Polnisch, britisch, kritisch

Lage der Polen in Groβbritannien gibt Anlass zur Sorge.

Noch ein groβer Erfolg eines polnischen Models. Marta Dyks ist das Gesicht der neuesten Werbekampagne der britischen Einzelhandelskette Marks & Spencer. Die Briten loben die Polin, mehr noch: sie wurde nicht zusammengeschlagen.” Diese Art von schwarzem Humor, wie ihn kürzlich die Zeitschrift „Polityka“ an den Tag legte, hat gerade Hochkonjunktur in Polen, denn die Polen in Groβbritannien leben seit einiger Zeit gefährlich.

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Model Marta Dyks.

Etwa achthunderttausend von ihnen sind in den letzten zehn Jahren nach Groβbritannien ausgewandert. Seit dem Sommer 2016 vergeht kaum ein Tag, an dem nicht aus irgendeiner Gegend des Landes ein Überfall auf einen Polen gemeldet wird.

Am schlimmsten traf es den 40-jährigen Arkadiusz Jóźwik (fon.: Juschwick). Mitten in Harlow prügelte ihn am Samstagabend des 27. August 2016 eine Bande von Halbstarken zu Tode. Sein Kollege erlitt lebensgefährliche Verletzungen.

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Tatort in Harlow mit Portrait der ermordeten Arkadiusz Jóźwik.

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Warschauer Behörden nehmen die Lage ernst. Der polnische Botschafter in London legte Blumen am Tatort nieder. Gleich zwei polnische Minister, für Auswärtiges und für Inneres, sind, zusammen mit dem Chef der polnischen Polizei, Anfang September an der Themse vorstellig geworden.

Polnische Medien versuchen derweil die Ursachen des Gewaltanstiegs zu ergründen, bringen Reportagen, in denen das Befinden der Polen in Groβbritannien geschildert wird.

„Zwar werden sie von den britischen Arbeitgebern und Ökonomen hochgelobt, weil sie emsig arbeiten, eigene Firmen gründen, viel Steuern zahlen, sich schnell integrieren und den britischen Wohlstand vermehren.“, schreibt die Tageszeitung „Nasz Dziennik“ („Unser Tagblatt“) vom 24./ 25.09.2016.

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Registrierte Ausländer in GB 2007-2015. Polen an der Spitze.

„Anders als Zuwanderer aus Afrika oder Nahost fallen sie dem Sozialsystem nicht übermäβig zur Last. In den britischen Kriminalitätsstatistiken rangieren sie eher im Mittelfeld. Doch gerade nach dem Brexit-Referendum im Juni 2016 werden sie mit den »Problem-Migranten« aus fernen Kontinenten in einen Topf geworfen, fallen der wachsenden Fremdenfeindlichkeit zum Opfer.“

Die meisten Polen auf den Inseln arbeiten in der Industrie (25 Prozent), im Hotel- und Gaststättengewerbe (20 Prozent), auf dem Bau (8 Prozent) sowie im Gesundheitswesen und in der Pflege (7 Prozent). Etwa 40 Prozent sind Gewerbetreibende. Polnische Arbeitsemigranten überweisen pro Jahr umgerechnet gut 3 Mrd. Euro nach Hause, Tendenz steigend. Die nächste Bevölkerungsgruppe auf der Liste, die Inder, schicken nur knapp die Hälfte davon in ihre Heimat.

Fucking Polish

„Grafschaft Essex, 30 Meilen nordöstlich von London. Klobig-moderne Nachkriegsarchitektur, die Straβen mit rotem Klinker gepflastert. Der nüchtern bescheidene Baustil spiegelt die kurze Geschichte Harlows wieder. Es ist unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg entstanden, für diejenigen, die die deutschen Bombenangriffe auf London obdachlos gemacht haben.“, so beginnt der Bericht aus Harlow in Polens auflagenstärkstem Wochenmagazin „Gość Niedzielny“ („Der Sonntagsgast“) vom 18.09.2016.

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„Auch hierher kamen einige dutzend Jahre später Polen, um ihren Traum vom bescheidenen Wohlstand zu verwirklichen. Sie haben schnell Anschluss gefunden, Firmen gegründet, eine eigne Schule eingerichtet, machten den Einheimischen polnisches Brot und polnische Wurstwaren schmackhaft. In der achtzigtausend Einwohner zählenden Stadt sind die zweitausend Polen nicht zu übersehen. (…)

»Ich habe hier zwei Läden und viel Kontakt zu anderen Polen. Nach dem Brexit-Referendum sind etwa zehn Familien nach Polen zurückgekehrt«, berichtet Sebastian Chudy. Er kam 2005 nach Harlow, verdingte sich zuerst in Gewächshäusern, arbeitete sich unter vielen Entbehrungen hoch, zum Gabelstaplerfahrer, Busfahrer, Handwerker. Die Kunden berichten ihm immer wieder von unangenehmen Zwischenfällen: zerkratzen Autos, nächtlichem Hämmern gegen Wohnungstüren, Beschimpfungen auf der Straβe. Chudy selbst musste vor kurzem ein „Fucking-polish-back-to-your-country“ von der Schaufensterscheibe wischen.

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Sebastian Chudy in seinem Laden in Harlow.

Der Tatort befindet sich in der kleinen Fuβgängerzone, eingezwängt zwischen den parallel verlaufenden Straβen The Stow und Orchard Croft, nur etwa einhundert Meter entfernt von der katholischen Kirche Our Lady of Fatima. Die Sitzbank in der Mitte ist kaum mehr auszumachen unter einem Berg von Blumen. Grablichter brennen.

Die Horde von 14 bis 16-Jährigen, die Arkadiusz Jóźwik und seinen Begleiter umzingelt und niedergetrampelt haben, zählte gut zwanzig Mann. Sechs von ihnen nahm die Polizei fest, fünf sind sogleich wieder auf Kaution freigekommen. Auch der Haupttäter befindet sich inzwischen wieder auf freiem Fuβ.

Die Polen in Harlow, mit denen wir reden“, schreibt „Gość Niedzielny“, „sind entsetzt über die rasant zunehmende Verwahrlosung der englischen Jugendlichen in der Stadt und in England überhaupt. Auf Schritt und Tritt begegnet man Gruppen und Grüppchen pöbelnder, grölender, offensichtlich stets angetrunkener junger Leute, oft bis zur Unkenntlichkeit übersät mit Tätowierungen und Piercings. Ihre Kenntnisse über das Ausland beschränken sich auf Spanien, eventuell noch Griechenland, wo sie mal in den Ferien waren. Bis nach Polen reicht ihr Horizont jedoch nicht.

Bloody Poles

Beinahe ganz Südengland hat am 23. Juni 2016 für den EU-Austritt gestimmt. Die Immigranten waren ein wichtiges Argument für den Brexit, weil sie alle, ohne Ausnahme, so hieβ es, nur gekommen sind, um sich durch das britische Sozialsystem zu nassauern.

Der Anfeindungen im Vorfeld des Referendums überdrüssig, riefen die polnischen Verbände in Groβbritannien unter der Parole „Bloody Poles“ zu einem einzigartigen Streik auf. Polnische Arbeiter und Angestellte, so der Aufruf, sollten die gesetzliche Möglichkeit nutzen und sich ein paar Stunden fürs Blutspenden freinehmen. Einige Tausend Polen veröffentlichten daraufhin ihre Fotos vom Blutspenden auf Facebook.

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Bloody Poles. Polnische Blutspendeaktion in GB vor den Brexit-Referendum.

Im stattlichen Gebäude der Passmores Academy in Harlow hat die Polnische Schule der Heimatfächer (Polska Szkoła Przedmiotów Ojczystych) einige Klassenräume angemietet. Zweihundert polnische Kinder kommen jeden Samstag für einige Stunden hierher. Unterrichtet werden die polnische Sprache und Literatur, polnische Geschichte sowie Erdkunde. Die Lehrer arbeiten hier ehrenamtlich. Die Kinder, so das Anliegen, sollen in der Multi-Kulti-Welt ihre Identität bewahren können.

»Als es zu dem Mord kam, war ich gerade in Polen«, berichtet die Lehrerin Agnieszka Kozłowska, hauptberuflich bei der Saint Alban’s Catholic Academy angestellt. »Ich war entsetzt als ich den Fernsehbericht sah. Mein Gott, das ist ja unweit unserer Schule passiert. Etwas später kam die Einsicht: nicht nur in Harlow ist es nachts gefährlich.«

Der Mord hat alle Polen in Groβbritannien aufgerüttelt, aber Harlow, so die dort lebenden Polen, war nie eine gemütliche Stadt. Hier muss man nun einmal aufpassen.

