9.07.2022. Es tut Polen gut, den Euro nicht zu haben

Die meisten Polen haben sich weder durch den Ukraine-Krieg noch durch die hohe Inflation von ihrer Überzeugung abbringen lassen, dass der Euro nicht gut für sie und ihr Land wäre. Das geht auch aus den zwei neuesten, repräsentativen Meinungsumfragen von Ende Juni und Anfang Juli 2022 hervor. Etwa 65 Prozent der Befragten wollen die nationale Währung, den Zloty, beibehalten. Nur gut 25 Prozent sind dagegen, der Rest hat keine Meinung dazu.

Mit dieser Haltung erbringen die meisten Polen den Beweis dafür, dass sie vorerst dem gesunden Menschenverstand nicht abgeschworen haben. Und das, trotz einer ebenso naiven wie massiven Propaganda der EU-Enthusiasten, die wollen, dass das Land so schnell wie möglich und um jeden Preis der Eurozone beitritt.

In ihrer ablehnenden Haltung bestärkt wird diese Mehrheit durch ihre Beobachtungen diesseits und jenseits der Grenzen zu den drei Nachbarländern, die den Euro haben: zu Deutschland, zur Slowakei und zu Litauen. Vor allem die beiden letztgenannten Staaten, mit denen sich Polen besser vergleichen lässt als mit Deutschland, gelten als warnende Beispiele.

Wochenende für Wochenende packen Abertausende von Slowaken und Litauern in den grenznahen Orten ihre Autos bis unters Dach voll mit polnischen Lebensmitteln, Baustoffen und Haushaltsgeräten, weil all das bei ihnen durch die Bank teurer ist. Inwieweit ist tatsächlich der Euro schuld daran? Fest steht: „Als sie noch ihre eigene Währung hatten, sind wir zu ihnen einkaufen gefahren“.

Die Katastrophe des Euro-Staates Griechenland stets vor Augen, schauen die finanzpolitisch besser bewanderten Polen heute auf das Vereinigte Königreich. Dank des Pfunds gelingt es den Briten, die wirtschaftlichen Verluste infolge des Brexits erheblich abzufedern. Da sind auch noch Schweden und Dänemark. Beiden geht es blendend ohne den Euro, beide haben die große Finanzkrise von vor mehr als einem Jahrzehnt trockenen Fußes überwunden. Ebenso das benachbarte Tschechien macht sich ganz gut ohne den Euro.

Da Polen weiterhin über eine eigene Landeswährung verfügt, hat es auch eine Zentralbank, die ihren Namen verdient, die Polnische Nationalbank NBP mit ihrem wichtigsten Gremium, dem Rat für Geldpolitik. Damit verfügt Warschau über Instrumente, mit denen man, bei Bedarf, den Zloty stärken oder schwächen und die Höhe der Inflation selbstverantwortlich beeinflussen kann. Die Regulierung der Geldmenge und der Leitzinsen sind beileibe keine Allheilmittel, aber generell und umso mehr in einer geldpolitisch so turbulenten Zeit wie der heutigen sind sie auf jeden Fall sehr hilfreich.

Länder, die der Eurozone beigetreten sind, haben sich dieser eigenständigen Instrumente entledigt. Und was nun? Nun müssen sie machtlos, geduldig und hinnehmend auf die Entscheidungen der weit entfernten, allmächtigen Europäischen Zentralbank warten.

In den europaweiten geldpolitischen Debatten ist viel die Rede vom Missmut deutscher Sparer und dem Risiko des Zusammenbruchs der maroden italienischen Staatsfinanzen. Der Renditeabstand zwischen deutschen Staatsanleihen und denen des hoch verschuldeten Italiens hatte sich zuletzt, allein infolge der Ankündigung einer sehr bescheidenen Straffung der lockeren EZB-Geldpolitik, ausgeweitet. Es kam zu einem weiteren Zinsanstieg für 10-jährige italienische Staatsanleihen.

Aber wer macht sich bei der EZB groß Gedanken über die konkreten geldpolitischen Belange Estlands, Litauens, Lettlands, der Slowakei, Sloweniens oder Kroatiens, das am 1. Januar 2023 den Euro einführen wird?

Von den Logenplätzen außerhalb des Euroraums, in Warschau, Prag, Kopenhagen, Stockholm, London, wird man mit Interesse beobachten, wie die EZB, die seit 2016 den Zinssatz für ihre Hauptrefinanzierungsgeschäfte bei 0,00 Prozent hält, die Quadratur des Kreises zu lösen gedenkt. Die Inflation in den Ländern der Eurozone schwankt extrem. Sie reichte von 20,1 Prozent in Estland, 18,5 Prozent in Litauen, 16,8 Prozent in Lettland, über 8,7 Prozent in Deutschland, 8,5 Prozent in Spanien, 8,1 Prozent in Portugal bis, am anderen Ende der Skala, hin zu 5,8 Prozent in Frankreich und auf Malta. Im Eurozonen-Durchschnitt lag sie im Mai 2022 bei 8,1 Prozent (alle Angaben laut Eurostat).

Was also wird die EZB in den kommenden Monaten tun? Wird sie die Geldpolitik stark straffen, einschließlich einer drastischen Anhebung der Leitzinsen, um das Leiden Estlands, Litauens und Lettlands, die vom Albtraum der Hochinflation geplagt werden, zu lindern? Oder wird sie die Geldpolitik nur ganz geringfügig verschärfen, um Italien vor dem Staatsbankrott zu retten und das Wachstum des bisher weit weniger unter der Inflation leidenden Frankreichs und Deutschlands zu unterstützen?

Man spricht in solchen Fällen von einer teuflischen Alternative, aber teuflisch ist sie in Wahrheit nur für die baltischen Staaten, denn die EZB wird sich ganz gewiss nicht nach deren Interessen richten.

Es ist also auf jeden Fall besser, es erst gar nicht darauf ankommen zu lassen und sich nicht vergewissern zu wollen, ob sich die EZB um polnische Nöte scheren würde. Daraus resultiert die Devise: Pole, bleib bei deinem Zloty.

RdP




3.07.2022. Botschafter Melnyk ist zu weit gegangen

In einer Zeit, in der Russland in seinem Land schlimmste Kriegsverbrechen begeht, relativiert der weltweit bekannteste Botschafter der Ukraine die entsetzlichen Verbrechen der ukrainischen Nationalisten unter Stepan Bandera. Trotz der raschen Reaktion von Politikern aus Warschau und Kiew werden die Äußerungen von Andrij Melnyk länger im Gedächtnis bleiben und das polnisch-ukrainische Vertrauen untergraben. Putin darf sich freuen.

Andrij Melnyk hatte sich bisher auf die Kritik an Deutschland spezialisiert, wo er seit vielen Jahren Botschafter ist. Er ist eine Berühmtheit, die die deutschen Fernseh- und Rundfunkstudios kaum noch verlässt. Seine wahrlich undiplomatischen Kommentare sollten Politik und Öffentlichkeit in der Phase der deutschen Sowohl-als-auch Zeiten-Halbwende wachrütteln, beschämen, zum Umdenken und entschlossenen Handeln bewegen.

Bei der Kritik an Melnyk trafen sich die Entspannungsromantiker (War doch nicht alles schlecht), die Patrioten (Wie kann man es wagen, über unseren Bundespräsidenten oder Bundeskanzler die Wahrheit zu sagen), die Angsthasen (Aber wenn der Putin dann böse mit uns ist…), die Geizhälse (Auf etwas Wohlstand verzichten, niemals…), die Chauvinisten (Der Melnyk soll still sein, der vertritt ja ein korruptes Lan…), die Altlinken (Egal, was kommt, wir stehen zum Land der Oktoberrevolution), die Wirtschaftsfreunde (Embargos sind schlecht fürs Geschäft)…. In Anbetracht solch einer Gesellschaft kann man durchaus sagen, „Viel Feind, viel Ehr.“

Dieses Mal jedoch, verteidigte Melnyk in einem Interview eifrig Stepan Bandera. Für ihn ist der von der Ukrainischen Aufständischen Armee an etwa hunderttausend Polen zwischen 1943 und 1945 begangene bestialische Völkermord eine verständliche, wenn nicht gar legitime, blindwütige Vergeltung für die Diskriminierung von Ukrainern in Polen vor dem Zweiten Weltkrieg und ansonsten nichts Besonderes. Die Polen nutzen das Thema politisch aus und Moskau verbreitet bis heute falsche Behauptungen über die Ermordung von vielen Tausend Juden durch Banderas Mordbanden, so Melnyk.

Nach dem Einmarsch Russlands in der Ukraine wurden die schwierigen historischen Fragen auf polnischer Seite in Bezug auf die Ukraine mit Erfolg zum Schweigen gebracht. Sie sollten in solch harten Zeiten die Beziehungen zu dem sich kämpfend verteidigenden Land nicht belasten. Das funktionierte, fiel aber vielen Polen nicht leicht.

Hierbei geht es darum, dass Massenmörder und die geistigen Urheber dieser Taten wie Bandera, Dmytro Kljatschkiwskyj, Roman Schuchewytsch, Mykola Lebed und Dutzende andere, in der Westukraine mit Denkmälern, Gedenktafeln, in Umzügen und Publikationen zu Helden stilisiert werden. Gleichzeitig verweigert die Ukraine bis heute Polen, die sterblichen Überreste der in Massengräbern verscharrten polnischen Zivilisten, die zumeist mit Äxten, Messern, Mistgabeln und Holzknüppeln umgebracht wurden, zu bergen und sie menschenwürdig zu bestatten.

Ihre Häuser, Gärten, Kirchen, Friedhöfe und alle anderen Zeichen ihrer jahrhundertelangen Anwesenheit in Wolhynien haben Banderas Helden dem Erdboden gleichgemacht und diese Erde in vielen Dutzenden von Dörfern umgepflügt. Sie haben bei der groß angelegten ethnischen Säuberung, der die deutschen Besatzer tatenlos zusahen, ganze Arbeit geleistet. Wo einst polnisches, aber auch jüdisches und tschechisches (auch einige Tausend Tschechen waren in Wolhynien ansässig) Leben war, pfeift der Wind über die Brachen oder wogt der begehrte ukrainische Weizen,

Deshalb lösten die Worte eines bekannten Diplomaten einen solchen Schock und Empörung in Polen aus. Die polnische Diplomatie war sich der Folgen für das Bündnis zwischen Warschau und Kiew bewusst, das während des Krieges mühsam und aufopferungsvoll aufgebaut worden war, und eilte zu Hilfe. Außenminister Zbigniew Rau und Minister Jakub Kumoch aus dem Präsidialamt beruhigten die Situation auf Twitter. Das ukrainische Außenministerium distanzierte sich von Melnyk und griff schnell ein. Die Äußerungen des Botschafters seien dessen private Meinung, die nicht mit der Position des Außenministeriums übereinstimme.

Es ist merkwürdig, dass das die private Meinung eines Botschafters ist. Sie passt zu einem nationalistischen Kolumnisten oder rechtsradikalen Aktivisten, nicht jedoch zu einem Diplomaten. Melnyks Worte lassen sich nicht so einfach ausradieren. Er hat Polen, dem treuesten Verbündeten der Ukraine in der Not, schwer zugesetzt und seinem Land in einer Zeit geschadet, in der es an der Front Niederlagen einstecken muss und vom müden Westen zunehmend unter Druck gesetzt wird, den Krieg zu Putins Konditionen zu beenden.

Vor fünf Monaten sorgten die Worte des deutschen Marinekommandeurs Vizeadmiral Kay-Achim Schönbach für große Empörung. Zu einer Zeit, als Russland Zehntausende von Truppen an die Grenze zur Ukraine schickte, äußerte sich Schönbach bei einem Treffen in Indien über Putin, der Respekt verdiene, und über die Krim, die nie wieder unter die Kontrolle Kiews zurückkehren werde. Es handelte sich dabei um die private Meinung eines ranghohen Militärs, auch wenn einige vermuteten, dass er eine weit verbreitete deutsche Gesinnung offenbart hatte. Kurz danach wurde Schönbach abberufen.

Botschafter Melnyk kritisierte Schönbach besonders heftig und sprach von deutscher Arroganz und Größenwahn. Er begrüßte die Absetzung des deutschen Marinebefehlshabers, war aber der Ansicht, dass das keine ausreichende Reaktion Berlins sei: Es reiche, so Melnyk, nicht aus, um das Vertrauen wiederherzustellen. Wie wahr.

