie, die nach einer Entwicklungszeit von fast zwanzig Jahren 1989 erschienen ist und die These aufstellte, ausgerechnet die Aufklärung habe die Monster der Moderne hervorgebracht, jene tödliche Liaison aus kalter Vernunft und bürokratischem Apparat, die jede Verantwortung, jeden moralischen Spielraum neutralisiert.“, schieb Assheuer und fuhr fort:

„Die Moderne macht das Subjekt zum Ding – sie vernichtet alles, was ihr nicht gleicht, das Uneindeutige, das Andere, jede Abweichung von der bürokratischen Norm. Je rationaler die Welt, desto barbarischer verhalten sich ihre Bewohner. Entsprechend wollte Bauman (…) im Holocaust den »Code der Moderne« entziffern. Der Judenmord war kein Zivilisationsbruch, sondern die zwangsläufige Folge der Moderne mit ihrem Hass auf alles Fremde.

In dieser Lesart war auch der Stalinismus nur ein dämonischer Zwillingsbruder der totalen Ordnung, nur eine andere Fratze der Moderne. Auch in dieser Hölle gibt es keine moralische Freiheit, keine Schuld, nur schuldlos Schuldige. Die Handelnden sind Werkzeuge des totalitären Weltgeistes, und wer auf der Schädelstätte der Geschichte nicht schuldig wird, hat Glück gehabt. Aber wer hat schon Glück?”

Der Autor spricht Bauman frei von dem Verdacht, er flüchtete in die flüchtige Moderne auf der Flucht vor seiner Vergangenheit. Doch Assheures Freispruch klingt weit weniger überzeugend als die angeblich widerlegte Eingangsthese.

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Flüchtige Moderne trifft die Ewigkeit. Kurz vor seinem Tod, im September 2016, wurde der eingefleischte Atheist am Rande des Treffens der Weltreligionen in Assisi von Papst Franziskus empfangen. Bauman vertrat dort die Atheisten. Die Frage, ob der Atheismus auch eine Religion sei, bleibt offen.

Zygmunt Bauman wurde immer wieder als der „polnische Martin Heidegger“ bezeichnet. Er reagierte darauf erbost. In Bezug auf sein geistiges Werk, wertete Bauman die Nebeneinanderderstellung mit einem der herausragendsten Philosophen des 20. Jahrhunderts gewaltig auf. Dagegen hatte der eitle Soziologe auch nichts einzuwenden. Doch in dem Vergleich ging es um fanatische Verblendung zweier Intellektueller, ihre bewusste Kollaboration mit zwei ebenbürtigen totalitären, verbrecherischen Regimen und um die Opferrolle, in die beide anschlieβend zu schlüpfen dachten.

Und dennoch: wer die Gegenwart hinterfragt, kommt an Baumans Betrachtungen nicht vorbei. Ob sie so flüchtig sind, wie die Moderne, der sie gewidmet sind, wird sich bald zeigen.

© RdP




Der zartrote Verführer

Am 9. Oktober 2016 starb Andrzej Wajda.

In ihren Nachrufen auf den Regisseur haben deutsche Medien mit Zuckerguss nicht gegeizt. Doch Übertreibung schadet der Wahrheit. Ein „Unbeugsamer“ soll Andrzej Wajda gewesen sein, „eine moralische Instanz und ein Romantiker“. Der Berliner „Tagesspiegel“ sah ihn gar in Polen so „verehrt wie zuletzt allenfalls (!!! – Anm. RdP) der unerschrocken parteikritische Kardinal Karol Wojtyła.“

Oder war der Papst-Vergleich vielleicht doch gar nicht so falsch? Zweifelsohne sah sich Andrzej Wajda in den letzten Jahren seines Lebens als Verkünder unumstöβlicher politischer Dogmen. Wie Perun, der Donnergott in der slawischen Mythologie, schleuderte er, von Groll und Zorn gepackt, Verwünschungen jenen entgegen, die er nicht ausstehen konnte: „Kaczyński ist ein Trottel. Dagegen gibt es Pillen. Er soll sich behandeln lassen!“

Gut sechzig Jahre lang dauerte die künstlerische Laufbahn des „Unbeugsamen“. Sie war gesäumt von Kehrtwenden, Brüchen, Zugeständnissen, die nicht selten Geständnissen glichen

Auf die polnische Art

Sein Werk ist gewaltig: sechzig Spielfilme, zumeist Sozialdramen. Egal wo und wann sie spielen, stets haben sie einen deutlichen Bezug zum Hier und Jetzt. Davor verschonte Wajda nicht einmal die Passionsgeschichte, die er 1971 in seinem theatralisch geschwollenen, experimentellen Film „Pilatus und andere“ ins damalige Westdeutschland verlegte, und Jesus über den Dutzendteich auf dem ehemaligen Nürnberger Reichsparteitagsgelände wandeln lieβ.

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Wajdas „Pilatus und andere“. Jesus wandelt über den Dutzendteich auf dem ehemaligen Nürnberger Reichsparteitagsgelände.

Mit seinem Schaffen reiht er sich zweifelsohne in die Galerie der groβen Filmemacher des 20. Jahrhunderts ein: Michelangelo Antonioni, Ingmar Bergman, Luis Buñuel, Federico Fellini, Akira Kurosawa, Luchino Visconti…

Gemeinsam war ihnen nicht nur die Überzeugung, dass das Kino die Welt verändern kann. Sie alle waren zudem stark verwurzelt in ihrer nationalen Identität und verstanden es dennoch, auf ihre polnische, japanische, italienische Art, Zuschauer in den entlegendsten Gegenden der Welt anzusprechen, zu fesseln, gar zu bezaubern.

Kurosawa wäre undenkbar ohne die japanische Samurai-Tradition, Fellini ohne sein geliebtes Rom, Bergmann ohne die distanzierte Kühle Schwedens. Wajda war ein ganz und gar polnischer Regisseur. Polnische Geschichte und polnische Literatur lieferten ihm die meisten Vorlagen für seine Filme. „In Hollywood müsste ich fremde Ideen umsetzen“, pflegte Wajda auf die Frage zu antworten, warum er nicht ausgewandert sei.

Ein Junge am Abgrund

„Offiziersfamilie, eine vom Patriotismus durchdrungene Schule und die Kirche“, das waren die tragenden Säulen der Welt seiner Kindheit. Geboren 1926 im nordostpolnischen Suwałki, erlebte er mit dreizehn Jahren, im September 1939, den Kriegsbeginn. Polen wähnte sich damals sicher. Die knapp eine Million Soldaten zählende Armee, wenn auch nicht sehr modern ausgerüstet, so doch gut ausgebildet und hochmotiviert, sollte zwei, drei Wochen lang Widerstand leisten, bis die Verbündeten, England und Frankreich, Deutschland im Westen angreifen würden. So war es vereinbart. Da konnte nichts schiefgehen. „Hitler wäre ein Idiot, sollte er uns angreifen. Der riskiert nie einen Zweifrontenkrieg“, das war die gängige Meinung.

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September 1939. Über der Leiche Polens  werden Feinde zu Freunden. Hitler: „Der Abschaum der Menschheit, nehme ich an?“ Stalin: „Und habe ich nicht die Ehre mit dem blutigen Mörder der Arbeiter?“ Britische zeitgenössische Karrikatur.

Stattdessen überfielen Deutschland (am 1. September 1939) und die Sowjets (am 17. September 1939) gemeinsam Polen und teilten es, wieder einmal, auf. Und die Verbündeten? Sie erklärten zwar am 3. September 1939 Hitler den Krieg, schrieben jedoch Polen gleichzeitig insgeheim ab. Während das kämpfende Warschau sich im deutschen Bombenhagel in eine Ruinenlandschaft verwandelte, beschränkten sich die französischen Kampfhandlungen im Westen damals auf das Flugblätterabwerfen über einigen deutschen Städten unmittelbar hinter der Grenze.

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Mit dreizehn Jahren erlebte Wajda im September 1939 den Zusammenbruch Polens. Es war ein Trauma, von dem er sich, und mit ihm groβe Teile der Nation, seelisch nie erholt haben.

Mit ansehen zu müssen wie sein Land, auf das er uneingeschränkt stolz war, nach gerade einmal zwanzig Jahren Unabhängigkeit, innerhalb von nur vier Wochen zusammenbrach, war für Wajda ein Trauma, von dem er sich, und mit ihm groβe Teile der Nation, seelisch nie erholt haben.

Für Krzysztof Kłopotowski, einen der führenden Filmkenner- und Kritiker Polens, steht fest: „Nach dieser Erfahrung war Wajda überzeugt, dass es ein eigenständiges Polen, wie vor dem Zweiten Weltkrieg, nicht geben kann“ („Gazeta Polska“ –„Polnische Zeitung“, 12. Oktober 2016).

Anfänge in rot

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Wajda ließ sich von der Woge des kommunistischen Propagandapathos der ersten Nachkriegsjahre mitreiβen.

So gesehen hatte der Kommunismus im Nachkriegspolen in Wajdas Augen schon seine Richtigkeit. Das Land war wieder einmal an Russland, diesmal ein kommunistisches, angekettet. Der junge Mann ließ sich von der Woge des kommunistischen Propagandapathos der ersten Nachkriegsjahre mitreiβen.

Er trat 1946 in die kommunistische Partei wajda-plakat-1ein, lieβ aber nach einigen Jahren die Mitgliedschaft wieder einschlafen, verschwieg sie nach einem Wohnortwechsel. Der Sohn eines „bürgerlichen Vorkriegsoffiziers“ wollte sich auf diese Weise den aufkommenden stalinistischen Säuberungs- und Wachsamkeitskampagnen entziehen, die die Parteireihen immer wieder lichteten. Jahrzehnte später, in seiner Autobiographie, überging Wajda, der „Unbeugsame“, diese Episode mit einem Satz: „Ich war nie Parteigenosse“. Er hoffte, das Geschehnis sei längst vergessen. War es aber nicht.

Im Jahr 1948 wechselte der angehende Maler Wajda von der Kunsthochschule in Kraków zur Filmhochschule in Łódź. „In den 50er Jahren handelte es sich hierbei um eine ideologische Einrichtung. Die Filmhochschule war neu, hatte keine Tradition und sie sollte die neue sozialistische Filmelite erziehen. Eine ideologische Vorausabteilung, die die politischen und gesellschaftlichen Veränderungen entscheidend mitprägen sollte“, schrieb Wajda.

Ein Gaukler macht sich an die Arbeit

Sein Debütfilm „Eine Generation“ von 1955 war noch ein Werk aus der Agitprop-Kiste der damaligen, dumpfen kommunistischen Indoktrination. Junge, heldenmutige kommunistische Widerständler kämpfen und sterben im besetzten Warschau, während die bürgerliche, verkommene Untergrund-Heimatarmee (AK), obwohl sie mehr Waffen und viel Geld hat, sich feige dem Kampf entzieht und im Grunde gemeinsame Sache mit den Nazis macht.

Doch bereits hier kam Wajdas handwerkliches Können zur Geltung. Er verpackte das Ganze in ein neorealistisches Kostüm, wie es die italienischen Meister des Genres, Visconti oder Rossellini („Rom, offene Stadt“), nicht besser hätten machen können. Zwar ergeht sich eine kommunistische Agitatorin immer wieder in ihren endlosen Tiraden, doch wenn sie schweigt, dann wirken die jungen Schauspieler auf der Leinwand, für die damaligen Begriffe, erfrischend natürlich, sehr untheatralisch. Eine stellenweise überaus dynamische, präzise und, für damalige Zeiten, einfallsreiche Kameraführung schuf einige Szenen, die unter die Haut gehen und längst Kultstatus haben. Ein schwer verdaulicher Propagandakloβ geriet so zu einem künstlerischen „Ereignis“.

Fragment aus „Eine Generation“. Die jungen Kommunisten helfen einem Trupp jüdischer Kämpfer, der sich während des Aufstandes im Warschauer Ghetto im April-Mai 1943 durch die Kanalisation auf die „arische“ Seite rettet. Für Jasio endet die Aktion tragisch. 

Was sich in „Eine Generation“ abzeichnete, sollte schon bald sein Markenzeichen werden. „Wajda ist ein Gaukler der Leinwand, ein Meister der Ablenkung, der es mit seinem hervorragenden handwerklichen Können versteht, eine Aneinanderreihung filmischer Zaubertricks in Filmkunst zu verwandeln. Die Zuschauer staunen über die weiβen Tauben, die der Illusionist aus dem Ärmel hervorzaubert, lassen sich von Wajdas Erzählstil verführen, die Botschaft bleibt unaufdringlich im Hintergrund, verliert jedoch dadurch keineswegs ihre Wirkung“, schreibt der Historiker und Filmkenner Tomasz Łysiak („Gazeta Polska“, 8. August 2012).

Therapie gegen die Freiheit

„Finis les rêveries, messieurs – „Genug der Träumereien, meine Herren“, das waren die Worte des Zaren Alexander II., als er im Mai 1856 Warschau besuchte. Dabei galt der junge Monarch, im Gegensatz zu seinem tyrannenhaften Vater Nikolaus I., als Reformer. Eine Abordnung polnischer Honoratioren bat ihn, Polen innerhalb des Zarenreiches etwas mehr Autonomie zuzugestehen. Vergeblich.

„Genug der Träumereien”, das war auch jahrzehntelang Wajdas Botschaft an seine Landsleute.

„Ich habe versucht den Zuschauer davon zu überzeugen, dass man nicht kämpfen sollte, wenn man nicht im Recht ist. Man soll nicht zum Schlag ausholen, bevor man nicht überlegt hat, ob ein solches Ausholen Sinn macht. Wir haben den Menschen die Überzeugung von der Richtigkeit einer solchen Haltung eingebläut. (…) Wir nehmen unsere Arbeit ernst. Sie ist eine Art Therapie“, so Wajda 1962.

Zu therapieren galt es die polnische Gesellschaft, sie zu befreien von dem angeblichen „polskie szaleństwo“, dem „polnischen Wahnsinn“ des ständigen Strebens nach Freiheit und Unabhängigkeit, koste es was es wolle. Eine Gesellschaft, deren Zustand nach 1945 der Historiker und Literaturkritiker Jan Józef Lipski so beschrieb: „Der Schock nach dem Ende des Krieges war für Polen schrecklich. Polen, das erste Land, das sich Hitler entgegengestellt hatte. Die Polen, ein Volk das an vielen Fronten des Krieges gekämpft hat. Polen, ein Land, das einen mächtigen Staat und eine Armee im Untergrund aufbaute. Es wurde von den eigenen Verbündeten, Groβbritannien und den USA, an den sowjetischen Angreifer ausgeliefert. Es war ein schreckliches Erlebnis und eine Demütigung, mit einer Schlinge um den Hals, an den Sattel des Siegers geknüpft, in sein eurasisches Imperium gezerrt zu werden.“

Den polnischen Kommunisten gelang es, nur dank der militärischen Unterstützung des Sowjets, bis Ende der 40er Jahre den bewaffneten Widerstand gegen ihre Tyrannei im Land zu brechen. Jetzt galt es das geistige Rückgrat des Widerstands zu brechen.

Die Polen sollten sich in ihrem Käfig endlich einrichten, Ruhe geben, „Träumereien“ abschwören, sonst konnte es für sie noch viel schlimmer kommen. Da war es wichtig, Symbole und Ereignisse, die den polnischen Selbstbehauptungswillen verkörperten zu zerstören, sie als längst überholt und grotesk darzustellen, sie lächerlich und letztendlich vergessen zu machen. Die gesamte kommunistische Propaganda, die Literatur, die Erziehungs- und Schulprogramme waren darauf ausgerichtet.

Mit Säbeln auf deutsche Panzer

Wajda war mit Herzblut dabei. Im Film „Lotna“ (1959), dem ersten polnischen Farbfilm, der vom Verteidigungskrieg 1939 handelt, reiten polnische Kavalleristen (Fragment hier zu sehen) eine Attacke gegen deutsche Panzer und versuchen sie mit ihren Säbeln zu zerschlagen. Zwar hatte es nachweislich während des ganzen „Polenfeldzuges” nie einen solchen Vorfall gegeben. Wajda griff dennoch das von Goebbels oft genutzte Propagandabild auf, um die angeblich „typisch polnischen” Eigenschaften: Selbstüberschätzung und Fanatismus noch krasser darzustellen und zu geiβeln. Den kommunistischen Propagandisten war es nur recht.

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Laut Wajda „typisch polnisch“: mit dem Säbel gegen Panzer. Szene aus „Lotna“.

Im Film „Kanal“ (1957) irrt im September 1944 ein Trupp Warschauer Aufständischer durch die unterirdischen Abwasserkanäle und kommt elend um im flieβenden Unrat. Es wird ein Inferno dargestellt, in Bildern von unvergesslicher Prägung. Die Kamera guckt genau hin, als in dem flieβenden, ekelhaften Auswurf die rogatywka treibt, die traditionelle Eckenmütze des polnischen Militärs. Sie gehört einem schwerverwundeten, aufständischen Obristen, den der Trupp unterwegs findet. Mit dem Abzeichen des gekrönten Adlers versehen, von den Kommunisten ohnehin als „nationalsitsich“ abgeschafft, geht das hochgeschätzte Nationalsymbol nun endgültig in der Jauche unter.

„Man hat mir Nihilismus, übertriebene Schwarzseherei, Verachtung für den Heldenmut vorgeworfen. Diese Anschuldigungen trugen Reaktionäre in meinem Land vor, die aus dem Aufstand ein Heiligtum gemacht haben. (…) Der Warschauer Aufstand von 1944 war ein politischer Fehler und, militärisch gesehen, ein Wahnsinn. Was konnte anderes dabei herauskommen. Wahnsinn und Torheit töten die handelnden Personen meines Films in den Abwasserkanälen, am Abgrund der Verzweiflung, ohne Sinn und Notwendigkeit“, klagte Wajda 1958 ausgerechnet in einem Interview für die sowjetische Zeitschrift „Literaturnaja Gazeta“.

Man beachte: schuld sind nicht die Deutschen, die den Polen die Freiheit raubten und ihren Aufstand mit unvorstellbarer Brutalität niederwarfen. Schuld sind auch nicht die Sowjets, die auf dem anderen Weichselufer abwarteten, bis die Deutschen ihr Werk vollbracht hatten. Schuld sind in Wajdas Augen die Opfer selbst.

Schön im Joch bleiben

In „Asche und Diamant“ (1958) stirbt der schwer verwundete, antikommunistische Kämpfer Maciek Chełmicki elend auf der Müllhalde (der Geschichte?). „Die kommunistische Propaganda benutzte jahrzehntelang Wajdas groβes Talent, um die Polen daran zu erinnern, dass es aus dem Moskauer Joch kein Entkommen gibt“, schreibt Piotr Semka („Do Rzeczy“- „Zur Sache“, 17. Oktober 2016).

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„Asche und Diamant“ (1958). Antikommunisten krepieren elend auf der Müllhalde (der Geschichte?).

Der Filmkritiker der „Neuen Züricher Zeitung“ sah das schon vor einem halben Jahrhundert, im Oktober 1959, ähnlich. Er schrieb nach der Vorführung von „Asche und Diamant“: „Künstler wie Andrzej Wajda, und er ist zweifelsohne ein Begabter, sind, egal ob sie sich dessen bewusst sind oder nicht, Boten des geschickt wirkenden Sowjetsystems. Sie werden als Verführer in den Westen geschickt. Die Partei führt sie an der Leine. Sie gewährt ihnen etwas Narrenfreiheit und pfeift sie zurück, wenn sie allzu übermütig werden. Diese jungen Leute (Wajda war damals 33 Jahre alt – Anm. RdP) sind, gerade wegen ihrer Biegsamkeit und vermeintlichen freien künstlerischen Aussage, viel gefährlicher als die langweiligen, behäbigen Barden des sozialistischen Realismus. Es genügt nur, sich Wajdas Filme anzuschauen, um sich davon zu überzeugen“.

Eindreschen macht müde

Je mehr Preise und Anerkennung der Regisseur bekam, umso hartnäckiger pochte er auf den Status des nationalen Wegweisers. „Wajda fühlte sich von Anfang an als die Stimme der aufgeklärten Elite der polnischen Gesellschaft und trat in ihrem Namen auf“, stellt Janusz Wróblewski in der Zeitschrift „Polityka“ (19. Oktober 2016) fest. „Wajda strebte die Position eines nationalen Propheten an, der am besten weiβ, was für die unvernünftigen, kindischen Polen gut ist“, ergänzt Krzysztof Kłopotowski in „Do Rzeczy“ (17. Oktober 2016).

Wajda konnte es nicht lassen. Nach der Premiere seiner Verfilmung (1973) eines der wichtigsten Dramen der polnischen Literatur, der „Hochzeit“ (1901) von Stanislaw Wyspiański, schrieb der Dichter und antikommunistische Dissident Antoni Słonimski resigniert: „Wyspiański träumte von einem freien Polen. Wyspiańskis Groll gegen die Polen der damaligen Zeit, den Schmerz, den er ihretwegen empfand, seinen beiβenden Spott, seine dichterische Abrechnung mit der eigenen Generation übertrug Wajda in die Sprache des Films. Oder besser gesagt, er übertrug es in Geschrei und Gestammel. Die Intellektuellen jener Zeit stellte er dar als eine Bande handlungsunfähiger Possenreiβer, denen in der dumpfen Verwirrung des Besäufnisses irgendwas in den Schädeln vorschwebte.“

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„Hochzeit“ (1973). Das weiβe Pferd, bei Wajda das Sinnbild für Polen, es verendet zu Tode geritten im Dreck…

Bei Wajda reitet Jasiek, der Bruder der Braut, im Auftrag des Hausherren, auf einem weiβen Pferd hinaus. Er soll die Bauern zum Aufstand gegen die Fremdherrschaft aufrufen, sich Gehör verschaffen mit einem goldenen Zauberhorn, das der legendäre Wanderprophet und Drehleierspieler Wernyhora gebracht hat. Jasiek jedoch verliert das Horn. Das weiβe Pferd, bei Wajda das Sinnbild für Polen, es verendet, von Jasiek zu Tode geritten im Dreck…

Wajda lebte seine nationalen Minderwertigkeitskomplexe bis zum Exzess aus. Das polnische Freiheitsstreben war bei ihm nur sinnlos, chaotisch, vergeblich, destruktiv, falsch geplant, absurd, anmaβend. Doch wie er es darzustellen verstand! Die besten Schauspieler mit Leib und Seele dabei. Die Schicksale beeindruckend, herzzerreiβend, tragisch. Die Bilder bewegend und einprägsam.

Doch das Eindreschen macht müde, und so gönnte sich Wajda immer wieder mal eine Auszeit, lieβ ab vom „polnischen Wahnsinn“. Dann drehte er schöne Streifen, wie „Die Schattenlinie“ (1976) nach dem gleichnamigen Roman von Joseph Conrad, „Die Mädchen von Wilko“ (1979) nach einer Erzählung von Jarosław Iwaszkiewicz oder „Der Dirigent“ (1980), in dem er die Hauptrolle John Gielgud, einem der herausragendsten englischen Theaterdarsteller des 20. Jahrhunderts anvertraute. Mit „Das gelobte Land“ (1975), einer Verfilmung des Romans von Władysław Reymont, schuf er sein mit Abstand bestes Filmwerk.

Solidarność mon amour

Im August 1980 erlebten Wajda, und mit ihm ein Teil der selbsternannten „aufgeklärten Elite“, die bisher für den „robol“ (eine verächtliche Ableitung von „robotnik“ – der Arbeiter) nur Geringschätzung übrig hatten, eine Art Erleuchtung, Verzauberung, gar Entzückung. Unter dem Eindruck der Massenstreiks an der polnischen Küste, und vor allem in der Danziger Werft, entbrannte Wajdas Liebe zu Solidarność. Der zum friedlichen Protest erwachten Arbeiterklasse empfahl sich der Regisseur mit seinem Film „Der Mann aus Marmor“ (1977), einer Abrechnung mit dem polnischen Stalinismus, die ihm das damalige Regime, in einem Augenblick der Unschlüssigkeit der Filmaufseher, zu drehen erlaubte.

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„Der Mann aus Hoffnung“ (2013). Wajda versucht die Figur Wałęsa wieder auf ihren einstigen Sockel zu hieven. Hier mit Wałęsa-Darsteller Robert Więckiewicz.