Mehr Sorge bereiten ihnen indes die Brexit-Folgen. Agnieszka Kozłowska gibt zu, dass niemand in ihrer polnischen Umgebung auch nur im Geringsten daran gezweifelt hat, dass das Referendum gegen einen EU-Verbleib ausgehen würde. Trotz des entgegengesetzten Entscheides der Briten, kündigen nun nur 5 Prozent der polnischen Emigranten an auf jeden Fall in die Heimat zurückkehren zu wollen.

»Wir haben hier unsere Wohnungen und Häuser, Arbeit, Kinder, die hier zur Schule gehen. Wir haben uns hier dank harter Arbeit eingerichtet. Nur aufgrund eines solchen Zwischenfalls und einiger Pöbeleien werden wir nicht die Flucht ergreifen. Noch leben wir weitgehend normal. Erst wenn es tatsächlich zum Brexit kommt, werden wir sehen wie sich unsere Lage entwickelt.«

Poles forgive us

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Anteilnahme in Harlow.

Die Polen in Harlow sind erfreut darüber, wieviel Anteilnahme, Zustimmung und Unterstützung sie in der letzten Zeit erfahren haben. Bogusław Kot, der polnische Pfarrer an der Our-Lady-of-Fatima Kirche berichtet von vielen Anrufen und Hilfsangeboten, die er von anglikanischen Organisationen bekommen hat. Sebastian Chudy erzählt von englischen Kunden, die ihn um Vergebung für ihre Landsleute gebeten haben. Die Lehrerin Agnieszka Kozłowska war beeindruckt von den vielen Engländern, die sich dem Schweigemarsch zu Ehren des ermordeten Polen angeschlossen haben.

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Bogusław Kot, polnischer Seelsorger in Harlow.

Pfarrer Kot sprach am Ende des Schweigemarsches das Gebet. Er warnte vor Sensationshascherei und zu vielen Emotionen. Aber auch er, das gibt er offen zu, konnte nicht die Tränen unterdrücken, als Arkadiuszs Mutter heimlich zu ihm kam. Sie scheut die Öffentlichkeit. »Es gibt keine Worte, die sie trösten könnten. Nur Gott kann ihr die Kraft geben das durchzustehen. Dafür bete ich.«“

Poor leave, other stay

Knapp vierhundert Kilometer nordwestlich von Harlow, in Blackburn, bestätigt Pfarrer Robert Pytel, mit dem die Zeitung „Nasz Dziennik“ sprach, dass auch in seiner Gegend die Polen sich mehr in Acht nehmen müssen. In der Stadt mit ihren einhunderttausend Einwohnern und im Umkreis von 50 Kilometern wohnen etwa fünfzehntausend Polen, zumeist Fabrikarbeiter. In drei polnischen Wochenendschulen lernen knapp fünfhundert Kinder. Englische katholische Gemeinden, selbst vom Aussterben bedroht, gewähren den Immigranten gern Obdach für Unterricht und Gottesdienste.

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In Blackburn leben inzwischen überwiegend Pakistanis, mit denen es kaum Berührungspunkte gibt. Die englische Minderheit zieht sich immer mehr zurück, aber auch hier vergeht kaum kein Tag ohne Pöbeleien entfesselter Hooligans gegen Polen. »Um Moslems zu provozieren sind sie zu feige«, berichtet Marek Jurkowski, der in Blackburn eine Würstchenbude betreibt.

Pfarrer Pytel beobachtet zwei Verhaltensweisen. Eine Minderheit der Blackburner Polen ist dabei ihre Rückkehr in die Heimat vorzubereiten. Und bei diesem Thema ist nicht die Verschlechterung der Atmosphäre ausschlaggebend.

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Robert Pytel, polnischer Seelsorger in Blackburn.

Da ist das neue Kindergeld in Polen: 500 Zloty (ca. 120 Euro) im Monat für das zweite und jedes weitere Kind bis zum achtzehnten Lebensjahr. Hinzu kommt die Anhebung des minimalen Stunden- (auf umgerechnet 2,80 Euro) und Monatslohns (auf umgerechnet knapp 500 Euro) durch die Regierung Beata Szydło. Da sind auch die auf ein Rekordtief gefallene Arbeitslosigkeit in Polen und die hohen Lebenshaltungskosten in England, die die höheren britischen Einkommen der polnischen Kleinstverdiener auf den Inseln fast restlos auffressen.

Wer wenig verdient will gehen. Diejenigen, die sich zumindest ein kleines bisschen hochgearbeitet haben, wollen bleiben, kaufen Häuser und sparen, um die britische Staatsangehörigkeit zu beantragen. Die kostet umgerechnet eintausend Euro pro Person, vorausgesetzt man hat die zuvor abzulegende Prüfung bestanden.

Lesenswert auch: „Auswanderer. Polen hat sie wieder. Was für die Heimkehr spricht“.
© RdP




AfD? Gute Nacht Polen!

Warum Polens Nationalkonservative die AfD meiden.

Die gerade einmal drei Jahre lang bestehende Alternative für Deutschland (AfD) hat bereits den neunten von sechzehn Landtagen erobert, und wenn es so weiter geht, werden ihre Vertreter ab dem nächsten Jahr auch im Bundestag sitzen. Ist das gut oder schlecht für Polen?

Diese Frage stellte am 7. September 2016, kurz nach dem AfD-Triumph in Mecklenburg-Vorpommern, Piotr Cywiński, einer der kompetentesten polnischen Deutschland-Beobachter im konservativen politischen Lager. Nachfolgend seine Analyse, erschienen im Internetportal „wPolityce.pl“ („inder.Politik.pl“). Zwischentitel von RdP.

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Autor Piotr Cywiński.

Die AfD hat bereits ihre Abgeordneten in den Landtagen von Sachsen, Brandenburg, Thüringen, Hamburg, Bremen, Sachsen-Anhalt, Baden-Würtemberg, Rheinland-Pfalz sitzen und, seit Sonntag, dem 4. September, nun auch in Mecklenburg-Vorpommern, wo sie sogar die Partei von Angela Merkel besiegte. Wie man sieht, ist die AfD vor allem auf dem Gebiet der dünn besiedelten ehemaligen DDR erfolgreich, besitzt aber auch Brückenköpfe in den alten Bundesländern. In einigen Tagen wird in Niedersachsen auf kommunaler Ebene gewählt, bald darauf zum Abgeordnetenhaus in Berlin. Nächstes Jahr sind Landtagswahlen im Saarland, Schleswig-Holstein und Nordrhein-Westfalen.

Rotes Signal in polnischen Köpfen

Gelingt es der Partei von Frauke Petry und Jörg Meuthen ihre Position auf der deutschen politischen Bühne zu stärken? Was hat sie anzubieten, und wie verhält sich das zu den Interessen Polens?
Um es vorweg zu nehmen: es wundert und beunruhigt mich zu hören und zu lesen, wie die AfD in manchen Kommentaren bemitleidet und mit der, bei uns früher von den Regierenden zurück gedrängten Partei, Recht und Gerechtigkeit verglichen wird. Manche sehen in der AfD bereits eine Partnerin für die Partei von Jarosław Kaczyński.

Da stehen einem buchstäblich die Haare zu Berge. Die polnischen AfD-Sympathisanten begreifen immer noch nicht, wie das politische Erdbeben jenseits der Oder für uns alle enden kann.

Sind die Deutschen dermaβen dumm, dass sie die „Mutter der Nation“, wie Angela Merkel noch bis vor kurzem genannt wurde, und eine Regierung, die die Interessen ihrer Bürger gut vertritt, zukünftig an der Machtausübung hindern wollen? Der Haushalt ist ausgeglichen, der Staat wird entschuldet, die Wirtschaft wächst, beim Exportüberschuss wird Deutschland in diesem Jahr China überholen und Export-Weltmeister werden, die Arbeitslosigkeit ist die niedrigste seit dem Krieg. Wer würde eine solche Kanzlerin zum Teufel jagen?

Zweifelsohne gründen die Erfolge der AfD auf der Angst der Müllers und Schmidts vor den Folgen der arroganten Immigrationspolitik der CDU/CSU-SPD-Regierung. Eine nicht geringe Rolle spielt auch das „Nein“ der AfD zum Brüsseler Zentralismus und der Wandlung der Vielvölker-EU in einen Multikulti-„Superstaat“. Obwohl man annehmen kann, dass der Widerstand der Müllers und Schmidts schwächer wäre, wenn die Deutschen im Made-in-Germany-Europa auch das letzte Wort haben könnten.

Doch auch wenn einige Forderungen der AfD mit der polnischen Sichtweise übereinstimmen, so bedeutet das nicht, dass in Deutschland mit der AfD ein neuer Alliierter für irgendeine bedeutende politische Partei in unserem Land heranwächst.