RdP




29.06.2022. Politik unterhalb der Gürtellinie. Gedanken am Rande der Warschauer Schwulenparade

Es sollten 80.000 kommen, am Ende waren es, so die Schätzungen der Polizei, etwa 15.000. Die zwanzigste alljährliche Gleichstellungsparade sexueller Minderheiten zog am Samstag, dem 25. Juni durch das, hitzebedingt, fast menschenleere Stadtzentrum von Warschau. Es gab keine Zwischenfälle, dafür, wie immer, einige Obszönitäten und, zum ersten Mal, viele ukrainische Homoaktivisten, die ihre Meinung laut kundtaten: Die Toleranz in Polen sei viel weiter fortgeschritten als in ihrer Heimat.

Mit von der Partie waren Politiker aus dem linksliberalen und vor allem dem linken Lager. Polens Linke ist zersplittert, aber in einigen Punkten zeigt sie Einigkeit. Fast ausschließlich angesiedelt in der dünnen Schicht großstädtischer Öko-, Urban-Styler- und gut situierter, dem westlichen Zeitgeist nacheifernder liberaler Bildungseliten-Milieus, konzentriert sich linke Politik beinahe ausnahmslos auf die Forderungen sexueller Minderheiten und Themen wie die weitestmögliche Freigabe von Abtreibungen sowie die Aufnahme von Migranten aus dem Nahen und Mittleren Osten. Die wichtigen Probleme der Sozialpolitik überlässt sie der Regierungspartei Recht und Gerechtigkeit, die diese mit Geschick anpackt und sich daher gute Chancen ausmalen kann, im Herbst 2023 die Parlamentswahlen zum dritten Mal in Folge zu gewinnen.

Doch die polnische Linke geht noch weiter. Regenbogenfahnen schwingend marschierten ihre Politiker auch bei der diesjährigen Warschauer Homoparade begeistert Hand in Hand mit Vertretern von Konzernen. Da waren die Repräsentanten großer Banken, darunter derjenigen, die für die Krise im Jahr 2008 verantwortlich waren: Goldman Sachs und J.P. Morgan. Auch Coca-Cola, Unilever und Microsoft waren mit von der Partie. Man war geradezu überrascht, dass Amazon nicht dabei war, denn das Unternehmen ist für seine hervorragende Behandlung aller Mitarbeiter, unabhängig von ihren sexuellen Veranlagungen, bekannt. Das sollte natürlich nur ein Scherz sein…

Wie auch immer, die Großkonzerne dieser Welt haben wieder einmal vorgegeben, die Unterdrückten zu sein, und linke Politiker haben diese Chuzpe bezeugt.

Wenn sich jemand fragt, warum die polnische Linke seit geraumer Zeit eine politische Niederlage nach der anderen einsteckt, so hat er die Antwort: Eine Politik, die sich fast ausschließlich unterhalb der Gürtellinie bewegt, greift viel zu kurz.

Es gibt in der Tat eine ganze Reihe von Problemen, die von einer politischen Kraft, die sich für die Rechte der Ausgegrenzten einsetzt, angegangen werden könnten. Was ist mit den Gewerkschaften in den Konzernen, die von ihren polnischen Arbeitnehmern erwarten, dass sie sich mit LGBTQIA-Milieus identifizieren? Wie könnte man das Rentensystem reformieren? Wie kann man Bedürftige schützen? Wie schafft man Wohnraum für  Geringverdiener?

Das sind die Themen, mit denen sich die Linke im Laufe ihrer Geschichte beschäftigt hat. Heute tun das die regierenden Nationalkonservativen und werden deswegen als Populisten verschrien.

Die Weltkonzerne verfahren in diesem Fall nach der Methode „Haltet-den-Dieb“. Sie selbst haben viel in Sachen Arbeitnehmerrechte im Westen und Ausbeutung billiger Arbeitskräfte in ärmeren Ländern auf dem Gewissen. Manche von ihnen unterlaufen die Sanktionen gegen Russland. Andere wiederum, wie BNP Paribas oder Google, stehen in engsten Geschäftsbeziehungen mit Staaten, wie dem Iran, dem Sudan oder Saudi-Arabien, wo die Homosexualität mit Gefängnis oder gar mit der Todesstrafe geahndet wird. Doch bei der Homoparade achtet niemand darauf, denn der Feind sind diejenigen, denen vorgeworfen wird, die Rechte von Minderheiten einzuschränken. In diesem Fall ist es angeblich die jetzige polnische Regierung.

Es scheint auch für die Schwulenaktivisten keine Rolle zu spielen, was ein Sponsoren-Unternehmen tut. Entscheidend ist, dass seine Chefs, und auf deren „Empfehlungen“ hin auch die Mitarbeiter, Regenbogenfahnen schwingen und die richtigen, politisch korrekten Ansichten vertreten.

RdP




Zwei Millionen Flüchtlinge. Polen, was nun?

Es gilt vieles zu überdenken.

Polen gelang es, den ersten gewaltigen Ansturm der ukrainischen Kriegsflüchtlinge in geordnete Bahnen zu lenken. Wie ging das vonstatten? Welche technischen und organisatorischen Schwierigkeiten, welche Ängste und Vorbehalte der Ankömmlinge galt es zu überwinden? Wie will man diejenigen, die in Polen bleiben wollen, integrieren? Antworten bringt das nachfolgende Gespräch mit Paweł Szefernaker, dem Regierungsbevollmächtigten für Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine.

Paweł Szefernaker.

Paweł Szefernaker, geb. 1987. Jurist und Verwaltungsfachmann. Seit 2010 Politiker der Partei Recht und Gerechtigkeit. Zwischen 2014 und 2018 Chef der Parteijugend. Seit 2015 Sejm-Abgeordneter. Ab Januar 2018 Staatssekretär im Innenministerium. Seit April 2022 Regierungsbevollmächtigter für Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine.

Wissen Sie noch, was Sie am 24. Februar, dem Tag, an dem Russland die Ukraine überfallen hat, gemacht haben?

Paweł Szefernaker: Wir hatten uns schon viele Tage lang unter Hochdruck auf mögliche Fluchtszenarien vorbereitet. Am Vortag dauerte die Arbeit bis spät in die Nacht. Gegen sechs Uhr morgens weckte mich der Anruf meines Chefs Mariusz Kamiński, des Ministers für Inneres und Verwaltung. Er ordnete die Einrichtung von Auffangstationen an der polnisch-ukrainischen Grenze an.

Warum wurden ausgerechnet Sie mit dieser Aufgabe betraut?

Die Empfangsstellen für Flüchtlinge sollten die Woiwoden (Regierungspräsidenten – Anm. RdP) vorbereiten. Und die Aufsicht über die Woiwoden ist mein Tätigkeitsbereich im Ministerium.

Wann haben Sie begonnen, sich auf eine mögliche Flüchtlingswelle vorzubereiten?

Einige Wochen vor Ausbruch des Krieges begannen die regelmäßigen Videokonferenzen mit den sechzehn Woiwoden. Aktionspläne wurden aktualisiert, die vor Ort vorhandenen Ressourcen überprüft, Nachschub geliefert.

Die Opposition und deren Medien hatten noch vor dem russischen Überfall behauptet, die Regierung tue nichts gegen die möglichen Folgen des Krieges an den Grenzen. Die Regierung hat dazu geschwiegen. Warum?

Grenzwoiwodschaften Lublin (oben) und Karpatenvorland.

Das sind sehr sensible Themen. Zu viel Lärm kann Panik auslösen, ernsthafte wirtschaftliche Folgen haben. Deshalb haben wir uns auf konkrete Maßnahmen konzentriert, nicht auf Gespräche. Wichtig war vor allem, die vorhandenen Krisenpläne auf das Management großer Flüchtlingsströme anzupassen. Insbesondere die beiden Grenzwoiwodschaften Lublin und Karpatenvorland, wo es insgesamt acht Grenzübergänge in die Ukraine gibt, mussten vorbereitet werden, damit es dort nicht zu einer humanitären Katastrophe kommt.

Manch einer mag sich fragen: Warum waren diese Pläne veraltet?

Es geht nicht um Aktualität, sondern um eine spezifische Krisensituation, auf die man sich einstellen muss. Niemand auf der Welt hat das Coronavirus vorausgesehen, das innerhalb weniger Tage die ganze Welt eingefroren, Grenzen geschlossen, Flugzeuge am Boden gehalten und den Fernunterricht eingeführt hat. Ebenso hat niemand in Europa vorausgesagt, dass es Tage geben würde, an denen innerhalb von 24 Stunden mehr als 100.000 Flüchtlinge aus der Ukraine in Polen ankommen würden. Am Rekordtag waren es über 140.000. Die Pläne von vor einigen Jahren sahen viel kleinere Maßstäbe vor. Aber als sich der Wandel abzeichnete, haben wir sofort reagiert.

Welche Herausforderungen bringen solche Massen von Flüchtlingen in so kurzer Zeit mit sich?

Das Problem ist nicht nur die Zahl der Flüchtlinge. Es ist allgemein bekannt, dass viele von ihnen aus Kriegsgebieten kommen und deswegen dringend humanitäre und psychologische Hilfe brauchen. Unter ihnen befinden sich auch Menschen mit Behinderung. Einige Flüchtlinge kommen mit Autos an, die sie versichern müssen. Die Haustiere der Flüchtlinge müssen geimpft werden. Auch ein Problem, das wir an der Grenze dringend lösen mussten.

Behinderte auf der Flucht.

Doch die Grenze ist nur der Anfang der Herausforderung. Dann gibt es noch den Transport ins Landesinnere. Wir haben 1.500 Busse angemietet. Dazu die Unterbringung, die Koordinierung der Zentren, in die die Menschen geschickt werden können. Viele Aufgaben wurden von den lokalen Behörden übernommen, viele Städte und Gemeinden leisteten hervorragende Arbeit. Die Verantwortung für die ganze Sache lag jedoch bei der Regierung.

Tiere mit auf der Flucht.

Reporter der BBC, von Fox News, CNN und viele andere waren überrascht, dass bei Kriegsausbruch auf unserer Seite der Grenze die Infrastruktur für die Registrierung von Flüchtlingen bereits vorhanden war. Wartete alles in Lagerhäusern in der Nähe? Hat die Armee das arrangiert?

Viele Aufgaben wurden und werden in gemeinsamen Anstrengungen der Regierung, der Regierungspräsidenten, der Kommunen und der NGOs durchgeführt. Das funktioniert. Wir als Regierung hatten Zelte, Betten, Logistik vorgehalten. Wir haben auch die Krisenvorräte an Lebensmitteln im Voraus aufgefüllt. Alle erforderlichen Dienststellen des Innen- und des Verteidigungsministeriums waren in vollem Einsatz. Die Grenzpolizei, die Armee, einschließlich der Territorialkräfte, die Feuerwehr und die Polizei legten viel Professionalität und Engagement an den Tag.

Hilfsstation an der Grenze.

Dass die Aufnahmestellen an der Grenze, auf den Bahnhöfen und im Landesinneren so schnell eingerichtet werden konnten, war zur Überraschung vieler genau diesen Vorbereitungen zu verdanken. Die Verfahren waren geregelt, notwendige Maßnahmen wurden stündlich eingeleitet, je nachdem, wie sich die Situation entwickelte. Die Nichtregierungsorganisationen fügten sich hier nahtlos ein und errichteten an der Grenze ihre Hilfsstationen. Im Endergebnis hat Polen die schwierige Prüfung der ersten Tage nach dem russischen Angriff auf die Ukraine gut bestanden.

Westliche Medien berichteten, dass am Tag des Kriegsbeginns die Alarmsirenen in Medyka ertönten.

Sie haben den Grund nicht verstanden: Es war die freiwillige Feuerwehr, die ihre Mitglieder zusammenrief, um zu Hilfsleistungen an die Grenze auszurücken.

Die Medien der totalen Opposition, wie sie sich selbst nennt, haben immer wieder behauptet, dass Freiwillige einspringen mussten, weil die Regierung nicht bereit war.

Das ist ein Irrtum. Die Herausforderung war so groß, dass es genug Aufgaben und Arbeit für alle gab. Das wurde von allen, die uns damals besuchten, betont. Sie sahen die großen staatlichen, kommunalen und freiwilligen Anstrengungen, und als Fachleute konnten sie auch die Effizienz der Regierung einschätzen. Vertreter des UNHCR, des UN-Flüchtlingshilfswerks, waren voll des Lobes.

Schwarzafrikaner auf der Flucht.