Im Jahr 1980 steckte sich Wajda kurzerhand das Solidarność-Abzeichen an sein Revers und verkündete, für Lech Wałęsa könne er ebenso Filme machen, wie auch dessen Chauffeur sein. Das meinte er ernst. Gut dreiβig Jahre später unternahm Wajda den filmischen Versuch, die durch beharrliche Selbsentblöβung zur Witzgestalt verkommene Figur Wałęsa wieder auf seinen einstigen Sockel zu hieven.

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Nicht einmal Wajda konnte auf Dauer das Renommee Lech Wałesas retten, einer inzwischen nur traurigen Figur, die keiner Peinlichkeit aus dem Weg geht.

Auf der Leinwand bekamen die Polen „Den Mann aus Hoffnung“ (2013) zu sehen, eine überzuckerte Geschichte vom einfachen Werftarbeiter, der im Alleingang den Kommunismus zu Fall brachte. In ihrer Erinnerung hatten sie zu diesem Zeitpunkt aber bereits Wałęsas katastrophale Präsidentschaft (1990 bis 1995) und seine, fast täglich in den Medien erscheinenden, grotesken, prahlerischen Darbietungen, die Berichte über seine Mitarbeit bei der Stasi und über eine Geldgier, die ihn vor den peinlichsten Auftritten nicht Halt machen ließ.

Nicht einmal ein Andrzej Wajda konnte auf Dauer das Renommee eines Lech Wałesa retten, der sich im Mai 2009 für fünfzigtausend Euro als Redner beim Römischen Kongress der EU-feindlichen Partei Libertas „einkaufen“ ließ und gleichzeitig den polnischen Nationalkonservativen ihre angebliche EU-Feindschaft zum Vorwurf machte.

In der bewegten Zeit der ersten Solidarność (August 1980 – Dezember 1981) drehte Wajda den „Mann aus Eisen“ eine Spielfilm-Hommage an die unabhängige Gewerkschaft. Premiere war im Juli 1981, gut vier Monate vor der Verhängung des Kriegsrechts und dem Verbot der Solidarność am 13. Dezember 1981 durch General Jaruzelski.

Comeback nach Zitterpartie

„Wenige Tage später erschien Andrzej Wajda im Arbeitszimmer des damaligen Kulturministers Józef Tejchma“, berichtete Jahre danach der Abteilungsleiter im Ministerium, Jerzy Bednarz, der bei dem Gespräch zugegen war. Etwa zehntausend Solidarność-Aktivisten waren interniert, das Ausnahmerecht mit Polizeistunde, Verhaftungswellen, Hausdurchsuchungen, Panzern und Militärposten auf den Straβen, der Schlieβung der Grenzen, das alles lag wie Blei auf dem Land.

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Wajdas Liebe zu Solidarność kühlte nach Verhängung des Kriegsrechts im Dezember 1981 deutlich ab. Die Gefängnisse waren voll, der Meister schwieg in Paris als Dank, dass ihn das Regime ausreisen lieβ.

Doch Solidarność-Fan Wajda kam nicht um zu protestieren. Der Unbeugsame „zitterte am ganzen Körper, verrenkte sich gleichzeitig zu immer neuen Verbeugungen, sah dem Minister tief in die Augen und bat inständig, der Ressortchef möge für ihn ein gutes Wort bei Innenminister Kiszczak einlegen.“ Nur Kiszczak konnte in den ersten Tagen des Kriegsrechts  verfügen, dass man Wajda einen Reisepass aushändigt. Der Meister wollte nach Paris, um an dem Film „Danton“ zu arbeiten.

Er bekam das kostbare Dokument. Als Gegenleistung schwieg Wajda einige Jahre lang eisern zur innenpolitischen Situation und der Menschenrechtslage in seinem Land, drehte wenig. Die Zeit zwischen 1982 und 1990 war zweifelsohne die unfruchtbarste in seiner Karriere.

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Mai 1989. Solidarność-Senatskandidat Wajda. Wahlplakat mit Chef.

Mitte 1989 wurde Solidarność wieder zugelassen und der begeisterte Andrzej Wajda engagierte sich für sie, als wäre nichts gewesen. Er kandidierte für die um Solidarność vereinigte Opposition für den Senat, die obere Kammer des Parlaments. Am wichtigsten jedoch war Wajdas Annäherung an Adam Michnik, seit 1989 der Guru und oberster Autoritätsverleiher in der selbsternannten polnischen „aufgeklärten Elite“.

Im Kampf gegen Dunkelpolen

Wajda widerfuhr das Schicksal der Antigone. Er hat seinen Vater nicht bestatten können. Hauptmann Jakub Wajda war 1939 in Ostpolen in sowjetische Gefangenschaft geraten. Im Frühjahr 1940 hatten ihn die Sowjets, nicht in Katyń bei Smolensk, sondern (im Rahmen derselben Massenmordaktion – insgesamt gut 24.000 getötete polnische Offiziere) in Charkow mit einem Genickschuss umgebracht.

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Andrzej Wajda (rechts, als Junge) mit Eltern. Hauptmann Jakub Wajda haben Sowjets im Frühjahr 1940 ermordet.

Wie Hamlet wusste Wajda wer die Mörder waren, doch rächen konnte er seinen Vater nicht. Mehr noch, nur durch den permanenten Kotau vor dem kommunistischen System, das seinen Vater in den Tod geschickt hatte, konnte er seine künstlerischen Fähigkeiten entfalten. Wajda tat es. Er wollte nicht so enden wie Maciek Chełmicki aus „Asche und Diamant“.

Das Russland-Fürchten und das Russland-Lieben-Wollen verknüpften sich bei ihm zu einer Obsession. In der Wajda-Verfilmung des Nationalepos „Pan Tadeusz“ von Adam Mickiewicz (1999) ziehen die Polen an der Seite Napoleons schneidig in den Krieg gegen Russland und der weise Jude Jankiel schüttelt nur traurig den Kopf.

In „Zwischen Feuer und Asche“ (1965), einem Monumentalfilm, der auf dem gleichnamigen Roman von Stefan Żeromski basiert, stellen sich die Polen massenhaft auf die Seite Napoleons, in der Hoffnung er werde ihrem dreigeteilten Vaterland die Unabhängigkeit schenken. Doch sie werden in Spanien und auf Santo Domingo in Mittelamerika verheizt oder kehren, wie Rafał Olbromski, erblindet und in Stroh eingewickelt aus der eisigen Kälte Russlands zurück. „Genug der Träumereien”.

Die zwanzig Jahre (1918-1939) polnischer Unabhängigkeit endeten in einem Desaster, das Wajda psychisch nie überwunden hat. Am Ende seines von Vorsicht, vom Lavieren, Abwägen und Abwarten geprägten Lebens musste der Regisseur 2005-2010 erleben wie zwei polnische Politiker, die Brüder Lech und Jarosław Kaczyński, begannen, Marschall Piłsudski gleich, mit den Partnern Polens auf gleicher Augenhöhe zu sprechen. Er war überzeugt, das endet wieder mit einer Katastrophe und er reagierte wie eine Furie.

Für Adam Michnik, dessen „Gazeta Wyborcza“ unermüdlich den Kampf gegen „Dunkelpolen“ organisiert und anheizt, war Wajda ein politisch äuβerst wertvoller Verbündeter. Seine Stimme hatte Gewicht, und das warf der Regisseur nun uneingeschränkt in Adam Michniks Waagschale.

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Im Jahr 2000 bekam Wajda den Oscar für sein Lebenswerk. Briefmarke der Polnischen Post aus diesem Anlass.

Keine Spur mehr von der einstigen Zurückhaltung. „Wajda“, so Janusz Wróblewski in der „Polityka“ (19. Oktober 2016) „unterschrieb nun pausenlos Proteste und Appelle gegen: die Rückkehr des Religionsunterrichts in die Schulen und gegen die „braune Gefahr“, die Polen in die Fänge der Inkompetenz, des Antisemitismus, der Fremdenfeindlichkeit, der Homophobie treibt“. An diese Apokalypse glaubte Wajda wirklich.

Ministerpräsident Jarosław Kaczyńskis Partei Recht und Gerechtigkeit verlor bereits 2007 die Wahlen. Sein Nachfolger Donald Tusk war Wajdas Liebling. 2010 kam Staatpräsident Lech Kaczyński ausgerechnet bei Smolensk, auf dem Weg zu den Katyń-Feierlichkeiten, durch einen Flugzeugabsturz ums Leben.

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Satt um Staatspräsident Lech Kaczyński und die anderen 95 Opfer der Smolensk-Flugzeugkatastrophe, lieber um die gefallenen Sowjets trauern. Gesagt getan: April 2010, Wajda auf einem Rotarmistenfriedhof.

Der verblendete Wajda fegte alle Hemmungen beiseite. Schon am dritten Tag nach der Tragödie, die die Nation in eine Schockstarre versetzt hatte, protestierten er und seine Ehefrau öffentlich gegen die Bestattung des Präsidentenpaares auf dem Wawel in Kraków. Anstatt um die 96 Opfer des Flugzeugabsturzes zu trauern, so ihr Aufruf, sollten sich die Polen lieber auf die sowjetrussischen Soldatenfriedhöfe begeben, ihrer „Befreier“ gedenken und so die polnisch-russische Freundschaft pflegen.

Der Tod eines gekränkten

Der alte Herr verwandelte sich in einen ruhelosen Polit-Aktivisten, teilte unbarmherzig aus, doch, wie so oft, war das Einstecken nicht seine Stärke. Zugleich verlor Wajda zunehmend den Bezug zur polnischen Realität. Seine Hysterie steigerte sich ins Unermessliche. Nach dem Tod Lech Kaczyńskis, während des vorgezogenen Präsidentschaftswahlkampfes (Bronisław Komorowski gegen Jarosław Kaczyński) im Juni 2010, verkündete er allen Ernstes im Fernsehen, Polen befinde sich bereits in einem Bürgerkrieg. Fünf Jahre später, im Mai 2015, bei der Bekanntgabe des Wahlsieges von Andrzej Duda erfasste ihn und seine Frau blankes Entsetzten, was auf einem Foto festgehalten wurde.

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Blankes Entsetzten. Wajda mit Ehefrau am 24. Mai 2015 bei der Verkündung des Wahlsieges des nationalkonservativen Präsidentschaftskandidaten Andrzej Duda.

Andrzej Wajda starb als ein Gekränkter. Er, die Verkörperung der an grenzenloser Überheblichkeit krankenden „aufgeklärten Elite“, hatte es nicht geschafft seinen albernen und törichten Polen Vernunft beizubringen, wo er doch am besten wusste, was für sie gut ist. Ein fähiger Regisseur hat sich übernommen. Seine Belehrungen und Unkenrufe sind verstummt, seine Filme sind geblieben. Die meisten möchte man nicht missen.

Andrzej Wajda fand seine letzte Ruhestätte im Familiengrab auf dem Salwator-Friedhof in Kraków.

© RdP




Als Polengetreuer nach Dachau

Am 2. Juni 2016 starb Pfarrer Hermann Scheipers.

Bis zuletzt besuchte er deutsche Schulen, um von seinem Leben und Leiden unter den Nazis und den Kommunisten zu berichten. Gutmütig lächelnd beantwortete er Fragen der Schüler und jedes Mal erwähnte er die Namen seiner Mithäftlinge, damit sie nicht in Vergessenheit geraten. Stets brachte er auch einen Fetzen seines längsgestreiften Häftlingsanzugs mit, an dem das Zwangskennzeichen, ein rotes Dreieck angenäht war.

Über dem roten Winkel, mit dem politische Häftlinge gekennzeichnet wurden, prangte seine Lagernummer 24255. Dabei mied Scheipers von jeher tunlichst die Politik. Er widmete sich ganz und gar der Seelsorge, doch unter den Bedingungen der braunen und roten Diktaturen, die das Christentum ausrotten wollten, war genau das eine hochpolitische Angelegenheit.

Priester im Dritten Reich

Wie verstand er seine Berufung? Scheipers weigerte sich z. B. ins Priesterseminar im tiefkatholischen Münster einzutreten. „Dort gab es genug Geistliche. Ich wollte dorthin, wo Priester fehlten“. So ging Scheipers, im Jahr 1913 im münsterländischen Ochtrup geboren, ins Priesterseminar im sächsischen Meiβen, in eine Gegend, in der es nur 4 Prozent Katholiken und viel zu wenige Priester gab.

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Bischof Petrus Legge (1882-1951).

Geweiht wurde Hermann Scheipers 1937 von Bischof Petrus Legge, der kurz zuvor in seine Diözese zurückkehren durfte. Die Nazis hatten den „Volksschädling“ Legge 1935 wegen „fahrlässiger Devisengeschäfte“ zu einer hohen Geldstrafe verurteilt und zwei Jahre lang an der Ausübung seines Bischofsamtes gehindert.

Schnell wurden die braunen Dienststellen auf den jungen Pfarrer aufmerksam. Seine erste Pfarrei war in Wermsdorf in Sachsen. Sie umfasste etwa 150 Dörfer, in denen verstreut einzelne Katholiken lebten. Scheipers fuhr zu ihnen mit einem Wagen, den man ihm im Herbst 1939 beschlagnahmte, weil Scheipers diesen “zur Verbreitung einer dem Nationalsozialismus feindlich gesinnten Weltanschauung“ benutze.

1938 organisierte Scheipers in Wermsdorf ein illegales Treffen des katholischen Quickborn-Jugendverbandes, das von der Gestapo aufgelöst wurde. Ab diesem Zeitpunkt wurde eine Akte über ihn angelegt, Spitzel überwachten ihn auf Schritt und Tritt.

Keine Untermenschen

Schon bald nach dem deutschen Überfall auf Polen am 1. September 1939 wurden polnische Zwangsarbeiter in die Gegend von Wermsdorf gebracht. „Sie waren schlecht untergebracht, bekamen sehr schlechtes Essen, wurden schlecht behandelt, mussten von früh bis spät schufteten, durften ihr Barackenlager in Mahles nicht verlassen, auch nicht am Sonntag, zur heiligen Messe“, berichtete Scheipers in einem Interview.

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Polnische Zwangsarbeiter. Schlecht untergebracht, schlecht verpflegt, schlecht behandelt.

„Ich habe mir damals gesagt: das sind keine Untermenschen, sie sind genauso Gotteskinder, wie die Deutschen. Wenn sie nicht zu mir dürfen, dann gehe ich eben zu ihnen, um den Gottesdienst zu feiern. Ich sprach kein Polnisch, aber ich hatte dort einen guten Übersetzer.“

Sein Mut wurde ihm zum Verhängnis. Am 4. Oktober 1940 kam die Gestapo. In der Begründung des Haftbefehls hieβ es: „Scheipers gefährdet die Sicherheit von Staat und Volk durch seinen freundlichen Umgang mit Vertretern einer feindlichen Nation“.

Das Grauen von Dachau

“Beim ersten Lagerappell in Dachau“, erinnerte sich Scheipers später, „wollte der SS-Mann wissen, warum ich hier sei. Ich habe geantwortet: »Wegen freundschaftlichen Umgangs mit Polen.« Daraufhin fragte der Wachmann: »Und wie alt war das Mädchen?«“

Priester wurden überwiegend in das Konzentrationslager im bayerischen Dachau eingewiesen. Im sogenannten Priesterblock waren 2720 katholische, evangelische und orthodoxe Geistliche aus ganz Europa untergebracht. 1780 von ihnen waren Polen. 1034 Geistliche überlebten Dachau nicht, davon stammten 868 aus Polen. Mehr dazu lesen Sie bitte hier.

Scheipers blieb in Dachau bis Ende April 1945, als es ihm gelang im Durcheinander der letzten Kriegstage zu flüchten. Seitdem legte er unermüdlich Zeugnis ab vom Grauen, das er selbst erlebt hatte und das er mitansehen musste.

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Pfarrer Alois Anditzki (1914-1943).

Anfang 1943 lag er zusammen mit dem sorbischen Priester Alois Andritzki in der Baracke für Typhuskranke. Im Sterben liegend, bat Andritzki einen Häftlingspfleger, ihm einen Priester zum Spenden der Heiligen Kommunion zu rufen und wurde von diesem mit den Worten: „Christus will er? Eine Spritze kriegt er!“ durch eine Giftinjektion getötet. Das berichtete Scheipers bei dem im Juli 1998 eröffneten Seligsprechungsprozess Andritzkis.

Den Roten ein Dorn im Auge

Nach dem Krieg kehrte Scheipers umgehend nach Sachsen zurück und wurde Gemeindepfarrer in Wilsdruff. Dort gelang es ihm 1953 tatsächlich bei den Behörden die Baugenehmigung für eine neue Kirche zu erwirken, die den Namen des Hl. Papstes Pius X. trägt. Es war das erste neu errichtete katholische Gotteshaus in der DDR und für lange Jahre auch das letzte.

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Kirche in Wilsdruff.

Vor allem die Jugendarbeit des rührigen Pfarrers war den roten Behörden, wie Jahre zuvor bereits den braunen, ein Dorn im Auge. Als er Anfang der 90er Jahre in seine Stasiakte einsah, erfuhr er, dass man ihm in den 60er Jahren den Prozess wegen „staatsfeindlicher Betätigung“ machen wollte. Fünfzehn Stasi-IMs wurden angesetzt, um ihn auszuhorchen.

In Anerkennung seiner Verdienste für Polen zeichnete ihn 2013 Staatspräsident Bronisław Komorowski mit dem Kavalierskreuz des Verdienstordens der Republik Polen aus.

Hermann Scheipers starb im Alter von 102 Jahren als letzter lebender Priesterhäftling von Dachau. Er war dorthin gelangt, weil er als deutscher Pfarrer seinen polnischen Glaubensbrüdern als Seelsorger dienen wollte.

© RdP




Hansdampf umgarnt die Massen

Am 21. Dezember 2015 starb Pater Jan Góra.

Für die Meisten war er ein Seelsorger und Visionär mit großer Ausstrahlung, der hunderttausende Jugendlicher, trotz aller Widrigkeiten und Ablenkungen der Moderne, für das Wort Gottes begeistern konnte. Es hieβ aber auch, er sei der Bürgerschreck der katholischen Kirche in Polen: eingebildet, eigensinnig, eigenmächtig, engagiert. Zweifelsohne war er einer der bekanntesten polnischen Geistlichen, vor allem, weil er niemanden gleichgültig lieβ.

Das unermüdliche Tun solcher Priester wie Jan Góra (fonetisch Gura) ist es, dass Leute wie den führenden Neomarxisten Polens, Sławomir Sierakowski in der linken „Gazeta Wyborcza“ (16. Januar 2016) entmutigt feststellen lässt: „Ohne die Schwächung der katholischen Kirche wird es keine nennenswerte Wählerschaft der Linken in Polen geben.”

An dieser Schwächung arbeiteten in der jüngsten Geschichte bereits nachhaltig und kontinuierlich: die deutsche Besatzungsmacht zwischen 1939 und 1945, die etwa fünftausend polnische Priester, Mönche und Nonnen in den Tod schickte (jeden fünften katholischen Geistlichen des Landes). Die sowjetischen und polnischen Kommunisten mit ihrer brutalen Atheismuspolitik. Nach 1989, die plötzliche Hinwendung zu Markt und Konsum, und mit ihr die klare „moderne“ Botschaft solcher Leute wie Sierakowski und der bis vor kurzem noch sehr einflussreichen „Gazeta Wyborcza“: Lieber Moneten als beten, Glaube und Kirche sind out.

Gewiss, die polnische Gesellschaft und mit ihr der polnische Katholizismus verändern ihr Gesicht, auch die Gläubigkeit polnischer Jugendlicher ist heute eine andere (wie diese aussieht, das kann man hier nachlesen). Vieles ändert sich in Polen, doch die Alltagsbeobachtung einer kraftvollen religiösen Vitalität, die von jungen Menschen mitgetragen wird, ist nach wie vor ganz bestimmt nicht trügerisch.

Glaube wie Luft und Wasser

Jan Góra wurde 1948 in Prudnik, einst Neustadt in Oberschlesien geboren. Mutter Helena, eine Textilarbeiterin, hatte ein Jahr zuvor Stanisław Góra, den Buchhalter der Fabrik, geheiratet. Beide waren polnische Vertriebene aus dem Osten des Landes, der 1945 endgültig an die Sowjets gefallen war. Sechs Kriegsjahre hatten sie schwer geprüft. Auf den kleinen Jan folgten schnell drei jüngere Brüder. „Der Glaube war in unserer Familie so selbstverständlich und allgegenwärtig, wie Luft, Wasser und Brot“, erinnerte sich Jahre später Pater Góra.

Geld war wenig vorhanden. Die Ferien verbrachte Góras ältester Sohn Jan regelmäβig auf dem Lande, in der Nähe der Stadt Tarnów, knapp dreihundert Kilometer östlich von Prudnik. Der Bruder des Vaters, ebenfalls mit dem Vornamen Jan, war dort Dorfpfarrer.

Der kleine Jan hat hautnah miterlebt, wie kommunistische Repressalien dem Priester das Leben schwer gemacht haben. Nach der Gleichschaltung aller Parteien, Verbände, Genossenschaften um 1948, war er, wie so viele andere Pfarrer, der einzige Fürsprecher, der den Dorfbewohnern geblieben war, in ihrer ständigen Auseinandersetzung mit der Willkür des kommunistischen Staates.

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Propaganda und Wirklichkeit. Landleben im kommunistischen Polen der 50er und 60er Jahre.

Dieser drückte den Bauern bei Nahrungsmitteln (Getreide, Kartoffeln, Schweine, Milch) immer höhere Zwangsabgaben (sog. Kontingente) zu Niedrigstpreisen auf. Wer sie nicht erbringen konnte, landete im Gefängnis, aus dem er nur herauskam, wenn er sich bereiterklärte der LPG (Kolchose) beizutreten.

Im Jahr 1956, im Zuge des politischen Tauwetters, das den Ostblock ergriffen hatte, endete die schlimmste Unterdrückung. Das Regime änderte seine Taktik. Statt auf Pseudo-Genossenschaften (LPGs), setzte es auf Staatsgüter. Diese erhielten jede erdenkliche staatliche Förderung, während den Privatbauern Kredite, knappe Maschinen, Kunstdünger, Baumaterial verwehrt wurden. Auf diese Weise sollten sie gezwungen werden ihr Land dem Staat gegen eine Altersrente zu überlassen. Das Ziel der endgültigen „Entprivatisierung“ der Landwirtschaft, die linientreue sowjetische und DDR-Genossen bei Polens Kommunisten ständig anmahnten, sollte hierdurch, auf Umwegen, erreicht werden.

Armut, Verfall, Ungerechtigkeit, Willkür, Landflucht, das Leben auf dem Dorf im Polen der 50er und 60er Jahre war sehr hart. Der Wille Priester zu werden keimte bei Jan sehr früh auf, aber eines Tages solchen Widrigkeiten die Stirn bieten zu müssen wie der Onkel, das überstieg in seiner Vorstellung damals noch seine Kräfte. Vergeblich hoffte Onkel Jan, der Neffe würde auf ein reguläres Priesterseminar gehen und später Gemeindepfarrer werden. Stattdessen klopfte Jan Góra im August 1966 an die Pforte des Dominikaner-Klosters in Poznań. Sechs Jahre später legte der 24-jährige sein ewiges Mönchsgelübde ab, nach weiteren drei Jahren erhielt er die Priesterweihe.

Ein Kumpel der fordert

Er war tief gläubig, aber Demut war nie seine Stärke. Góras Glück waren seine Vorgesetzten, die sein Temperament und seinen Tatendrang zum Wohle der Kirche und des Kirchenvolkes zu nutzen wussten. Von allen Seiten durch den kommunistischen Staat bedrängt, von der Nation verehrt und in die ungewollte, aber wahrgenommene Rolle der Fürsprecherin der Freiheit gedrängt, musste die Kirche ständig improvisieren. Dabei war Pater Góra in seinem Element.

Góra hoffte, die Dominikaner würden ihn weiter studieren lassen. Das bereits absolvierte Theologiestudium allein genügte ihm nicht. Doch stattdessen landete er 1975 im mittelpolnischen Tarnobrzeg (fonetisch Tarnobscheg), einer heute knapp fünfzigtausend Einwohner zählenden Stadt, in deren Nähe die Kommunisten damals gerade Europas gröβten Schwefeltagebau in Betrieb genommen hatten. Nach 1989 unrentabel geworden, hat sich dieses Gebiet inzwischen in eine Seenlandschaft verwandelt.