Ein rotes Signal müsste in den polnischen Köpfen bereits vor einem Jahr aufgeleuchtet sein. Damals warf Bernd Lucke, einer der AfD-Begründer, auf dem Essener Parteitag, der AfD das Schüren von Fremdenfeindlichkeit und eine prorussische Orientierung vor, und verlieβ demonstrativ deren Reihen. Gleichzeitig mit ihm gingen mehr als zweitausend Mitglieder, unter ihnen das Vorstandsmitglied und MdEP Hans-Olaf Henkel, ehem. Präsident des Bundesverbandes der Deutschen Industrie und IBM-Manager.

Henkel hatte seinerzeit die deutschen Christdemokraten scharf kritisiert wegen ihrer Einmischung in innerpolnische Angelegenheiten, der „Treibjagd gegen Recht und Gerechtigkeit“ und „des Unterstützens der Bürgerplattform“. Mit ihm gingen u. a. der bekannte Volkswirt Joachim Starbatty und die Europaabgeordnete Ulrike Trebesius.

AfD und Polen. Gespräch mit Hans-Olaf Henkel – hier nachzulesen.

Die AfD verlor in dieser Zeit ihre aus bekannten und hochgeschätzten Leuten bestehende Führungsspitze. Diese riefen eine neue Gruppierung ins Leben, die Allianz für Fortschritt und Aufbruch. Die Zahl der AfD-Mitglieder verkleinerte sich fast um ein Viertel.

AfD, NPD und die „Polen-Invasion“

Die Vorwürfe der AfD-Mitbegründer waren nicht unbegründet. In ihrem ersten siegreichen Landtagswahlkampf, in dem an Polen grenzenden Sachsen, trat die AfD unter der Losung auf „Sichere Grenzen, statt grenzenloser Kriminalität“. Dies Parole stimmte andeutungsweise mit den Losungen der NPD-Neonazis von der „Polen-Invasion“ überein, und Plakaten auf denen „polnische Krähen“ den Deutschen Arbeitsplätze und Sozialleistungen wegpicken.

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AfD (oben) und NPD-Wahlplakate in dem an Polen angrenzenden Sachsen.

afd-bis-npd-plakat-fotEs gibt unzählige Beispiele von informellen Kontakten, gegenseitigen Besuchen auf Parteitagen, Bindungen und der Unterstützung der AfD für Forderungen der NPD. Ähnlich verhält es sich mit AfD-Mitgliedern, ehemaligen Zöglingen der verbotenen Wiking-Jugend (die an die Hitler-Jugend anknüpfte), mit Aktivisten der ebenfalls verbotenen neonazistischen Organisation Blut und Ehre usw. Die AfD-Vorsitzende Petry hat sich entschieden verwehrt dagegen, dass ihre Partei zu den braunen Strömungen gezählt wird. Als jedoch bei einem MDR-Interview die Journalisten konkrete Beispiele anführten, sagte sie, sie werde „etwas damit machen müssen“.

Eine der wichtigsten AfD-Forderungen ist die Gestaltung der nationalen Identität und Formung patriotischer Einstellungen, was an sich nicht schlecht ist, doch in polnischen Ohren einen besonderen Beiklang hat.

Alexander Gauland, stellv. Vorsitzender der AfD und ihr Fraktionschef im Brandenburgischen Landtag ist der Meinung, dass die Deutschen endlich ihre Minderwertigkeitsgefühle, die aus der Nazi-Zeit resultieren, aufgeben und entschiedener für ihre eigenen Interessen eintreten sollten. Die Schuljugend sollte das „Deutschlandlied“ singen, der Geschichtsunterricht sollte in höherem Maβe „die deutschen Befreiungskriege des 19. Jh. berücksichtigen“ und im Radio sollte man das Abspielen ausländischer Musik einschränken. Auβerdem sollte die doppelte Staatsbürgerschaft (von der auch Polen in Deutschland Gebrauch machen) abgeschafft und den Gastarbeitern das Kindergeld gestrichen werden.

Idol Bismarck: „Polen ausrotten“

Gauland wurde auch mit der Erarbeitung des AfD-Konzeptes zur deutschen Auβenpolitik betraut. Sein Vorbild ist Otto von Bismarck, der „eiserne Kanzler“, der sich von dem Prinzip leiten lieβ: „Um Gottes Willen, nur keine sentimentalen Bündnisse, bei denen das Bewusstsein der guten Tat der Lohn edler Aufopferung zu bilden hat“.

Bei uns in Polen wurde das politische Idol des AfD-Vizechefs u. a. durch Zitate, wie dieses berühmt:

„Haut doch die Polen, daß sie am Leben verzagen; ich habe alles Mitgefühl für ihre Lage, aber wir können, wenn wir bestehen wollen, nichts andres tun, als sie ausrotten.“

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Alexander Gauland und sein Idol Bismarck.

 

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Ginge es nach Gauland, so müssten in der bundesdeutschen Politik grundlegende Änderungen eintreten. Deutschland sollte „mehr Verständnis für Russland“ an den Tag legen, darunter auch für sein Vorgehen gegenüber den ehemaligen Sowjetrepubliken. Der AfD-Vize verglich den Verlust von Russlands „Keimzelle – dem Heiligen Kiew“ mit der   Abspaltung von Aachen oder Köln von Deutschland.

Gauland erinnert auch daran, dass Russland „Preuβen vor dem Niedergang bewahrte (…), Bismarcks Reichsvereinigung und die deutsche Vereinigung 1990/91 unterstützte.“

Man müsse also an die traditionellen deutsch-russischen Verbindungen anknüpfen. Käme es zu bewaffneten Konflikten mit Drittstaaten dann sollte Deutschland zu dem Rückversicherungsvertrag, dem geheimen Neutralitätsabkommen mit Russland von 1887, zurückkehren. Gauland wünscht sich geradezu eine bismarckische Zusammenarbeit mit Präsident Wladimir Putin. Seiner Meinung nach sei der Westen für die Verschlechterung der Beziehungen mit Russland verantwortlich, weil er Russland provoziere, weil er sein Versprechen gebrochen habe, dass „die Nato nicht bis hinter die Oder erweitert wird, und doch habe man Polen aufgenommen.“

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Treue zu Russland als Alternative für Deutschland .

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Was sei also zu tun? Vor allem muss man Sanktionen gegen Russland aufheben, die nach der Krim-Annexion verhängt wurden, und man sollte sich nicht in seine inneren Angelegenheiten einmischen.

„Lasst uns einen Nationalstaat aufbauen!“, rief Gauland während des Wahlkampes in Rheinland-Pfalz, wo die AfD heute die dritte Kraft ist (nach den Christdemokraten und den Sozialdemokraten und vor der FDP und den Grünen). Für den Anfang wäre es gut, wenn das Schengen-Abkommen entfiele. Man sollte auch den Schusswaffengebrauch gegen illegale Emigranten erwägen, so seine Chefin Petry. Ihre Stellvertreterin Beatrix von Storch, erweiterte den Vorschlag ausdrücklich auf Frauen mit Kindern.

Sollten die deutschen Wähler so verrückt sein, dass die AfD mittels einer sonderbaren Koalition an die Macht gelangen sollte und Gauland Auβenminister werden könnte, dann „gute Nacht Polen!“, wie es Erika Steinbach, CDU-Bundestagsabgeordnete und ehem. Chefin des Bundes der Vertriebenen zu sagen pflegt, als inoffizielle Sprecherin der AfD unter den Christdemokraten.

Derweil fassen die AfD-Leute die Gelegenheit beim Schopf und bauen ihre Kontakte aus. AfD-Vorstandsmitglied Georg Pazderski gab auf dem Internetportal der Partei bekannt, dass es ein „wie immer sehr konstruktives Gespräch“ in der russischen Botschaft in Berlin gab. Der AfD-Vorstand bestätigte, dass es Treffen seiner Mitglieder in der russischen Vertretung seit Langem gebe. In den deutschen Medien wurde darüber spekuliert, ob diese Kontakte vielleicht mit einer finanziellen Unterstützung Moskaus für die AfD zusammenhängen.

Po-Vielfalt

Zum Schluss gilt es noch den Mythos vom angeblichen Anti-Genderismus der AfD zu zerstreuen. Der gröβte Kritiker dieser Strömung, Bernd Lucke hat die Partei bereits verlassen. Derweil wirkt in ihrem Rahmen ein Homosexuellenkreis, der um die Gleichstellung von gleichgeschlechtlichen Paaren mit Hetero-Ehen kämpft, samt Kinder-Adoptionsrecht für Homosexuelle. Der Jugendverband der AfD hat nichts an der „sexuellen Vielfalt“ auszusetzten und tritt unter der Losung „P(r)o Vielfalt“ auf. „Po“ ist auf Deutsch ein anderes Wort für „Hintern“.