Die Medien haben die Komplexität der Situationen, mit denen wir konfrontiert waren, nicht immer verstanden. Nehmen wir zum Beispiel die Angehörigen von Drittstaaten, die aus der Ukraine geflohen sind. Es waren hauptsächlich junge Leute aus Afrika oder Asien, die dort studierten, es war eine wirklich große Gruppe. Andere hatten dort gearbeitet.

Es gab Anschuldigungen, dass es eine Rassensegregation an der Grenze gibt.

Das ist ein völliges Missverständnis. Die überwältigende Mehrheit der ukrainischen Flüchtlinge sind Frauen mit Kindern, die ein besonderes Gefühl der Sicherheit brauchen, einschließlich einer Zone der Intimität. Bei den Asiaten und Afrikanern handelte es sich um junge Männer, die schnell weiterziehen wollten. Will uns in diesem Zusammenhang wirklich jemand vorwerfen, dass wir beschlossen hatten, diese beiden Gruppen in verschiedene Zentren, in getrennte Säle zu schicken? Die Behauptungen einiger westlicher Medien, es handele sich um Rassensegregation, waren sehr unfair.

Haben Sie die Menschen beim Grenzübertritt kontrolliert?

Wir sind davon ausgegangen, dass jeder kontrolliert werden muss, schließlich ist die Sicherheit der Polen das Wichtigste. Aber nicht jeder hatte einen Pass, insbesondere Minderjährige. Einige Grenzübergänge, die nur für den motorisierten Verkehr geeignet waren, mussten plötzlich Tausende von Fußgängern aufnehmen. Auf der anderen Seite der Grenze bildeten sich Warteschlangen, so dass wir auch dorthin, in Zusammenarbeit mit den ukrainischen Grenzsoldaten, Wasser und Lebensmittel transportierten. Eine humanitäre Katastrophe wurde vermieden. Momentweise bestand diese Gefahr.

Heute sind wir stolz darauf, dass so viele Menschen gekommen sind und keine Flüchtlingslager errichtet werden mussten. Aber es gab eine Liste mit möglichen Standorten?

Wir haben immer noch Zehntausende freie Plätze in Sammelunterkünften. In der ersten Welle kamen hauptsächlich diejenigen, die einen klaren, präzisen Plan hatten. Das Zeichen dafür waren die Autos der Angehörigen, die an der Grenze auf sie warteten. Oft hatten sie bereits eine Anlaufstelle oder einen Reiseplan, oder sie beschlossen einfach, in Polen eine Unterkunft, eine Wohnung oder einen Arbeitsplatz zu suchen. Zu diesem Zeitpunkt nutzten nur 5 Prozent der Grenzgänger die Aufnahmestellen.

Ukrainische Flüchtlinge, Warschauer Messehalle.

Später stieg dieser Prozentsatz stark an. Viele der Geflüchteten sind zum ersten Mal im Ausland, viele haben durch den Krieg ihr ganzes Hab und Gut verloren. Wenn jemand angibt, dass er keine Unterkunft hat, wird er an eine der Sammelunterkünfte verwiesen. Von Anfang an haben wir Pensionen, Hotels und Beherbergungsbetriebe angemietet, keine Messe-, Sport- oder Konferenzhallen. Allerdings kann eine solche Notwendigkeit noch eintreten, niemand weiß, ob wir nicht in einiger Zeit mit einer weiteren Flüchtlingswelle konfrontiert werden. Wir haben eine Liste mit mehreren Hundert solcher Einrichtungen und genügend Ausstattung für alle.

Von Anfang an hatten wir lediglich zwei Messehallen in Warschau und in Nadarzyn bei Warschau als Orte für mehrtägige Aufenthalte vorgesehen, da sehr viele Flüchtlinge explizit nach Warschau wollen. Die Messehallen werden von Reisebussen aus der Ukraine direkt angefahren. Menschen können sich dort ausruhen, ihre Familien und Freunde anrufen und weiterziehen. Es gibt immer noch viele solcher Menschen.

Egal, welche Welle es war, alle wollten in die großen Städte gehen.

Das ist verständlich. Sie kennen Polen nicht, sie haben Angst, irgendwo weit ab vom Schuss zu landen, ohne Kontakte und Kommunikation. Aus der Ukraine bringen sie die Erfahrung mit, dass die Großstädte boomen, während die Provinz dahinvegetiert. Ich erinnere mich an einen Bus voller Frauen mit Kindern, denen wir sagten, wir würden nach Bydgoszcz (Bromberg – Anm. RdP) fahren. Der Name der Stadt sagte ihnen nichts. Also schlugen wir Pułtusk vor, eine Stadt in der Nähe von Warschau. Sie zögerten auch, erst als wir ihnen auf der Karte zeigten, wie nah es an der Hauptstadt lag, konnten wir ihre Bedenken ausräumen.

Ist jemand in Ihren Wahlkreis, Koszalin (Köslin – Anm. RdP), gekommen? Oder noch weiter gefasst: in die Woiwodschaft Westpommern?

Natürlich gibt es in meinem Wahlkreis Flüchtlinge, die lokale Gemeinschaft hilft ihnen sehr, und Radio Koszalin hat mit großem Erfolg Polnischkurse organisiert. Aber unser Bestreben, Züge von Przemyśl aus in verschiedene Regionen des Landes zu bringen, und nicht nur nach Warschau, Katowice und Kraków, ist auf verschiedene Hindernisse gestoßen.

Es gab einen Fall, bei dem mehrere Hundert Menschen nach Szczecin reisen sollten, aber nur etwa ein Dutzend ankamen. Die meisten von ihnen stiegen unterwegs in großen Städten aus. Ähnlich verhält es sich mit Zügen, die beispielsweise nach Olsztyn, Gdynia und Bydgoszcz fahren. Aber auch das kann man verstehen. Viele dieser Menschen dachten, dass der Krieg nicht lange dauern würde, sie wollten so nah wie möglich an der Grenze bleiben.

Ukrainische Urlauber, jetzt Flüchtlinge. Landung in Szczecin.

In Szczecin hingegen landeten etliche Flugzeuge mit ukrainischen Staatsbürgern, die sich auf Urlaubs- oder Geschäftsreisen befanden und nach Ausbruch des Krieges dort festsaßen, und nicht in ihr Land zurückkehren konnten. Auch der Flughafen in Poznań empfing solche Flugzeuge. In den ersten Tagen nach dem 24. Februar landeten in beiden Städten Maschinen aus der ganzen Welt mit Ukrainern an Bord.

Was geschah dann mit ihnen?

Viele von ihnen hatten die Ukraine für ein paar Tage verlassen, um Ferien zu machen oder Geschäften nachzugehen. Plötzlich stellte sich heraus, dass sie in Polen ein neues Leben beginnen mussten. Wir haben uns genauso um sie gekümmert wie um die Menschen, die direkt aus der Ukraine kamen.

Bei den Ukrainern handelt es sich in der Regel um talentierte, hart arbeitende Menschen. Ich kenne den Fall einer Familie, die auf dem Flughafen Goleniów in der Nähe von Szczecin landete und zu einer polnischen Familie im Kreis Stargard gebracht wurde. Schon nach einigen Tagen ging der Mann in die örtliche Schreinerei, und seine Frau begann, gegen Bezahlung verschiedene Arbeiten im Haushalt zu erledigen. Das zeigt, wie sehr sich diese Einwanderung von den Stereotypen unterscheidet, die manche Menschen in ihren Köpfen haben. Eine westliche Hilfsorganisation kam mit dem Angebot, Wasser und Zelte zu schicken. Es dauerte eine Weile, bis wir verstanden, was sie meinten, und haben dankend abgelehnt.

Kein Wunder, dass sie dieses Bild im Kopf hatten, so ist es oft in der Welt.

Einverstanden. Zum Glück ist das hier anders. Die Ukrainer gehen sehr würdevoll mit der Situation um, in der sie sich befinden. Sie sind dankbar für die Hilfe, denn sie mussten ihr Leben fast von einer Stunde auf die andere ändern. Aber sie haben sich schnell von dem Schock erholt, fast alle wollen schnell wieder auf die Beine kommen, Arbeit finden, ein normales Leben beginnen. Wir können feststellen, dass jeder Vierte in der PESEL-Datenbank  registrierte Ukrainer im erwerbsfähigen Alter eine Arbeit aufgenommen hat. Das sind weit über 100.000 Menschen. Anspruchshaltungen sind äußerst selten.

Ukrainische Flüchtlinge auf dem Warschauer Ostbahnhof.

Es gab jedoch auch Fälle, in denen Migranten auf Bahnhöfen kampierten. Warum?

Auch das ist ein sensibles Thema. Wir haben allen Flüchtlingen immer eine Unterkunft unter normalen Bedingungen angeboten. Aber viele waren entschlossen, sofort weiterzureisen. Sie warteten am Bahnhof auf den Zug, obwohl er erst zwei Tage später kommen sollte. Sie hatten Angst, dass wir sie in irgendeine Halle in der Provinz bringen würden und sie dort festsitzen würden. Erst als sich herumsprach, wie die Dinge in Polen organisiert waren, änderte sich das. Anfänglich haben sie den Informationen, die wir ihnen gegeben haben, nicht geglaubt.

Welche Ängste gab es noch?

Die Frauen fragten sehr häufig, ob man ihnen ihre Kinder wegnehmen würde, wenn sie zur Aufnahmestelle kämen. Ich sage das, um jeden zu bitten, bei der Beurteilung bestimmter Situationen Zurückhaltung zu üben, denn manchmal stehen menschliche Traumata oder Ängste im Hintergrund. Ich möchte Ihnen ein Beispiel geben: Großbritannien erteilte Zehntausende von Einreisevisa, aber die Leute, die sie bekamen, reisten zumeist nicht dorthin. Es stellte sich heraus, dass diese Visa als eine Art Versicherungspolice betrachtet werden. Sie wissen noch nicht, ob sie sie nutzen wollen. Auch das muss man verstehen.

Haben die bereits in Polen lebenden Ukrainer dazu beigetragen, die Ängste ihrer Landsleute zu zerstreuen?

Sehr sogar. Ein ukrainischer Freiwilliger, der den Besuchern erzählt, dass er selbst in Polen lebt, und ihnen versichert, dass es wirklich so funktioniert, wie in der Broschüre beschrieben oder wie es am Infostand dargestellt wird, war immer eine große und wirksame Hilfe bei der Überwindung von Ängsten, Traumata und Missverständnissen. Deshalb haben wir die notwendigen Mittel schnell umgeschichtet, um Ukrainisch-Sprachkurse für polnische Helfer zu organisieren.

„Wir sind mit euch“. Briefmarke der Polnischen Post.

Der Impuls des Herzens befiehlt es, Flüchtlinge unterzubringen, zu ernähren und ihre dringlichsten Bedürfnisse zu erfüllen. Aber wie soll es weitergehen? Wie kann man diese Masse von Menschen in die polnische Rechts- und Wirtschaftsordnung einfügen?

Im Allgemeinen verändert sich die Art der erforderlichen Unterstützung mit der Zeit. In den ersten 60 Tagen musste man sich auf die Grundbedürfnisse konzentrieren. Die nächsten 60 Tage, um die wir die Bezuschussung (umgerechnet ca. 8 Euro pro Tag und aufgenommene Person – Anm. RdP) für den Aufenthalt von Ukrainern in polnischen Familien verlängert haben, werden ein Übergang zur Anpassungsphase sein. Ziel ist es, bis Ende Juni Mechanismen zu schaffen, die es unseren Gästen ermöglichen, auf eigenen Füßen zu stehen und sich einzuleben.

Wird die Zeit der Förderung für die Aufnahme von Flüchtlingen in Familien noch einmal verlängert?

Solange es keine weitere große Migrationswelle gibt, nicht. Wir wollen, dass bis Ende Juni jeder, der dazu in der Lage ist, unabhängig wird. Natürlich wird es weiterhin Unterstützung geben, aber in anderer Form. Viel hängt von den Ukrainern selbst ab. Sie müssen entscheiden, ob sie länger bei uns bleiben, ob sie in die Gebiete zurückkehren, aus denen sich der Krieg zurückgezogen hat, oder ob sie weiter auf gepackten Koffern warten wollen.

Sie haben erwähnt, dass es unter den Flüchtlingen sehr viele Frauen mit Kindern gibt. Wenn sie zur Arbeit gehen, wer wird sich um die Kinder kümmern?

Wir planen die Einrichtung von Vorschulhorten für ukrainische Kinder. Wenn uns z. B. die UNICEF fragt, wie sie helfen kann, wofür wir Geld brauchen, zeigen wir auf solche Vorhaben.