Als Pater Góra dort eintraf wurde die Kleinstadt, mit damals nicht einmal zwanzigtausend Einwohnern, von einem Ring aus Plattenbau-Siedlungen für zugezogene Arbeitskräfte umgeben. In den neu entstandenen Siedlungen durften, wie damals auch anderswo in Polen, natürlich keine Kirchen gebaut werden. Je weiter und beschwerlicher der Weg zur Kirche, umso weniger Kirchgänger, so das Kalkül der Kommunisten.

Pater Jan sollte hier den Religionsunterricht unterstützen. Den  hatten die Behörden bereits 1961 aus den Schulen verbannt, er durfte nur noch nachmittags in den Gotteshäusern stattfinden. Damit wollte der Staat die Kirche treffen, erreichte jedoch das Gegenteil. Denn auf diese Weise verlor er die Kontrolle über die Katechese und der freiwillige Gang zum Religionsunterricht wurde unweigerlich zu einer bewussten und demonstrativen politischen Geste.

Weiβe Kutte, lange Haare, abgetragene Wrangler-Jeans (ein in der kommunistischen Mangelwirtschaft schwer erfüllbarer Traum eines jeden jungen Polen), Turnschuhe, häufig einen kessen Spruch auf den Lippen, Pater Jan wurde schnell zum Idol der Jugend in Tarnobrzeg. Alle wollten in seinen Religionsunterricht, seine Gottesdienste waren übervoll. Er predigte kurz und prägnant, statt der Orgel erklangen Gitarren. Lange bevor das Klingelzeichen des Messdieners den Beginn der Jugendmesse verkündete, verscheuchte Pater Jan ältere Frauen aus der Kirche: „Geht nur, geht. Ihr könntet sonst noch den Glauben verlieren.“

Sich einschmeicheln, sich anbiedern, das war ihm fremd. Er war witzig und kumpelhaft im Umgang, oft lässig im Auftreten, zugleich aber stets klar in seinen Aussagen, wenn es um die katholische Morallehre ging. Vor den jungen Leuten stand ein missionierender Enthusiast, dem man es auf Anhieb ansah, dass er sie versteht, dass sie ihm wichtig sind, dass er sie nicht im Stich lässt, auch wenn er ihnen immer wieder mal die Leviten las.

Den Behörden in Tarnobrzeg war er zu erfolgreich. Sie bedrängten den örtlichen Bischof so lange, bis Pater Jan, nach drei Jahren, zu seinen Dominikanern nach Poznań zurückbeordert wurde.

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Dominikaner-Kirche in Poznań.

Jetzt hatten die kommunistischen Behörden in Poznań ein Problem mehr. Die geräumige Dominikaner-Kirche im Stadtzentrum war zwischen Ende der 70er und Ende der 80er Jahre an jedem Sonntag um 17 Uhr brechend voll. Dicht an dicht lauschten Schüler und Studenten den Predigten von Pater Jan.

Unter ihnen die drei Gymnasiasten: Paweł Kozacki, Tomasz Dostatni und Wojciech Prus. Der Erste von ihnen ist heute Prior aller polnischen Dominikaner, der Zweite – Pfarrer und namhafter katholischer Publizist, der Dritte, ebenfalls ein Mitbruder, leitet den Dominikaner-Verlag in Poznań. „Ich wollte so sein wie Góra“, sagt Prus heute.

„Darf ich mich mit Ihnen anfreunden?“

Als Kind lernte Jan Góra während seiner Ferienaufenthalte in der Gegend von Tarnów auch das verfallene Dorf Jamna kennen. Im Zuge einer Antipartisanenaktion hatten deutsch-ukrainische Unterverbände der SS-Division „Galizien“ Jamna Ende September 1944 niedergebrannt, die Einwohner wurden ermordet. Geblieben war auf einer Anhöhe das ruinierte, alte Schulgebäude. Ein verlassener Ort.

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Jamna, eines von Pater Góras Werken: von Deutschen im Krieg niedergebranntes Dorf in Jugend-Seelsorge-Zentrum „Respublica Domincana“ verwandelt.

1992 schenkte die Gemeinde den Dominikanern aus Poznań diese Anhöhe. Nach und nach verwandelte Pater Jan Góra sie gemeinsam mit hunderten jugendlicher Helfer in das Jugend-Seelsorge-Zentrum „Respublica Domincana“. Die Schule und weitere verfallene Gebäude wurden renoviert oder neu gebaut. 2001 war die Holzkirche fertig, errichtet im schönen, ortsüblichen Baustil der Goralen, der Berghirten- und Bauern, die die hohe Tatra und die Vortatra-Region bewohnen. Studenten, Pfadfinder, aber auch Jugendliche, die Probleme haben und die Seelsorge der Dominikaner in ganz Polen in Anspruch nehmen, gehen in Jamna das ganze Jahr über ein und aus.

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Neue Kirche in Jamna.

„Es gibt vier Personen, die aus Nichts etwas machen können: die Dreifaltigkeit und Jan Góra.” Dieser Ausspruch passte sehr gut zum Aquarell, das in seinem Arbeitszimmer hing. Demutsvoll beichtete darauf ein Mann dem Dominikaner-Pater seine Sünde: „Ich habe Pfarrer Jan nicht geholfen.“

Jan Góra wurde nie müde zu verkünden, die Dominikaner seien ein Bettelorden und er habe das Betteln perfekt zu beherrschen gelernt. Traf er vermögende Leute, dann lieβ er seinen Standardspruch hören: „Darf ich mich mit Ihnen anfreunden?“ Er liebte es zu erzählen, wie er Lednica dank Damenhöschen gekauft hat.

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Ob Esel, Unternehmer oder Papst. Es gab niemanden, den Pater Góra in seine Werke nicht einspannen konnte.

Eines Tages kam eine Dame zu ihm, die ihr Herz erleichtern wollte. Nach einem längeren Gespräch zeigte Góra ihr ein Schreiben von Johannes Paul II., in dem der Papst dessen Vorhaben segnete. „Ich habe den Segen, aber ich habe kein Geld“, sagte Pater Góra zu ihr. „Und ich habe Geld, aber keinen Segen“, antwortete die Frau. Sie erzählte ihm, sie habe eine Firma die Damenunterwäsche herstelle. Pater Góra daraufhin: „Darf ich mich mit Ihnen anfreunden?“. Zwei Tage später fertigte der Notar zu Gunsten der von Pater Góra ins Leben gerufenen Stiftung eine Urkunde über den Erwerb von 40 Hektar Land in der Nähe des Lednica-Sees aus.

Lednica war sein gröβtes Werk

Das katholische Lednica-Jugendfestival war Pater Góras liebstes Kind und sein gröβtes Werk. Es findet seit 1997 am ersten Samstag im Juni statt. Neunzehnmal rief er die Jugendlichen auf, zu den Wiesen zwischen Poznań/Posen und Gniezno/Gnesen, zum gröβten katholischen Jugendtreffen der Welt ohne Anwesenheit des Papstes zu kommen.

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Der Fisch von Lednica als Tor und als Altar.

Es ist ein geschichtsträchtiger Ort, denn auf der Insel Ostrów im Lednica-See lieβen sich der polnische Fürst Mieszko I. und sein Hofstaat im Jahr 966 taufen. Die Geschichte des polnischen Staates nahm so ihren Anfang. „Hier hat Polen Christus gewählt. Auch ihr habt das gemacht, als ihr herkamt“, rief Pater Góra jedes Mal zur Begrüβung den jungen Menschen zu, die durch das groβe Tor strömten, das dem christlichen Symbol des Fisches nachempfunden ist. Es dient auch als Altar.

Die während der ganzen Nacht stattfindende Gebetswache ist voller Musik, Tanz, Symbole. Hunderte von Priestern, Mönchen, Nonnen sind dort als Ansprechpartner zugegen. Am Rande wirde gebeichtet, gebetet, geredet über Gott und die Welt.

Am 2. Juni 1997 kreiste der Hubschrauber mit Johannes Paul II. an Bord über den Wiesen von Lednica und Zehntausende winkten ihm zu. Der Papst war wieder einmal zu Besuch in seinem Heimatland. Eingebunden in ein dichtes Programm, wollte er auf Pater Góras Bitten hin, wenigstens mit dieser Geste zeigen, wie wichtig ihm die Jugend von Lednica ist.

Pater Góra bewegte Himmel und Erde, um die Jugend zum Kommen zu bewegen. Fallschirmspringer landeten auf den Lednica-Wiesen, Kunstflieger zeigten ihr Können. Das eine Mal bekam jeder Teilnehmer eine Lebkuchenpackung, dann wiederum ein kleines Messingkreuz, ein buntes Halstuch oder einen Brevier. Ganz Polen schrieb für Lednica per Hand die Bibel ab. Góra setzte den bereits gebrechlich gewordenen Primas von Polen Józef Glemp in ein wackeliges Boot, um eine brennende Fackel von der Insel Ostrów zu den Wiesen zu bringen. Einmal wollte er Mini-Weinfläschchen verteilen, benötigte dafür einhunderttausend kleine Korken. Er schrieb an den Bischof im portugiesischen Porto, wo Korkeichen wachsen, und bekam was er brauchte.

Auch den Papst verstand er für seine Ideen zu begeistern

Selbst Johannes Paul II. hatte Pater Góra sich um den Finger gewickelt. Der Papst bewunderte sein Engagement, seine verrückten Ideen, seinen Erfolg bei der Jugend. Schlieβlich ging es um die Zukunft der Kirche. So lange er lebte, nahm er jedes Jahr eine kurze Rede auf, die bei der Eröffnung von Lednica abgespielt wurde. Er segnete die Geschenke für die jungen Pilger, aber das alles war Pater Góra zu wenig.

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Pater Góra und Johannes Paul II: „Kann mir jemand sagen weshalb ich mich auf diesen Kerl eingelassen habe?“

Bei einem der privaten Mittagessen, zu dem er im Vatikan hinzu gebeten wurde, bat er den Papst einen Abguss von dessen Hand nach Polen mitnehmen zu dürfen. Am Abend tauchte Johannes Paul II. die rechte Hand in ein Gefäβ mit flüssigem Silicon. Mit dem Zeigefinger der linken Hand klopfte er gegen seine Stirn und fragte lachend seinen Sekretär Pater Dziwisz: „Kann mir jemand eigentlich sagen weshalb ich mich auf diesen Kerl eingelassen habe?“
Im Seelsorge-Zentrum von Lednica gibt es ein kleines Johannes-Paul II.-Museum. Der Abguss ist dort nicht zu übersehen.

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Bei Pater Góras Wirken und Werken hatte Johannes Paul II. seine Hand oft im Spiel. Der Abguss der Papst-Hand in Lednica soll daran erinnern.

In seinem Leben forderte er stets Höchstleistungen von sich, schonte sich nicht. Er starb so wie es einem Priester wie ihm zustand: vor dem Altar, während er die Messe zelebrierte.

Pater Jan Góra fand seine letzte Ruhestätte auf den Lednicer Wiesen. Staatspräsident Andrzej Duda verlieh ihm posthum das Groβkreuz des Ordens der Wiedergeburt Polens (Polonia Restituta). Das Lednica-Jugendfestival wird 2016 zum zwanzigsten Mal stattfinden. Das erste Mal ohne ihn.

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© RdP




Herr aller Agenten

Am 5. November 2015 starb Czesław Kiszczak.

Das Böse hat viele Gesichter. Manchmal erscheint es in Gestalt eines gut aussehenden, beredten und höflichen kommunistischen Polizeiministers, der sich so zuvorkommend und jovial gibt, dass sogar seine Opfer diesem Charme erliegen. Prominentestes Beispiel: Adam Michnik, einst namhafter Dissident und Bürgerrechtler.

Michnik und Kiszczak lernten sich erst im Frühjahr 1989 bei den Gesprächen am runden Tisch persönlich kennen. Bald darauf begann man sich, in kleiner Runde, am Rande der Verhandlungen, zu internen Konsultationen beim Wodkatrinken zu treffen. Vor kurzem noch Kiszczaks Häftling, prostete Michnik, im Beisein Lech Wałęsas und einiger anderer Solidarność-Gröβen, dem obersten Gefängniswärter zu: „Ich trinke, Herr General, auf eine Regierung, in der Lech Wałęsa Ministerpräsident und sie Innenminister sein werden“.

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Von links: Lech Wałesa, Adam Michnik und Kiszczak stoβen an. Frühjahr 1989.

Die Verbrüderung zwischen einem wesentlichen Teil der wichtigsten „Solidarność“-Aktivisten, ihren intellektuellen Beratern und dem „flexiblen“, „marktorientierten“, sprich: wetterwendischen Teil der kommunistischen Elite, nahm ihren Anfang. Dreizehn Jahre später, 2001, bescheinigte Adam Michnik seinem einstigen Peiniger „ein Mann der Ehre“ zu sein. Denselben Satz gab er dem General nach weiteren vierzehn Jahren mit auf den Weg ins Jenseits. Adam Michniks Verständnis von „nationaler Versöhnung“ war und bleibt in Polen sehr umstritten.

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Frühjahr 1989. Mittagspause am Runden Tisch. Die Anfänge der „nationalen Versöhnung“. Von links: Tadeusz Mazowiecki, Czesław Kiszczak, Adam Michnik (stehend) und Lech Wałęsa.

 Sowjet-Freibrief für eine Stasi-Karriere

Sein ganzes Berufsleben verbrachte Kiszczak (phonetisch: Kischtschak) in den finsteren Labyrinthen der kommunistischen politischen Polizei, vor allem bei ihrem militärischen Ableger, der Armee-Staatsicherheit. In den Anfangsjahren (1945-1956) der kommunistischen Volksrepublik Polen, als Kiszczak dort seine Karriere begann, wütete diese noch grausamer als die zivile Staatssicherheit.

Czesław Kiszczak wurde 1925 im Dorf Roczyny, knapp 60 km südwestlich von Kraków, geboren. Seinen Vater, einen Hüttenarbeiter, hatte man in den 30er Jahren wegen kommunistischer Umtriebe mehrere Male entlassen.

Kiszczak war sechzehn, als ihn die Deutschen, Anfang 1941, nach einer Razzia, zur Zwangsarbeit nach Breslau/Wrocław verschleppten. Bald darauf steckten sie ihn in ein Arbeitslager in der sogenannten Błędów-Wüste, am östlichen Rand Oberschlesiens. Auf dem gut 30 Quadratkilometer groβen, sandigen Gelände übten damals Teile des Deutschen Afrikakorps für ihren Einsatz. Ein paar Hundert Polen mussten dabei niedrige Arbeiten für die Truppe verrichten. Danach brachte man sie zum Kohleabbau in die „Preussengrube“ im oberschlesischen Mechtal/Miechowice. Von dort gelang es Kiszczak ins anliegende Generalgouvernement zu fliehen. Er tauchte in Kraków unter, geriet Mitte 1944 jedoch erneut in eine deutsche Razzia und wurde wieder zur Zwangsarbeit verpflichtet, dieses Mal auf dem Eisenbahngelände in Wien-Hütteldorf.

Kiszczak Wiedeń
Mit der Eroberung Wiens durch die Sowjets 1945 begann Kiszczaks Stasi-Karriere.

Ein Kroate vermittelte ihn dort an eine kommunistische Untergrundgruppe. Als die Sowjets am 7. April 1945 einrückten, halfen Kiszczak und seine österreichischen Genossen angeblich dabei eine kleine russische Panzerkolonne, auf Umwegen, hinter die nahe gelegenen deutschen Stellungen zu bringen. Das Vorhaben gelang. Wurde Kiszczak damals von der sowjetischen politischen Polizei NKWD angeworben? Auf dem Rückweg nahm er jedenfalls das Schreiben eines hohen russischen Offiziers mit. Es öffnete ihm nicht nur den Weg durch alle russischen Kontrollen, es war auch der Passierschein für eine lebenslange Stasi-Karriere im kommunistischen Polen. Der polnische Erich Mielke war geboren.

Als er im Mai 1945 wieder zu Hause ankam, wussten die entsprechenden Dienststellen bereits Bescheid. Kiszczak durfte sofort in die kommunistische Partei (PPR) eintreten, gelangte nach Łódź, zu einem dreimonatigen Lehrgang an der Zentralen Parteischule. Er beabsichtigte zu studieren, aber die Genossen wollten ihn in der Armee haben. Ein weiterer Lehrgang, diesmal für Polit-Offiziere, folgte. Das ihm durch die Sowjets entgegengebrachte Vertrauen, war somit, im November 1945, die beste Empfehlung für die Aufnahme in die Hauptverwaltung Information (Główny Zarząd – phonetisch: Saschond – Informacji – GZI).

Bei der GZI handelte es sich um die politische Polizei der Armee, fest in der Hand sowjetischer Berater. Es war ein Terrorinstrument, ständig auf der Suche nach „inneren Feinden“, das sich unermüdlich, einem monströsen Fleischwolf gleich, eine breite, blutige Schneise durch die Reihen der Armee bahnte.

„Die Hauptverwaltung Information, das war die Stasi hoch zwei (…). Leute, die zuerst durch die Gefängnisse der zivilen Staatssicherheit (Urząd – phonetisch: Uschond – Bezpieczeństwa – UB) gegangen waren, beteten wieder dorthin zurück zu gelangen, obwohl der berüchtigte Oberst Różański (phonetisch; Ruschanski) und seine Schergen dort wüteten, denn alles war besser als die GZI. Hier saβen die allerschlimmsten Sadisten und Mörder“, so der polnische Historiker Paweł Wieczorkiewicz.

Die GZI hatte ihre Dienststellen in allen Wehrkreiskommandos, Divisions- und Brigadestäben, Garnisonen und Militärschulen. 1952, mitten im Koreakrieg, zählte die Armee des kommunistischen Polens ca. 350.000 Mann. Für die GZI arbeiteten damals etwa 4.000 Beamte und ein Netz aus rund 24.000 Zuträgern unter den Offizieren, Soldaten und Zivilangestellten der Armee. Der Dienst verhaftete zwischen 1944 und 1956 etwa 17.000 Personen, von denen nicht ganz eintausend zu Tode gefoltert oder zum Tode verurteilt und in den Folterkellern hingerichtet wurden.

Ein Lamm unter Wölfen

Sowjetische Berater brachten ihm Ende 1945 das „A und O der Spionagebekämpfung bei“, so Kiszczak Jahrzehnte später. Er habe niemals jemanden gefoltert oder verhört, lediglich Zuträger angeworben und sie überwacht. Ja, er bekam Fragmente von Verhörprotokollen auf seinen Schreibtisch, aber wie diese zustande kamen, habe er nicht gewusst. Verhört wurde in den Kellern, um dorthin zu gelangen musste man einen Passierschein haben. Was da vor sich ging wusste er nicht. Auf diese Weise wusch Kiszczak nach dem Ende des Kommunismus in Interviews und Erinnerungen seine Hände in Unschuld. Ein Lamm unter Wölfen.

Bereits in ihren Anfängen bekam die GZI eine weitere wichtige Aufgabe zugewiesen: die Bekämpfung der Heimatarmee (Armia Krajowa – AK), der Untergrundarmee, die der Exilregierung in London unterstand und für ein demokratisches Polen nach dem Krieg kämpfte. Weiterhin ging es darum, die sich zwischen 1945 und 1947 in Auflösung befindenden polnischen Streitkräfte im Westen und die weitverzweigten Strukturen der Regierung im Exil zu unterwandern.

Dies war auch Kiszczaks erster groβer Auftrag. Im November 1946 wurde der gerade 21-Jährige nach London geschickt, in die dortige „Militärmission“ der Warschauer kommunistischen Regierung. Seine Aufgabe: die diskrete Begutachtung („Filtration“) polnischer Soldaten im Exil, die sich allen Warnungen zum Trotz, für die Rückkehr ins nun kommunistische Polen entschieden hatten.

Erst Anfang November 2016 wurden im Zentralen Militärarchiv in Warschau zufällig zwei Mappen mit etwa einhundert Seiten seiner Berichte aus Londin gefunden. Sie waren nirgenwo erfaβt und eigentlich hätten sie im Archiv des Instituts des Nationalen Gedenkens sein müssen, wo alle Akten der polnischen Stasi lagern.

Es sind genaue Schilderungen der Militäterlaufbahnen der Rückkehrer bei den polnischen Streitkräften im Exil, ihrer politischen Einstellungen, ihrer Lebenssituationen. Das alles landetet in der Warschauer GZI-Zentrale  noch bevor die Betroffenen aus England in Polen eintrafen. Kiszczak unterhielt im Londoner polnischen Exilantenmilieu ein Netz von bezahlten Zuträgern. Nicht selten veranlassten seine Berichte Durchsuchungen, Beschattungen, Verhaftungen und Folter.

Der Goldjunge

In London war Kiszczak dann auch an einem gaunerhaften Bravourstück der Warschauer Geheimdienste beteiligt. Drei hohe polnische Exil-Militärs: Gen. Stanislaw Tatar, Oberstleutnant Marian Utnik und Oberst Stanisław Nowicki wurden von der polnischen Exil-Regierung in London 1945 zu Treuhändern eines Schatzes bestimmt: 350 kg Gold und 2,5 Mio. US-Dollar. Beides sollte Kriegsveteranen zugutekommen.

Dieses zur damaligen Zeit enorme Vermögen war im Zuge einer Volksspenden-Aktion, die im Vorkriegspolen zwischen 1936 und 1939 durchgeführt worden war, sowie einer weiteren Sammlung unter den Amerika-Polen in der Kriegszeit, zum Zwecke der Aufrüstung der polnischen Streitkräfte, zusammengekommen. Das in der Vorkriegszeit gesammelte Bargeld (ca. 40 Mio. Zloty, damals ≈ 10 Mio. US-Dollar) war in Polen selbst bis zum Jahre 1939 bestimmungsgemäβ ausgegeben worden. Mutige Beamte der Polnischen Nationalbank schafften es dann im September 1939, in den Wirren des deutsch-sowjetischen Überfalls auf Polen, 350 kg Gold sowie 2.400 kg Silber aus der Volks-Sammlung , unter dramatischen Umständen, auβer Landes zu bringen.

Doch die drei Treuhänder von 1945 begingen Verrat. Geködert mit dem Versprechen im kommunistischen Polen in der Armee in hohe Ämter und Würden zu kommen, überlieβen sie den Schatz den Kommunisten. Der Militärattaché des kommunistischen Polens in London, Oberst Chojecki und seine Leute, zu denen auch Kiszczak gehörte, schmuggelten den Schatz in zwei Transporten, auf dem Luftweg, von London nach Warschau.

Die drei Verräter wurden dort zunächst mit allen Ehren begrüβt, jedoch kurz darauf verhaftet und anschließend, nach monatelangen, grausamen Untersuchungen, 1951 zu hohen Haftstrafen verurteilt. 1956 wurden sie rehabilitiert und entlassen. Der Schatz, den sie treuhänderisch verwalten sollten, hatte sich zwischenzeitlich in den dunklen Kanälen der mafiaähnlichen kommunistischen Machtstrukturen in Nichts aufgelöst.

Kiszczak Stanisław Tatar
Auf der Anklagebank 1951: Gneral Stanisław Tatar…

Kiszczak Marian Utnik
…Oberstleutnant Marian Utnik…

Kiszczak Stanisław Nowicki
…und Oberst Stanisław Nowicki.

Nach der gelungenen Operation „TUN“, so benannt nach den Anfangsbuchstaben der Namen der drei Überläufer, wurde Kiszczak im August 1947 aus London in die GZI-Zentrale abgezogen. Durch die Armee wälzte sich derweil eine Säuberungswelle nach der anderen. Offiziere der polnischen Vorkriegsarmee, Militärs die während des Krieges in der Heimatarmee oder bei den polnischen Streitkräften im Exil gekämpft hatten, Armeeangehörige mit falscher sozialer (d.h. „bürgerlicher“) Zugehörigkeit wurden ausfindig gemacht, oft denunziert, verhaftet, bestialisch gefoltert, in Schau- oder Geheimprozessen verurteilt.

Auch Kiszczak denunzierte um die eigene Haut zu retten. Denn, wer nicht anschwärzte, der legte keine „revolutionäre Wachsamkeit“ an den Tag. Einige seiner Londoner Kollegen kamen ihm im Nachhinein ziemlich verdächtig vor, alle landeten daraufhin im Kerker. Das geht aus fragmentarisch erhaltenen Akten hervor.

Im Juni 1951 übernahm der 26jährige Kiszczak die GZI-Dienststelle in der 18. Infanteriedivision in Białystok und wurde somit buchstäblich Herr über Leben und Tod von gut fünftausend Offizieren und Soldaten. Ob Mannschaften oder Kommandeure, allen schlotterten die Knie, wenn der GZI-Mann sie zum Gespräch zitierte.