Wer nach der Frömmigkeit und der Familienverantwortung der AfD-Führung fragt, der erfährt, dass die Vorsitzende Petry ihren Mann, einen Pastor, für einen Parteifunktionär aus dem Rheinland verließ und damit eine Familie mit vier Kindern zerrüttete. Ähnlich hält es der Mit-Vorsitzende Jörg Meuthen, Vater von fünf Kindern aus zwei Ehen. Das aber sind ja private Angelegenheiten.

Die Liebe zur AfD verlangt also Opfer. Vor allem, wenn sie blind ist.

RdP




Umbau in der Tusk-Pyramide

Weltkriegsmuseum in Gdańsk. Wo der deutsche Schuh drückt.

Ein markanter, schräg stehender Turm aus Glas und rotem Beton erhebt sich über den bereits fertiggestellten unterirdischen Ausstellungssälen, die 37.000 Exponate beherbergen sollen. Die größten von ihnen – darunter zwei Panzer – wurden schon während der Bauphase mit Kränen ins Gebäude gehievt. Das Museum des Zweiten Weltkrieges in Gdańsk sollte bereits seit 2014 über den Krieg auf eine neue, „europäische“, „universelle“, „ganzheitliche“, „globale“ Weise erzählen: aus der Sicht der Zivilbevӧlkerung aus aller Welt, unter anderem auch der Polen. Doch die Bauarbeiten befinden sich inzwischen gut zwei Jahre im Verzug. Die Kosten auf dem unbedacht ausgewählten sumpfigen Baugelände explodieren, und das ursprüngliche Ausstellungskonzept wird in Frage gestellt, sehr zum Leidwesen deutscher Medien.

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„Tusk-Pyramide“. Museum des Zweiten Weltkrieges in Gdańsk. Entwurf und Baustelle.

Das Vorhaben wurde 2008 durch den damaligen polnischen Ministerpräsidenten Donald Tusk angeregt und veranlasst. Es sollte „sein“ Museum werden, „seine“ Antwort auf das Museum des Warschauer Aufstandes von 1944, dessen Urheber 2004 der damalige Oberbürgermeister von Warschau und spätere Staatspräsident Polens (2005-2010) Lech Kaczyński war.

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„Kaczyński-Museum“ des Warschauer Aufstandes von 1944 in Warschau.

Tusk, 2005 fest davon überzeugt, den Wahlsieg in der Tasche zu haben, konnte Lech Kaczyński die Niederlage, die er damals bei den Präsidentschaftswahlen davontrug nie verzeihen, empfand sie als tief demütigend. Alle die Tusk damals näher kannten, berichten einmütig: der Mann war ab dann geradezu besessen von dem Gedanken politische Rache zu nehmen. Lech Kaczyński kam bei der Flugzeugkatastrophe von Smolensk im April 2010 ums Leben.

„Polentum das ist Abnormität“

Das Warschauer Museum des Aufstandes wird bis heute von Besuchern umlagert, ist zu einer wichtigen nationalen Institution geworden. Es stellt nicht nur aus, es prägt durch seine vielfältigen Aktivitäten in erheblichem Maβ das Geschichtsbewusstsein, beflügelt die Fantasie der jungen Generation. Kaum eine Klassenfahrt nach Warschau ohne einen Besuch in diesem Museum, und das ohne jeglichen Zwang.

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Ministerpräsident Donald Tusk legt am 1. September 2012 den Grundstein für „sein“ Museum.

Im Wettlauf mit seinen politischen Erzfeinden, Lech Kaczyński und seinem Bruder Jarosław, wollte Donald Tusk gleichsam auf musealem Gebiet in nichts zurückstehen, auch wenn er an einem ganz anderen Ausgangspunkt ansetzte.

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Lech Kaczyński (damals Oberbürgermeister von Warschau) dekoriert am 1. August 2004 Vetereanen des Warschauer Aufstandes bei der Eröffnung „seines“ Museums.

Tusk war und ist jeglicher polnischer Patriotismus tiefst zuwider. Man sah es ihm fӧrmlich an, wieviel Überwindung es ihn als Regierungschef kostete, an offiziellen Feierlichkeiten mit Nationalhymne, Fahnenhissen und Kranzniederlegungen teilnehmen zu müssen. Sein Credo hat der studierte Historiker bereits 1987 in seinem Essay „Der gebrochene Pole“ in der Zeitschrift „Znak“ dargelegt:

„Leere, nur irgendwo in der Ferne wälzen sich Husaren und Ulanen, Aufständische und Marschälle vorbei, zeichnen sich die Steppenlandschaften der Ukraine und der Helle Berg von Tschenstochau ab, historische Aufträge, polnische Aufstände, die nach Monaten in denen sie ausgebrochen sind benannt wurden (…). Was bleibt vom Polentum übrig wenn man ihm dieses ganze hehre, düstere, lächerliche Theater unerfüllter und unbegründeter Träumereien wegnimmt? Das Polentum verdummt uns, macht uns blind, führt uns ins Reich der Mythen. (…). Es ist selbst ein Mythos. Ja, das Polentum assoziiert man mit Niederlage, mit Pech, mit Gewitterstürmen. Es kann ja auch nicht anders sein. Polentum das ist Abnormität.“

„Europäertum als Normalität“

Tusk hat sich von diesen Worten nie distanziert. Gegen „Polentum als Abnormität“ hilft bekanntlich nur Europa. Stets auf der Flucht vor der Bürde des Nationalen, traf und trifft Tusk auf viele Deutsche, die sich auch auf der Flucht vor ihrer Geschichte befinden. Er ist ihr Lieblingspole. Frau Merkel war schon bei der ersten Begegnung hingerissen.

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Gegen „Polentum als Abnormität“ (Tusk) hilft nur die Flucht nach Europa.

Europa als Lӧsung aller Probleme? Die Polen haben daran eine Zeitlang geglaubt. Tusk war ihr Mann. Die Ernüchterung, die mit der Euro- und Emigrantenkrise kam, hat das geändert. Tusk ist sich treu geblieben und wurde von Frau Merkel mit einem EU-Spitzenjob bedacht.

Danzig, Westerplatte, Wald
„Klein Verdun“. Deutsche Truppen dringen vor auf die Westerplatte unmittelbar nach der Kapitulation der polnischen Verteidiger am 7. September 1939.

Keine Erinnerung an den tapferen Widerstand

Ursprünglich war in Gdańsk ein Museum der Verteidigung der Westerplatte 1939 geplant, gewidmet der polnischen Thermopylen-Schlacht. Sie gilt bis heute als Inbegriff des nationalen Selbstbehauptungswillens, umschrieben in den schwermütigen Strophen des Dichters Konstanty Ildefons Gałczyński:

„Als die Zeit gekommen war,
und sommers man zu sterben hatte,
schritten himmelwärts Paar um Paar
die Soldaten der Westerplatte.
Und wie schön war der Sommer in jenem Jahr.“

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Verteidigung der Westerplatte. Briefmarken der Polnischen Post von 1945…

Das Museum der Westerplatte sollte, kaum jemand erinnert sich heute noch daran, die Antwort auf Erika Steinbachs Berliner Vertriebenenzentrum sein, und die Bundesrepublik wollte sich sogar an den Baukosten beteiligen.

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… und 1989.

Donald Tusk, der strahlende Wahlsieger vom Herbst 2008, hat das ganz in seinem Sinne geändert. Als erstes wurde der geplante Bau des 2006 ins Leben gerufenen Museums der Polnischen Geschichte in Warschau auf Eis gelegt. Als zweites wich die Erinnerung an den tapferen  polnischen Widerstand in Form des Museums der Westerplatte, nun einer „europäischen Sichtweise“ des Zweiten Weltkrieges. Untergebracht in einem kolossalen, modernen Bau, der Danziger „Tusk-Pyramide“, wie manche spotteten, die das Warschauer „Kaczynski-Museum“ überragen sollte. Tusks „Europäertum als Normalität“ versus „Polentum als Abnormität“.

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Denkmal auf der Westerplatte. Ein in den Boden gerammtes Seitengewehr signalisiert Friedens- und zugleich Verteidigungsbereitschaft. Briefmarke der Polnischen Post von 1964.

Nach der Niederlage der Tusk-Partei Bürgerplattform bei den Präsidentschafts- und Parlamentswahlen von 2015, stellt die neue Regierung dieses Konzept nun in Frage (siehe nachstehend das Interviev mit Kulturminister Prof. Piotr Gliński). Ein Sturm der Entrüstung seitens der Befürworter des Europäertums ist die Antwort.