Nach Angaben des Bildungsministeriums sind 200.000 ukrainische Kinder in das polnische Bildungssystem eingetreten, und 500.000 lernen im ukrainischen Fernunterricht.

Die ukrainische Regierung möchte, dass so viele Kinder wie möglich bei der zweiten Lösung bleiben. Wir respektieren das und bauen keinen Druck auf, den Unterricht in polnischen Schulen aufzunehmen. Aber es besteht auch kein Zweifel daran, dass jeder Monat Aufenthalt in Polen mehr Menschen dazu ermutigen wird, sich bei uns niederzulassen und ein normales Leben in Polen zu beginnen.

Einige Politiker haben wegen angeblicher Privilegien, vorrangig im Gesundheitswesen, Alarm geschlagen. Wie viel Wahrheit steckt darin?

Das ist Unsinn. Jeder Flüchtling aus der Ukraine erhält eine Aufenthaltsgenehmigung für achtzehn Monate und ein einmaliges Begrüßungsgeld von 300 Zloty (ca. 65 Euro – Anm. RdP). Sie können sofort eine Arbeit aufnehmen, was auch unser BIP erhöht und Lücken auf dem Arbeitsmarkt schließt. Sie können ihre Kinder in den Schulen anmelden und die Gesundheitsversorgung nach den gleichen Grundsätzen in Anspruch nehmen wie die Polen. Wo sind hier die Privilegien? Möchte jemand mit ihnen tauschen? Das glaube ich nicht.

An manchen Tagen kamen bis zu 100.000 Ukrainer auf der Flucht in Polen an.

Wir sollten auch nicht vergessen, dass die Hilfe für Flüchtlinge aus der Ukraine heute auch eine Investition in die Sicherheit Polens ist. Jede Anstrengung, die wir unternehmen, um unsere überfallenen Nachbarn zu verteidigen, trägt dazu bei. Und wenn ich mir die Stimmung der Polen anschaue, dann verstehen wir das im Allgemeinen alle, unabhängig von unseren sonstigen Ansichten.

Einige politisch erhitzte lokale Kommunalpolitiker der totalen Opposition haben versucht, aus der Flüchtlingsproblematik politisches Kapital zu schlagen.

Es gab einige solche Versuche, die aber schnell beendet wurden. Sie sahen ein, dass es dafür keinen Platz gibt. Der Bürgermeister einer großen Stadt änderte seine Einstellung, als er von mir hörte, dass wir nicht im Amt sind, um Probleme zu suchen, sondern um sie zu lösen. Und wenn ich erst anfangen würde, in den Medien über seine Schwächen zu sprechen, dann würde ich das Fernsehstudio so schnell nicht verlassen. Schließlich kann jeder über jeden herfallen, aber es geht nicht um uns, sondern um Menschen, die Hilfe brauchen.

Die Kommunen in den Woiwodschaften Lublin und Vorkarpatenland haben hervorragende Arbeit geleistet. Hrubieszów, Chełm, Tomaszów Lubelski, Rzeszów, Lublin, Przemyśl, Ustrzyki Dolne. Von einem Tag auf den anderen erschienen in diesen Städten Massen von Menschen, die Hilfe brauchten. Und sie haben es geschafft.

Auf der breiten ukrainischen Eisenbahnspur direkt nach Olkusz. Ankunft der Flüchtlinge.

Eine große Bewährungsprobe hat zum Beispiel auch die Stadt Olkusz unweit von Kraków in der Woiwodschaft Kleinpolen bestanden. Dank Gleisen mit einer passenden Spurweite für ukrainische Züge, gebaut für die Belieferung der örtlichen Stahlwerke, konnten Personenzüge aus der Ukraine direkt hierher geleitet werden. Innerhalb von 24 Stunden konnten mehrere Tausend Menschen auf diese Weise dorthin gelangen. Der Regierungspräsident von Kleinpolen hatte dort eine perfekte Aufnahmestelle organisiert, und es standen sofort Busse bereit, um die Flüchtlinge auf ganz Kleinpolen und Schlesien zu verteilen.

Über politische und ideologische Trennungen hinweg wurde viel erreicht. Wir haben die Prüfung als Staat, als Nation und als Gesellschaft bestanden.

Lesenswert auch: „Ansturm. Ukrainische Kinder an polnischen Schulen“ und „Geflüchtete Ukrainer. Gut für die Wirtschaft“.

RdP

Das Interview erschien im Wochenmagazin „Sieci“ („Netzwerk“) vom 22. Mai 2022.




26.06.2022. Die Freiheit zu töten ist keine Freiheit

Am 23. Juni schmetterte der Sejm den Gesetzentwurf zur Einführung faktisch uneingeschränkter Abtreibungen in Polen mit einer überwältigenden Mehrheit ab. Den Vorschlag ausgearbeitet hatte die Bürgerinitiative „Legale Abtreibung ohne Kompromisse“. Mit 201.000 Unterschriften versehen, wurde er im Parlament eingereicht und kam auf die Tagesordnung.

Die polnische Verfassung sieht vor, dass Gesetzentwürfe von Bürgerinitiativen, die innerhalb von maximal drei Monaten von mindestens 100.000 Menschen unterschrieben wurden, im Sejm debattiert werden müssen. Dabei entscheiden die Abgeordneten, ob sie den Entwurf in zweiter (Ausschüsse) und dritter Lesung (Abstimmung im Plenum) behandeln oder ihn bereits in der ersten Lesung (Debatte und Abstimmung im Plenum), wie jetzt geschehen, verwerfen wollen.

Die Initiative hielt, was ihr Titel versprach. Sie öffnete einer Abtreibungspraxis, die durch nichts beeinträchtigt werden sollte, Tür und Tor. Abtreibung auf Wunsch bis zur 12. Woche, ohne jegliche Beratung. Danach fast genauso, denn die Kriterien wurden bewusst verschwommen definiert und der Katalog war umfangreich: „Gefahr für das Leben der Frau“, „für ihre körperliche und geistige Gesundheit“, „falls das Ergebnis der pränatalen Diagnostik“ oder „andere medizinische Hinweise“ „auf das Vorliegen von Entwicklungsstörungen oder genetischen Anomalien des Fötus hinweisen“ sollten. In Anbetracht solch dehnbarer Begriffe wie „geistige Gesundheit“, „andere medizinische Hinweise“, „Entwicklungsstörungen“ hätte der ungeborene Mensch auch nach der 12. Schwangerschaftswoche, bei entsprechendem Wunsch, keine Überlebenschance gehabt.

Zwar gilt die Schwangerschaft (noch) nicht als Krankheit, dennoch sollte deren Beseitigung vom Nationalen Gesundheitsfonds erstattet werden. Bereits 13-jährige Mädchen sollten entscheiden dürfen, ob sie abtreiben wollen.

Im 460-köpfigen Sejm stimmten 265 Abgeordnete gegen die Gesetzesinitiative, 175 dafür, 4 enthielten sich der Stimme, 16 waren abwesend. Mit seinem klaren Votum für das Leben hat das Parlament alles beim Alten belassen. Nur eine Vergewaltigung und eine akute Gefahr für das Leben der Mutter rechtfertigen in Polen eine Abtreibung. Abtreibende Frauen werden strafrechtlich nicht verfolgt, dafür aber, zumindest theoretisch, alle, die ihnen dabei zur Hand gehen.

Seit dem Verfassungsgerichtsurteil vom Oktober 2020 genießen nicht nur gesunde, sondern auch kranke und behinderte ungeborene Menschen in Polen ein uneingeschränktes Recht auf Leben. Kurzum: Was nach der Geburt gilt, gilt auch vorher. Führen Kranke und Behinderte etwa ein „lebensunwertes“ Leben und dürfen deswegen schon vorab eliminiert werden? Der Stolz, mit dem so „fortschrittliche“ Länder wie Dänemark verkünden, man habe „erfolgreiche Arbeit“ geleistet und es geschafft, dass praktisch keine Kinder mehr mit dem Down- oder Turner-Syndrom zur Welt kommen, lässt jeden empfindsamen Menschen schaudern.

Ein noch größeres Schaudern empfindet man beim Lesen von Berichten über brutale „Fließband-Abtreibungen“ in Sowjet-Russland kurz nach seiner Entstehung. Die erste Regierung der Welt, die vor fast genau einhundert Jahren ein uneingeschränktes Töten von ungeborenen Kindern erlaubte, war nämlich das verbrecherische bolschewistische Regime.

Nach Polen brachten die deutschen Besatzer die uneingeschränkte Abtreibung auf Wunsch. Am 9. März 1943 wurde diese, vorher bereits im Rahmen der deutschen Vernichtungspolitik praktizierte, Verfahrensweise, durch einen „Führererlass“ offiziell sanktioniert. Deswegen haben die heutigen Appelle und Initiativen, dass bevorzugt Ärzte in Deutschland bei polnischen Frauen Abtreibungen vornehmen sollen (wollen), einen wahrlich makabren Beigeschmack. Für deutsche Frauen übrigens standen auf Abtreibung im Dritten Reich bis zu fünfzehn Jahre Zuchthaus oder die Todesstrafe.

So gesehen, war der 23. Juni 2022 in Polen ein guter Tag für die Menschlichkeit. Gewiss, der Staat darf und soll sich nicht in das Intimleben der Bürger einmischen, solange sexuelle Vorlieben einvernehmlich und nicht mit Kindern praktiziert werden.

Doch die Abtreibung ist eine ganz andere Sache. Hier wird kein Blinddarm herausoperiert, sondern ein Schmerz empfindender, werdender Mensch mit einer eigenen DNA, Fingerabdrücken und anderen nur für ihn typischen Wesensmerkmalen durch Tötungspillen, tödliche Injektionen, das Heraussaugen oder Herausreißen, um sein Leben gebracht. Es handelt sich um eine Verletzung einer Grundfreiheit, des Rechts auf Leben der Schwächsten. Und der demokratische Staat ist dazu da, um die Schwächsten zu schützen.

RdP




Wie stark ist die polnische Armee…

…und welche Lehren sie aus dem Ukraine-Krieg ziehen sollte.

  
Mit dem russischen Einmarsch in die Ukraine begann am 24. Februar 2022  der erste große reguläre Krieg in Europa seit 1945. Er wird von zwei großen Staaten geführt, die sich auf einem ähnlichen technologischen Entwicklungsstand befinden, und zeichnet sich durch eine enorme Intensität der Kampfhandlungen aus. Die erste Phase dieses Krieges, die mit einer strategischen Niederlage Russlands endete, lässt Schlussfolgerungen zu, die für die polnische Verteidigungsplanung sehr nützlich sein können. Denn wie im Falle der Ukraine, kann Polens Gegner nur Russland heißen, und auf ihn gilt es sich einzustellen.

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„Leistungsstark, sicher, umstritten. Abrams-Panzer für Polen“

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Das Aus für die „Armee neuen Typs“

LEHRE 1. Als völlig unbrauchbar erweist sich angesichts des Ukraine-Krieges das Armee-Konzept, welches die Regierung Donald Tusk in ihrer Amtszeit (2007 bis 2015) umgesetzt hat. Durch massive Ausgabeneinschränkungen und Standortschließungen wurde Polens Berufsarmee bis zum Jahr 2014 auf 96.000 Mann reduziert. Davon waren nicht mehr als 60.000 einsatztauglich.

Voraussichtliches Kampfgebiet im Nordosten Polens.

Diese eher kleine Kampftruppe, bestehend aus allen drei Waffengattungen, sollte auf einem beschränkten Gebiet im Nordosten des Landes (d. h.  entlang der Grenzen zum Kaliningrader Gebiet, zu Litauen und Weißrussland, die mittlere Weichsel mit Warschau im Rücken) versuchen, die Russen aufzuhalten. Sie hätte keine Möglichkeit gehabt, ihre Verluste durch Reservisten auszugleichen, denn seit 2008 wurden aus Kostengründen keine Reservisten mehr zu Übungen eingezogen. Im selben Jahr wurde ebenfalls der Wehrdienst abgeschafft.

Die polnische Armee war damals auf einen kurzen Abwehrkrieg ausgerichtet. Sie sollte durchhalten bis der Nato-Entsatz in die Kämpfe eingreift. Doch bis der eingetroffen wäre, könnten die Russen bereits Warschau eingenommen haben. Zu Tusks Zeiten gab es in Ostpolen keine Nato- und US-Stützpunkte wie heute.

Dagegenhalten, bis Hilfe kommt

LEHRE 2. Würde sich die Ukraine nicht derart vehement und erfolgreich zur Wehr setzen, sondern hätte nach wenigen Tagen die Waffen gestreckt, hätte der Westen sie schnell abgeschrieben, ihr seine Hilfe versagt und „notgedrungen“ bald wieder mit Putin kooperiert.