Kiszczak rettet Jaruzelski. Der Beginn einer innigen Freundschaft

Im Oktober 1952 wurde Kiszczak nach Warschau zurückbeordert und zum Chef der Abteilung III gemacht, zuständig für die Überwachung der gesamten GZI-Tätigkeit im Wehrkreis I (Warschau) und die Begutachtung von Offiziersanwärtern sowie Offizieren, die aus der Armee verstoβen werden sollten.

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Erfahrungsaustausch. Innenminister und Stasi-Chef Czesław Kiszczak auf Besuch beim Amtskollegen Erich Mielke (2. v. r.) in Ostberlin 1988. Rechts Erich Honecker.

Zum Überwachungsauftrag gehörte auch die Militärakademie des Generalstabes. Mitte 2000 entdeckte der polnische Historiker Wojciech Sawicki in der Gauck-Behörde Kiszczaks (dort fälschlich „Kiszak“ geschrieben) Stasiakte (Nr. 1763) und in ihr ein Schriftstück, das aufgrund eines Gespräches in Warschau entstanden sein muss. Die Quelle wird nicht erwähnt.

MfS HA II/10 ZMA 1763, s. 92:
Quelle der HA I, Bereich Aufklarung der MfNV
14.3.1986
Anlage 2 Blatt 2
Waffengeneral Czesław K i s z a k , Minister des Innern
Die Entwicklung enger Beziehungen zwischen Waffengeneral Kiszak und Armeegeneral Jaruzelski begann Anfang der 50er Jahre, als Genosse Jaruzelski als Ausbildungsoffizier an der Militärakademie des Generalstabes tätig war.
Genosse Kiszak war zu dieser Zeit als Hauptmann für die Spionageabwehr an dieser Lehreinrichtung eingesetzt. Im Jahre 1952 wurde Genosse Jaruzelski von Hauptmann Kiszak als „Inoffizieller
Mitarbeiter” gewonnen, von ihm verpflichtet und zur Erfüllung von Abwehraufgaben genutzt. Die Zusammenarbeit wurde als sehr aktiv und wertvoll eingeschätzt.
Als Ende des Jahres 1952 der ehemalige Chef der Politischen Hauptverwaltung der Polnischen Armee, General Kasimierz Witaszewski, die Forderung stellte, den Genossen Jaruzelski aufgrund seiner bürgerlichen Herkunft aus der Armee zu entlassen, beschaffte Genosse Kiszak entsprechende Beweise für eine auβerordentlich positive Grundhaltung und Einstellung des Genossen Jaruzelski zu Staat und Armee.
Im Laufe der folgenden Jahre gab es stets enge Beziehungen zwischen den Genossen Kiszak und Jaruzelski. Besonders in der Zeit seiner Tätigkeit als Chefaufklärer der Polnischen Armee, versorgte Waffengeneral Kiszak General Jaruzelski und dessen Familie mit Waren aus dem Ausland, die er als Geschenke über die im Ausland tätigen Militärattachés beschaffen ließ.
Eine besonders enge Verbindung besteht zwischen den Ehefrauen von Armeegeneral Jaruzelski und Waffengeneral Kiszak, die bedeutend dazu beitragen, dass die Beziehungen zwischen beiden Familien nicht gestört werden.“ Soweit das Stasi-Dokument.

Jaruzelski, das wissen wir aus polnischen Stasiarchiven, war bereits seit Ende März 1946 Zuträger des GZI mit dem Decknamen „Wolski“ gewesen. Das geht aus einer 2005 aufgefundenen Agentenkartei hervor. Jaruzelskis „Arbeitsakte“ als Zuträger, mit seinen Denunziationen, wurde Ende der 80er Jahre allerdings vernichtet.

Kiszczak, 1952 aufgefordert Jaruzelskis Rausschmiss zu besiegeln, hatte ihn sicherlich nicht angeworben, denn dann hätte er nichts vorzulegen, sondern seine 1946 angelegte Zuträger-Akte angefordert. Sie muss so viele überzeugende „Verdienste“ des Agenten Jaruzelski aufgewiesen haben, dass auf seine Entfernung aus der Armee, trotz „bürgerlicher Herkunft“, verzichtet wurde.

Eine Hand wäscht die andere

Zwischen 1953 und 1957 verzeichnete Kiszczaks Karriere dann einen Knick. Er landete, offensichtlich aufgrund interner Intrigen, in der Ödnis der Finanzverwaltung des Verteidigungsministeriums. Jaruzelskis dienstliches Fortkommen dagegen verlor nicht an Tempo. Er wurde im Dezember 1953 zum Oberst, im Juli 1956 zum Brigadegeneral und Chef der Verwaltung aller Akademien und Schulungseinrichtungen der polnischen Armee befördert.

Es war eine bewegte Zeit. Im März 1953 starb Stalin, im Februar 1956 rechnete Chruschtschow auf dem 20. Parteitag der KPdSU in Moskau mit dessen Verbrechen ab. Ein politisches Tauwetter erfasste, in unterschiedlichem Maβe zwar, den gesamten Ostblock, am stärksten Ungarn, wo es zu einem Volksaufstand kam, und Polen, wo es dem neuen Parteichef Gomułka jedoch gelang die damalige explosive Lage unter Kontrolle zu bringen.

So kehrten die sowjetischen Berater heim. Die blutige GZI wurde in den Armee Innendienst (WSW) umgewandelt, in dem sich zugleich die Funktionen der Feldjäger, des militärischen Abschirmdienstes und der Armee-Staatssicherheit vereinten. Diesen neuen Dienst, zwar immer noch repressiv, aber nicht mehr folternd und mordend, sollte Kiszczak mit aufbauen.

Kiszczak Jaruzelski
General Wojciech Jaruzelski (links) und sein Inneminister Czesław Kiszczak (rechts) 1987 bei einem Besuch in Südostpolen.

Jaruzelski, zwischen 1957 und 1965, Chef der Szczeciner Garnison, ab 1965 Chef des Generalstabes und ab 1968 Verteidigungsminister, protegierte Kiszczak nach Kräften. Das Vertrauen der Sowjets tat sein Übriges dazu. Der Armee-Finanzverwaltung entkommen, wurde Kiszczak Chef des WSW-Dienstes in der Kriegsmarine, dann WSW-Chef im Wehrkreis Schlesien, der ganz Südwestpolen umfasste und schlieβlich stellv. WSW-Chef in Warschau.

Derweil wurde Parteichef Gomułka im Dezember 1970, in Folge der schweren Unruhen in Polens Küstenstädten, gestürzt. Die Nachfolge trat Edward Gierek an. Kiszczaks groβer Aufstieg erfolgte 1972. Verteidigungsminister Jaruzelski machte seinen Getreuen zum Chef der 2. Verwaltung des Generalstabes. Hinter dieser nichtssagenden Bezeichnung verbarg sich der militärische Auslandsgeheimdienst.

Der Chefspion ist überfordert

Das war zwar viel Ehre, aber die Last des Amtes überforderte den neuen Chef. Er war ein geübter Stasi-Mann, der bis dato durch seine Spitzel zu kontrollieren hatte, ob Offiziere inkognito in der Nachbargemeinde zur Sonntagsmesse gingen oder ihre Kinder taufen ließen, wer politische Witze in der Kantine riss, wer zu viel trank oder der Spielsucht verfiel. Das alles waren „Risikofaktoren“ der damaligen Zeit.

Jetzt hofften Jaruzelski und die Sowjets, der bis dahin eher erfolglose polnische militärische Auslandsgeheimdienst werde unter Kiszczak endlich wertvolles Material aus westlichen Rüstungsschmieden und Verteidigungsministerien liefern. Doch es blieb alles beim Alten.

Der polnische Historiker Prof. Sławomir Cenckiewicz, der wohl beste Kenner der Materie, beschreibt in seinen Publikationen die Misere. 1973 stammten z. B. gut 90% aller im Westen von polnischen Militärattachés und ihren Handlangern beschafften Unterlagen (Karten, Pläne, technische Beschreibungen usw.) aus legalen Quellen (Zeitungen, Zeitschriften, Buchhandlungen, Bibliotheken). Erfolgreicher waren Kiszczaks Agenten lediglich in der Bespitzelung der Auslandspolen („Unternehmen Skorpion“) und ihrer „feindlichen, antikommunistischen Tätigkeiten“. Ein Feld, das sie gemeinsam, jedoch oft auch in Konkurrenz und Streit, mit den als Diplomaten getarnten Agenten der zivilen Stasi (SB) beackerten. Überläufer versetzten Kiszczaks Dienst immer wieder schwerste Tiefschläge. Es war eine Katastrophe.

Man kann sich vorstellen, wie froh der leidenschaftliche Stasi-Mann gewesen sein muss, als er, wieder dank Jaruzelski, im April 1979 auf den Stuhl des obersten WSW-Chefs wechseln durfte. Im Land braute sich derweil über dem Regime Ungutes zusammen. Karol Wojtyła war schon seit einem halben Jahr Papst. Das machte den Polen Mut. Das im Westen hochverschuldete kommunistische Land war wirtschaftlich am Ende. Die groβen Streiks im Sommer 1980 fegten Parteichef Edward Gierek hinweg. „Solidarność“, die erste freie Gewerkschaft im Ostblock entstand und sollte sechzehn Monate lang, bis Dezember 1981, das Geschehen im Lande bestimmen.

Der Polizeiminister

Verteidigungsminister Jaruzelski, die letzte Hoffnung der Sowjets und einheimischer Kommunisten den fortschreitenden Zerfall des Systems aufzuhalten, wurde im Februar 1981 ebenfalls Ministerpräsident und im Oktober 1981 außerdem noch Parteichef. Seinen treuen Kiszczak machte er im Juli 1981 zum Innenminister und, bald darauf, zum Mitglied des Politbüros, des höchsten Gremiums der kommunistischen Partei.

Eigentlich hätte die Bezeichnung Polizei- statt Innenminister viel besser zu Kiszczaks neuer Funktion gepasst. Ihm unterstanden die Staatssicherheit (25.000 Beamte und 90.000 Zuträger), die Miliz (Polizei, 80.000 Beamte) mit ihren brutalen, kasernierten Bereitschaftskräften (13.000), die Grenzschutztruppen (15.000), die Truppen der inneren Sicherheit (20.000), der Bahnschutz (3.000) usw. Auch den militärischen Sicherheitsapparat WSW (8.000), den er eigentlich verlassen hatte, hatte Kiszczak mittels ihm ergebener Mitarbeiter, fest im Griff.

Kiszczak w gabinecie
General Kiszczak auf dem Höhepunkt seiner Macht 1984.

Kiszczaks wichtigste Aufgabe war es, die Verhängung des Kriegsrechts am 13. Dezember 1981 insgeheim vorzubereiten und blitzschnell umzusetzen, und so „Solidarność“ ein Ende zu bereiten.

Das gelang. Kiszczak führte die Aufsicht, als etwa zehntausend Menschen in der Nacht vom 12. auf den 13. Dezember 1981 im gesamten Land schlagartig festgenommen wurden. Ganz Polen konnte durch massive Miliz- und Armeepräsenz, Sperren, Kontrollen, die Einführung der Polizeistunde, die Abschaltung der Telefone usw. lahmgelegt werden. Aber es gab Ausnahmen. So erschoss die Polizei am 16. Dezember in der Steinkohlegrube „Wujek“ in Katowice 9 Bergleute und verwundete 24, um einen Besetzungsstreik zu beenden.

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Von der Miliz am 16. Dezember 1981 erschossene Bergleute der Grube „Wujek“.

Weitere 39 Personen kamen bis zur formellen Aufhebung des Kriegsrechts im Juli 1983 um. Meistens wurden sie im Verlauf von Demonstrationen erschossen oder auf Polizeistationen zu Tode geprügelt. Allein bei den landesweiten Protesten und Unruhen am 31. August 1982 (2. Jahrestag der Unterzeichnung der Vereinbarungen in der Lenin-Werft in Gdańsk zwischen den streikenden Arbeitern und den kommunistischen Machthabern und somit der Entstehung der zwischenzeitlich verbotenen „Solidarność“) erschoss die Miliz im niederschlesischen Lubin/Lüben drei Menschen und verwundete knapp einhundert schwer.

Kiszczak Lubin 2
Erschossene Demonstranten in Lubin am 31. August 1982.

Kiszczak Lubin 1

Später wurden die oppositionellen Priester Jerzy Popiełuszko (Oktober 1984), Stefan Niedzielak und Stanisław Suchowolec (beide im Januar 1989), Sylwester Zych (Juli 1989) ermordet, ebenso wie der Bauernführer Piotr Bartoszcze (phonetisch: Bartoschtsche) im Februar 1984. Bis auf Popiełuszko, bei dessen Entführung und Ermordung es zu einer Panne kam und die Stasi-Täter enttarnt wurden, blieben die übrigen Mörder, die ihre Opfer massakriert und deren Leichen schlicht weggeworfen hatten, „unerkannt“.

Kiszczak Popiełuszko 1

Kiszczak Popiełuszko 2
Pfarrer Jerzy Popiełuszko: lebend und nach seiner grausamen Ermordung im Oktober 1984.

Kiszczaks Sicherheitsapparat hatte auch sonst alle Hände voll zu tun. Es galt die „Solidarność“ im Untergrund zu bekämpfen und zu unterwandern, das
riesige und sehr vielfältige illegale Verlagswesen einzudämmen, den Schmuggel von Kopierern und Druckmaschinen aus dem Ausland zu unterbinden, die weitverzweigten Strukturen der Kirche zu überwachen, die zunehmend rebellische Jugend… In einem Land, in dem zu jener Zeit kaum etwas mehr funktionierte, lief Kiszczaks Überwachungsmaschinerie auf Hochtouren, aber auch sie konnte nicht zaubern.

Der dramatische wirtschaftliche Verfall des kommunistischen Polens war nur ein Teil der ökonomischen Katastrophe des gesamten Ostblocks. Präsident Reagans erfolgreiche Bestrebungen die Sowjets „totzurüsten“ und das Chaos, in das Gorbatschows „Perestroika“ die Sowjetunion stürzte, beraubten die polnischen Genossen ihrer letzten Illusionen. Auf „brüderliche“ Hilfe, wie in Ungarn 1956 oder in der Tschechoslowakei 1968, konnte man nicht mehr hoffen. Die Flucht nach vorn war angesagt.

Ein Mann des Vertrauens. Die Opposition ist beeindruckt

Jaruzelski setzte wieder einmal seinen Kiszczak in Marsch. Er war es, der die ersten Sondierungen Anfang 1988 unternahm, um herauszufinden ob und wie man mit der Untergrund-„Solidarniość“ ins Gespräch kommen könnte. Die katholische Kirche leistete wertvolle Vermittlerdienste. Kiszczak war der „Hausherr“ der Gespräche am Runden Tisch mit der Opposition. Sie begannen am 6. Februar und endeten am 4. April 1989 mit der Unterzeichnung von Vereinbarungen, die das Ende des Kommunismus in Polen einläuten sollten: Wiederzulassung der „Solidarność“, halbfreie Wahlen im Juni 1989, legale oppositionelle Medien.

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Beratungen am runden Tisch 6. Februar bis 4. April 1989.

Kiszczak, der gewiefte, souveräne Verführer, beeindruckte seine einstigen Opfer. Manche mehr, wie Adam Michnik, manche weniger, aber fast alle betrachteten ihn schon bald als den wichtigsten Garanten der getroffenen Abmachungen auf der Gegenseite. Er zeigte sich ja auch im besten Licht, gab sich seriös und verbindlich, war entgegenkommend und höflich, wenn nötig auch gesellig und gastfreundlich.

Zugleich verfügte er über das geballte, jahrzehntelang angehäufte Wissen der Stasi. Er wusste bestens Bescheid, wer unter seinen Gesprächspartnern sich irgendwann von der Stasi als Zuträger hatte anwerben lassen. Es gab sehr viele Oppositionelle, die solche peinlichen Episoden in ihrem Leben gehabt hatten. Manche denunzierten bis zuletzt, nicht wenige verweigerten sich irgendwann und wurden dadurch selbst zu Objekten der Bespitzelung und von Repressalien. Allen voran, wie wir heute wissen, gehörte Lech Wałęsa zum Kreis dieser Leute. Kiszczak war damals der Bürge dafür, dass dieses Wissen nicht nach Auβen trat, und Kiszczak hatte sie alle in der Hand.

Dass das keine Hirngespinste waren stellte sich bereits vier Monate nach Kiszczaks Tod heraus. Mitte Februar 2016 erschien beim damaligen Präsidenten des Instituts des Nationalen Gednekens in Warschau, dass die gesamten polnischen Stasiakten verwaltet, Kiszczaks Witwe Maria. Sie brachte ein Aktenstück mit, als Kostprobe. Es betraf die IM-Tätigkeit Lech Wałesas aus der ersten Hälfte der 70er Jahre.

Frau Kiszczak behauptete einige Mappen mit solchen Akten zu Hause zu haben und bot an sie dem Institut zu verkaufen. Eine kurz darauf angeordnete Durchsuchung in Kiszczaks Haus in Warschau förderte das komplette Stasi-IM-Dossier Lech Wałęsas (Deckname „Bolek“) aus den Jahren 1970 bis etwa 1975 zutage, mit seinen Berichten über Kollegen aus der Werft, Geldquittungen usw. Kiszczak hat diese Akten „privatisiert“, sie waren seine „Lebeneversicherungspolice“.

Als Staatspräsident (1990-1995) hat Lech Wałęsa  seine Vetrauten (alles ehem. Stasi-Beamte, jetzt in den Geheimdiensten des demokratschen Polens) nach diesen Akten in allen ehem. Stasi-Archiven suchen lassen. Die fragmantarischen Funde, die sie gemacht haben, konnten sie so gut es ging vernichten. Die komplette Akte lagerte bei Kiszczak .

Kiszczak w Sejmie
Kiszczak als designierter Ministerpräsident auf der Regierungsbank im Sejm im Juli 1989. Ein Kbinett zu bilden gelang  ihm nicht.

Die halbfreien Wahlen fanden im Juni 1989 statt. Kurz darauf wurde Kommunisten-Führer und „Herr über das Kriegsrecht“ Wojciech Jaruzelski, mit Hilfe von „Solidarność“-Abgeordneten, zum Staatspräsidenten gewählt. Jaruzelski bestimmte Kiszczak zum designierten Ministerpräsidenten mit dem Auftrag ein Kabinett zusammenzustellen. Doch der Kommunismus zerbrach, die beiden jahrzehntelangen Vasallen (Blockparteien) der Kommunisten (Bauernpartei und die sog. Demokratische Partei) „fassten all ihren Mut zusammen“ und stellten sich auf die Seite der „Soilidarność“. Nach mehreren Wochen musste der bisherige Polizeiminister das Handtuch werfen. Es gab für ihn keine Mehrheit im Sejm.

Im August 1989 wurde der intellektuelle Berater der „Solidarność“-Führung Tadeusz Mazowiecki der erste nichtkommunistische Ministerpräsident Polens nach 1945. Ein Koalitionskabinett entstand, in dem die Kommunisten das Verteidigungsressort (Gen. Florian Siwicki) und das Innenministerium (Gen. Czesław Kiszczak) behielten.

Kiszczak Mazowiecki
Innenminiser Kiszczak und Ministerpräsident Tadeusz Mazowiecki im September 1989.

Eingebettet in die neu entstehende politische Wirklichkeit, nicht, wie in der DDR, gestört von den die Stasibüros stürmenden Massen, konnte Kiszczak ein Jahr lang seinen Dienst in aller Ruhe abwickeln. Lange taten Mazowiecki & Co. so, als wüssten sie von nichts, tief im Inneren froh darüber, dass der General die stinkende Last der Vergangenheit entsorgte. Monatelang wurden aus den Stasi-Behörden im ganzen Land Tonnen von Akten zur Vernichtung in Papiermühlen und Groβöfen gefahren. Auch wurde wichtiges Archivmaterial „privatisiert“. Stasi-Offiziere nahmen es auf Mikrofilme auf oder entwendeten Akten. Es waren ihre „Überlebenspolicen“. Verbindungsoffiziere des sowjetischen KGB nahmen Filmkopien vieler später vernichteter Aktenbestände mit nach Moskau.

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Der 1984 ermordete Abiturient Grzegorz Przemyk.

Anfang Juli 1990 trat Kiszczak zurück. Es war der Inhalt eines vergessenen Panzerschrankes in der Hauptkommandantur (Präsidium) der Warschauer Miliz, der den Stasi-Chef und politischen Partner sogar für Mazowiecki und seine Leute nicht mehr tragbar erscheinen ließ. Im Mai 1990 waren dort 28 Bände Untersuchungsakten im Fall der Ermordung des 19-jährigen Warschauer Abiturienten Grzegorz Przemyk (phonetisch: Pschemik) aufgespürt worden. Beim feuchtfröhlichen Feiern nach bestandenen Prüfungen, Mitte Mai 1983 in der Warschauer Altstadt festgenommen, war Przemyk in der nahegelegenen Polizeiwache mit Gummiknüppeln so schwer zusammengeschlagen worden, dass er zwei Tage später im Krankenhaus an den Folgen starb.

Die Sache kam an die Öffentlichkeit, eine Welle wütender Proteste erfasste  die Hauptstadt. Massive Fälschungen von Beweismaterial, Einschüchterungen von Zeugen, die Kiszczak beauftragt und penibel überwacht hatte, dazu eine von ihm angeordnete landesweite Propagandakampagne, hatten dazu geführt, dass die Täter seinerzeit von der „Justiz“ „freigesprochen“ wurden. Dafür waren zwei ahnungslose Sanitäter, die das Opfer im Krankenwagen ins Hospital gebracht hatten, nach einer brutalen Untersuchung, zu jeweils 2,5 Jahren Gefängnis verurteilt worden. Sie hatte man beschuldigt den Abiturienten massakriert zu haben.

Der Luxusrentner, der die Justiz abzuwimmeln wusste

Fünfundzwanzig Jahre lang lebte Kiszczak im Ruhestand, zuletzt ausgestattet mit einer Traumrente von 9.000 Zloty (ca. 2.100 Euro). Die Durchschnittsrente in Polen beträgt nach 40 Jahren Arbeit 1.600 Zloty (knapp 400 Euro). Trotz vieler Proteste, lieβ sich aus der Sicht der acht Jahre lang amtierenden Tusk-Kopacz-Regierung, „juristisch nichts daran ändern.“

Die einzige unangenehme Folge seiner langjährigen Stasi-Tätigkeit war für Kiszczak sicherlich das lästige Abwimmeln der unbedarften Versuche der Justiz, ihn zur Verantwortung zu ziehen. Dabei behilflich war ihm ein bewährtes Ärzte-Team aus dem Dunstkreis des ehem. Innenministeriums, das Kiszczak und vielen anderen kommunistischen Spitzenfunktionären, nach Bedarf, eine volle oder teilweise Prozessunfähigkeit aus gesundheitlichen Gründen bescheinigte. So z. B. attestierten ihm die Mediziner im Mai 1998 eine akute Herzinfarktgefahr, die ihm die Teilnahme am Prozess unmöglich machte. Im Dezember 1998 bestieg der rüstige General allerdings ein Flugzeug und verbrachte Weihnachten und Neujahr am Roten Meer in Ägypten.

Kiszczak z pieskiem
„Schwer krank“ und doch sehr beweglich. „Kiszczak tobt mit dem Hündchen“ heiβt es in der Schlagzeile vom Juni 2014.

Von Dezember 1991 bis Juni 2013 (22 Jahre lang) dauerten die Versuche (fünf Verfahren) den stets „schwer kranken“ Kiszczak wegen des Massakers in der Grube „Wujek“ im Dezember 1981 zur Rechenschaft zu ziehen. Nebenbei bemerkt dauerte es 28 Jahre lang (1991-2009) bis Kiszczaks Untergebene, die Milizionäre die die neun Bergleute ermordet hatten, rechtskräftig verurteilt waren. Sieben Jahre lang (2008-2015) zog sich das Verfahren ohne Ergebnis hin, in dem Kiszczak, Jaruzelski und andere angeklagt waren, das Kriegsrecht im Dezember 1981 unberechtigter Weise verhängt zu haben. Vier Jahre lang dauerte das Verfahren gegen Kiszczak wegen seiner Manipulationen zwischen 1983 und 1984 in der Untersuchung der Todesursache des Schülers Grzegorz Przemyk. Es wurde wegen Verjährung eingestellt.