Der Publizist Piotr Semka, einer der drei Gutachter, den die neue Regierung um Einschätzung des bisherigen Ausstellungskonzeptes bat, beschreibt sehr präzise die Bedenken im Wochenmagazin „Do Rzeczy“ („Zur Sache“) vom 25. Juli 2016:

„Die Polen haben 1939-1945 an einem gerechten Krieg teilgenommen. Mutig widersetzten sie sich der deutschen und der sowjetischen Aggression. Sie haben allen Grund stolz darauf zu sein.

Derweil kann man sich nur schwerlich dem Eindruck entziehen, dass die historische Herangehensweise, die im geplanten Museum des Zweiten Weltkrieges bevorzugt wird, teilweise bundesdeutsche Vorbilder nachahmt. Es liegt auf der Hand, dass die Deutschen im Falle des Zweiten Weltkrieges ihre Militärgeschichte nicht hervorheben können. Das wiederum verleitet zu der Feststellung: lasst uns die Militärgeschichte beiseitelegen, das ist nichts Gutes, und uns der Zivilbevӧlkerung   widmen, also auch den Bomben- bzw. »Vertreibungsopfern«

Diese Methode“, so Semka weiter, „war gut erkennbar bei der öffentlichen Vorabpräsentation des Museumskonzeptes im Rahmen einer Ausstellung auf dem Langen Markt in Gdańsk 2009. Dort bündelte man die Fotos des zerstörten Warschau mit denen bombardierter deutscher Städte kurzerhand zu einer Antikriegsbotschaft. Im Ausstellungskatalog des Museums, im Abschnitt „Leben unter Bomben“, finden sich auf einem Foto Menschen, die in London in der U-Bahn  Schutz vor Bomben suchen, und auf dem Bild nebenan sieht man einen deutschen Wegweiser zum Luftschutzbunker. Bei vielen Polen stöβt eine solche Gleichsetzung auf Widerspruch.“

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Publizist Piotr Semka.

Semka weist auch auf ein weiteres Problem hin. „Die Botschaft, die das Museum vermitteln soll, lautet: »Lasst uns die Geschichte Europas erzählen und mit einem positiven Schlusseffekt versehen in Gestalt der Europäischen Union als einer Garantin des dauerhaften Friedens in Europa.«

Eine solche Ausstellung“, so Semka, „hätte durchaus Sinn in dem geplanten Haus der Europäischen Geschichte in Brüssel. (…) Macht es aber einen Sinn enorme Summen polnischer Steuergelder in ein solches universelles Vorhaben zu stecken, während die Welt keine Ahnung hat von den komplizierten Vorgängen in Polen während des letzten Krieges?“

Deutsche Medien: in Polen an vorderster Front

Wie in vielen anderen innerpolnischen Angelegenheiten, so stehen auch im Feldzug  um das ursprüngliche Museums-Konzept deutsche Medien und ihre Interviewpartner geschlossen an vorderster Front.

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Historiker Bogdan Musiał.

„Es ist geradezu frappierend zu beobachten, wie groẞ in Deutschland das mediale Interesse an der Auseinandersetzung  um das Museum des Zweiten Weltkrieges in Gdańsk ist und überhaupt an den historischen Debatten in Polen. Deutsche Medien kümmern sich ansonsten herzlich wenig um die franzӧsische oder britische Geschichtspolitik, geschweige denn um die ӧsterreichische, belgische oder dänische“, schreibt der Historiker Bogdan Musial im Wochenmagazin „wSieci“ („imNetzwerk“) vom 25. Juli 2016.

Im Falle Polens jedoch, gehen die deutschen Medien von sich aus und mit den Stimmen der polnischen Kritiker auf ihrer Seite, hart ins Gericht mit den Bedenken und Änderungswünschen der im Herbst 2015 neu gewählten Entscheidungsträger. Sie treten stets wohlwissend darüber auf, wie die Polen, „als Täter“, den Zweiten Weltkrieg in ihrem Museum darzustellen haben. Beispiele sind Legion.

„Museumsstreit. Polnische Regierung schürt antideutsche Stimmung“ (Deutschlandfunk, 17. Juni 2016)

„Polen als Kollaborateure, als Täter, polnische Gewalttaten an anderen Nationen – all dies wollen die Nationalisten nicht thematisieren“.

„Danzig. Polen will Kriegsgeschichte umschreiben” (Rheinische Post, 13. Mai 2016)

„In dieses Konzept, das einer Geschichtswaschmaschine ähnelt, in der alle möglichen Flecken auf der eigenen historischen Weste möglichst entfernt werden. (…) Im Zentrum der Debatte steht dabei die Frage der „nationalen Unschuld Polens im Weltkrieg“ (…) Blutgetränkte Hemden werden (…) in Polen derzeit gewaschen. Die Regierung greift zum Fleckenentferner “.

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Polenbild vor Augen.

„Abschied von Europa“ (Süddeutsche Zeitung“, 18.Mai 2016)

„Das erinnert an Museen in Russland und Weißrussland, die der nationalen Ertüchtigung dienen sollen, indem sie Mythen in Szene setzen.“

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Deutsche Nachrichten und Berichte aus „Hitler-Polen“.

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„Strahlendes Heldentum statt europäischen Kontextes“ (FAZ, 23. Mai 2016)

„Einer in europäischen Bezügen verhafteten Schilderung des Zweiten Weltkriegs aus polnischer Perspektive, zieht man in nationaler Selbstgenügsamkeit eine Interpretation vor, die sich auf Heldentum beschränkt, dafür aber auch ohne „dunkle Flecke“ auskommt.“

„Abschied vom Museum des Zweiten Weltkriegs in Danzig?“ (WDR 5, Scala, 20. Mai 2016)

„Der polnische Kulturminister hat verlautbaren lassen, er wolle kein Museum des Zweiten Weltkrieges sondern lieber ein Museum der Verteidigung Polens vor den Deutschen 1939 haben. Mein Kollege Martin Sander ist aus Berlin zugeschaltet. Herr Sander, wie ernst ist denn diese Verlautbarung zu nehmen?“

„Ja, doch schon sehr ernst, Frau Dichter.“

Drückt also hier der deutsche Schuh? „Kollaborateure“, „Täter“, „polnische Gewalttaten“ „blutgetränkte Hemden“, „dunkle Flecke“ und die Lage ist „schon sehr ernst, Frau Dichter“, denn die Polen wollen tatsächlich so etwas Unglaubliches tun, wie ihrer Verteidigung vor den Deutschen 1939 gedenken… Dementsprechend sieht auch der deutsche Wunschentwurf von einem polnischen, „europäischen“ Museum des Zweiten Weltkrieges aus.

Komplizen dringend gesucht

Für Hunderttausende von Polen, die Juden halfen, die im Widerstand waren oder die „nur“ die gnadenlosen deutschen Bestimmungen umgingen („Schwarzhandel“), um nicht zu verhungern, waren Kollaboration, Denunziantentum  bedauerliche, traurige und zugleich lebensgefährliche Erscheinungen. Doch unter den schrecklichen Bedingungen der deutschen Besatzung Polens blieb sie eine Nebenerscheinung.

Als solche wird sie in Polen thematisiert, dargestellt, erforscht. Wer es nicht glaubt, solte sich zumindest einmal polnische Spielfilme ansehen, die die Besatzungszeit und Widerstand zum Thema haben. Seit dem ersten Film, dem 1946 gedrehten „Zakazane piosenki“ („Verbotene Lieder“), gibt es kaum einen, in dem nicht irgendwo die Gestalt des Denunzianten auftaucht, vor dem man sich in Acht nehmen muss, den es zu beseitigen gilt.

Nicht erst seit heute versuchen nicht gerade wenige deutsche Medienleute, Wissenschaftler, manchmal auch Politiker die Polen zu überreden, mitunter geradezu auch zu zwingen, aus der Nebenerscheinung Kollaboration den Dreh- und Angelpunkt der Darstellung  der Besatzungszeit in Polen zu machen. Die fieberhafte Suche nach Komplizen, der Versuch auf diese Weise der schrecklichen deutschen Einsamkeit zu entkommen, in Anbetracht der Ungeheuerlichkeiten die die Vorfahren angerichtet haben, ist nachvollziehbar,  doch akzeptieren kann man ihn nicht.

Zwar hat das von der neuen polnischen Regierung beanstandete Museumskonzept der Ausstellung in Gdańsk mit den o. e. Wunschvorstellungen deutscher Redakteure nicht viel zu tun, doch bezeichnend ist, was sie vor allem in diese Ausstellung hineininterpretieren.