Auch wenn Polen Nato-Mitglied ist und eigentlich Anspruch auf Beistand, laut Art. 5 des Nato-Vertrages hat, so könnte ein schneller Zusammenbruch der polnischen Verteidigung die Alliierten, allen voran das benachbarte Deutschland, dazu veranlassen, sich auf Kosten Polens mit den geschaffenen Tatsachen abzufinden. Im Verteidigungsfall kann es Wochen dauern, bis die Nato-Alliierten Polen effektiv zur Hilfe kommen wollen und können. So lange muss die polnische Armee in der Lage sein, die Russen hinzuhalten.

Eine große, schlagkräftige Armee tut not

Die polnischen Streitkräfte zählen heute knapp 150.000 Soldaten, davon gehören 32.000 der Territorialverteidigung an.

Die Ukraine, die sich seit der russischen Besetzung der Krim 2014 auf eine große Auseinandersetzung mit Russland vorbereitete, hat ihre Einsatztruppen auf 200.000 Soldaten aufgestockt und verfügte Anfang 2022 über 240.000 Reservisten. Die meisten von ihnen haben Fronterfahrung aus den Kämpfen durch die sie in den letzten acht Jahren im Donbass gegangen sind.

Zudem hat die Ukraine ihre gepanzerten Truppen stark ausgebaut, indem sie alle, auch die ältesten Panzer und Truppentransporter, überholt und modernisiert  hat, anstatt sie zu entsorgen. Sie hat auch ihre Grenzverteidigung ausgebaut, um den Gegner vom ersten Augenblick des Krieges an in schwere Kämpfe zu verwickeln. Im Norden haben die Ukrainer aufgrund dessen einen Sieg errungen, im Süden dagegen waren die Erfolge nur begrenzt.

Für eine wirksame Landesverteidigung Polens bedarf es nicht nur einer gut ausgerüsteten, sondern auch einer zahlenmäßig starken Armee.

Unter den Bedingungen der modernen Kriegsführung können Luftwaffe, Raketen- und Luftlandekräfte jenseits der Frontlinie jederzeit schmerzhaft zuschlagen. In solch territorial ausgedehnten Staaten wie Polen und der Ukraine würden die Sicherung strategisch oder operativ wichtiger Regionen, der Schutz überlebenswichtiger Infrastruktur (Eisenbahn, Pipelines usw.) und der Schutz von Einrichtungen, die wichtig sind für das Empfangen alliierter Unterstützung (Häfen, Flughäfen, Kommunikationswege, Kriegsmateriallager u. Ä.) die Fähigkeiten jeder elitären, notgedrungen zahlenmäßig kleinen Berufsarmee übersteigen. Denn selbst der am besten ausgebildete und ausgerüstete Soldat hat an einem Ort, an dem er nicht anwesend ist, keinerlei Kampfwert.

Russisches Gemetzel im Warschauer Vorort Praga am 4.11.1794 auf Befehl Feldmarschall Alexander Suworows. Ca. 23.000 Ermordete. Gemälde von Aleksander Orłowski.

LEHRE 3. Deswegen bedarf es im Abwehrkampf gegen Russland einer zahlenstarken, mobilen, gut gepanzerten Armee, die auf  trainierte und motivierte Reservisten zurückgreifen kann.

Russische Massenverbrechen und der Zivilschutz

Russischer Massenterror nach der Niederschlagung des polnischen Nationalaufstandes von 1863. Ca. 5.000 Gehängte.

LEHRE 4. Die jetzigen Erfahrungen aus der Ukraine, aber auch die aus Syrien und Tschetschenien sowie alle historischen Erfahrungen Polens, der baltischen Staaten und der Ukraine aus dem 18., 19. und 20. Jahrhundert weisen auf den Vernichtungscharakter der von Russland geführten Kriege hin.

Deren Ziel ist es, die politischen Eliten der eroberten Nationen zu beseitigen und der verbleibenden Bevölkerung so große Verluste zuzufügen, dass deren Fähigkeit zum Widerstand gebrochen wird.

Massenmorde auf Befehl des NKWD-Chefs Beria in den Gefängnissen (hier in Lwów/Lemberg) des von den Sowjets zwischen 1939 und 1941 besetzten Ostpolens, unmittelbar nach dem deutschen Überfall im Juni 1941. Ca. 30.000 Mordopfer.

Das bedeutet, dass die polnische Armee in der Lage sein muss, alles in ihrer Macht stehende zu tun, um das räumliche und zeitliche Ausmaß der Besetzung polnischen Territoriums durch die Russen so gering wie möglich zu halten, da die  betroffene Bevölkerung Opfer von Massenverbrechen der Angreifer sein würde.

LEHRE 5. Die oberste russische Kriegsleitung und die Kommandeure vor Ort haben keine Hemmungen, Kampffortschritte durch gezielte Bombardierungen von Wohngegenden und Krankenhäusern zu erzielen. Nicht auszuschließen ist auch der Einsatz von Massenvernichtungswaffen.

Der Schutz der Zivilbevölkerung ist unter diesen Bedingungen von großer Bedeutung. Doch ein ganzheitliches Zivilschutzsystem zur Abschirmung der Bevölkerung, der Arbeitsplätze, der öffentlichen Einrichtungen, der Kulturgüter gibt es nicht. Vernachlässigt wurde auch die Ausbildung der Bevölkerung für den Umgang mit Kriegssituationen.

Massengrab der auf Befehl Stalins im April und Mai 1940 erschossenen polnischen Offiziere nach der Entdeckung durch deutsche Truppen 1943. Etwa 25.000 Mordopfer.

Die wenigen übriggebliebenen öffentlichen Schutzräume aus der kommunistischen Zeit wurden entweder mutwillig zerstört oder zweckentfremdet. Sichere Notunterkünfte für Krankenhäuser gibt es ebenso wenig wie bombensichere Wasserbrunnen und Notkraftwerke zur Stromversorgung. Die polnische Bevölkerung wäre bei einem russischen Angriff, wie ihn jetzt die Ukraine erlebt, praktisch schutzlos.

Verlassene Zivilschutzanlage in Warschau.

Territoriale Verteidigungskräfte versus Einsatzkräfte

LEHRE 6. Die Wirksamkeit der ukrainischen Territorialen Verteidigungskräfte (TV) ist beeindruckend und bestätigt die Richtigkeit der Entscheidung, diese Art von Truppen 2015 in Polen ins Leben zu rufen. Die Opposition und mit ihr die westlichen Medien behaupteten damals, es würden rechtsradikale Schlägertrupps in staatlicher Regie gegründet. Eine „Privatarmee“ des Ideengebers dieser Einheiten, Verteidigungsminister Antoni Macierewicz, die gewaltsam den zivilen Widerstand gegen die nationalkonservative Regierung unterdrücken soll. Ansonsten seien diese Einheiten, so hieß es, „Kanonenfutter“, eine „Pfadfinderarmee“, die von den russischen „Speznas“-Elitekommandos im Nu aufgerieben würde.

Die polnischen Territorialen Verteidigungskräfte sind schlagkräftig, aber mit ca. 32.000 Soldaten viel zu klein.

Der enorme Zulauf von Freiwilligen, sieben Jahre Dienst im Katastrophenschutz, die Einsätze in der Corona-Epidemie, bei der Sicherung der Grenze zu Weißrussland gegen die von Lukaschenka gesteuerte Migrantenflut und die die ukrainischen Erfahrungen haben gezeigt, wie absurd die anfänglichen Unterstellungen waren.

LEHRE 7. Die Anzahl der polnischen Territorialen Verteidigungskräfte ist viel geringer als die der ukrainischen (aktuell ca. 32.000, Endziel: 50.000). Das sind viel zu wenige. Sie müssen zumindest auf mehr als einhunderttausend Reservisten ausgeweitet werden.

Die ukrainischen Einheiten der TV haben die vorrückenden Russen in der dichten Bebauung der Großstädte (Charkiw, Sumy, Tschernihiw, Mariupol) erfolgreich aufgehalten und in den Ortschaften am Rande von großen Ballungsräumen (z.B. rund um Kiew) die russischen Nachschubkolonnen siegreich abgewehrt.

Ein unscheinbares ziviles Auto nähert sich einer solchen Kolonne auf etwa zweihundert Meter. Zwei ukrainische Soldaten springen heraus, feuern ihre Panzerfäuste ab und fliehen mit dem Auto, während Explosionen den Konvoi in Panik versetzen. Auf Twitter konnte man mehrere Male solche Attacken sehen.

Soldaten der polnischen Territorialen Verteidigungskräfte richten eine amerikanische Panzerabwehrrakete vom Typ Javelin.

Es ist fast unmöglich, die Territorialen Verteidigungskräfte, die in kleinen, beweglichen Trupps operieren und über keine schwere Ausrüstung verfügen, mit Luft- und Raketenangriffen zu bekämpfen. Deswegen ist ihre Tarnung in den sozialen Medien relativ locker. Man kann dort unzählige Berichte über ihre Aktivitäten sehen.

LEHRE 8. Für die Einsatztruppen gilt genau das Gegenteil. Es gibt kaum Fotos oder Videos von sich bewegenden ukrainischen gepanzerten und mechanisierten Kolonnen im Internet. Militärische Disziplin und ein hohes Maß an staatsbürgerlichem Bewusstsein (Zivilisten filmen ihre eigenen Truppen nicht und stellen solches Material nicht ins Internet) ermöglichen es, das notwendige Maß an militärischer Geheimhaltung über die Aktivitäten der Einsatztruppen zu wahren. Das verzerrt jedoch in den Augen der Öffentlichkeit das Ausmaß ihrer tatsächlichen Rolle in diesem Krieg.

Ohne dadurch die Bedeutung der Territorialen Verteidigungskräfte  schmälern zu wollen, sei daher betont, dass diese ihre eigentlichen Aufgaben, nämlich die Verzögerung des Vormarsches, die Bindung von Kräften und die Lähmung des gegnerischen Nachschubs, sehr gut erfüllen. Die angreifenden russischen Verbände jedoch werden, in erster Linie, von ukrainischen Einsatztruppen mit einem großen Anteil an Artillerie, gepanzerten und mechanisierten Kräften und unter Anwendung von Drohnen abgewehrt.

Polnische Panzerhaubitze Krab. Schussreichweite bis zu 40 Kilometer.

LEHRE 9. Die polnische Armee entwickelt daher zu Recht die Artillerie (mit Panzerhaubitzen Krab, selbstfahrende Mörser Rak usw.) und die Panzertruppen (mit PT90 Twardy, Leopard 2, Abrams) weiter. Ohne schweres Gerät ist es weder möglich, die russischen Bataillonsverbände wirksam zu bekämpfen, noch die vom Angreifer eroberten Gebiete zurückzugewinnen. Die zum Gegenangriff übergehenden Truppen müssen in der Lage sein, große Feuerkraft und große Beweglichkeit miteinander zu verknüpfen. Dafür sind Panzer, selbstfahrende Artillerie- und Flugabwehrsysteme, Schützenpanzer mit großer Feuerkraft notwendig.

Amerikanischer Abrams-Panzer. Polen hat 250 Stück gekauft.

LEHRE 10. Voraussetzungen für den Erfolg der Ukrainer sind die gute Zusammenarbeit beider Truppengattungen: territorial und operativ, ihre ausreichende Zahlenstärke, um den Russen an allen, nicht nur an ausgewählten, Angriffsfronten entgegentreten zu können, und eine hohe Kampfmoral.

Ein Grund zur Zufriedenheit für Polen ist, dass die 2019 in Polen entwickelten Einsatzrichtlinien für die Territorialen Verteidigungskräfte im Jahr 2020 an die ukrainischen Streitkräfte weitergegeben wurden. Die Ukrainer haben sie mit ihren eigenen, reichen Erfahrungen aus dem Donbass kreativ kombiniert und so die erwähnte hohe Wirksamkeit erzielt.

Raketenabwehr, Flugabwehr und Schiffsabwehr

Russland ist im Krieg gegen die Ukraine in Bezug auf die Luftwaffe und die Mittel- und Langstreckenraketensysteme im Vorteil. Dieser Vorteil ist jedoch geringer als erwartet. Die Russen haben die Vorherrschaft in der Luft nicht errungen, und nach dem Abfeuern von etwa zweitausend Mittelstreckenraketen, bei einer jährlichen Produktion von etwa einhundert eigener Raketen, beginnen sie, ihren Mangel zu spüren.