Der Historiker Piotr Osęka zog nach dem Bekanntwerden von Kiszczaks Tod die Bilanz:

„Längst Rentner, gab er stets zu verstehen, dass er vielen Leuten der Opposition, die 1989 und 1990 flehend zu ihm kamen, einen Gefallen tat und ihre Stasiakten, die von ihrer Spitzeltätigkeit zeugten, vor ihren Augen einem Reiβwolf anvertraute. Das stimmt nicht. So etwas hat nie stattgefunden. Kiszczaks Sensationen waren aus den Fingern gesogen. Es waren Symptome seiner Lügensucht. Er wollte ins Wespennest stechen. Es bereitete ihm Genugtuung, dass er seine Opfer, die er einst ins Gefängnis steckte, jetzt verunsichern und gegeneinander ausspielen konnte. Als ein erfahrener Stasi-Mann war er ein Meister im Manipulieren von Menschen.“

Czesław Kiszczak starb im Alter von 90 Jahren in Warschau und wurde auf dem hauptstädtischen orthodoxen Friedhof beigesetzt.

© RdP




Hochmut kommt vor dem Erfolg

Am 25. Oktober 2015 starb Wojciech Fangor.

Seine schier grenzenlose Fantasie, seine Schaffenskraft, ein hohes Maß an Kunstverstand und sein unermüdlicher Arbeitseifer brachten ihm den wohlverdienten Titel eines Klassikers der polnischen zeitgenössischen Kunst ein.

Oft war er mit seinen Ideen, ob zu Environment- oder Op-Art-Werken, der internationalen Kunst voraus. 1970 bekam Wojciech Fangor, als bisher einziger polnischer Künstler, eine Einzelausstellung im Guggenheim-Museum in New York. Der umgängliche, eher menschenscheue Eigenbrötler konnte, wenn es darauf ankam, durchaus selbstbewusst auftreten: „Ich höre immer wieder, dass Fangor so gut sei, weil er eine Bilderschau bei Guggenheim hatte. Nein, ihr Lieben, er hatte sie, weil er so gut ist.“

Seine lange künstlerische Laufbahn bestand aus einer Vielzahl von radikalen Brüchen und Neuanfängen, einer unaufhörlichen Suche, aus Experimenten, aus Vertiefungen der Seh- und Empfindungserfahrung. Fangor ist Farbe, Form, Raum. Kubismus, Op-Art, Klassizismus.

Fangor SM34 y 1974 r.
Fangor-Bild „SM34“ von 1974.

„Wenn ich das Thema wechsle, wechsle ich auch die Ausdrucksmittel. Das unterscheidet die Perioden meines Schaffens. Aber meine Bilder – dünn oder dick, klein oder groß, sommersprossig oder schielend – stammen, obwohl von verschiedenen Müttern, alle von einem Vater. Alle gehören zu einer Familie und existieren in ein und derselben Zeit“.

Fangor Postaci
Fangor-Huldigung an den sozialistischen Realismus: „Gestalten“ (1950).

Fangor Matka Koreanka
„Koreanische Mutter“ (1951).

Als Wojciech Fangor 1922 in Warschau auf die Welt kam, war sein Vater gerade emsig dabei sich zum Millionär emporzuarbeiten. Der agile Drogeriehändler Konrad Fangor stieg in der Zwischenkriegszeit rechtzeitig auf Buntmetalle um und belieferte polnische Waffenhersteller mit Halbzeug aus Messing, Kupfer, Blei und Aluminium. Staatliche Aufträge für seine Kunden schützten ihn vor den Auswirkungen der Weltwirtschaftskrise, die auch Polen damals schwer in Mitleidenschaft zog.

Fangor Kucie kos 1954
„Sensen werden geschmiedet“ (1954). Wandmalerei im Warschauer Museum des Aufstandes von 1863.

So konnte Fangors Mutter Wanda, eine Berufspianistin, ihren künstlerischen Neigungen nach Lust und Laune frönen: Bilder und Antiquitäten sammeln, Gedichte schreiben, durch Europa reisend Kunst genieβen. Fünfzehnjährig stand Sohn Wojciech 1937 an ihrer Seite im Spanischen Pavillon auf der Internationalen Ausstellung in Paris vor Pablo Picassos „Guernica“.

Zeichnen und Malen war seit den frühsten Jahren seine Leidenschaft. Wojciech war zwölf, als die Mutter einen Packen seiner Arbeiten zu Tadeusz Pruszkowski, einem herausragenden Porträtmaler und Hochschullehrer sowie damaligem Rektor der Akademie der Bildenden Künste (ASP) in Warschau, brachte. Pruszkowski war angetan und nahm sich des Jungen, zusammen mit seinem Akademie-Kollegen, Felicjan Kowarski, an.

Unter ihrer Anleitung tauchte Wojciech ganz und gar in die Welt der Malerei ein. Nach dem Abitur wollte er an der ASP studieren, doch die Deutschen hatten sie nach ihrem Einmarsch im September 1939, wie alle polnischen Hochschulen, geschlossen. So blieb es während der ganzen Besatzungszeit beim Privatunterricht. Der Vater wurde zwar von einem deutschen „Treuhänder“ aus seiner Firma gejagt, konnte sich aber, dank seiner guten geschäftlichen Kontakte, dennoch über Wasser halten.

Tadeusz Pruszkowski begleitete Wojciech fast bis zur Mitte des Jahres 1942. Ende Juni 1942 geriet der Professor in Warschau in eine Razzia der Gestapo und wurde erschossen, als er zu fliehen versuchte. Pruszkowski und Kowarski praktizierten beide die klassische, akademische Malerei auf sehr hohem Niveau. Fangor bereute nie bei ihnen das Handwerk gelernt zu haben, aber er wollte Neues ausprobieren.

Erst einmal jedoch  waren die Zeiten nicht danach. Nach dem Warschauer Aufstand (1.08 – 3.10.1944), der Vertreibung der verbliebenen Bevölkerung sowie der sich anschließenden planmäβigen Zerstörung der Stadt durch die Deutschen, welcher bis Mitte Januar 1945 die Russen vom anderen Weichselufer aus zugesehen hatten, bevor sie sich endlich entschlossen das Ruinenmeer zu „befreien“, kehrte Fangor in die völlig zerstörte Hauptstadt zurück. Seine Privatausbildung wurde anerkannt, bereits 1946 erhielt er sein ASP-Hochschuldiplom und bekam eine Dozentenstelle.

Fangor Strzeż tajemnicy państwowej 1951 Fangor Pozdrawiamy kobiety

Fanfor Festiwal Młodzieży 1955
Fangor-Propagandaplakate: Schütze die Staatsgeheimnisse“ (1950), „Wir grüβen Frauen die für den Frieden und das Aufblühen des Vaterlandes arbeiten‘ (1953), „5. Weltfestspiele der Jugend und Studenten in Warschau“ (1955).

Wie im ganzen Ostblock, so beherrschte auch im kommunistischen Nachkriegspolen der sozialistische Realismus bis Mitte der 50er Jahre die Kunstlandschaft. Der Bedarf war enorm: Transparente, Banner, Plakate, Konterfeis der „Heiligen des Kommunismus“ wie Marx, Engels, Lenin, Stalin. Dekorationen zum 1. Mai, zum 22. Juli (kommunistischer Nationalfeiertag), zum Jahrestag der russischen Oktoberrevolution usw. Fangor malte Propaganda, aber mit Talent. Seine Bilder „Gestalten“ (1950), „Koreanische Mutter“ (1951) und die Wandmalerei „Sensen werden geschmiedet“ (1954) gelten heute als mit die wichtigsten Werke des sozialistischen Realismus in der polnischen Malerei. Ebenso seine Plakate aus jener Zeit, wobei seine Filmaffiche zu den „Mauern von Malaga“ des französischen Regisseurs René Clément aus dem Jahr 1952 als ein Vorbote der später berühmt gewordenen polnischen Schule der Plakatkunst angesehen wird.

Fangor Mury Malapagi 1952
Fangor-Plakat zum Film „Mauern von Malaga“ (1952).

Mit Josef Stalins Tod 1953 und dem bis zum Herbst 1956 immer schneller um sich greifenden politischen Tauwetter, brachen auch die Dämme des aufgezwungenen sozialistischen Realismus. Endlich konnte Fangor seiner Fantasie freien Lauf lassen. Abstrakte Kunst war sein Element. Der Raum als künstlerisches Material sollte von nun an seine Kunst beherrschen.

Fangor Czarna Carmen 1959
Sozialistischer Realismus adieu. Fangor-Plakat zum Film „Carmen Jones“ (1959).

Bereits 1957 zeigte er in der Zachęta-Galerie in Warschau die zusammen mit den Architekten Oskar Hansen und Stanisław Zamecznik realisierte „Räumliche Komposition“. Im folgenden Jahr stellte er, gemeinsam mit Zamecznik, das „Studium des Raums“ im Salon der Neuen Kultur in Warschau vor. Es handelte sich um das erste Environment zwischen Elbe und Wladiwostok. Environment ist eine künstlerische Arbeit, die sich mit der Beziehung zwischen dem Gegenstand und seiner Umgebung auseinandersetzt. Die Umgebung wird zu einem Teil des Kunstwerkes.

Fangor Struktury przestrzenne 1969
Fangor-Environment „Studium des Raums“.

Schnell wurde es Fangor in Polen zu eng. In dem nach außen hin so ruhigen Einzelgänger kochte geradezu der Drang die „richtige“, weite Welt der modernen Kunst nicht nur zu erleben, sondern sie mitzugestalten. Auf den Hochmut folgte der Erfolg.

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Wojciech Fangor in seinem Atelier in Warschau 1959. Auf dem Sprung in die „richtige“, weite Welt der modernen Kunst.

1961 lieβen ihn die Behörden mit einem Stipendium des Institute for Contemporary Art in der Tasche nach Washington gehen. Es war der Beginn einer 38 Jahre lang dauernden Odyssee, die erst 1999 mit Fangors Rückkehr in die Heimat enden sollte.

Mit einem Stipendium der Ford Foundation ging er anschlieβend nach Westberlin, unterrichtete danach in der Bath Academy of Art in Corsham/Wiltshire in England. Er wohnte zwischen 1966 und 1999 in den USA, wo er an den führenden Kunsthochschulen des Landes, der Farleigh Dickinson University, Madison, N.J. und der Graduate School of Design, Harvard University, Cambridge, Massachusetts kontinuierlich Vorlesungen hielt.

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„Buc Wheat“ aus dem Zyklus Fernsehbilder.

Fangor widmete sich in den 60er und 70er Jahren ganz und gar dem Minimalismus und der optischen Kunst (Op-Art), die beim Betrachter überraschende, auch irritierende, Seheffekte erzeugt, die Vorstellung von Bewegung, Flimmern, Pulsieren sowie optische Täuschungen. Es war in Fangors Schaffen die Periode der Bilder und Nachbilder mit Kreisen, Wellen, Streifen und dunstigen, verschwommenen Rändern. Die 37 Arbeiten dieser Art, die er 1970 bei Guggenheim in New York zeigte, gelten bis heute als bahnbrechend für die Entwicklung der Op-Art als Kunstrichtung.

Mitte der 70er Jahre kehrte Fangor zur figurativen Malerei zurück. Er malte dreidimensionale Studien von Innenräumen, trat ein in den Dialog mit bekannten Werken der Kunstgeschichte, schuf eine Serie von „Fernseharbeiten“, die er mit einem Netz von Punkten/Pixeln bedeckte, wodurch der visuelle Effekt einer Fernsehübertragung erreicht wurde.

In seinen neuen Werken griff er oft auf frühere Arbeiten zurück. Er vergrößerte sie auf dem Bildschirm, wählte Fragmente aus, druckte davon große Schautafeln und überarbeitete sie, spielte mit ihnen, verband das Neue mit dem Alten.

Fangor machte Kunst nach Gefühl, aus dem Bauch heraus. Das Theoretisieren überlieβ er anderen. „Die Theorien ergeben sich aus den Bildern und nicht die Bilder aus den Theorien“, pflegte er zu sagen.

Fangor F27 1970 r.
Fangor-Bild „f27“ von 1970.

Seinen enormen Erfolg konnte er auch anhand der Preise, die seine Werke erreichten, messen. Dem Warschauer Auktionshaus Desa Unicum gelang es Anfang Oktober 2015 sein Bild „M58“ von 1970 für umgerechnet ca. 220.000 Euro zu verkaufen. Wenige Tage zuvor ging Fangors Bild „M64“ aus dem gleichen Jahr beim Auktionshaus Polswiss Art in Warschau für ca. 145.000 Euro über den Ladentisch. Preise aus den Jahren 2013-2014: „M15“ von 1970 – ca. 150.000 Euro, „M8” von 1969 – 120.000 Euro. Am 30. September 2015 schlieβlich, dieses Mal bei Christie’s in New York, bezahlte ein Bieter für einen Fangor gut 200.000 Euro.

Fangor metro
Fangor-Kunst in der Warschauer Metro.

Alle diese Werke gelangten in Museen und Privatsammlungen. Für die große Allgemeinheit zugänglich ist Fangors Schaffen nur in Warschau. Im Jahre 2007 übernahm er die grafische Gestaltung aller Stationen der 2. Strecke der Warschauer Untergrundbahn. Als die Stadt versuchte seine vorher von ihr akzeptierten und bezahlten Entwürfe zu „vereinfachen“, prozessierte er und gewann.

Nach der Rückkehr nach Polen kaufte und renovierte der Künstler aufwendig ein altes Mühlenhaus im Dorf Błędów (phonetisch: Buenduw), etwa 60 km südlich von Warschau.

Dort arbeitete er bis zuletzt, und dort starb er mit 93 Jahren. Wojciech Fangor wurde auf dem Warschauer Powązki (phonetisch: Powonski)-Friedhof beigesetzt.

© RdP




Schlächter wider Erwarten

Am 1. Oktober 2015 starb Stanisław Kociołek.

Viereinhalb Jahrzehnte lang tat Stanisław Kociołek alles, um den Verdacht von sich zu weisen, er habe im Dezember 1970, während des Arbeiteraufstandes an der polnischen Ostseeküste, vorsätzlich Menschen in die Gewehrläufe des Militärs und der Miliz getrieben.

Der 17. Dezember 1970 ist als der „Blutdonnerstag“ in die neueste polnische Geschichte eingegangen. Eine S-Bahn nach der anderen hielt ab fünf Uhr früh an der Haltestelle Gdynia Stocznia/ Gdingen Werft. Eine dichte Masse von Arbeitern, Angestellten, Berufsschülern, Studenten ergoss sich in immer neuen Wellen aus den Zügen. Alle waren auf dem Weg zu ihren Betrieben in der unmittelbaren Umgebung: zur Werft, zum Hafen, zur Handelsmarine-Schule. Der einzige Weg vom Bahnsteig dorthin, führte über eine Fuβgängerbrücke, die die benachbarte Fahrbahn überspannte.

Dröhnende Durchsagen aus einem Militärlautsprecher, die Werft sei bis auf weiteres geschlossen, versetzten die Menschen zugleich in Angst und Staunen. Ungläubig starrten sie von oben auf das waffenstrotzende Heerlager unter ihnen. Den Abgang von der Brücke versperrten Truppentransporter, Panzer, Ketten von Wachposten. Chaos und Ratlosigkeit ergriffen zunehmend Besitz von der Menge, während von hinten immer mehr Neuankömmlinge nachdrängten. Die vorderen Reihen am unteren Treppenende näherten sich mehr und mehr den Uniformierten.

Kociołek Gdynia
16. Dezember 1970.  An der S-Bahn-Haltestelle Gdynia Werft kam es nach den Schüssen auf die zur Arbeit gehenden Menschen zu schweren Zusammenstöβen mit dem Militär und der Miliz.

Als sich gegen sechs Uhr früh etwa dreitausend Menschen auf dem Bahnsteig, auf und vor der Brücke befanden, feuerte das Militär mehrere lange Maschinengewehrsalven in die Menge. Zehn Menschen waren sofort tot, viele Dutzende wurden verletzt. Die Sterbenden, die Verwundeten und die in Panik Flüchtenden stellten sich damals nur die eine Frage: „Wieso das alles? Hat uns Kociołek gestern Abend im Fernsehen nicht ausdrücklich aufgefordert an die Arbeit zurückzukehren?“

Genosse Stalin hat immer Recht

Stanisław Kociołek wurde 1933 in Warschau geboren. Ein Arbeiterkind aus armen Verhältnissen. Seine Mutter wusch von früh bis spät die Wäsche fremder Leute. Der Vater, ein Eisenbahner, war als Sympathisant der Kommunisten bekannt. Während der Bruder seines Vaters ein echter Kommunist war. Stanisławs Onkel floh Anfang der 30er Jahre in die Sowjetunion und wurde dort, kurz nach seiner Ankunft, durch einen Genickschuss liquidiert. Er war nicht der einzige.

Während der groβen Terrorwelle, erging im August 1937 nämlich auch der sogenannte „Polen-Befehl“ Nr. 00485: alle Polen seien der Spionage, Sabotage und anderer konterrevolutionärer Verbrechen schuldig, und zu beseitigen. Die „Polen-Hatz“ dauerte in der ganzen Sowjetunion bis 1938, allein die Herkunft war ausschlaggebend. Bilanz laut NKWD-Statistik: von den 139.835 verhafteten Polen wurden 111.091 erschossen, von den verbliebenen kamen die meisten innerhalb eines Jahres in Lagern um.

Zudem lieβ Stalin 1938 die Kommunistische Partei Polens (KPP), wegen angeblicher ideologischer Unzuverlässigkeit, auflösen, ihre in der Sowjetunion lebenden Führungskader, samt Familienmitgliedern, ermorden. Überlebt haben letztendlich nur die Kommunisten, die als politische Häftlinge in polnischen Vorkriegsgefängnissen saβen. Doch ob vor oder nach Stalins Säuberungen, die KPP war in der Vorkriegszeit in der polnischen Gesellschaft stets eine Randerscheinung, eine „Sekte“ ohne jeglichen ernstzunehmenden politischen Einfluss.

Der Vater Kociołeks und die Genossen, die gelegentlich vorbeikamen, munkelten viel, doch ihr Glaube an den Kommunismus, daran, dass der Genosse Stalin schon weiβ, was er tut, und die Partei immer recht behält, war unerschütterlich. All das hörte der frühreife Stanisław, aufgeweckt und belesen wie er war, von klein auf zu Hause. Seinem Vertrauen in den Kommunismus und in die Sowjetunion tat das sein ganzen Leben lang nicht den geringsten Abbruch.

Den Krieg, der am 1. September 1939 begann, überlebte die Familie in der Hauptstadt. Als im Oktober 1944, nach der Kapitulation des Warschauer Aufstandes, die Stadt von der Zivilbevölkerung geräumt wurde und die Deutschen die planmäβige Zerstörung der übriggebliebenen Bebauung in Angriff nahmen, wurde auch das Haus der Kociołeks irgendwann dem Erdboden gleichgemacht. Als Flüchtlinge kampierten sie derweil, wie Zehntausende ihresgleichen, im Durchgangslager Pruszków unweit der Stadt. Im Durcheinander auf einem Bahnsteig entkamen sie von dort, als sie mit einem Transport in Viehwaggons weggebracht werden sollten. Später erfuhr Kociołek, dass der Zug nach Auschwitz fuhr.

Das Wunderkind der Partei

Mitte Januar 1945 überquerte die Rote Armee endlich die Weichsel und „befreite“ das menschenleere Trümmerfeld Warschau, dessen Entstehung sie vier Monate lang tatenlos vom östlichen Ufer aus beobachtet hatte. Obdachlos geworden, entschieden sich die Eltern, statt in Warschau, ihr Glück in den Polen gerade zuerkannten ehemaligen deutschen Ostgebieten zu suchen. In Iława/ Eylau machte Stanisław das Abitur und absolvierte einen pädagogischen Schnellkurs. Nur so lieβ sich damals der dramatische Lehrermangel beheben. Mit gerade einmal 18 Jahren durfte er die Grundschule im nahegelegenen Dorf Piotrkowo/ Peterkau leiten.

Kociołek młody
Stanisałw Kociołek. Der junge, aufstrebende Apparatschik Mitte der 60er Jahre.

Ein Jahr später schickte ihn die örtliche Parteibehörde zum Studium an die Philosophisch-Soziologische Fakultät der Warschauer Universität. Es war die Zeit des tiefsten Stalinismus. Kinder aus bürgerlichen Familien durften nicht mehr studieren. Arbeiterkinder wie Kociołek, dazu noch vom Kommunismus begeistert, sollten die Hochschulen „erobern“.

Marxistische Analyse als einzige Forschungsmethode, brutale Gängelung der „bürgerlichen Professur“, wissenschaftliche Blitzkarrieren primitivster kommunistischer Einpeitscher, übersetzte, stumpfsinnige sowjetische Lehrbücher als einzige Wissensquelle und die „führende“ sowjetische Wissenschaft als einzige Quelle der Weisheit. So wurden die traditionellen Universitäten, einst geprägt von der Freiheit von Forschung und Lehre, in rote Kaderschmieden verwandelt.

Kociołek, der auftrumpfende kommunistische Aktivist, war in dieser Umgebung in seinem Element. Im dritten Semester, mit 20 Jahren, hatte man ihn in die Partei aufgenommen. Die Bürgen, die ihm die vorgeschriebenen Empfehlungsschreiben gaben, waren keine geringeren, als Jerzy Wiatr, der angehende führende Partei-Politologe und Julian Hochfeld, der gerade dabei war, im Parteiauftrag, die polnische Soziologie in eine marxistische Dogmenlehre zu verwandeln. Nach 1956 wechselte Hochfeld zur Fraktion der „Revisionisten“ über.

Kociołek i Gomułka
Stanisław Kociołek (rechts im Bild), damals Parteichef von Warschau, mit seinem Förderer, Parteichef Władysław Gomułka (2. v. r.) und Ministerpräsident Józef Cyrankiewicz (3. v. r.) bei einer Kundgebung in der Warschauer Altstadt am 1. September 1964, zum 25. Jahrestag des Kriegsausbruchs.

Kociołek wollte Parteikarriere machen. Im politischen „Tauwetterjahr“ 1956, als nach dem Tod Stalins die Abkehr vom Stalinismus und seinen verbrecherischsten Auswüchsen begann, machte man ihn (mit 23 Jahren!) zum Chef der einige tausend Mitglieder zählenden Parteiorganisation an der Warschauer Universität.

Schnell wurde der neue Parteichef Władysław Gomułka auf den dogmatischen, linientreuen Kociołek aufmerksam. Gomułka kam im Oktober 1956 an die Macht. Er war umgeben von Nimbus des Märtyrers, der von den polnischen Stalinisten auf Geheiβ Moskaus drei Jahre lang eingesperrt war, und des Nationalkommunisten, der einen eigenen, polnischen Weg zum Sozialismus einschlagen würde.

Polen lag damals Gomułka zu Füβen, doch dieser wollte der Liberalisierung und Demokratisierung schnell enge Grenzen setzten. So naiv, wie Gorbatschow dreiβig Jahre später, war er nicht. Die „führende Rolle der Partei“ anzutasten, wäre der Beginn einer Entwicklung gewesen, an deren Ende das Ende der Parteidiktatur gestanden hätte. Demokratie und Sozialismus das war ein unlösbarer Widerspruch. Entweder das eine oder das andere, das wusste der Machtmensch Gomułka sehr gut.

Um die im Oktober 1956 entfesselten Geister (freizügigere Medien, Arbeiterselbstverwaltung, die wieder millionenfach zur Schau gestellte Kirchentreue der Polen u. e. m.) nach und nach wieder in die Flasche zu bekommen, brauchte er daher Leute wie Kociołek. Und so wurde der eloquente Betonkommunist zum „Wunderkind der Partei“. Gomułka schicke ihn überall dorthin, wo es galt den Liberalisierungsbestrebungen ein Ende zu setzten.

Zwischen 1958 und 1960 befriedete Kociołek, als ein 25 bis 27 Jahre junger Mann, erfolgreich die starken „revisionistischen“ Kräfte in der Warschauer Parteiorganisation, einer der gröβten und wichtigsten im Lande, deren Leitung er damals innehatte. Anschlieβend bändigte er die rebellischen Geister der Jugendlichen als (1960-1963) Chef des kommunistischen Jugendverbandes ZMS. Mit 31 Jahren stand er 1964 wieder an der Spitze der Warschauer Parteiorganisation. Mit 34 Jahren machte ihn Gomułka zum Parteichef von Gdańsk/ Danzig, wo er, dass muβ man ihm lassen, wesentlich zur Gründung der Universität beigetragen hat.