Der Eindruck mag täuschen, doch er drängt sich auf. Oft haben sich dieselben Autoren vehement gegen die Relativierung der Geschichte ausgesprochen, als etwa Erika Steinbach ihr Zentrum gegen Vertreibungen in Berlin nach dem Motto einrichten wollte; „Wir Deutsche haben vertrieben, dann haben die Polen vertrieben. So ist es eben mit den Vertreibungen.“

Schwebt vielleicht nun denselben Leuten  ein „europäisches“ Museum des Zweiten Weltkrieges vor nach dem Motto: „Wir Deutsche haben Juden umgebracht, die Polen haben Juden umgebracht. So ist es eben mit dem Judenumbringen, einem im Grunde »europäischen Projekt«“?

Jedenfalls kӧnnen  deutsche Rechte anscheinend ebenso wenig wie deutsche Linke ohne „die Polen als Täter“ auskommen.

Und so entpuppt sich „die »europäische Perspektive« als eine, in den blauen Sternebanner eingewickelte, deutsche Keule“, so einer der Internetkommentare zum Thema. „Die Deutschen rücken gerne zusammen, wenn es darum geht anderen auf ihrer Anklagebank Platz zu machen“, so ein anderer.

Was will die neue Regierung vom MZW?

Nachfolgend dokumentieren wir ein Gespräch zum dem Thema mit dem polnischen Kulturminister Prof. Piotr Gliński (Jg. 1954). Er ist von Ausbildung und Beruf Soziologe, Hochschullehrer und war zwischen 2005 und 2011 Präsident der renommierten Vereinigung Polnischer Soziologen (PTS).

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Kulturminister Piotr Gliński.

Wann wird das Museum des Zweiten Weltkrieges (weiter MZW – Anm. RdP) in Gdańsk eröffnet?

Ich hoffe zu dem Zeitpunkt, zu dem es die Leitung der Einrichtung angekündigt hat, also zur Jahreswende 2016/ 2017. Ich möchte auch gleich die Öffentlichkeit beruhigen: niemand möchte dieses Museum abschaffen.

Wird die Entlassung des Museumsdirektors, Prof. Machcewicz die Eröffnung nicht verzögern?

Es sind noch keine Entscheidungen gefallen. Zurzeit beabsichtigen wir zwei Einrichtungen zusammenzuführen: das MZW mit dem Museum der Westerplatte und des Verteidigungskrieges von 1939. Es gibt keinen Grund, weshalb zwei so themenverwandte Museen getrennt voneinander in einer Stadt wirken sollten. Es lohnt sich sie zu vereinigen, umso mehr als die Einrichtung, der Prof. Machcewicz vorsteht ursprünglich Museum der Westerplatte hieβ. Erst drei Monate nach seiner Gründung wurde es in MZW umbenannt.

Durch die Zusammenlegung von zwei Einrichtungen wird eine neue entstehen, die dann einen neuen Direktor bekommt, und Prof. Machcewicz wird abberufen. Was missfällt Ihnen so an der Ausstellung, die seine Mitarbeiter vorbereitet haben?

Ich will hier nicht als Rezensent der Ausstellung auftreten. Um das uns im Januar 2016 vorgelegte Konzept zu beurteilen, habe ich drei Sachverständige berufen. Alle drei Gutachten waren verhalten kritisch. Ich möchte aber das Problem nicht allein auf die Position und Person des Direktors beschränken. Ich sage noch einmal: obwohl wir im europäischen Vergleich zu wenige Museen haben, können wir es uns nicht leisten in einer Stadt zwei getrennte und zugleich dermaβen themenverwandte Einrichtungen zu unterhalten.

Die Gutachten fielen negativ aus, doch Prof. Machcewicz wird seinen Posten allein aus wirtschaftlichen Gründen verlieren?

Die Gutachten berühren ein viel weiträumiger abgestecktes Feld. Wir sehen die Notwendigkeit Donald Tusks Geschichtspolitik zu korrigieren. In der Debatte um das MZW wird dieser Name kaum erwähnt. Doch Donald Tusk ist Urheber dieses Museums. Der jetzige MZW-Direktor Paweł Machcewicz war sechs Jahre lang offizieller Bevollmächtigter des Ministerpräsidenten für dieses Museum und setzte die Geschichtspolitik der vorherigen Regierungsmannschaft um. Doch Regierungen wechseln und mit ihnen wechseln manchmal die Konzepte, das sollte Prof. Machcewicz eigentlich wissen.

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Tusk-Adlatus und MZW-Direktor Paweł Machcewicz (links)

Was gefällt Ihnen nicht an der Geschichtspolitik der vorherigen Regierung?

Das MZW wurde 2008 ins Leben gerufen, mitten in der weltweiten Wirtschaftskrise, als für nichts Geld im Staatshaushalt vorhanden war. Tusk und seine Leute kamen immer wieder mit der Ausrede, wegen der Krise können sie ihre Wahlversprechen nicht einlösen, und plötzlich, gründen sie, in dieser Krise, das MZW? Drei Jahre später, die Krise dauerte an, bewilligten sie 360 Mio. Zloty (ca. 85 Mio. Euro – Anm. RdP) für den Bau, und schoben im letzten Jahr weitere 90 Mio. Zloty (ca. 21 Mio. Euro – Anm. RdP) nach. Zusammen mit den laufenden Kosten ergibt das eine halbe Milliarde Zloty (ca. 118 Mio. Euro – Anm. RdP)!

Sind Sie nicht der Meinung, dass das MZW ein dringendes Vorhaben ist, höchst notwendig aus Sicht der polnischen Staatsräson?

Damals sollte eigentlich, vor allem, das Museums der Polnischen Geschichte in Warschau gebaut werden, das zudem zwei Jahre früher als das MWZ ins Leben gerufen worden war. Wieso hat die vorige Regierung an einem ganz neuen Museum gebaut, während das der Polnischen Geschichte keinen Sitz hatte und bis heute obdachlos ist? Es wurde ein neues Vorhaben in Gdańsk in Angriff genommen, während es in Warschau, so könnte man durchaus meinen, ein vorrangiges Projekt gab. Es wurde ein Museum blockiert, das eine Sichtweise der Geschichte Polens vermitteln sollte, die zur Integration unserer politischen und nationalen Gemeinschaft beitragen könnte.

Welche Korrekturen sind im MZW zu erwarten?

Es geht um die Schwerpunksetzung. Wenn wir uns schon mit dem Zweiten Weltkrieg beschäftigen, dann sollte das, symbolisch umschrieben, eher die Sichtweise sein, die von der Westerplatte ausgeht. Eine Sichtweise in der die polnische Anstrengung, die polnische Leistung und die polnischen Opfer zur Geltung kommen, und nicht eine Sichtweise, die als universell, ganzheitlich bezeichnet wird.

Bitte verstehen Sie mich nicht falsch. Solche ganzheitlichen Museen sind ebenfalls notwendig. Mehr noch, ich finde den Entwurf des Teams von Prof. Machcewicz interessant.

Doch ich bin zugleich der Meinung, dass wir eine halbe Milliarde Zloty polnischer Steuergelder in erster Linie für andere, eindeutig wichtigere Ziele verwenden sollten. In diesem Fall für ein gutes und notwendiges Museum, das unsere Geschichte erzählt.

Warum war gerade der Zweite Weltkrieg für die Vorgängerregierung die wichtigste Herausforderung der Geschichtspolitik?

Ich habe diese Frage oft genug öffentlich gestellt. Sie war und ist an Donald Tusk gerichtet. Ich habe bisher keine Antwort bekommen. Es gab Andeutungen, dass es eine Antwort auf das Zentrum gegen Vertreibungen von Erika Steinbach sei. Doch, ich darf erinnern, es sollte ursprünglich ein Westerplatte-Museum sein. Es fällt mir zudem schwer zu glauben, dass die Erwiderung auf Frau Steinbachs Einrichtung eine verallgemeinernde, ganzheitliche Schilderung des Zweiten Weltkrieges sein kann, die zudem eine halbe Milliarde Zloty kostet.

Prof. Machcewicz fasst Ihre Vorwürfe so zusammen: das MZW setze die deutsche, nicht die polnische Geschichtspolitik um.

Ich habe einen solchen Vorwurf nie erhoben. Ich umschreibe sein Konzept als universell, verallgemeinernd. Wenn man den Zweiten Weltkrieg so darstellt, dass er furchtbar gewesen sei, dass alle für ihn die Verantwortung tragen, weil jede Seite irgendwo Dreck am Stecken habe, dann ist auch eine solche Beleuchtung beachtenswert. Doch zweifelsohne kann sie eine Relativierung der Verbrechen und eine Verharmlosung der Opfer nach sich ziehen, was den einen mehr, den anderen weniger zupass kommt.