Die Erfahrungen Großbritanniens und Frankreichs (beides Länder, die in der Produktion wesentlich effizienter sind als Russland) in Libyen im Jahr 2011  zeigen, dass das in modernen Kriegen eine häufig auftretende Erscheinung ist. Der Verbrauch an intelligenter Munition in der ersten Phase eines hochintensiven Konflikts, übersteigt die Herstellungsmöglichkeiten von Staaten, deren Wirtschaft nicht vollständig auf Kriegsproduktion umgestellt ist. Die mit Sanktionen belegte russische Wirtschaft wird in den kommenden Jahren nicht in der Lage sein, ihren Bestand an moderneren Kampfsystemen aufzufüllen.

Lehre 11. Polen sollte daher in der Lage sein, die im Kaliningrader Gebiet und möglicherweise auch in Weißrussland stationierten russischen Raketensysteme zu zerstören, bevor sie zum Einsatz kommen, und mit seinen eigenen Raketenabwehrsystemen (z.B. vom Typ Patriot) Angriffe durch evtl. nicht zerstörte Waffen zu verhindern.

US-Mehrzweckkampfflugzeuge F-16 (oben, Polen hat 32 davon) und F-35 (unten, Polen hat 32 Stück gekauft, sie werden ab 2025 eintreffen) bilden das Rückgrat der polnischen Luftwaffe.

Die russischen Iskander-Raketen sind billiger als die amerikanischen Patriots, und Polen wird den quantitativen Wettlauf Rakete gegen Antirakete nicht gewinnen. Darum ist der genaue Ablauf entscheidend. Zunächst zerstören polnische Langstreckenartillerie und mit Raketen bestückte Kampfflugzeuge (z. B. die F-35), die weit entfernte Ziele treffen können, ausgemachte russische Raketensysteme, und erst dann können polnische Raketenabwehrsysteme mit deren Überresten fertig werden.

Kurzstrecken-Flugabwehrsystem „Narew“. Eine polnisch-britische Konstruktion zur Bekämpfung von Flugzeugen, Hubschraubern und Raketen. Bestellt sind 23. Die ersten beiden sind bereits im Einsatz.

Lehre 12. Die Ukrainer sind nicht in der Lage, russische Raketensysteme zu erreichen, um sie zu zerstören. Darunter leidet die Bevölkerung. Die russischen Luftangriffe sind nicht spektakulär, aber sie fordern Opfer, was die Richtigkeit der Entwicklung eines mehrstöckigen Luftverteidigungssystems (das Kurzstrecken-Flugabwehrsystem „Narew“ und das Mittelstrecken-Flugabwehr- und Raketenabwehrsystem „Wisła“) bestätigt. Es ist daher erfreulich, dass die polnische Armee noch in diesem Jahr mit den ersten „Narew“- Systemen ausgerüstet wird. Das Fehlen effizienter Raketenabwehrsysteme war bis jetzt ein Grundübel, das die polnischen Streitkräfte geradezu wehrlos machte.

Mittelstrecken-Flugabwehr- und Raketenabwehrsystem „Wisła“. So nennen sich in Polen die bekannten „Patriot“-Raketen. Polen hat zwei Abschussvorrichtungen gekauft. Für mehr reicht vorerst das Geld nicht aus,

Lehre 13. Eine wirksame Verteidigung muss mit der Fähigkeit einhergehen, den Feind wirksam anzugreifen. Der schnelle Verbrauch von intelligenten Lenkwaffen, vor allem Drohnen, bestätigt die Notwendigkeit, die eigene Herstellung solcher Angriffsmittel zu entwickeln. Die russischen Kolonnen, die viele Tage lang in den Außenbezirken von Kiew und Charkiw standen und geradezu auf einen Schlag aus der Luft warteten, beweisen das. Ein erkannter und unbeweglicher Gegner, der nicht angegriffen wird, kann nur eines bedeuten: das Fehlen eigener Mittel zur Zerstörung. Das darf nicht passieren.

Die türkischen Drohnen Bayraktar TB2 haben sich auf Seiten der ukrainischen Streitkräfte hervorragend bewährt. Polen hat 24 Stück davon gekauft.

Lehre 14. Das zögernde Verhalten Deutschlands, das im Kriegsfall für Polen , wenn auch nicht politisch, so doch geografisch das wäre, was Polen für die Ukraine ist (das Haupttransitland für Kriegsmateriallieferungen), beweist, dass diese Hilfe Polen möglicherweise gar nicht oder nur unter Schwierigkeiten erreichen könnte. Polen muss daher über eigene Produktionskapazitäten für Grundausrüstung und Munition verfügen.

Der Küstenschutz

Die Versenkung des Raketenkreuzers „Moskwa“ zeigt wie wirksam die von den Küstenbatterien abgefeuerten Schiffsabwehrraketen sein können. Polen verfügt über solche Systeme und sollte sie ausbauen.

Lehre 15. Die Stützpunkte der russischen Ostseeflotte im Kaliningrader Gebiet und im Raum St. Petersburg sind leicht zu blockieren. Polen sollte im Einvernehmen mit Estland auch die Ausfahrt aus dem Finnischen Meerbusen mit zusätzlichen Schiffsabwehrraketensystemen schließen.

Die polnische Küstenverteidigung verfügt über eine mobile Batterie, ausgestattet mit norwegischen NSM-Seeziel-Marschflugkörpern mit einer Reichweite von bis zu 180 Kilometern.

Lehre 16. Die Reichweite polnischer Antischiffsraketen reicht aus, um Schiffe in den für Polen wichtigen Teilen der Ostsee zu treffen. Ein Problem bleibt die Erfassung von Zielen jenseits der Horizontlinie. Das kann man nur mit Hilfe von Satellitensystemen. Polen muss sich ein solches System zulegen. Es ist in jedem Fall für die effiziente Durchführung der meisten modernen Kampfhandlungen unverzichtbar.

Seit mehreren Jahren laufen die Vorbereitungen im Rahmen des „Orka“-Programms. Es sieht vor, dass Polen moderne U-Boote mit Langstrecken-Marschflugkörpern kauft, die Ziele tief in Russland treffen können. Sie werden als ein wichtiges polnisches Abschreckungsinstrument angepriesen.

Lehre 17. Angesichts der ukrainischen Erfahrungen erweist sich diese Anschaffung als sinnlos. Der Abschuss von ein paar Dutzend Raketen mit konventionellen Sprengköpfen durch polnische U-Boote wird Russland nicht sonderlich beeindrucken. Der enorme finanzielle Auffand stünde in keinem Verhältnis zu den Resultaten, wenn man bedenkt, dass der bereits erwähnte russische Abschuss von mehr als zweitausend solcher Raketen auf ukrainische Ziele im Endeffekt nicht viel Wirkung zeigte.

Satellitensystem und Drohnen

Das amerikanische Satelliten-Zielerfassungssystem spielt eine Schlüsselrolle wenn es um die Genauigkeit der ukrainischen Artillerie- und Drohnenangriffe geht. Dieses System ist derzeit nicht überlastet.

Lehre 18. Polen kann sich nicht darauf verlassen, dass das auch der Fall ist, wenn es angegriffen wird. Denn unter den Bedingungen eines Nato-weiten Koalitionskrieges wäre die Warteschlange derer, die das amerikanische System nutzen wollen, lang. Ein autonomes polnisches Satelliten-Zielerfassungssystem für die Bedürfnisse der polnischen Armee ist daher notwendig.

Zusammengefasst

Die polnische Armee muss zahlenmäßig in der Lage sein, langfristig das gesamte Staatsgebiet zu verteidigen und auf dem Gebiet der verbündeten Länder an der Ostflanke der NATO und der Ukraine zu operieren. Schließlich ist kaum anzunehmen, dass Russland Polen angreifen und gleichzeitig die Ukraine in Ruhe lassen wird. Der Schutz der Bevölkerung setzt voraus, dass die polnischen Streitkräfte in der Lage sind, das Ausmaß des Eindringens des Feindes, der in den besetzten Gebieten Vernichtungsaktionen durchführen wird, zu minimieren.

Die polnischen Streitkräfte müssen nicht nur eine russische Offensive stoppen können, bei der die Aktivitäten der Territorialen Verteidigungskräfte eine wichtige Rolle spielen werden, sondern auch fähig sein, vom Feind besetzte Teile des Landes zurückzuerobern und daher offensive Operationen von Einsatztruppen durchzuführen. Diese müssen in den Bereichen Führung, Kommunikation, Aufklärung, Zielerfassung und Gefechtsfeldkontrolle durch ein eigenes Satellitensystem unterstützt und kontinuierlich mit dem notwendigen Kriegsmaterial versorgt werden.

Lehre 19. Die von den Russen in der Ukraine begangenen Verbrechen erinnern auch an eine andere tragische Wahrheit, die seit Jahrhunderten bekannt ist: Im Falle einer russischen Aggression ist die Kapitulation keine Möglichkeit, das eigene Leben zu retten. Die einzige Überlebenschance ist der Kampf.

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© RdP




23.06.2022. Willkommen in Polen ohne jüdische Maschinenpistolen

Ein bekanntes Sprichwort sagt: „Es gibt nichts Schlimmes, was nicht gut ausgehen kann“. Das klappt nicht immer, aber manchmal zum Glück eben doch. Es kann also durchaus sein, dass es am Ende des gerade ausgebrochenen polnisch-israelischen Streits um die Wiederaufnahme israelischer Klassenfahrten nach Polen gelingt, eine neue Form für diese Reisen zu finden. Die bisherige ist aus polnischer Sicht unhaltbar.

Seit etwa 1988 bis zum Beginn der Corona-Pandemie kamen Jahr für Jahr Tausende israelischer Jugendlicher, um die Holocaust-Stätten in Polen zu besuchen. Sie kamen, besichtigten, was im Programm vorgesehen war, nahmen oft am Marsch der Lebenden in Auschwitz teil und reisten mit der Überzeugung ab, das „Land der Mörder“ besucht zu haben.

Auschwitz-Birkenau, Bełżec, Kulmhof, Majdanek, Płaszów, Sobibór, Stutthof, Treblinka und viele andere ehemalige deutsche Todeslager befinden sich auf polnischem Gebiet. Die Deutschen verwandelten das verkehrsgünstig gelegene, besetzte Polen in ein millionenfaches menschliches Schlachthaus. Sie karrten Juden aus Deutschland, Griechenland, Ungarn, Holland und weiß Gott woher heran, um sie im okkupierten Polen industriell umzubringen. Heutige Teenager, auch israelische, tun sich schwer mit solchen „Details“ wie der Tatsache, dass Polen besetzt war und seine Bewohner ebenfalls massenhaft ermordet wurden, unter anderem deswegen, weil sie Juden versteckt hielten, worauf nur im besetzten Polen automatisch die Todesstrafe stand.

Die jungen Besucher aus Israel sahen die Menschen, die heute rings um die Holocaust-Stätten leben, und an sie und ihre Vorfahren richteten sie ihre Vorwürfe. Sie sahen in ihnen die Täter oder zumindest wohlwollende passive Zuschauer des Holocaust.

Das war umso leichter, als sich die israelischen Ausbilder in Yad Vashem und die begleitenden Lehrer nicht sonderlich bemühten, den Kontext des Holocaust zu erläutern; mitunter entstand sogar der Eindruck, dass sie nichts dagegen hatten, dass die deutsche Täterschaft verdrängt oder verwischt wurde, während sie stillschweigend akzeptierten, dass die Polen als die Schuldigen hingestellt wurden. Umfragen jedenfalls, die unter den jungen israelischen Polen-Besuchern nach deren Rückkehr gemacht wurden, förderten teilweise Haarsträubendes zu Tage.

Verstärkt wurde diese Erscheinung durch die Besonderheit der Fahrten: Die Jugendlichen wurden von Agenten des israelischen Geheimdienstes geschützt. Die Busse waren streng bewacht, während der Fahrten durch Polen blieben die Gardinen zugezogen. In Zivil, jedoch mit Uzi-Maschinenpistolen bewaffnet und mit Diplomatenpässen ausgestattet, schritten die Bewacher sehr rüde ein. Sobald sie nur den geringsten Verdacht schöpften, waren sie mit Schlagstöcken, Handschellen oder gar mit der Waffe zur Hand. Schüsse fielen zum Glück nicht, aber zu Handgreiflichkeiten und teilweise erheblichen Körperverletzungen kam es immer wieder. Opfer waren ausnahmslos, so die polnischen Polizeiberichte, nicht etwa tätlich gewordene Antisemiten, sondern ahnungslose Passanten und Besucher von Gedenkstätten.