Im Herbst 1968 wurde Kociołek Mitglied des höchsten Parteigremiums und zugleich engsten Machtzirkels in einem kommunistischen Land. Er stieg (mit nur 35 Jahren) ins Politbüro auf. Im Sommer 1970 holte ihn Gomułka, der in Kociołek seinen Nachfolger sah, aus Gdańsk nach Warschau zurück und machte seinen „Kronprinzen“ zum stellvertretenden Regierungschef, damit der junge Apparatschik auch Verwaltungserfahrung erlangen konnte.

Selbstüberschätzung wird zum Verhängnis

Der junge Parteibonze, daran gewöhnt, dass ihm seine Untergebenen ehrfürchtig zuhören, dass ihm nie widersprochen wird, dass er immer das letzte Wort hat, überschätzte seine Überzeugungskraft, wenn es darauf ankam, sich rhetorisch gegen massiven Widerspruch durchzusetzen. Als es im Frühjahr 1968 zu Studentenprotesten- und Unruhen im ganzen Land kam, fuhr Kociołek, damals noch Danziger Parteichef, in die dortige Technische Hochschule. Hier setzte er zu einer flammenden Rede über den Ruhm des Sozialismus an, und wurde von den Studenten ausgepfiffen und ausgelacht, musste wie ein begossener Pudel abziehen. Kurz darauf begann die Miliz den Protest brutal niederzuknüppeln. Eben diese Selbstüberschätzung, sollte ihm nun zum Verhängnis werden.

Kociołek czołgi na Długim Targu
Gdańsk im Dezember 1970. Panzer auf dem Langen Markt und in der Langen Gasse. Rechts der Neptun-Brunnen.

Am Sonnabend, dem 12. Dezember 1970 verkündeten Rundfunk und Fernsehen, dass am Montag eine drastische Lebensmittelpreiserhöhung in Kraft treten werde. Die Staatskasse war leer und der zunehmend sklerotische Gomułka, der längst den Bezug zur Realität verloren hatte, wollte sie durch eine radikale Kürzung der staatlichen Subventionierung der Lebensmittelpreise kurz vor Weihnachten wieder auffüllen.

Kociołek rozruchy
Gdańsk im Dezember 1970. Zusammenstöβe zwischen der Miliz und Protestierenden.

Am Montag, dem 14. Dezember 1970 kam es daraufhin in Gdańsk und in dem nahegelegenen Gdynia zu ersten Arbeitsniederlegungen. Arbeiter zogen friedlich vor die Danziger Parteizentrale und forderten Verhandlungen, doch niemand wagte sich zu ihnen heraus. Am Nachmittag kam es dann zu ersten Straβenschlachten mit der Miliz. Die Lawine kam ins Rollen.

Kociołek zabity na dzwiach
Gdańsk im Dezember 1970. Arbeiter tragen einen toten Kameraden durch die Stadt.

Kociołek bat Gomułka nach Gdańsk gehen zu dürfen. Er, der noch vor kurzem dort Parteichef gewesen war, wisse wie man mit den Leuten vor Ort reden müsse, wie man mit politischen Mitteln Herr der Lage werden könne. Als er am Dienstag, dem 15. Dezember eintraf, dauerte der Sturm der Demonstranten auf das Parteihaus, das ebenso wie der Hauptbahnhof und einige weitere Gebäude gerade in Flammen aufging, bereits einige Zeit an. Die ersten sechs Toten waren bereits zu beklagen. Schwere Unruhen wurden auch aus Szczecin/ Stettin und Elbląg/ Elbing gemeldet.

Kociołek trup
Gdańsk im Dezember 1970. Ein Toter wird geborgen.

Durch die Unerfahrenheit der kommunistischen Machthaber bei der Lösung einer solchen Krise, spitzte sich die Lage noch zu. Keine Verhandlungen mit den streikenden Belegschaften, brutalstes Vorgehen der Ordnungskräfte, die wie wild um sich schossen und Festgenommene, oft noch Schüler, bis zur Bewusstlosigkeit zusammenschlugen. Zudem fehlte es an der notwendigen Koordination. Manche Befehle wurden den Militär- und Milizeinheiten direkt aus Warschau erteilt. In der Dreistadt (Gdańsk-Sopot-Gdynia) gab es aber ebenfalls einen militärischen Krisenstab. Hinzu kamen Kociołek und seine Begleiter, als weiteres Entscheidungszentrum. Zudem agierte ein zweiter Gomułka-Vertrauter, das Politbüromitglied Zenon Kliszko, auf eigene Faust.

Kociołek trupy
Gdańsk im Dezember 1970. Erschosssene Demonstranten.

Am 16. Dezember sendete der lokale Fernsehsender am späten Nachmittag, mit einer Wiederholung am Abend, Kociołeks Rede an die Bevölkerung. Sie war nur in Gdańsk und Umgebung zu empfangen. Kociołek sprach von Aufruhr und Rowdytum, begründete damit das Vorgehen der Ordnungskräfte, denen er Dank für ihren Einsatz zollte, appellierte an die Vernunft, stelte fest(ohne die drastischen Preiseröhungen beim Namen zu nennen), dass die Forderungen der Protesiterenden nicht erfüllbar seien und schloss mit der Aufforderung an die Bevölkerung, die Arbeit wieder aufzunehmen.

Derweil befahl Kliszko am selben Tag gegen 16 Uhr, Truppen nach Gdynia zu schicken, die dortige Werft zu schlieβen und abzuriegeln, damit auf diese Weise ein zu erwartender Streik verhindert werden könne. Anschlieβend flog Kliszko nach Warschau, um an einer für 18 Uhr anberaumten Krisensitzung mit Gomułka teilzunehmen. Das Verhängnis nahm seinen Lauf.

Kociołek pożar KW
Gdańsk im Dezember 1970. Das Parteigebäude brennt.

Kociołek behauptete bis zu seinem Tod, zum Zeitpunkt seines Aufrufs von Kliszkos Anordnungen nichts gewusst zu haben. Als ihm das drohende Unheil später jedoch bewusst wurde, habe er mitten in der Nacht verfügt Boten zu den Arbeiterwohnheimen zu schicken, mit der Anweisung, am nächsten Morgen doch nicht zur Arbeit zu gehen. Beweise dafür wurden bis heute nicht gefunden.

Doch wie auch immer, wäre es nicht wirksamer gewesen, beim örtlichen militärischen Krisenstab den Abzug der Einheiten aus Gdynia zu erwirken? Oder wenigstens den S-Bahn-Verkehr einzustellen? Kociołek meinte, auf diese Ideen sei er damals nicht gekommen.

Dass er vorsätzlich Menschen in den Tod geschickt hat, ist nicht anzunehmen. Einerseits war er der einzige in der Partei- und Staatsführung, der auf dem Höhepunkt der Krise zur Bevölkerung gesprochen hat. Doch durch seinen Fernsehauftritt, hat er gleichzeitig der Tragödie an der polnischen Ostseeküste 1970, sein Gesicht verliehen. Ab dem Augenblickt wurde er im Volksmund zum „Schlächter von der Küste“, zum „blutigen Kociołek“. Bis auf wenige Eingeweihte wusste bis zum Ende des Kommunismus in Polen niemand, was sich damals hinter den Kulissen abgespielt hat.

Neunzehn Jahre lang vor Gericht

Am 20. Dezember 1970 trat Parteichef Gomułka zurück. Sein Nachfolger Edward Gierek gelang es die Krise mit politischen Mitteln zu entschärfen. Das war auch das Ende der kometenhaften Karriere Kociołeks, der nun auf ein politisches Abstellgleis geriet. Bis 1978 war er polnischer Botschafter in Brüssel, dann kurz in Tunesien, von wo ihn der neue starke Mann Polens, General Jaruzelski, im Herbst 1980 wieder auf den Posten des Warschauer Parteisekretärs holte.

Es war die Zeit der ersten Solidarność, die nach den Massenstreiks des Sommers 1980, entstanden war. Der kommunistische Dogmatiker Kociołek sollte wieder einmal die Aufwiegler in den Parteireihen befrieden. Nachdem das Kriegsrecht am 13. Dezember 1981 ausgerufen wurde und der Ausbruch der Freiheit beendet war, setzte Jaruzelski Kociołek jedoch von seinem Warschauer Posten, auf dem er inzwischen zum Kristallisationspunkt unzufriedener orthodoxer Kommunisten geworden war, kurzerhand wieder ab. Kociołek war noch bis 1985 polnischer Botschafter in Moskau und wurde anschlieβend endgültig aufs Altenteil abgeschoben.

Im April 1995 begann vor dem Gericht in Gdańsk der Prozess gegen die zwölf zu jener Zeit noch lebenden Hauptschuldigen an der brutalen Bekämpfung der Arbeiterrevolte vom Dezember 1970. Angeklagt waren Stanisław Kociołek, General Wojciech Jaruzelski – damals Verteidigungsminister, Kazimierz Świtała – damals Innenminister, acht hohe Militärs – einst Kommandeure der an der Befriedungsaktion teilnehmenden Truppenteile und ein Oberst der Miliz.

Kociołek zabici
Gdańsk im Dezember 1970. Zivile Opfer der Proteste. Fotos aus den Akten der polnischen Stasi.

Der Prozess dauerte neunzehn (!) Jahre lang. Die Angeklagten legten immer wieder ärztliche Atteste vor und erschienen meistens nicht zu den Verhandlungsterminen. Das Verfassungsgericht und das Oberste Gericht wurden zwischenzeitlich eingeschaltet. Ein Beisitzer starb und das Verfahren musste neu aufgerollt werden. Anwälte legten reihum ihre Mandate nieder, ihre Nachfolger brauchten Monate, um die Akten zu lesen. 1999 wurde der Prozess nach Warschau verlegt, da die Angeklagten Probleme hatten nach Gdańsk zu kommen. Erst im Oktober 2001 gelang es dem Staatsanwalt die Anklageschrift bis zum Ende zu verlesen usw., usf.

Ausnahmslos alle Richter aus der kommunistischen Zeit konnten in Polen, im Rahmen der „nationalen Versöhnung“, gerade so als wäre nichts gewesen, ihren Beruf weiter ausüben. Eine so geprägte Justiz behandelte den Prozess gegen Leute, die an den Massakern vom Dezember 1970 (insgesamt 45 Tote, knapp 1.100 Verletzte) beteiligt waren wie eine heiβe Kartoffel, begünstigte geradezu die Verzögerungstaktik der Angeklagten und ihrer Verteidiger. Als das Warschauer Appellationsgericht im April 2014 das abschließende Urteil sprach, waren nur noch drei Angeklagte am Leben. Kociołek wurde freigesprochen, zwei Militärs bekamen jeweils zwei Jahre Haft auf Bewährung.

Stanisław Kociołek behauptete immer wieder, er trage die politische und moralische, aber keine strafrechtliche Verantwortung für das Geschehene.

Bilder der oftmals entstellten Gesichter der Toten, bei den Leichenschauen gemacht und nach 1990 in den Akten der polnischen Stasi gefunden, begleiteten Kociołek auf seinem letzten Weg, hochgehalten von schweigenden Demonstranten entlang der Warschauer Friedhofsallee, auf der die Urne mit seiner Asche zu Grabe getragen wurde.

© RdP




Sumpfland-Midas

Am 29. Juli 2015 starb Jan Kulczyk.

Aufwendiger und prunkvoller ging es kaum. Gesperrte Straβen, Polizeiketten, Spaliere von Neugierigen umgaben die Karmeliterkirche in Poznań. Im Inneren spielte Polens herausragender Pianist Janusz Olejniczak das „Wiegenlied“ von Chopin. Kammerorchester, Chor und Solisten stimmten das „Requiem“ von Gabriel Fauré an. Lech Wałęsa hielt die Trauerrede. Etwa eintausend handverlesene Trauergäste wohnten der Totenmesse in den Kirchenbänken und vor der Groβleinwand im benachbarten Zelt bei.

Mitgetrauert haben u. a. die postkommunistischen Politiker Aleksander Kwasniewski (Ex-Staatspräsident), Leszek Miller (einstiger Regierungschef), Ryszard Kalisz (ehem. Justizminister), der ehem. Finanz- und Auβenminister, und Mitbegründer der regierenden Bürgerplattform Andrzej Olechowski usw., usf. Das offizielle Polen vertrat die Gattin des scheidenden Staatspräsidenten Anna Komorowska.

Liegengebliebenes ordnen 

Der Tod ereilte Jan Kulczyk unerwartet, obwohl er ernsthaft krank war. Knapp zwei Jahre zuvor wurde in Detroit in den USA der Versuch unternommen ihm aus der Prostata Krebszellen zu entfernen. Es war ein experimenteller, medizinisch hochtechnologischer Eingriff. Jetzt wurde dieser, da erneut  Krebszellen festgestellt wurden, in Wien wiederholt. Dabei kam es  zu einer Lungenembolie und zum Kreislaufversagen.

Kulczyk wusste, dass er ernsthaft krank war. Nach Außen jedoch spielte er den etwas müde gewordenen älteren Großunternehmer, der sich aus dem Geschäft zurückziehen möchte. Im Januar 2014 übergab er seine Firma Kulczyk Investments an Tochter Dominika (Jahrgang 1977) und Sohn Sebastian (Jahrgang 1980) und begann Liegengebliebenes zu ordnen.

Er ließ den Friedhof Jeżyce (fonetisch Jeschitze), auf dem er jetzt begraben liegt, renovieren und richtete sein „Altersruhesitz“-Büro in Warschau ein. In der ersten Etage musste der Fußboden verstärkt werden. Die automatische Schiebetür  zwischen seinem Arbeitszimmer und dem Sekretariat war zu schwer, weil er sie mit Bronzereliefs des spanischen Bildhauers Joan Miró versehen ließ. Bestellt war auch schon der neue Schreibtisch, gehauen aus einem Basaltfelsen. Außerdem wartete Kulczyk ungeduldig auf sein neues Flugzeug, eine »Gulfstream G650«.

Jammern, klagen, verschweigen

Die Nachricht von seinem Tod schlug in Polen ein wie eine Bombe, und löste im staatlichen Fernsehen und in den Tusk-regierungstreuen Medien, wie der linken Zeitung „Gazeta Wyborcza“, den privaten Fernsehsendern TVN und Polsat, geradezu eine Hysterie aus.

Jerzy Jachowicz, ein aufmerksamer Beobachter der politischen Szene aus dem konservativen Lager, schrieb dazu am 2. August 2015 auf der Internetseite des Polnischen Journalistenverbandes (SDP):

„Es war, als wäre ein Vulkan ausgebrochen. Erinnerungen und Stellungnahmen, lyrisch und sentimental, quollen unablässig aus den Fersensehschirmen und Lautsprechern, wie Lava ins Tal. Kulczyk als Unternehmer, als groβer Unternehmer, als Gigant des Unternehmertums, als Familienvater, als Förderer, Wohltäter, Freund, als Quell der Lebensweisheit, als Stratege, Patriot, Messias, Erlöser des Vaterlandes.“

Noch weiter ging der für seinen Scharfsinn und seine Bissigkeit bekannte Kommentator Rafał Ziemkiewicz am 31. Juli 2015 in seiner Glosse im Internetportal Interia.pl:

„Der Tod eines Menschen ist immer ein trauriges Ereignis, doch der Tod eines sündigen Menschen ist eine wahre Tragödie, weil er ihm endgültig die Chance raubt sich zu bekehren und Buβe zu tun. Eigentlich möchte man die Trauer nicht stören und sie ausklingen lassen, aber auch die Wahrheit muss geachtet werden. Niemandes Tod darf dazu Anlass sein, offensichtliche Lügen zu dulden.“

Marek Król, einst kommunistischer Funktionär, später Groβverleger, heute Kommentator, erinnerte sich am 2. August 2015 im Internetportal „wPoilityce.pl“ („inderPolitik.pl“):

„Ich kannte ihn und traf ihn oft, zwanzig Jahre lang, bis 2010. Kulczyk war ein geradezu verführerischer, überaus liebenswürdiger Mensch. Als ein extrem reicher Mann konnte er sich diesen Luxus leisten. Ich habe ihn dafür geschätzt, dass er mir gegenüber niemals seine wahren geschäftlichen Absichten verheimlicht hat. Polen, auch wenn er das nicht offen zugab, behandelte er wie eine Kolonie, und die Politiker, mit denen er seine Geschäfte tätigte waren für ihn nur käufliche Hampelmänner. Die Erinnerungen dieser Hampelmänner an ihn ergossen sich nun über die Medien und erzeugten eine allgemeine Rührseligkeit, die im umgekehrten Verhältnis stand zu seinen Verdiensten.“

Kapitalist im Kommunismus

Jan Kulczyk wurde 1950 in Bydgoszcz/Bromberg geboren. 1968, nach dem Abitur, ging er nach Poznań, um dort Jura und Auβenhandel zu studieren. Poznań wurde seine Wahlheimat. Dort promovierte er 1975 zum Doktor der politischen Wissenschaften und des Völkerrechts mit einer Arbeit über den Grundlagenvertag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der DDR vom 21. Dezember 1972. Dort arbeitete er eine Zeit lang an dem damals noch sehr renommierten Instytut Zachodni (Westinstitut), der wichtigsten Einrichtung der polnischen Deutschlandforschung.

Kulczyk sprach gut Deutsch, kannte sich in Deutschland bestens aus. Sein Vater, Henryk bekam eine Ausreisegenehmigung und zog bereits Mitte der 50er Jahre nach Westberlin, wo er als Kaufmann viel Geld verdiente. Zuerst vermarktete er tonnenweise polnische Pilze und Blaubeeren, später auch Volkskunst und andere Waren, die das stets devisenhungrige Land anzubieten hatte. Sohn Jan konnte, dank des schwindelerregenden Zloty/D-Mark Wechselkurses auf dem Schwarzmarkt, mit den Beträgen, die der Vater ihm zukommen lieβ, ein sorgenfreies Leben im kommunistischen Polen führen. Zu Kopf gestiegen war ihm dieser Geldsegen nicht.

Über all dem wachte das aufmerksame Auge der polnischen Staatssicherheit, dem solche Familienkonstellationen und Westkontakte stets höchst verdächtig vorkamen. Doch Vater Henryk gab sich immer loyal, unterhielt enge Beziehungen zur polnischen Militärmission in Westberlin, wahrte Distanz zu jeglichen exilpolnischen, antikommunistischen, oppositionellen Aktivitäten. Sohn Jan, der ab und an zu Besuch kommen durfte, hielt es ebenso. Nur auf diese Weise lieβ sich das lukrative Polengeschäft aufrechterhalten.

So kam die Zeit der ersten „Solidarność“, der ersten freien Gewerkschaft die in der Folge der groβen Werftarbeiterstreiks an der polnischen Küste im Sommer 1980 entstand und nach sechzehn Monaten, am 13. Dezember 1981, mit der Verhängung des Kriegsrechts in Polen, verboten wurde. Die sechzehn Monate waren eine Zeit vieler Streiks und Proteste, einer Eruption der Freiheit, wie es sie im kommunistischen Machtbereich noch nie gegeben hatte, und einer gigantischen Versorgungskrise. Mitten im Frieden gab es, auβer Essig, alles nur noch auf Marken zu kaufen: Lebensmittel, Seife, Wodka, Schuhe…

Um Abhilfe zu schaffen, erlaubten die kommunistischen Machthaber den Auslandspolen in der alten Heimat private Firmen zu gründen, die Konsumartikel für den leergefegten Markt herstellen oder importieren sollten. Sie hieβen „firmy polonijne“ (Polonia-Firmen). Polonia wird in Polen die polnische Diaspora im Ausland genannt.

Vater Henryk schenkte daraufhin Sohn Jan eine Million D-Mark und dieser gründete in Komorniki bei Poznań das Polonia-Handelsunternehmen „Interkulpol“, das Chemikalien, Baumaterial und vor allem, eimerweise, eine rosarote Handwaschpaste aus eigener Herstellung verkaufte. Es herrschte Goldgräberstimmung, denn der Markt nahm alles auf, in jeder Menge. Das einzige Problem war: für die erwirtschafteten Zloty-Millionen irgendetwas auf dem bis ins kleinste Detail staatlich regulierten polnischen Markt zu finden, was anschlieβend im Westen mit Gewinn verkauft werden konnte. Dazu bedurfte es sehr guter Beziehungen.

Für die Firmengründer gab es noch weitere Privilegien : grüne Autokennzeichen, mit denen man ohne Bezugsscheine tanken konnte und einen Reisepass, mit dem man das Land nach Belieben verlassen durfte. Der Normalbürger bekam einen Reisepass nur auf Antrag, wenn er ihn überhaupt bekam, und musste ihn nach Rückkehr wieder bei der Polizei, gegen Aushändigung des hinterlegten Personalausweises, abgeben. So lebte und genoss Jan Kulczyk das Kapitalistenleben im tristgrauen kommunistischen Polen der 80-er Jahre.

Vitamin B war seine Hefe

Die Polonia-Firmen waren zusammengefasst in der Polonia Industrie- und Handelskammer „Inter-Polcom“, in der es, wie konnte es anders sein, von verdeckten Stasi-Offizieren und deren Zuträgern nur so wimmelte. Vater und Sohn Kulczyk saβen in den Leitungsgremien der Polonia IHK. Jan war eine Zeit lang sogar ihr Vorsitzender.

Er lehnte, laut Berichten, die sich in seiner Stasi-Akte in der polnischen Gauck-Behörde befinden, die Aktivitäten der Untergrund-„Solidarność“ ab, die er als „krawallmacherisch“ und „verantwortungslos“ charakterisierte. An der Dauerhaftigkeit des Sozialismus hegte er keine Zweifel, äuβerte sich aber kritisch über den mangelnden Reformwillen der kommunistischen Machthaber auf dem Gebiet der Wirtschaft.

Ob diese Haltung echt oder nur vorgetäuscht war, sei dahingestellt. Genauso wichtig wie die enormen Profite, waren die Bekanntschaften und Kontakte, die Jan Kulczyk damals geknüpft hat.

Der Kommunismus schwächelte immer mehr, immer mehr Apparatschiks und Stasi-Leute schauten sich nach Möglichkeiten um, ihre Parteibücher gegen Scheckbücher einzutauschen. Da war z. B. Stasi-Oberst Henryk Jasik, seit 1980 jahrelang stellvertretender Leiter der polnischen Handelsvertretung in Köln, in Wirklichkeit Chef der polnischen kommunistischen Spionage in Westdeutschland. Als Geschäftsmann pflegte Kulczyk enge Kontakte zur Kölner polnischen Handelsvertretung.

Ab 1988 fungierte Jan Kulczyk als erster VW-Generalvertreter für Polen. Sein Bekannter Jasik wurde Mitte 1990 Chef des neugegründeten Verfassungsschutzamtes (UOP) des nun demokratischen Polens. Just in jener Zeit bestellte Jasiks unmittelbarer Vorgesetzter, Innenminister Milczanowski, bei Kulczyk, ohne Ausschreibung, dreitausend VW-Wagen für die polnische Polizei, im Wert von heute etwa 38 Millionen Euro. Viele Kenner der Szene behaupten, der Deal sei zwischen den beiden „Bekannten“ gelaufen.

„Zugang“ war alles

Noch gröβere Abschlüsse sollten folgen. Seine Firma „Kulczyk Holding“, später „Kulczyk Investment House“, seit einiger Zeit „Kulczyk Investment“ spezialisierte sich auf die Beteiligung an lukrativen Privatisierungen groβer polnischer Staatsfirmen.

Der Ablauf war stets der Gleiche. Kulczyk bildete ein Konsortium mit einem groβen ausländischen Konzern, wobei letzterer, dank der guten Beziehungen Kulczyks, die Gewissheit haben konnte, bei Ausschreibungen erfolgreich zu sein. Gemeinsam ging man in das Verfahren, und es gab keinen einzigen Fall, in dem Kulczyk nicht den Zuschlag bekommen hätte. „Der Einkaufspreis war stets »politisch«, der Preis beim Weiterverkauf immer »marktgerecht«“, schreibt Rafał Ziemkiewicz.

So z. B. „privatisierte“ Kulczyk die polnische staatliche Telefongesellschaft, indem er sie der staatlichen (!) France Télécom zuschanzte und dafür sorgte, dass sie das Monopol auf dem polnischen Markt für einige Jahre behielt. „Für Kulczyks Erfolg haben wir damals mit den höchsten Telefongebühren in ganz Europa bezahlt“, berichtet Marek Król.