Mir ist es lieber zu zeigen, dass man sogar unter den schrecklichsten Bedingungen sehr tapfere Entscheidungen treffen kann. Diese Entscheidungen darf und sollte man beurteilen. Dank einer solchen Herangehensweise bilden sich das Wertesystem und die Identität der nationalen Gemeinschaft heraus. Eine Gemeinschaft, die so etwas durchdacht und bewertet hat ist reifer, funktioniert besser und ist besser integriert, als eine Gemeinschaft die an all dem leidenschaftslos vorbeigeht. Deswegen sind einige Museen, Denkmäler, Kunstwerke notwendig, um unsere ganz und gar auβergewöhnlichen und spezifischen Erfahrungen in diesem Krieg zu verdeutlichen.

Es geht darum, dass in einer „universellen“, „europäischen“, „globalen“ Betrachtung diese unsere polnische Spezifik nicht untergehen darf. Es ist die Pflicht des polnischen Staates diese Besonderheit der polnischen Erfahrung der Auβenwelt zu vermitteln.

Wohin wollen Sie also die Schwerpunkte in der Geschichtspolitik verschieben?

Wir müssen eine Wahl treffen hinsichtlich der Werte. Es gibt Staaten, für die die Geschichte wichtig ist, weil sie sie noch nicht verarbeitet haben, weil sich ihre Identität immer noch formt. Es gibt aber auch solche die man als posthistorisch bezeichnen kann. Und es gibt Staaten die sich lieber posthistorisch geben, weil die Geschichte für sie eine zu schwere Bürde ist.

War die Geschichtspolitik der Vorgängerregierung posthistorisch?

In groβem Maβe, ja. Deswegen unterscheiden wir uns so sehr von unseren Vorgängern. Wir sind der Meinung, dass wir uns den Posthistorismus nicht leisten können. Für uns ist die universelle Sichtweise auf die Geschichte weniger wichtig. Wir wollen nicht, dass man die Geschichte verallgemeinert, relativiert und im Endeffekt banalisiert.

Die Geschichte ist Lehrmeisterin des Lebens. Sie zeigt die Entscheidungen auf, die getroffen wurden und ihre Folgen. Wir wollen darlegen, dass man das Gute vom Bösen klar unterscheiden kann, und nicht, dass es in der Geschichte nur unterschiedliche Grautöne gibt.

Für mein politisches Milieu hat die Unterscheidung zwischen Gut und Böse eine Schlüsselbedeutung. Das ist nicht immer einfach. Es gibt eine Ethik der Überzeugungen und eine Ethik der Verantwortung. Wir stellen den Heroismus der Polen, die für höhere Ideen gekämpft haben nicht auf eine Ebene mit den Fähigkeiten, derer es bedurfte um den Krieg lediglich zu überleben.

Prof. Machcewicz verteidigt sich, in dem er sagt, dass man unsere Auβergewöhnlichkeit nur zeigen kann, wenn man sie dem gegenüberstellt, wie Krieg und Widerstand in anderen Ländern ausgesehen haben.

In einem polnischen Museum des Zweiten Weltkrieges sollten wir unsere Spezifik zeigen, so wie die Briten, Israelis oder Belgier das in ihren Museen tun. Gewiss, diese Besonderheit sollte man vor dem Hintergrund der Erfahrungen anderer Völker veranschaulichen, dabei jedoch an die Proportionen denken. Daran z. B., dass der Warschauer Aufstand, der 63 Tage lang dauerte seinesgleichen sucht. Die Aufstände in Paris und Prag waren dagegen nur kurze Kriegsepisoden.

Der ausländische Besucher wird alle diese Aufstände vor Augen haben: die Zahl der Opfer, wieviel Tage sie gedauert haben, die deutschen Verbrechen in ihrem Verlauf usw. Er kann daraus seine Schlüsse ziehen.

Die Welt kennt unsere Geschichte und ihre Besonderheiten nicht. Sie weiβ nicht, dass nur im besetzten Polen auf die Hilfe für, und das Verstecken von Juden die Todesstrafe stand, und zwar für die ganze Familie, Kinder wurden dabei nicht ausgenommen. Sie weiβ nichts über die Wohlynien-Massaker, über Piaśnica/Piaschnitz, die Westerplatte u. v. m. Das wollen wir erklären und zeigen.

Ja, es sollte einen Vergleich geben, doch die polnische Erfahrung muss in einem polnischen Museum vor diesem Hintergrund hervorgehoben werden. Wenn sie mit diesem Hintergrund verschmilzt, dann geht etwas sehr wichtiges verloren in Bezug auf unsere Identität und ebenso wird die Chance vertan, anderen etwas über uns zu vermitteln.

In wieweit sollen Museen, mit deren Hilfe wir die polnische Geschichtspolitik verwirklichen wollen, uns, die Polen, ansprechen, und in wieweit sollen sie in ihrer Darstellungsweise in die europäische- und Weltgeschichte eintauchen, damit unsere Sichtweise der Dinge auch im Westen zur Geltung kommt.

Das ist, aus meiner Sicht, eine falsche Alternative. Die Ausstellungen müssen sich in gleicher Weise an Polen und an alle anderen Besucher wenden. Soweit ich es verstanden habe, fragen Sie danach, weil behauptet wird, dass eine universalistische Ausstellung für Ausländer, für z. B. Deutsche, die oft nach Gdańsk kommen, verständlicher sein wird.

Wir müssen unseren Standpunkt vertreten und uns nicht in den Posthistorismus einreihen, nur weil er in den westlichen Ländern vorherrscht. Wir dürfen aus diesem Grund nicht kapitulieren und z. B. nicht an die Konferenz von Jalta erinnern, die im Westen kaum jemand erwähnt und wo folglich kaum jemand um sie weiβ. Ohne die eigene Geschichte zu überdenken, können wir unsere Zukunft nicht bauen.

Ich unterstreiche noch einmal: ich möchte die jetzige Ausstellung weder abbauen noch vernichten. Das Team von Prof. Machcewicz hatte viele gute Ideen. Doch ich erinnere mich auch daran, dass das erste, 2008 vorgestellte Konzept zugleich äußerst ideologisch und vom polnischen Standpunkt aus gesehen sehr farblos war. Ich vertraue darauf, dass aufgrund von Nachbesserungen die Ausstellung uns hilft unsere Geschichte besser darzustellen.

Sollen wir das ganze Martyrium zeigen, wie schrecklich unsere Geschichte gewesen ist, wie wir vom bösen Westen betrogen wurden?

Ich rede nicht vom Martyrium, von der Leidensgeschichte des polnischen Volkes! Uns wird eingeredet, wir wollen nur das Leiden zeigen, Polen als Christus der Nationen, den Heldenmut usw., während wir von schwierigen Entscheidungen reden wollen, vor denen die Polen gestanden haben, vom Unterscheiden zwischen Gut und Böse, von der polnischen Spezifik. Das alles kann man in entsprechenden Proportionen verständlich machen. Wir nehmen eine Korrektur vor. Ohne das MZW aufzugeben vereinigen wir es mit dem Westerplatte-Museum, wollen die Ausstellung weiterentwickeln und verbessern. (…)

Bisher sieht es so aus, dass jede Regierungsmannschaft ihre eigene Geschichtspolitik fährt, Lehrbücher und Museen verändert. Vielleicht sollten wir gemeinsam die Prioritäten setzten?

Sie haben Recht, aber ihre Frage sollten Sie an die Vorgängerregierung und unsere politischen Konkurrenten richten. Warum gibt es bis heute in Warschau kein Museum der Polnischen Geschichte, kein Denkmal für Rittmeister Pilecki, keins für die Opfer der Smolensk-Katastrophe?

Was wollen Sie und ihre politische Umgebung tun, um gemeinsame Standards in der Geschichtspolitik zu erarbeiten?

Wir laden andere ein, sich unseren Standards anzuschlieβen. Allein anhand der Änderungen im Ausstellungskonzept des MZW sehe ich, dass diejenigen, die sich der Geschichtspolitik der Vorgängerregierung verschrieben haben, ihre Haltung ändern. Prof. Machcewicz sagt heute, dass man zu dem Ausstellungskonzept von 2008 nicht mehr zurückkehren sollte. Gut, dass er es verwirft. Die polnische Staatsräson erfordert, dass polnische Anliegen und Interessen deutlich und entschieden dargelegt werden, auch die polnische Vergangenheit.

Das alles soll jedoch geschehen, ohne den negativen Seiten der Geschichte auszuweichen. Nicht alle Polen haben sich immer vorbildlich verhalten und auch unsere Gemeinschaft war nicht immer nur heilig. Niemand kann und will das abstreiten. Dies jedoch zum Ausgangs- und Mittelpunkt der Betrachtung der polnischen Geschichte im Zweiten Weltkrieg zu machen, wie es nicht erst seit heute z. B. in Deutschland immer wieder angemahnt wird, ist eine grobe Ungehörigkeit.