Es gibt einen Film, der auf YouTube zu sehen ist: „Defamation“. Der Regisseur, Yoaw Shamir, ist Jude und israelischer Staatsbürger; der Film selbst wurde auf Festivals mit vielen Preisen ausgezeichnet. Ein Teil dieses Werks ist einer israelischen Schülerreise nach Polen gewidmet. Shamir gelang es, seinen Kameramann mit versteckter Kamera als Betreuer mit auf die Fahrt zu schicken.

Wir beobachten also eine Gruppe von Kindern, die in einem Gefühl paranoider Bedrohung gehalten werden. Sie befinden sich in Polen in einem Land von Mördern, die ihre Vorfahren umgebracht haben, und sie wollen auch sie ermorden. „Entfernt euch nicht von der Gruppe, geht nicht außerhalb des Kreises der bewaffneten Wachen, verkehrt nicht mit den Einheimischen. Lasst auf keinen Fall zu, dass sie euch etwas geben, sie werden versuchen, euch zu vergiften.“

Die Jugendlichen wurden bereits in Israel vor jeglichen Kontakten mit der polnischen Außenwelt dringend gewarnt. Die Ausbilderin in Yad Vashem gibt in dem Film den Schülern folgenden Hinweis mit auf den Weg nach Polen: „Es werden Leute vom Sicherheitsdienst bei euch sein, damit ihr keine Berührung mit der einheimischen Bevölkerung habt. Ihr werdet auf Menschen treffen, die euch nicht mögen. Ihr werdet sehen, dass sie euch nicht mögen. Sogar heute mögen sie euch nicht.“

Frustriert verbrachten die jungen Israelis ihre Abende eingesperrt in Hotels, die sie nicht selten demolierten. Es entstand eine enorme, für zwölf- bis fünfzehnjährige Schüler geradezu unzumutbare emotionale Belastung, denn im Hintergrund wirkten die Bilder von Gaskammern, Krematorien und die Berichte von unsäglichen Grausamkeiten. Unter solchen Umständen kann man Polen nur hassen lernen.

Nach der Pandemie weigerte sich Warschau, die Reisen in ihrer alten Form fortzuführen, und bot den Israelis Verhandlungen an, die derzeit stattfinden.

Die polnische Position umschrieb unlängst der stellvertretende Außenminister Paweł Jabłoński.

Erstens: „Dass die Touren von schwer bewaffneten Wachen begleitet werden, vermittelt den Teilnehmern den falschen Eindruck, dass Polen ein gefährlicher Ort ist. Diese Behauptung entspricht in keinster Weise den Tatsachen.“

Zweitens: „Es ist nicht die Absicht Polens, Besuche israelischer Jugendlicher zu verhindern. Sie müssen jedoch zur Verbesserung der polnisch-israelischen Beziehungen beitragen und nicht, wie jetzt, zu deren Verschlechterung.“

Drittens: „Das Wissen um das tausendjährige, oft sehr gedeihliche polnisch-jüdische Mit- und Nebeneinander muss ein Teil des Besuchsprogramms sein. Polnische Reiseleiter und Einrichtungen, die sich um das jüdische Kulturerbe in Polen kümmern, müssen zur Vorbereitung und Durchführung der Fahrten herangezogen werden“.

Viertens: „Das Aufenthaltsprogramm muss Begegnungen mit polnischen Jugendlichen beinhalten.“

Es liegt an den Israelis, ob die Klassenfahrten zu den Holocaust-Gedenkstätten in Polen wieder aufgenommen werden. Und zwar ohne vorgehaltene Maschinenpistolen.

Lesen Sie mehr dazu: „Junge Juden schauen auf Polen oder: was israelische Schülerreisen an die Orte deutscher Verbrechen anrichten“

RdP




12.06.2022. Der Ukraine-Krieg und die polnische Seele

Wir haben es schwarz auf weiß: Die Polen sind das pro-amerikanischste und am stärksten Russland ablehnende Volk der Welt.

Das geht aus einer von der Stiftung Alliance of Democracies zyklisch durchgeführten Erhebung hervor. Bürger aus 52 Ländern beantworten dabei Fragen zu ihrer Einstellung gegenüber den Großmächten der Welt. Die neueste Umfrage wurde im April und Mai 2022 abgehalten, also bereits nach dem Ausbruch des Krieges in der Ukraine. Die Ergebnisse zeigen, dass knapp 90 Prozent der Polen eine negative Einstellung gegenüber Russlands Handeln haben. Gleichzeitig loben sie die Vereinigten Staaten mehr, als es die Amerikaner selbst tun.

Diese Ergebnisse spiegeln treffend die polnischen Befindlichkeiten. Und sie erklären, weshalb es die Realisten in Polen so schwer haben, d.h. jene Politiker und Kommentatoren, die die Politik als einen nicht enden wollenden Wettstreit von Kräften und Interessen umschreiben, und nicht als einen Katalog von Werten, Hoffnungen und Wünschen.

Die antirussische Haltung der Polen ist zu einem großen Teil das Ergebnis historischer Erfahrungen. Der polnischen Teilungen sowie der sowjetischen Besetzung und der Unterwerfung durch Moskau im 20. Jahrhundert. Aus dieser Perspektive nehmen die Polen den russischen Überfall auf die Ukraine wahr, schätzen seine Folgen ein und fühlen sich ganz und gar bestätigt. „So kennen wir die Russen, so sind sie: brutal, primitiv, grausam.“

Kein Wunder also, dass die polnische Öffentlichkeit dazu neigt, sich allen aus Moskauer Sicht ungünstigen Berichten anzuschließen und solche zu verdrängen, die die Situation in einem anderen Licht zeigen. Daher werden Schilderungen, dass die russische Armee zusammenbricht, dass deren Angriffe erfolglos sind und sie nur Verluste erleidet, als wahr akzeptiert. Kurzum: Russland steht unmittelbar vor dem Zusammenbruch, ist ein Koloss auf tönernen Füßen. Ist das wirklich so und nur so? Realisten melden da ihre Zweifel an. Dass die polnischen Medien die Invasion als eine Kette von russischen Katastrophen darstellen, ist eine Form der Befriedigung der emotionalen Bedürfnisse des Publikums.

Die sehr starke Abneigung gegenüber Russland hilft auch ein anderes Rätsel zu lösen. Dieselben Leute, die glauben, dass Russland zerfällt, erwarten gleichzeitig, dass es jeden Moment in Polen einmarschieren wird. Da der Krieg mit Polen unvermeidlich ist, ist es für Polen umso besser, je länger die Kämpfe in der Ukraine andauern. Nur so kann ein Einmarsch russischer Truppen in Polen verhindert werden.

Doch wie kann man gleichzeitig an extreme Schwäche und totale Stärke glauben? Und: Sollte man nicht fragen, welche Kosten Polen bereit ist, auf sich zu nehmen, um Moskau zu schwächen? Wie viele ukrainische Kriegsflüchtlinge kann es noch aufnehmen? Wie viel kriegsbedingte Inflation kann es verkraften?

Es gibt Fragen über Fragen, aber sie werden zumeist ausgeblendet. Emotionen lassen sich nicht von Logik leiten. Übertriebene Zuversicht und übermäßige Angst, das Kippen von einem Extrem ins andere, sind psychologisch gesehen keine Seltenheit.

Eine weitere prägende polnische Befindlichkeit ist das fast blinde Vertrauen in die Fähigkeiten Amerikas und das nicht minder merkwürdige und starke Vertrauen in seine guten Absichten. Die Polen lieben Amerika, mehr als die Amerikaner selbst, so das Fazit der eingangs erwähnten Umfrage. Sie idealisieren es. Sie wollen es nicht wahrhaben, dass die USA, auch wenn sie die einzige demokratische Großmacht sind, oft nur ihre eigenen Interessen verfolgen und um Geltung für sich kämpfen. Mit diesem emotionalen Vorteil und dem Wissen um die polnische Liebe ist es für Amerika ein Leichtes, sich in Polen durchzusetzen.


Das wiederum hängt mit einem weiteren Merkmal der polnischen Mentalität zusammen, einem Erbe der Romantik. Die Politik wird nicht in den Kategorien von Stärke und Schwäche wahrgenommen. Was sie prägen soll sind Werte. Folglich ist der Kampf um mehr Einflussnahme und Vorteile in den Augen der Polen vor allem ein Kampf zwischen Gut und Böse, zwischen den Mächten des Lichts und den Mächten der Finsternis.

Deshalb können polnische Politiker nicht das tun, was die Politiker woanders seit Jahrhunderten praktizieren: auf Zeit spielen, ausweichen, Bündnisse schließen und wechseln, andere zynisch hinters Licht führen. Die polnische Öffentlichkeit weigert sich in ihrer Mehrheit zur Kenntnis zu nehmen, dass sich das Gute und das Böse nur selten, vielleicht sogar nie, in Reinkultur offenbaren. Selbst während des Zweiten Weltkriegs ging, wer Hitlers Bösem ein Ende setzen wollte, ein Bündnis mit Stalins nicht weniger Bösem ein. Das freie Polen bot beiden die Stirn.

Man paktiert nicht mit dem Bösen, das Gute muss unterstützt werden. Dieser Grundsatz, übertragen auf den Bereich der konkreten Politik, bedeutet, dass die meisten Polen, wie Untersuchungen erneut zeigen, radikalste Sanktionen gegen Russland wollen, auch wenn das ihren Interessen drastisch zuwiderläuft. Diese Haltung wiederum befreit die Regierung von der Notwendigkeit, sich für die steigenden Lebenshaltungskosten und andere kriegsbedingte Unwägbarkeiten zu erklären, solange sie auf der Seite des Guten steht.

Eigentlich heißt es zu Recht, dass Emotionen keine guten Ratgeber in der Politik sind. Aber vielleicht leben wir inzwischen doch in einer besseren Welt und die alten Wahrheiten sind nicht mehr gültig?

RdP




4.06.2022. Der Günstling geht von Bord. Donald Tusk verlässt Europa

Die farblose Amtszeit von Donald Tusk als Chef der Europäischen Volkspartei geht zu Ende. Zwei Jahre vor dem Ablauf seiner Wahlperiode übergab Tusk auf dem EVP-Kongress in Rotterdam das Steuer an den CSU-Mann Manfred Weber. Ein deutscher Politiker beerbt einen deutschen Politiker ohne deutschen Pass.

Donald Tusk verdankte seine EU-Ratspräsidentschaft (2014-2019) und den anschließenden dreijährigen EVP-Vorsitz Angela Merkel. Ihre Gunst erwirkte er in seiner Zeit als polnischer Ministerpräsident zwischen 2007 und 2014 durch seine bis an die Selbstverleugnung gehende Deutschlandergebenheit.

Putin hofieren und die Ukraine ignorieren, Polen in die Energieabhängigkeit von Russland treiben, Nord Stream 2 gutheißen, die Amerikaner mit ihren Raketenschutzschild-Plänen aus Polen fortscheuchen. Für Angela Merkel, Frank-Walter Steinmeier, Sigmar Gabriel und andere treue deutsche Russland-Partner war Tusk, „der Pflegeleichte“, wie ihn Der Spiegel seinerzeit beschrieb, ein nicht zu unterschätzender Handlanger, der im Gegenzug in der EU hoch hinaus wollte.

Tusk hatte sich die Verwirklichung seines Wunschtraums redlich erdient, ehe er 2014 nach Brüssel aufbrechen durfte. Das ohnehin schmale Fundament seiner europäischen Karriere begann 2021, nach dem Abgang der deutschen Gönnerin, sofort zu bröckeln. Deutschlandergebenheit ist seine größte politische Stärke, aber bei aller Anstrengung konnte er darin den macht- und postenhungrigen Manfred Weber aus dem bayerischen Niederhatzkofen fürwahr nicht überbieten.

Ohne Angela Merkel war es ein Leichtes, Tusk loszuwerden. Als EU-Ratsvorsitzender und als Chef der Europäischen Volkspartei hat er sich in der internationalen Politik keinen Namen gemacht. Stets erweckte er den Eindruck, am Nebentisch zu sitzen, ein Anhängsel des realen politischen Weltgeschehens zu sein. Er wurde wenig beachtet und kaum ernst genommen, genoss dafür im Stillen das Luxusleben eines Spitzenpolitikers mit etwa 25.000 Euro Monatsgehalt, saftigen Zulagen, drei Butlern, vier Fahrern und einem 30-köpfigen Sekretariat. Knapp zwei Millionen Euro soll Donald Tusk steuerfrei in Brüssel verdient haben.