Nach einiger Zeit verkaufte Kulczyk dann seine Anteile an den jeweiligen ausländischen Partner. Im Falle von France Télécom habe er, so heiβt es, sage und schreibe, 30 Millionen Euro verdient.

Sehr erfolgreich verliefen für Kulczyk ebenfalls die Privatisierungen des Mobilfunkanbieters Polska Telefonia Cyfrowa – mit der Deutschen Telekom, der Versicherungsgesellschaft TUiR Warta SA, der Browary Wielkopolskie (Groβpolnische Brauereien) und, im Juni 2014, des staatlichen Chemie-Konsortiums Ciech.

Umgeben waren diese Geschäfte stets von einer Aura des Zwielichtigen. Es gab Indizien, Hinweise, Anhaltspunkte für groβe und kleinere „Ungereimtheiten“, doch alle staatsanwaltlichen Untersuchungen und sogar die Nachforschungen eines parlamentarischen Untersuchungsausschusses verliefen im Sande.

Als die Regierung Jarosław Kaczyński, nach ihrem ersten Wahlerfolg, in den Jahren 2005-2007 die Geschäfte des „Lieblingsprivatisierers“ ihrer Vorgänger unter die Lupe nahm, und ihn nicht mehr als Partner haben wollte, stilisierte sich Jan Kulczyk zum Opfer „politischer Verfolgungen“, und so hat man ihn auch nach seinem Tod in den zur damaligen Zeit regierungsnahen Medien dargestellt.

Mit dem Antritt der Regierung Tusk, im Spätherbst 2007, war dann alles wieder gut. Abermals standen Jan Kulczyk in Warschau alle Türen offen, und er nutzte, meistens sehr unauffällig, die Möglichkeiten, die sich ihm boten. „Ciech“, seine letzte groβe Privatisierung in Polen, steht inzwischen im Mittelpunkt einer staatsanwaltlichen Untersuchung.

Oligarch mit Stil

In seinen letzten Lebensjahren widmete sich Kulczyk, von London, Genf oder Wien aus, wo er oft verweilte, seinen Erdöl- und Erdgasgeschäften in Südamerika, Afrika, ja sogar in Aserbaidschan und Afghanistan. Er baute Bürohäuser in Dubai, verwaltete seine Autobahn in Westpolen, kaufte ein Heizkraftwerk im Südosten des Landes usw., usf.

Zwischendurch stach er in See auf seiner 90 Millionen Euro teuren Yacht oder zog sich zurück in sein „Alpen-Schloss“ im schweizerischen St. Moritz. Gehauen in die Felswand des Suvretta-Hanges kostete sie etwa 185 Miillionen US-Dollar. Auf sieben Etagen, davon vier unterirdischen, erstrecken sich viertausend Quadratmeter Luxus pur.

Eine Wand des Speiseraums wurde mit vierundzwanzigkarätiger Goldfolie tapeziert. Das riesige Schwimmbad wird durch Swarovski-Kristalle beleuchtet. Die zehn Meter hohen Fenster gewähren einen atemberaubenden Blick auf das Alpen-Panorama. Die Residenz „The Lonsdaleite“ ist das mit Abstand teuerste Luxusanwesen der Schweiz. Seit Oktober 2017 steht es zum Verkauf, zusammen mit Kulczyks Privatjet »Gulfstream G650«.

Kulczyks schweizerische Residenz ist hier auf Fotos zu sehen.

Über seine Geschäfte redete Kulczyk ungern, umso lieber umgab er sich mit der Aura eines Vordenkers der menschlichen Zivilisation, lieβ die Kunde von seinem Mäzenatentum verbreiten. In dieser Hinsicht gab Kulczyk sein Geld sehr durchdacht aus. Er spendete groβzügig für die Renovierung des wichtigsten Heiligtums der polnischen Katholiken, des Klosters auf dem Hellen Berg in Częstochowa/Tschenstochau. Er gab 5 Millionen Euro für den Bau des Museums der Geschichte der Polnischen Juden in Warschau, er war Sponsor des Polnischen Olympia-Kommitees.

Jan Kulczyks mnumentales Grab auf dem Jezyce-Friedhof in Poznań.
Jan Kulczyks monumentales Grab auf dem Jeżyce-Friedhof in Poznań.

Hochintelligent, belesen, sprachgewandt, bescheiden auftretend, sich stets mild, nachdenklich und versöhnlich gebend, erinnerte er in Nichts an einen Oligarchen aus der nachkommunistischen Welt, wie man ihn sich normaler Weise vorstellt.

Doch seine geschäftlichen Erfolge ergaben sich vor allem aus der Nähe zur Politik. Daraus, „Zugang“ zu suchen und zu finden, Entscheidungsträger für sich zu gewinnen, die das Volksvermögen nach der Zeit des Kommunismus losschlugen um daraus selbst Gewinne zu erzielen. So gesehen war Kulczyk wie der legendäre König Midas, der alles was er berührte in Gold zu verwandeln vermochte.

Wie das funktionierte wird im Nachhinein immer offensichtlicher. Gut zwei Jahre nach seinem Tod müssen seine Erben dem polnischen Staat etwa eine Milliarde Zloty (ca. 240 Mio. Euro) zurückgeben. So entschied es im August 2017 die EU-Kommission. Kulczyk gehörte das 149 Kilometer lange Teilstück der Autobahn Warschau-Berlin (A 2) zwischen Konin und Nowy Tomyśl. Zehn Jahre lang erhielt er, aufgrund eines allzu „günstigen“ Vertrages mit der postkommunistischen Regierung Leszek Miller, aus Warschau zu hohe Zuschüsse für den Lkw-Verkehr auf seiner Autobahn.

Gut einen Monat vor seinem Tod verlieh ihm der damals bereits scheidendne Staatspräsident Komorowski noch das Offizierskreuz des Ordens der Wiedergeburt Polens (Polonia Restituta).

Jan Kulczyk wurde neben seinem Vater Henryk, der zwei Jahre zuvor gestorben ist, bestattet.

© RdP




Furor Polonicus

Am 24. April 2015 starb Władysław Bartoszewski.

Niemand ist so vortrefflich, dass kein Makel an ihm wäre. Władysław Bartoszewski wird in allen Nachrufen in Deutschland als ein Mann der Versöhnung und Verständigung dargestellt. Doch Bartoszewski war auch ein Mann des unerbittlichen politischen Kampfes, um ein hartes, oft sehr verletzendes Wort nicht verlegen. Er trat ein in die Geschichte als Widerstandskämpfer gegen die nazideutsche und als Oppositioneller gegen die kommunistische Tyrannei, dessen Verdienste nicht genug gewürdigt werden können. Mit ihm ist zugleich ein Parteipolitiker gestorben, der sich in den letzten Jahren seines Lebens voller Zorn und Verbissenheit mitten ins Gewirr der politischen Konfrontation in Polen stürzte. Er konnte hart austeilen, schrie aber Zeter und Mordio wenn man es ihm mit gleicher Münze zurückzahlte. Schade, dass sehr viele seiner Landsleute ihn vor allem so in Erinnerung behalten werden.

Die Enttäuschung über das einstige Idol spiegelt sich in dem Nachruf von Piotr Zaremba wider, eines sehr nachdenklichen, umsichtigen, konservativen Beobachters der polnischen politischen Szene, geschrieben für das Internetportal „wPolityce.pl“ (“inderPolitik.pl“).

„Was für eine Biografie!“

„Zum ersten Mal habe ich ihn als Gymnasialschüler 1981, während der ersten Solidarność, nicht lange vor der Verhängung des Kriegsrechts, bei einem Vortrag über die polnische Geschichte erlebt, gehalten in einem Warschauer Studentenheim. Es war eine durch und durch oppositionelle Veranstaltung. Der schnell sprechende Herr erwies sich als ein faszinierender Cicerone durch eine Welt, die mit der offiziellen Propaganda nichts zu tun hatte.

Menschen mit konservativen Überzeugungen, polnische Patrioten, die sich den besten Traditionen unserer Geschichte verpflichtet fühlen, sind heute verblüfft, wenn man sie daran erinnert, dass Bartoszewski damals einer von ihnen war. Ein halbes Jahr in Auschwitz, dann in der Heimatarmee, im Warschauer Aufstand, in Mikołajczyks Bauernpartei nach 1945, sechs Jahre in kommunistischen Kerkern, fünf Monate Internierung nach der Verhängung des Kriegsrechts in Polen am 13. Dezember 1981… Bartoszewski pflegte damals ausschließlich Umgang mit grundanständigen Menschen, die, wie er, viel Schlimmes im kommunistischen Polen hatten durchleiden müssen. Er zeichnete sich durch Zivilcourage aus. Was für eine wunderbare Biografie, und was ist aus ihr geworden!“, schreibt Zaremba.

Der symbolische Professor

Władysław Bartoszewski wurde 1922 in Warschau geboren. Der Vater war Bankdirektor. Das Abitur machte er im Juni 1939, am 1. September marschierten die Deutschen in Polen ein. Es war ihm nicht vergönnt jemals ein Hochschulstudium abzuschlieβen. Bartoszewski studierte während der deutschen Besatzung, ab 1941, Polonistik an der Warschauer Untergrunduniversität, es folgten zwei weitere Anläufe nach dem Krieg: ab 1948 und ab 1958. Der Ausbruch des Warschauer Aufstandes, die Verhaftung nach dem Krieg und zuletzt berufliche und familiäre Verpflichtungen machten jedoch einen Abschluss, geschweige denn das Schreiben einer Doktorarbeit und einer Habilitationsschrift, unmöglich.

Der Professorentitel, mit dem er meistens angesprochen und angeschrieben wurde, war ein symbolischer. Bartoszewski genoss es, vermied konsequent den Sachverhalt richtigzustellen und konnte sehr ungehalten werden, wenn andere es taten.

Dennoch, der beredte, vielbelesene, lebenserfahrene und hochintelligente „nur Abiturient“ war ein gefragter Dozent und Referent in Sachen Politik und neue Geschichte an der Katholischen Universität Lublin, an deutschen Universitäten wie München, Eichstätt und Augsburg. Zwölf Hochschulen in Polen, Deutschland, Israel und den USA haben ihm die Ehrendoktorwürde verliehen. Einige der in den 60er und 70er Jahren erschienenen Forschungen des begabten Autodidakten über das Grauen der deutschen Besatzung in Warschau würden ohnehin den Anforderungen, die an eine Doktorarbeit gestellt werden, mehr als genügen.

Keine Angst vor deutschen Offizieren

Der knapp volljährige Władek folgte dem Rat des Vaters und besorgte sich eine Anstellung beim Polnischen Roten Kreuz, einer der wenigen polnischen Institutionen, die die Deutschen nicht verboten hatten. Doch die Hoffnung, ein Ausweis des PRK würde ihn schützen, trog. Am 19. September 1940 wurde Bartoszewski während einer groβangelegten Razzia in seiner Wohnung in Warschau verhaftet. Mit einem Transport von gut eintausend Warschauer Männern landete er drei Tage später im Konzentrationslager Auschwitz, das damals, in seiner Anfangsphase, für Polen bestimmt war. Der zweite Abschnitt, Birkenau, in dem vor allem Juden, aber auch Zigeuner, Polen und Russen vergast wurden, war noch nicht gebaut.

Zweihundert Tage lang dauerte seine Haft, bis ihn das Rote Kreuz im April 1941 herausholen konnte. Es war ein sehr seltener Glücksfall, aber damals noch möglich.

Kaum wieder zu sich gekommen, engagierte sich Bartoszewski in den Strukturen des Polnischen Untergrundstaates, die der polnischen Exilregierung in London unterstanden. Geleitet von einem konspirativen „Beauftragten der Regierung für die Heimat“, stets auf der Hut vor der Gestapo, überwachten und beeinflussten sie, so gut sie konnten, im Verborgenen alle Lebensbereiche des besetzten Staates. Die konspirative Heimatarmee (AK) war keine „Partisanenbewegung“ sondern ein Teil der Staatsstruktur, eine Armee im Untergrund, die einer zivilen Kontrolle unterstand.

Bartoszewski wurde nach dem Krieg nicht müde, das Wissen und die Erinnerung an dieses damals im besetzten Europa einmalige Gefüge zu pflegen. Die Feststellung „Polen hatte keine Widerstandsbewegung, sondern einen Staat im Untergrund“, war ihm extrem wichtig. Die Kommunisten, die im Nachhinein der legalen Exilregierung jede Legitimation absprechen wollten, hassten ihn dafür.

Er engagierte sich im Propagandawesen des Untergrunds und war zugleich, ab September 1942, im Untergrund-„Innendepartement“ stellvertretender Leiter des Judenreferates und Mitglied des konspirativen, ehrenamtlichen Rates für Judenhilfe (Deckname „Zegota“), in dem sich viele gutwillige Menschen engagierten. Falsche Papiere wurden besorgt, jüdische Kleinkinder in Klöstern untergebracht, Netzwerke der Rettung organisiert, Informationen über den Massenmord an den Juden gesammelt und nach London weitergeleitet, wo die polnische Exilregierung die Alliierten für das Problem zu interessieren versuchte. Auf die Hilfe für Juden stand im besetzten Polen, anders als etwa im okkupierten Frankreich, Holland oder Dänemark, die sofortige Todesstrafe für die Retter und diejenigen, die gerettet werden sollten.

Deswegen rieben sich viele an der Weichsel die Augen, als sie plötzlich in einem Interview für „Die Welt“ im Februar 2011 Bartoszewskis Worte lasen: „Wenn jemand Angst hatte, dann nicht vor den Deutschen. Wenn ein Offizier mich auf der Straße sah und nicht den Befehl hatte, mich festzunehmen, musste ich nichts fürchten. Aber der polnische Nachbar, der bemerkte, dass ich mehr Brot kaufte als üblich, vor dem musste ich Angst haben“.

Schweigen in Israel

Die Organisation zur Rettung von Juden galt als einzigartig im gesamten deutsch-besetzten Europa. 1965 zeichnete die Jerusalemer Holocaust- Gedenkstätte Yad Vashem Bartoszewski mit der Medaille „Gerechter unter den Völkern“ aus. 1991 erhielt er zum Dank die Ehrenbürgerschaft Israels, wo er viele Freunde und Bewunderer hatte.

Umso mehr war man in Polen bestürzt, als Bartoszewski im Juni 2002, als polnischer Auβenminister, eine vielbeachtete Rede im israelischen Parlament hielt, ihm aber seitens etlicher Abgeordneter, mit Knesset-Vizepräsident Reuven Rivlin an der Spitze, blanker Hass entgegenschlug. Der kuriose Kernsatz in der Erwiderung Rivlins lautete: „Allein die Tatsache, dass ein Land sich unter fremder Besatzung im Zweiten Weltkrieg befand, befreit dieses Land nicht von der Verantwortung für alles, was auf seinem Territorium passierte.“

Stumm saβ Bartoszewski, ansonsten ein ungezügelter Polterer und ein Vulkan der Rhetorik, da und hörte sich an, dass die Polen dieselbe Schuld am Holocaust trifft wie die Deutschen. Wer war mehr berufen als er, würdig und besonnen auf solche Verleumdungen zu reagieren, wenigstens den Saal zu verlassen? Rivlin, 1939 in Palästina geboren, ist seit Juli 2014 israelischer Staatspräsident.

Lob für Deutschland

Beachtlich sind auch Bartoszewskis Leistungen auf dem Gebiet der Verständigung mit Deutschland, zu dem er bereits in den 80er Jahren enge Kontakte knüpfte. Als 1995 Bundeskanzler Kohl Polens damaligen Staatspräsidenten Lech Wałęsa nicht zum 50. Jahrestag des Kriegsendes nach Berlin einladen wollte, und die FAZ auf der ersten Seite höhnte: „Polen will fünfte Groβmacht sein“, sprach Bartoszewski wenige Tage vor dem 8. Mai vor dem Bundestag in Bonn. Das unwürdige Einladungsspektakel erwähnte er mit keinem Wort. Doch seine große Versöhnungsrede ging in die Geschichte ein.

Er wurde in Deutschland hofiert, bewundert, mit Auszeichnungen, Ehrentiteln und Stipendien geradezu überhäuft. Er nahm sie gerne an. Allein die Bosch-Stiftung unterstützte sein Buch über die deutsch-polnische Verständigung mit 132.000 D-Mark, heiβt es.

Doch musste er ausgerechnet auch noch die Stresemann-Medaille in Mainz im November 1996 entgegennehmen? Viele in Polen konnten ihr Befremden darüber nicht verbergen. Ohne auch nur ein kritisches Wort in seiner Dankesrede zu sagen, nahm Bartoszewski eine Auszeichnung an, die an einen Politiker erinnert, der als deutscher Auβenminister zwischen 1923 und 1929 den jungen polnischen Staat bekämpfte wo er nur konnte, der aus seiner tiefen Abneigung gegen Polen und seiner de facto auf die Beseitigung Polens abzielenden Revisionspolitik nie ein Hehl gemacht hat. Der Zollkrieg gegen Polen und Locarno sind in diesem Fall nicht die einzigen, aber die wichtigsten Stichworte.

„Im Sommer 2000“, erinnerte sich dieser Tage der Journalist Jedrzej Bielecki in der Zeitung „Rzeczpospolita“ („Die Republik“) vom 24. April, „habe ich erlebt, wie er als polnischer Auβenminister an den EU-Beitrittsverhandlungen teilnahm. Der EU-Erweiterungskommissar Günter Verheugen zählte mit monotoner Stimme alle damaligen polnischen Unzulänglichkeiten auf: Probleme mit der Bakterienzahl in der Milch, zu viel Staatsunterstützung für die Stahlwerke… Irgendwann unterbrach Bartoszewski Verheugen lautstark: »Ich habe Auschwitz ausgehalten, ich werde auch die Verhandlungen mit der EU aushalten!« Damit war das Aufzählen beendet.“, schreibt Bielecki.

Drei Tage später konnte man in derselben Zeitung ein Verheugen-Interview lesen, und in ihm die Feststellung: „Er hat nicht versucht die historische Schuld Deutschlands dazu zu benutzen, um auf mich Druck auszuüben“.

Tadel für Polen

Bartoszewski polterte oft. Nicht wenige in Polen machte das verlegen, sie fanden es unpassend. Manchmal war das ein Poltern auf wahrlich sehr dünnem Eis. Nicht gerade beliebt macht sich ein Auβenminister, der von Deutschland in den höchsten Tönen schwärmt („ein vorbildlicher europäischer Rechtsstaat, ein Land der Toleranz, von dem wir nur lernen können“), in der israelischen Knesset den Kopf in den Sand steckt, angesichts geradezu ungeheuerlicher Anschuldigungen , und im eigenen Parlament wutentbrannt der Opposition, die nach den EU-Beitrittsbedingungen fragt, entgegenschmettert: „Polen (im Polnischen ist Polska weiblich – Anm. RdP) ist eine hässliche Braut ohne Aussteuer, die nicht wählerisch sein kann.“ Bitter waren die Kommentare: „An so einer Braut kann sich ja jeder vergreifen“, schrieb der Publizist Rafal Ziemkiewicz.

Kurz nach Kriegsende ging Bartoszewski als Journalist zur „Gazeta Ludowa“ („Volkszeitung“). Es war das Presseorgan der einzigen noch zugelassenen Oppositionspartei, der Polnischen Bauernpartei unter der Leitung des aus London zurückgelehrten Exilpolitikers Stanisław Mikolajczyk. Die PB war damals eine groβe Volkspartei, die die Kommunisten Schritt für Schritt mit brutalsten Methoden vernichteten. Bartoszewski trat in die PB ein. Dafür wurde er im November 1946 verhaftet und erst im April 1948 entlassen. Die zweite Verhaftung erfolgte im Dezember 1949. Er kam erst im August 1954 wieder frei.

Menschen wie Bartoszewski konnten im kommunistischen Polen nur am Rande der Gesellschaft leben und arbeiten. Für einen Mann, der gerne im Mittelpunkt stand, war das kein angenehmer Zustand. Drei Jahrzehnte lang fristete er dieses Randdasein. Damals entstanden seine wertvollsten Bücher und Artikel, damals hielt er seine interessantesten Vorlesungen. Er und seinesgleichen wurden zum Symbol dafür, dass man auch in dem wie ein Krebsgeschwür alle Gewebe der Gesellschaft durchdringenden Kommunismus, der zumeist auf die niedrigsten Instinkte baute: Anpassung, Lüge, Denunziantentum, dennoch in Würde und mit Anstand leben konnte. Bartoszewski wurde bis 1989 ständig bespitzelt, abgehört, Provokationen ausgesetzt, das geht eindeutig aus den Akten der polnischen Stasi hervor.

Putins Klugheit

Und wieder fragt man sich, was einen Menschenrechtler und Demokraten, wie Bartoszewski bewog im März 2014, auf dem Höhepunkt der Krim-Krise, in der „Thüringer Allgemeinen“ ein Hohelied auf Wladimir Putin anzustimmen: „In einem Fernsehinterview habe ich gesagt, dass ich die Intelligenz von Herrn Putin schätze (…) Ich glaube an Putin, vielleicht mehr als viele andere. Ich schätze seine Klugheit und seine Berechenbarkeit. Berechenbarkeit gehört zum europäischen Denken.“

Verheugen erinnert sich in dem schon zitierten Interview: „Einmal sagte er mir: so viele Jahre lang hat man mir nicht erlaubt zu reden. Jetzt muss ich das nachholen, reden soviel ich nur kann“. Es war für ihn nicht immer von Vorteil.

Der Brückenbauer nach Auβen verwandelte sich im eigenen Land zunehmend in einen rhetorischen Rammbock, grob und ausfallend, grenzenlos von sich selbst überzeugt, bei Retourkutschen aber stets in seiner verdienst- und leidensvollen Biografie Schutz suchend.

Die Selbstblamage einer Koryphäe schmerzt

Piotr Zaremba erinnert in seinem Nachruf: „Noch 2006 hatten wir es mit einem Mann zu tun, der allgemein hohes Ansehen genoss. Die von ihm kurze Zeit später gnadenlos verunglimpften Brüder Kaczyński, die damals regierten, hatten ihn zum Chef des wissenschaftlichen Beirates des angesehenen Polnischen Instituts für Internationale Beziehungen gemacht. Von ihnen nahm er den hochdotierten Posten des Chefs des Aufsichtsrates der staatlichen Fluggesellschaft LOT an. In der linken „Gazeta Wyborcza“ („Wahlzeitung“) pries er den Dialog mit Deutschland, in der konservativen Presse lobte er die von der „Gazeta Wyborcza“ aufs Schärfste bekämpfte Aussonderung von ehemahligen Stasi-Spitzeln aus dem Staatsdienst und den von ihr ebenso verachteten traditionellen Patriotismus“.

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Bartoszewski-Gedenkbriefmarke der Polnischen Post von 2015 mit Bartoszewski-Spruch „Es lohnt sich anständig zu sein“, der ihn leider vor Selbstblamage nicht bewahrt hat.

Die radikale Wende, die sich in seinem Verhalten 2007 vollzog sucht nach Erklärungen. Plötzlich erlebte Polen einen alten Mann, der sich bedingungslos auf eine Seite der politischen Auseinandersetzung stellte, und ab dann bis zuletzt auf Parteitagen von Tusks Bürgerplattform seine politischen Gegner vor johlendem Publikum aufs Übelste beschimpfte. Sie waren für ihn „Vieh“ („bydło“), „Frustrierte“, „Perverslinge“, „Spinnner“, „Trotteldiplomaten“ „vor Hass aufgebläht“, „Nerztierzüchter“ (Anspielung auf Jarosław Kaczyńskis Katze), „Fälle für den Psychiater“…

Sogar die Kommentatorin der ansonsten Kaczyński-feindlichen „Gazeta Wyborcza“ bemerkte im Oktober 2007, dass solche Worte „Bartoszewski nicht gut zu Gesichte stünden.“

Der Kommentator der „Rzeczpospolita“ schrieb damals: „Die Worte Batroszewskis haben mir weh getan, weil die Selbstblamage einer Koryphäe schmerzt. Beleidigungen sind keine Argumente. Er lieβ seinem Unmut und seiner Wut freien Lauf. Damit beschädigte er sich selbst und das Land, dem er so lange gut gedient hatte“.

Władysław Bartoszewski starb im Alter von 93 Jahren in Warschau.

© RdP




Kommunen zum Leben erweckt

Am 12. Februar 2015 starb Prof. Jerzy Regulski.

Er verkörperte eine Spezies, die im kommunistischen Polen in der Wissenschaft lange Zeit anzutreffen war. Alles an diesen Menschen schien aus der Vorkriegszeit zu sein. Ihr Auftreten und Benehmen, ihre Haltung und ihre Umgangsformen standen im schroffen Gegensatz zur allgegenwärtigen, primitiven Propaganda, zur Rüpelhaftigkeit, Tristesse und Alltagsmühsal des Lebens im Kommunismus.

Die kultivierten Damen und Herren „der alten Schule“ wahrten zu ihrer Umgebung eine gewisse Distanz, und doch waren sie bestens integriert. Eingeschüchtert und mit Doktor- bzw. Professorentiteln ausgestattet, brauchten sie den Sozialismus nicht zu rühmen. Der rote Staat lieβ sie gewähren, er benötigte ihr Fachwissen, ihre Sprachkenntnisse, ihre guten Manieren, um nach Auβen einen positiven Eindruck zu erwecken. Es genügte, dass sie sich auf ihr Fachgebiet beschränkten, ansonsten wegschauten, den Mund hielten, ihre Privilegien genossen und im Ausland eine gute Figur machten. Ganz im Sinne der Lehre Lenins über „die Fachleute, die von Dienern des Kapitalismus, zu Dienern der werktätigen Massen, zu ihren Ratgebern gemacht werden müssen.“

Abkömmling parasitärer Bourgeoisie

Jerzy Regulski wurde 1924 geboren in Zarybie, einem Vorort von Warschau, wo die Unternehmerfamilie eine Residenz bewohnte. Vater Janusz war General- und Finanzdirektor des damals gröβten polnischen Energiekonzerns Siła i Światło SA („Kraft und Licht AG“), der bis 1939 gut 30 Mio. Dollar in Polen investierte, was heute einer Summe von etwa 450 Mio. Dollar gleichkäme. Einen Namen hatte er sich aber vor allem als langjähriger Präsident des noblen Polnischen Automobil-Clubs gemacht.

Während der Belagerung Warschaus durch deutsche Truppen, zwischen dem 8. und 28. September 1939, wurde Regulski-Senior zum Kommandanten des Ordnungsdienstes berufen, der an Stelle der Anfang September 1939 aus der Stadt evakuierten Polizei, deren Aufgaben wahrnahm.

Während der Besatzungszeit unterstützte er unermüdlich Flüchtlinge und Häftlinge durch seine Arbeit in Hilfskommitees der polnischen Caritas und des Polnischen Roten Kreuzes. Als eine herausragende Persönlichkeit des „kapitalistischen Polens“ wurde er 1948 von den Kommunisten zu 14 Jahren Zuchthaus verurteilt. Im Zuge des langsam einsetzenden politischen Tauwetters nach dem Tode Stalins im März 1953, kam er als gebrochener Mann 1955 frei.

Sein Sohn Jerzy hatte bereits 1946, als junger Student, für ein Jahr lang Bekanntschaft mit dem kommunistischen Kerker gemacht. Schwer misshandelt und psychisch gebrochen, entließ man ihn „auf Probe“. Seitdem wurde Jerzy Regulski nicht müde Selbstkritik zu üben.

Die strikt antikommunistischen „Nationalen Streitkräfte“ (NSZ), eine starke Untergrundorganisation, in der er im Krieg Mitglied gewesen war, war für ihn nun, entsprechend der kommunistischen Propagandaauslegung, „faschistisch“. Der Warschauer Aufstand von 1944, in dem er gekämpft hatte – ein „unverantwortliches Abenteuer“. Der antikommunistische Widerstand nach 1945 – „ein Fehler“.

Kompromiss Kompromissowitsch

Diese „Läuterung“ war für den „Abkömmling der parasitären Bourgeoisie“ der Passierschein zum Studium an der Warschauer Technischen Hochschule, später sogar am Pariser Centre de Rechreche d’Urbanisme. Der studierte Bauingenieur, promovierte und habilitierte an der Architekturfakultät der Warschauer Technischen Hochschule, war Professor an der Universität Łódź, später an der Polnischen Akademie der Wissenschaften.

Kurz vor seinem Tod offenbarte Jerzy Regulski in einem Zeitungsinterview: „Das Jahr im Gefängnis hatte einen kolossalen Einfluss auf meine Weltanschauung. Dort habe ich mir meine Philosophie des Überlebens geschaffen, der Wahrung eines Gleichgewichts zwischen den eigenen Werten und dem Leben in einer Umgebung, wie sie damals war.“

Regulski sagte von sich, er sei ein Anhänger der „organischen Arbeit“ (praca organiczna). Dieser im 19. Jh. von polnischen Positivisten geprägte Begriff umschreibt eine Ideologie, die die sinnvolle Arbeit zur Stärkung der Kräfte der Nation (Bildung, Steigerung des ökonomischen Potentials) den angeblich fruchtlosen Aufständen vorzieht. Der Spielraum für organische Arbeit war jedoch im totalitären Kommunismus, der jede Eigeninitiative, jeden undogmatischen Gedanken als Bedrohung ansah, denkbar gering und lieβ Legionen von Gutwilligen „Positivisten“ schier verzweifeln. Die Kompromisse, die ihnen abverlangt wurden, machten sie letztendlich zu Mitläufern und Unterstützern des Systems.

Steckenpferd kommunale Selbstverwaltung

Während der „ersten Solidarnośc“, zwischen August 1980 und der Verhängung des Kriegsrechts am 13. Dezember 1981, in einer Zeit, in der die Freiheit in Polen brodelte, entdeckte Regulski sein Steckenpferd, das er bis zu seinem Tode mit Leidenschaft pflegte: die kommunale Selbstverwaltung.

Im Kommunismus war sie abgeschafft und durch ein von Oben herab staatlich kontrolliertes System der „Volksräte“ ersetzt worden. Diese hatten keine Autonomie, kein Vermögen und keine eigenen Einnahmen. Alles, auch die simpelste Fassadenrenovierung oder Straβenausbesserung, wurde in Warschau (Ost-Berlin, Budapest, Moskau usw.) bewilligt und von dort finanziert. Gepaart mit anderen Grundübeln des Kommunismus (Materialmangel, Tonnenideologie, eine alles lähmende Bürokratie usw.) führte das zu einer geradezu beklemmenden Verwahrlosung der Provinz zwischen Elbe und Wladiwostok.

Arbeiterselbstverwaltung und Gewerkschaftsrechte, das waren die Themen, die die Gemüter in der Solidarność-Bewegung, zuerst in der Legalität und dann im Untergrund, erhitzten. Kaum jemand im Polen jener Zeit war sich nach vierzig Jahren Kommunismus der Bedeutung der kommunalen Selbstverwaltung für die Demokratisierung und den Wiederaufbau des Landes bewusst. Regulski tastete sich Ende der 1980er Jahre vorsichtig an die Opposition heran. Es gelang ihm und seinen engagierten Getreuen, die im Stillen an dem Thema arbeiteten, dieser Opposition ein Bewusstsein für das Thema zu vermitteln.

Der erste nichtkommunistische Ministerpräsident Tadeusz Mazowiecki ernannte Jerzy Regulski Ende 1989 zum Bevollmächtigten für die kommunale Verwaltungsreform. In Windeseile wurden ganze Gesetzespakete verabschiedet, und bereits am 27. Mai 1990 fanden die ersten freien Wahlen nach dem Krieg in Polen statt: zu den Gemeinderäten.

Die kommunale Selbstverwaltung zog in die Gemeinden ein. Die zweite Etappe – die Einrichtung der kommunalen Selbstverwaltung auf Kreis- und Woiwodschaftsebene konnte erst 1999 umgesetzt werden. Regulski beaufsichtigte sie als stellvertretender Innenminister in der Regierung Jerzy Buzek.

Reformbedürftige Reform

Am Ende seines Lebens wurde Jerzy Regulski zunehmend zu einem lebendigen Denkmal der Erfolgspropaganda der seit 2007 in Polen regierenden Bürgerplattform. Als Berater von Staatspräsident Komorowski, verinnerlichte er dessen These, Polen erlebe gerade sein „goldenes Zeitalter“ und jeder, der diese Meinung nicht teilt, ist ein „Querulant und Extremist“. Regulski lieβ auch keine grundlegende Kritik an seinem Werk zu.

Dabei führt die fehlende Beschränkung auf zwei Amtsperioden, gepaart mit einer weitgehenden politischen Passivität der Polen, dazu, dass die meisten (direkt gewählten) Ober- und Gemeindebürgermeister Polens seit zwölf, oft sechzehn und manchmal zwanzig Jahren ununterbrochen amtieren.

In vielen Kommunen sind Ämterpatronage und das Entstehen von Geflechten, die auf gegenseitiger Hilfeleistung und auf Gefälligkeiten beruhen, die Folge. Dieses verdeckte Zusammenwirken führt zur Vermischung von gesellschaftlichen, politischen und unternehmerischen Interessen, und es überschreitet nicht selten die Grenze zur Korruption.

Die Kommunen werden mit immer neuen Aufgaben überfrachtet, ohne dass sie von der Zentralregierung Geld dafür bekommen. Das parallele Vorhandensein von zentralstaatlichen (dem von Warschau ernannten Woiwoden-Regierungspräsidenten unterstellten) und kommunalen (dem gewählten Woiwodschaftsmarschall unterstellten) Verwaltungsstrukturen in den sechzehn Provinzen Polens, leistet einer enormen Bürokratie Vorschub. Alle diese Probleme harren einer Lösung.

Trotz alledem, es war Regulski, der den Durchbruch zur Errichtung einer kommunalen Selbstverwaltung in Polen umgesetzt hat. Das ist sein bleibender Verdienst.

© RdP




Büsserlandschaft-Bluesman

Am 29. Januar 2015 starb Jan Skrzek.

Besonders herzzerreiβend schluchzte die Mundharmonika, die er so meisterhaft beherrschte, immer dann, wenn er in seinen Bluesballaden von seinem Górny Śląsk, von Oberschlesien erzählte.

Von der langsam verödenden, sich entvölkernden Heimat („O mój Śląsku, umierasz mi w biały dzień“/Oh, du mein Schlesien, du stirbst mir am hellichten Tage„). Von Bergleuten die unter Tage zu Tode gekommen sind („To był chłop“/“Das war ein Kerl“). Vom Bier, von der Eckkneipe, von Taubenschlägen und Kohlehalden. „Kyks“, so sein Spitzname, wusste sehr gut wovon er sang, denn er schuftete eine Zeitlang als Hauer. Und so sang er in der unverwechselbaren polnisch-oberschlesischen Mundart:

Steiger, ich schäme mich ein klein wenig, ich schlage keine Kohle mehr,

Steiger, ich schäme mich ein klein wenig, ich spiele Blues, ich fühle Blues, das liegt mir sehr,

Steiger, ich schäme mich ein klein wenig, weiβe Hände, schwarzer Blues,

Steiger, ich schäme mich ein klein wenig, mit Maloche ist jetzt Schluss,

Steiger, ich schäme mich ein klein wenig, doch Deine Worte sind in meinem Ohr: „egal was Du tust, mein Junge, mach‘s richtig, und sei kein Tor.“

(Übers. RdP)

„Sztajger, jest mi trocha wstyd“/“Steiger, ich schäme mich ein klein wenig“

Blues ist die Musik der Wahrheit, sie muss sagen was Sache ist, sonst verkommt sie zu einer seelenlosen Spielerei. „Kyks“ hatte ein besonderes Gespür dafür. Seine Texte waren bitter, so wie der Anblick seiner Heimat Bitterkeit hervorruft. Auswechselbare Städte und Dörfer gehen ineinander über, hinter Grauschleiern liegen Industriegebäude und Arbeitersiedlungen aus dunkelrotem Backstein wie ausgestreut aus einem Füllhorn der Geschichte. Dazwischen, hingeworfen nach dem Zufallsprinzip, lieblos, ohne Gestalt, hässliche Wohnwaben aus Beton, Garagen, Baracken, Buden, Straßen. Der Geist des ausgehenden Industriezeitalters materialisiert sich zwischen Katowice/Kattowitz, Bytom/Beuthen, Gliwice/Gleiwitz und Jastrzębie/Jastrzemb im Süden, in einer Büßerlandschaft von oft durchdringender Traurigkeit.

Jan Skrzek (phonetisch: Skschek) wurde 1953 Mitten im Kohlerevier, in Siemianowice Śląskie/Laurahütte geboren. Der Vater Bergmann, die Mutter Hausfrau, die beiden Söhne Józef und Jan vernarrt in Rock and Roll, Beat, Blues, Jazz… Der ältere Bruder Józef Skrzek mit seiner Rock-Jazz-Band SBB (ursprünglich für „Silesian Blues Band“, später für „Szukaj, Burz, Buduj“ –„Suchen, Brechen, Bauen“ bzw. „Search, Break & Build“)  genieβt seit Jahrzehnten Kultstatus im Revier. Jan und Józef trafen sich immer wieder auf der Bühne, aber Jan ging meistens seine eigenen Wege, frönte seit Anfang der 70er Jahre mit Leidenschaft dem Blues. Immer herzlich, immer hilfsbereit, keine Allüren, keine Ansprüche, Karriere war ihm egal. Was galt, war der Spaβ am Blues. Auftritte mit führenden Blues&Jazz-Musikern und Bands, Solokonzerte, Festivals, Musik-Aufnahmen, Filme, Fernsehen, Auszeichnungen. Immer auf Achse, schnell und intensiv leben, vor allem mit seiner Leber kannte Skrzek keine Gnade…

Am 17. Januar 2015 war er, vor einem Konzert,  in seiner Wohnung mit ein paar befreundeten Musikern verabredet. Sie brachen die Tür auf, als er nicht öffnete. Noch eine Woche lang lebte Jan Skrzek nach dem Gehirnschlag auf der Intensivstation im Katowicer Universitätskrankenhaus. Er starb mit 61 Jahren. Geblieben sind seine Bluesballaden.

„To był chłop“/“Das war ein Kerl“

Nicht mehr da, der Kerl, gestern noch war er in die Kneipe mit,

was soll man sagen, ist wie im Krieg, hier gibt’s Dynamit.

Fuhr ein, ein letztes Mal, zu Hause weinen die Lieben,

so ist’s, nur die Bergmanns-Marke ist ihnen geblieben.

(Übers. RdP)

„O mój Śląsku, umierasz mi w biały dzień“/“Oh, du mein Schlesien, du stirbst mir am hellichten Tage„

Die neue Version dieses Blues hat Skrzek (am Anfang und am Ende des Clips zu sehen) vor nicht  langer Zeit mit dem in der Region bekannten Rapper Mioush aufgenommen. Die Bilder sagen alles.

© RdP




Meister des roten Charmes

Am 9. Januar 2015 starb Józef Oleksy.

Er kam stets wohlgenährt, jovial, gut gelaunt daher, umgeben von der Aura eines herzensguten Lebemannes. Der sympathische Genussmensch Józef Oleksy verkörperte geradezu perfekt die chamäleonhafte Fähigkeit vieler einstiger kommunistischer Apparatschiks sich der neuen Umgebung anzupassen. Schelmisch mit den Augen zwinkernd behauptete er sogar, selbst ein Opfer des Kommunismus zu sein.

Józef Oleksy wurde 1946 in Nowy Sącz geboren, in einer Gegend, die auch heute als eine Hochburg  des Glaubens und traditioneller sozialer Strukturen gilt. Der Vater war Tischler, die Mutter Näherin. Der kleine Józio, eines von fünf Kindern, war mit Leib und Seele Messdiener und kam nach der Grundschule, mit 14 Jahren, auf ein Knabenseminar in Tarnów für Jungs die später Priester werden wollten. Dort das Abitur zu machen, war ihm nicht gegönnt, denn 1963, eine Woche vor Beginn des neuen Schuljahres, schlossen die kommunistischen Behörden das Knabenseminar. Daher rührte sein selbstzuerkannter „Opferstatus“.

Das Abitur legte er an einem staatlichen Gymnasium in Tarnów ab und ging 1964 nach Warschau. Dort, ausgestattet mit Pluspunkten für seine soziale Herkunft als Arbeitersohn, behauptete er sich bei der Aufnahmeprüfung (14 Kandidaten auf einen Studienplatz) zur elitären Fakultät für Auβenhandel an der besten Wirtschafts-Universität des Landes, der Hochschule   für Planung und Statistik (SGPiS). Wer dorthin gelangte und sich geschickt anstellte, konnte sich seine Karriere bereits ausmalen: einen Posten im Ministerium für Auβenhandel oder in einem der staatlichen (andere gab es nicht) Auβenhandelsunternehmen, Westreisen, Devisenspesen, ein gutes Leben, aufgebaut auf dem Schwarzmarktkurs des Dollar.

Natürlich war das alles nicht ohne Parteimitgliedschaft und enge Kooperation mit der Staatssicherheit zu haben. „Ich war ein Opportunist“, gestand Oleksy selbstkritisch in seinem letzten Zeitungsinterview Ende Dezember 2014, auf dem beigefügten Foto war er schon sichtlich vom Tode gezeichnet. Der verhinderte Priester war umgeschwenkt, wurde im Studium kommunistischer Jugendfunktionär, trat 1969 in die Partei ein.

Ende der 90er Jahre kam heraus, dass er 1970 eine Verpflichtungserklärung beim Geheimdienst unterschrieben hatte, den er bis 1978 mit Informationen belieferte, über seine Umgebung, über seine Auslandsreisen in den Westen und über Leute, vor allem polnische Emigranten, die er dort traf. Als er ein Stipendium im elsäβischen Straβburg bekam, soll er die Stadt für eine künftige Einnahme durch Warschauer-Pakt-Truppen auskundschaftet haben.

Oleksy war ein klassischer Apparatschik, arbeitete in den Leitungsstrukturen der kommunistischen Studentenorganisation, ab 1977 im Zentralkomitee der herrschenden kommunistischen Polnischen Vereinigten Arbeiterpartei (PVAP). Dort erlebte er, gut versorgt, die stürmische Zeit der ersten Solidarność zwischen August 1980 und Dezember 1981, die Verhängung des Kriegsrechts am 13. Dezember 1981. Mitte 1987 wurde er in Anerkennung seiner treuen Dienste Parteichef  der kleinen Woiwodschaft (Provinz) Bielsko Biała im Osten des Landes.

„Opportunist“ zu sein bedeutete für Oleksy sich als Parteifunktionär nicht allzu weit aus dem Fenster zu lehnen. Unrecht geschehen zu lassen und wegzuschauen, nach Oben zu ducken und nach unten möglichst wenig zu treten. Das war der Typus des im Westen damals so geschätzten „liberalen“ Kommunisten.

Zusammen mit den KP-„Jungfunktionären“ Leszek Miller (Jg. 1946), Włodzimierz Cimoszewicz (Jg. 1950) und Aleksander Kwaśniewski (Jg. 1954) verwandelte Oleksy die ausgediente polnische KP, nach dem Zusammenbruch im Jahre 1989, Anfang 1990 in eine „Sozialdemokratie“.

Die vier knüpften noch während der Gespräche am Runden Tisch (Februar-April 1989) gute Kontakte zu den führenden linken Bürgerrechtlern und Dissidenten, wie Adam Michnik, Jacek Kuroń, Bronisław Geremek u. v. a. m., die auf der Seite der Solidarność damals den Ton angaben. Sie stellten den neuen „Sozialdemokraten“ und ihrer Anhängerschaft aus alten Kadern, die das Parteibuch gegen das Scheckbuch eintauschten, den Freibrief in die neue Wirklichkeit aus.

Sie sollten die Verbündeten sein im Kampf gegen den angeblich unbändigen Teufel des polnischen Nationalismus, Antisemitismus, des katholischen Fundamentalismus, den vor allem Adam Michnik und seine Gazeta Wyborcza bis heute unablässig an die Wand malen. Diese, mal sehr enge, mal lockere Allianz, durchlebte verschiedene Stadien, aber sie lebt bis heute.

Schon im September 1993 waren die (Post)Kommunisten wieder an der Regierung. Die Unstimmigkeiten im Solidarność-Lager und der tiefe wirtschaftliche Fall des Landes verhalfen ihnen damals bei den Wahlen zur Macht. Oleksy wurde Parlamentspräsident und im März 1995 Regierungschef.

Mit Lech Wałęsa, dem damaligen Staatspräsidenten, befand er sich in einem Konflikt, ihm war Oleksy nicht folgsam genug.  Laut Verfassung ernannte in jener Zeit der polnische Staatspräsident die Minister für Äuβeres, Inneres und Verteidigung. Der Ministerpräsident hatte das zu akzeptieren.

Mitte November 1995 verlor Wałęsa die Präsidentschaftswahlen für eine zweite Amtsperiode und sollte nur noch bis zur Vereidigung seines Nachfolgers, des Postkommunisten Aleksander Kwaśniewski, am 23. Dezember 1995 amtieren.

Vier Tage zuvor, am 19. Dezember 1995, lieβ der von Wałęsa seiner Zeit berufene Innenminister Milczanowski eine politische Wasserstoffbombe hochgehen. Er erstattete bei der Staatsanwaltschaft Anzeige gegen Oleksy wegen Spionage für Russland und erläuterte den Sachverhalt zwei Tage später im Parlament. Oleksys Deckname soll „Olin“ gewesen sein.

Oleksy musste zurücktreten. Sein Nachfolger wurde Włodzimierz Cimoszewicz. Wie so oft in Polen, blieb jedoch auch die Oleksy-Affäre unaufgeklärt. Jedenfalls hat die Staatanwaltschaft das Verfahren gegen ihn im April 1996 eingestellt, sprach von „ernsthaften Verfehlungen des Staatsschutzes“ und einer „gemeinen politischen Provokation“. Nur, es waren Oleksys Parteifreunde in der Staatsanwaltschaft, die das sagten.

Die Postkommunisten mussten 1997 die Macht an das Wahlbündnis Solidarność abgeben, an eine bunt zusammengewürfelte Allianz der Gewerkschaft Solidarność und einiger Dutzend mit ihr kooperierender liberaler und konservativer Kleinparteien (Ministerpräsident Jerzy Buzek). 2001 gewannen Postkommunisten  noch einmal triumphal die Wahlen und regierten Polen bis zum Herbst 2005 (Ministerpräsident Leszek Miller). Seither befindet sich die postkommunistische Allianz der Demokratischen Linken im Niedergang.

Józef Oleksy hat sich von der Olin-Affäre politisch nie wieder erholt. Er wurde zwar noch 2004 für kurze Zeit Innenminister im Kabinett Miller, dann noch einmal Parlaments- und Parteivorsitzender, sein politischer Einfluss aber war mehr als gering. Nach den von den Postkommunisten  dramatisch verlorenen Wahlen von 2005 ist er nicht einmal Abgeordneter gewesen, trat nur noch als politischer Kommentator  in Erscheinung.

Dann, im März 2007, wurden Tonaufnahmen publik, in denen Oleksy, im ungezwungenen Gespräch mit dem postkommunistischen Geschäftsmann Aleksander Gudzowaty, hemmungslos über seine Parteikollegen, u. a. den damals schon ehemaligen Staatspräsidenten Kwaśniewski, als Steuerhinterzieher, Schmiergeldempfänger und Dummköpfe herzieht. Er wurde daraufhin aus der Partei ausgeschlossen. 2010 hat man ihm vergeben und er durfte wieder eintreten.

Politisch bedeutungslos, doch stets freundlich, guter Dinge, leicht ironisch und redegewandt, wurde OIeksy in seinen letzten Lebensjahren gern von den Medien nach seiner Meinung gefragt, vor allem weil er nie um eine gute Pointe verlegen war. Sich dessen bewusst, dass er mit seinem Habitus und der hohen Tonlage seiner monotonen Stimme nur noch eine Soutane bräuchte, um einen polnischen Dorfpfarrer abzugeben, wie er im Buche steht, wurde Oleksy zuletzt nicht müde zu beteuern, wie eng verbunden er sich mit der katholischen Kirche fühle.

Im letzten Interview gefragt, ob er sich ein weltliches Begräbnis wünsche, antwortete er prompt: „Selbstverständlich ein kirchliches! Es soll die Klammer sein, die mein Leben zusammenhält.“

Bevor Józef Oleksy auf dem Warschauer Powązki-Friedhof bestattet wurde, fand in der Kathedrale der Polnischen Armee am Rande der Warschauer Altstadt ein Staatsakt statt, an dem u. a. Staatspräsident Komorowski, Ministerpräsidentin Kopacz und EU-Rastpräsident Tusk teilnahmen. Der Charme des Appratschiks wirkte bis zuletzt.

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