Leer sind dagegen die Schubladen, die er als EU-Ratspräsident und EVP-Vorsitzender hinterlässt. Wie soll die heutige EU der 27 in der Zukunft funktionieren? Die EU-Erweiterung und ihr Tempo? Die EU-Einwanderungs- und Asylpolitik? Energiepolitik, Klimapolitik, Ostpolitik, usw.? Rien, wie Edith Piaf sang, mit anderen Worten: Nichts. Für das Vordenken und Machen war Angela Merkel zuständig. Ihr politischer Ziehsohn war in Brüssel in beiden Positionen schmerzlich vorhersehbar: Er tat nichts. So sollte es wohl auch sein.

Dafür war er geradezu hektisch aktiv auf Twitter, wo der eigentlich zur Neutralität verpflichtete oberste EU-Beamte durch seine bitterbösen Kommentare den innenpolitischen Konflikt in Polen kräftig aufmischte. Ab und zu tat er es auch vor Ort. Dafür war er seiner Patronin gut. Als ihm die polnische Regierung deswegen beim Antritt für die zweite Halbzeit als EU-Ratschef ihre Unterstützung verweigerte, warf sich Deutschland energisch ins Zeug und stellte eine breite Mehrheit für seine Wiederwahl auf die Beine.

Inzwischen hat Tusk seine Schuldigkeit getan. Er ist gut versorgt und soll gehen. Eine Verwendung auf EU-Spitzenposten-Niveau gibt es für ihn nicht mehr. Andere wollen schließlich auch mal.

Doch der durchtrainierte 65-Jährige hat keine Lust aufs Rentnerdasein. Nach etlichen verlorenen Wahlen seiner Partei seit 2015 will er es nun seinem Erzfeind Jarosław Kaczyński so richtig zeigen. Mit diesem Auftrag verlässt er auch den Brüsseler Olymp. Ursula von der Leyen gab ihn in diesen Tagen, per Twitter, Tusk noch einmal mit auf den Heimweg: „Lieber Donald, Du verkörperst unsere Werte. Nun kehrst Du in Dein Land zurück, um sie zu verteidigen.“

Seit knapp einem Jahr steht Tusk wieder an der Spitze seiner Partei, der Bürgerplattform. Der innenpolitische Blitzsieg nach der Rückkehr, den er sich erhofft hatte, blieb ihm versagt. Mühsam versucht er nun die Opposition in einem Block unter seiner Führung zu bündeln und den regierenden Nationalkonservativen ihren hohen Umfragevorsprung streitig zu machen. Beides bisher vergeblich.

Tusks radikale „Kaczyński muss weg“-Rhetorik, ohne auch nur den Ansatz eines überzeugenden, positiven politischen Programms, zieht nicht so recht. Die Pannen, Fehler und Unterlassungen aus seiner Regierungszeit werden hervorgeholt und untergraben seine Glaubwürdigkeit, ebenso wie seine Wutausbrüche auf Twitter.

Angela Merkel genießt, so gut es geht, ihren Ruhestand. Ihr einstiger Protegé, jetzt ganz auf sich gestellt, versucht sein Comeback und scheint dabei manchmal ziemlich überfordert zu sein. Der Ausgang der Parlamentswahlen im Herbst 2023 wird sein politisches Schicksal besiegeln. Ein schmerzhafter Absturz ist nicht ausgeschlossen.

RdP




31.05.2022. Ukraine und die neuen polnischen Realisten

In den letzten Tagen gelang es Henry Kissinger, dem schon etwas in Vergessenheit geratenen ehemaligen US-Außenminister, aufs Neue die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Der inzwischen 99-Jährige huldigte, mittels Video-Schaltung, auf dem Weltwirtschaftsforum in Davos einer Realpolitik, wie aus dem 19. Jahrhundert. Er sagte, die Ukraine müsse territoriale (Abtretung gut eines Drittels des Staatsgebietes) und politische (Abrüstung, keine Nato-Mitgliedschaft) Zugeständnisse an Russland machen, um den Krieg so schnell wie möglich zu beenden.

Kissinger sprach laut aus, was viele andere, bis jetzt zumeist, nur hinter vorgehaltener Hand von sich geben. Tatsache ist, dass die Gereiztheit und Unzufriedenheit darüber, dass der Krieg, nach gut drei Monaten, immer noch nicht zu Ende ist, in vielen Hauptstädten spürbar zu steigen beginnt. Gewiss, der Frieden hat seinen Preis und den soll das Opfer, die Ukraine zahlen. Der friedliebende Weltstartege Kissinger wirft, wie selbstverständlich, fremdes Staatsgebiet und seine Bewohner den Russen zum Fraß vor, dabei ließe sich Putin mit der Rückgabe von Alaska an Russland sicherlich noch schneller besänftigen.

Auf dem angesehenen Treffen in Davos führte das Thema auch in anderen Debatten zu heftigen Auseinandersetzungen. Graham Allison, ein Schüler Kissingers und Harvard Professor, wiederholte die These seines Lehrmeisters und argumentierte, dass eine fortgesetzte militärische Unterstützung der Ukraine eine gefährliche Weiterentwicklung des Krieges nach sich ziehen wird. Deshalb müsse man sich mit den Russen an den Verhandlungstisch setzen. Das rief jedoch den heftigen Widerspruch von Lawrence Freedman, eines britischen Militär- und Strategiehistorikers hervor. Sein Argument: Man dürfe auf keinen Fall die weiße Fahne zu einem Zeitpunkt hissen, zu dem Russland zwar geschwächt, aber nicht in seiner Existenz bedroht sei.

Der Streit zwischen Allison und Freedman ist ein gutes Beispiel für die wachsenden Meinungsverschiedenheiten im Westen. Die Verfechter schneller Verhandlungen im Namen des Realismus, möchten mit Russland, so bald es geht, wieder ins Geschäft kommen und machen sich Sorgen um die künftige Stellung des Landes in der Weltpolitik. Kissinger, Scholz, Macron & Co. wollen zudem vermeiden, dass eine starke Ukraine das Gleichgewicht der Kräfte in Europa zum Nachteil Russlands und der traditionellen Russland-Partner Deutschland und Frankreich verändert.

Die Befürworter einer weiteren Unterstützung der Ukraine in Washington, London und Warschau sagen hingegen: Wenn Russland beschlossen hat, mit einem Krieg den Spieß umzudrehen und seine Beziehungen zum Westen völlig zu ruinieren, dann muss man Moskau unbedingt erlauben Selbstmord zu begehen. Russland jetzt die Hand zu reichen, wäre eine große Dummheit.

Man kann also, im Namen des Realismus, die seit gut zwei Jahrhunderten geltenden europäischen Sicherheitsregeln beibehalten und damit Russland weiterhin erlauben seine Nachbarn zu bedrohen, zu erpressen und zu überfallen.

Oder man kann dem neuen Realismus huldigen, indem man die einmalige Gelegenheit ergreift, um die europäischen Sicherheitsregeln dauerhaft zu ändern und damit Russland die Lizenz zum Bedrohen, Erpressen und Überfallen ein für allemal zu entziehen.

Die Polen gehören zu den neuen Realisten. Zu oft war ihr Land in Zeiten des alten Realismus die Ukraine von heute.

RdP




23.05.2022. Emma, Macron, New York Times & Co. Polen stellt sich quer

Man sollte vorsichtig sein, Staatsbesuche als historisch zu bezeichnen. Solche Bewertungen können schnell von der Zeit überholt werden. Der Aufenthalt des polnischen Staatspräsidenten Andrzej Duda am 22. Mai 2022 in Kiew  wird jedoch ganz bestimmt für länger in den Köpfen der Ukrainer und Polen bleiben. Nicht nur, weil Duda der erste ausländische Staatschef war, der seit Beginn des Krieges am 24. Februar 2022 vor dem ukrainischen Parlament, der Werchowna Rada, sprach.

Wichtig waren die spontanen, herzlichen Gesten, die Wolodymyr Selenskij und Duda austauschten. Einen hohen symbolischen Wert hat dabei die Ankündigung Selenskijs, dass alle Polen in der Ukraine, genauso wie jetzt alle Ukrainer in Polen, mit den Einheimischen, bei Sozialleistungen, Steuern, auf dem Arbeitsmarkt, im Gesundheits- und Bildungswesen gleichgestellt sein sollen. Wichtig waren auch die sich anschlieβenden stehenden Ovationen der ukrainischen Abgeordneten.

Noch wichtiger jedoch waren die Worte, die der polnische Staatspräsident an die Ukrainer richtete: „Nur die Ukraine hat das Recht, über ihre Zukunft zu entscheiden. Nichts über dich (Ukraine) ohne dich“. Duda sprach im Namen fast aller Polen. Eine freie Ukraine ist das wirksamste Bollwerk gegen Russland. Sie zu unterstützen ist oberste polnische Staatsraison.

Dudas Worte fielen im richtigen Moment, denn nach drei Monaten Krieg macht sich in Westeuropa Kriegsmüdigkeit breit. In Deutschland unterschreiben Hunderttausende den „Emma“-Brief an den Bundeskanzler, in dem faktisch die Ukrainer zur Kapitulation aufgerufen werden. Frankreichs Staatspräsident Macron sowie Ex-Premier Berlusconi in Italien warnen vor einer Demütigung Russlands. Sorgen bereitet ihnen und nicht nur ihnen, was sein wird, sollte die Ukraine gewinnen.

Und außerdem, so die Klagen in vielen westeuropäischen Hauptstädten, treffen die Sanktionen alle. Die Preise steigen, die Wirtschaft leidet, und es ist an der Zeit, dem Ganzen ein Ende zu setzen. Die Lösung kann nur Frieden heiβen. Zu welchem Preis? Territoriale Zugeständnisse von Kiew an Moskau, das sind die Andeutungen, die Wolodymyr Selenskij in seinen Telefongesprächen mit westlichen Politikern zu hören bekommt.

Die „New York Times“, die wichtigste Tageszeitung der Vereinigten Staaten und vielleicht der ganzen Welt, die sich vor einem Vierteljahrhundert gegen die Nato-Erweiterung um Polen aussprach und diese in einem Kommentar als einen „fatalen Fehler“ bezeichnete, meinte in diesen Tagen, dass „Putin zu viel persönliches Prestige investiert hat“, als dass man von ihm einen Rückzug aus den besetzten Gebieten erwarten könnte.

Diesen Neigungen, Stimmungen und Bestrebungen gilt es sich entschieden zu widersetzen. Ein Paktieren über die Köpfe der Ukrainer hinweg ist mit Polen nicht zu machen, das war die wichtigste Botschaft des Kiew-Besuches von Andrzej Duda.

Das polnische Engagement und die polnische Effizienz haben einen wesentlichen Beitrag dazu geleistet, dass Russland die Ukraine nicht zerschlagen und den Westen nicht zwingen konnte, Mord und Annexion stillschweigend zu akzeptieren. Die Fähigkeit Polens, die Länder der Region zur Unterstützung der Ukraine zu organisieren, Millionen von Flüchtlingen, darunter auch Ehefrauen und Kindern von Soldaten, einen sicheren Zufluchtsort zu bieten, polnische Waffen- und Hilfsgüterlieferungen, der riesige Strom ausländischer Versorgung, der im Transit durch polnisches Territorium die Ukraine erreicht, spielen eine wichtige, vielleicht entscheidende Rolle. Jetzt galt es ein starkes politisches Signal zu setzten.

Der polnische Staatspräsident zögerte nicht, die Ukraine mit einer klaren Botschaft zu unterstützen. Dass freie Nationen nicht käuflich sind, und dass die freie Welt heute das Gesicht der Ukraine trägt. Es gibt keine Politik ohne Moral, keine Sicherheit ohne Wertetreue, ohne die Unterscheidung zwischen Gut und Böse. Der Westen ist diesbezüglich gespalten. Polen hat hierzu klar Position bezogen.

RdP




Das Wichtigste aus Polen 17. April bis 21. Mai 2022

Aleksandra Rybińska und Janusz Tycner diskutieren die wichtigsten Ereignisse der letzten Zeit in Polen ♦ Putinflation oder hausgemacht? Hoher Preisanstieg und heftige innenpolitische Debatte über die Inflation ♦ Keine Konflikte. Gut 2 Millionen Ukraineflüchtlinge haben sich eingelebt, wenn es nur mehr Wohnungen gäbe ♦ Frontstaat Polen: Risiken und Chancen ♦ Ringen um den EU-Wiederaufbaufonds.