Das Gespräch, das wir, mit freundlicher Genehmigung, leicht gekürzt wiedergeben, erschien in der Tageszeitung „Rzeczpospolita“ („Die Republik“) vom 6. August 2016.

RdP




Als Polengetreuer nach Dachau

Am 2. Juni 2016 starb Pfarrer Hermann Scheipers.

Bis zuletzt besuchte er deutsche Schulen, um von seinem Leben und Leiden unter den Nazis und den Kommunisten zu berichten. Gutmütig lächelnd beantwortete er Fragen der Schüler und jedes Mal erwähnte er die Namen seiner Mithäftlinge, damit sie nicht in Vergessenheit geraten. Stets brachte er auch einen Fetzen seines längsgestreiften Häftlingsanzugs mit, an dem das Zwangskennzeichen, ein rotes Dreieck angenäht war.

Über dem roten Winkel, mit dem politische Häftlinge gekennzeichnet wurden, prangte seine Lagernummer 24255. Dabei mied Scheipers von jeher tunlichst die Politik. Er widmete sich ganz und gar der Seelsorge, doch unter den Bedingungen der braunen und roten Diktaturen, die das Christentum ausrotten wollten, war genau das eine hochpolitische Angelegenheit.

Priester im Dritten Reich

Wie verstand er seine Berufung? Scheipers weigerte sich z. B. ins Priesterseminar im tiefkatholischen Münster einzutreten. „Dort gab es genug Geistliche. Ich wollte dorthin, wo Priester fehlten“. So ging Scheipers, im Jahr 1913 im münsterländischen Ochtrup geboren, ins Priesterseminar im sächsischen Meiβen, in eine Gegend, in der es nur 4 Prozent Katholiken und viel zu wenige Priester gab.

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Bischof Petrus Legge (1882-1951).

Geweiht wurde Hermann Scheipers 1937 von Bischof Petrus Legge, der kurz zuvor in seine Diözese zurückkehren durfte. Die Nazis hatten den „Volksschädling“ Legge 1935 wegen „fahrlässiger Devisengeschäfte“ zu einer hohen Geldstrafe verurteilt und zwei Jahre lang an der Ausübung seines Bischofsamtes gehindert.

Schnell wurden die braunen Dienststellen auf den jungen Pfarrer aufmerksam. Seine erste Pfarrei war in Wermsdorf in Sachsen. Sie umfasste etwa 150 Dörfer, in denen verstreut einzelne Katholiken lebten. Scheipers fuhr zu ihnen mit einem Wagen, den man ihm im Herbst 1939 beschlagnahmte, weil Scheipers diesen “zur Verbreitung einer dem Nationalsozialismus feindlich gesinnten Weltanschauung“ benutze.

1938 organisierte Scheipers in Wermsdorf ein illegales Treffen des katholischen Quickborn-Jugendverbandes, das von der Gestapo aufgelöst wurde. Ab diesem Zeitpunkt wurde eine Akte über ihn angelegt, Spitzel überwachten ihn auf Schritt und Tritt.

Keine Untermenschen

Schon bald nach dem deutschen Überfall auf Polen am 1. September 1939 wurden polnische Zwangsarbeiter in die Gegend von Wermsdorf gebracht. „Sie waren schlecht untergebracht, bekamen sehr schlechtes Essen, wurden schlecht behandelt, mussten von früh bis spät schufteten, durften ihr Barackenlager in Mahles nicht verlassen, auch nicht am Sonntag, zur heiligen Messe“, berichtete Scheipers in einem Interview.

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Polnische Zwangsarbeiter. Schlecht untergebracht, schlecht verpflegt, schlecht behandelt.

„Ich habe mir damals gesagt: das sind keine Untermenschen, sie sind genauso Gotteskinder, wie die Deutschen. Wenn sie nicht zu mir dürfen, dann gehe ich eben zu ihnen, um den Gottesdienst zu feiern. Ich sprach kein Polnisch, aber ich hatte dort einen guten Übersetzer.“

Sein Mut wurde ihm zum Verhängnis. Am 4. Oktober 1940 kam die Gestapo. In der Begründung des Haftbefehls hieβ es: „Scheipers gefährdet die Sicherheit von Staat und Volk durch seinen freundlichen Umgang mit Vertretern einer feindlichen Nation“.

Das Grauen von Dachau

“Beim ersten Lagerappell in Dachau“, erinnerte sich Scheipers später, „wollte der SS-Mann wissen, warum ich hier sei. Ich habe geantwortet: »Wegen freundschaftlichen Umgangs mit Polen.« Daraufhin fragte der Wachmann: »Und wie alt war das Mädchen?«“

Priester wurden überwiegend in das Konzentrationslager im bayerischen Dachau eingewiesen. Im sogenannten Priesterblock waren 2720 katholische, evangelische und orthodoxe Geistliche aus ganz Europa untergebracht. 1780 von ihnen waren Polen. 1034 Geistliche überlebten Dachau nicht, davon stammten 868 aus Polen. Mehr dazu lesen Sie bitte hier.

Scheipers blieb in Dachau bis Ende April 1945, als es ihm gelang im Durcheinander der letzten Kriegstage zu flüchten. Seitdem legte er unermüdlich Zeugnis ab vom Grauen, das er selbst erlebt hatte und das er mitansehen musste.

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Pfarrer Alois Anditzki (1914-1943).

Anfang 1943 lag er zusammen mit dem sorbischen Priester Alois Andritzki in der Baracke für Typhuskranke. Im Sterben liegend, bat Andritzki einen Häftlingspfleger, ihm einen Priester zum Spenden der Heiligen Kommunion zu rufen und wurde von diesem mit den Worten: „Christus will er? Eine Spritze kriegt er!“ durch eine Giftinjektion getötet. Das berichtete Scheipers bei dem im Juli 1998 eröffneten Seligsprechungsprozess Andritzkis.

Den Roten ein Dorn im Auge

Nach dem Krieg kehrte Scheipers umgehend nach Sachsen zurück und wurde Gemeindepfarrer in Wilsdruff. Dort gelang es ihm 1953 tatsächlich bei den Behörden die Baugenehmigung für eine neue Kirche zu erwirken, die den Namen des Hl. Papstes Pius X. trägt. Es war das erste neu errichtete katholische Gotteshaus in der DDR und für lange Jahre auch das letzte.

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Kirche in Wilsdruff.

Vor allem die Jugendarbeit des rührigen Pfarrers war den roten Behörden, wie Jahre zuvor bereits den braunen, ein Dorn im Auge. Als er Anfang der 90er Jahre in seine Stasiakte einsah, erfuhr er, dass man ihm in den 60er Jahren den Prozess wegen „staatsfeindlicher Betätigung“ machen wollte. Fünfzehn Stasi-IMs wurden angesetzt, um ihn auszuhorchen.

In Anerkennung seiner Verdienste für Polen zeichnete ihn 2013 Staatspräsident Bronisław Komorowski mit dem Kavalierskreuz des Verdienstordens der Republik Polen aus.

Hermann Scheipers starb im Alter von 102 Jahren als letzter lebender Priesterhäftling von Dachau. Er war dorthin gelangt, weil er als deutscher Pfarrer seinen polnischen Glaubensbrüdern als Seelsorger dienen wollte.

© RdP




Obama von Słupsk und die falsche Hexe

Wenn Kirchenfeindschaft den Verstand trübt.

Es sollte ein historischer Akt der Gerechtigkeit sein und zugleich eine saftige Ohrfeige für die katholische Kirche. Robert Biedroń, Bürgermeister von Słupsk/Stolp, hatte beschlossen „eine Frau, ein Opfer der katholischen Inquisition“, die in seiner Stadt „auf dem Scheiterhaufen endete“ zu rehabilitieren, und einen Kreisel nach ihr zu benennen.

Seit den letzten Kommunalwahlen im November 2014 regiert Robert Biedroń (Jahrgang 1976), der seine Homosexualität offen lebt und als sein politisches Markenzeichen führt, die neunzigtausend Einwohner zählende Kreisstadt Słupsk/Stolp nahe der Ostseeküste. In Polen selbst hat sein Wahlsieg für weit weniger Aufregung gesorgt als z.B. in den deutschsprachigen Medien, wo Biedrońs Einzug in die Kommunalpolitik als ein kolossaler Triumph des Fortschritts in dem stets „konservativen“, „erzkatholischen“, „intoleranten“ und „verstaubten“ Polen dargestellt wurde.

Mit seinem Auftreten und den enormen Hoffnungen, die er zu entfesseln vermochte, hat er sich in den Boulevardmedien den Beinamen „Obama von Słupsk“ eigehandelt.

Über Biedrońs politische Karriere und die Gründe für seinen Wahlsieg, lesen Sie bitte ausführlich hier.

Skandalnudel bleibt Skandalnudel

Eigentlich, so hieβ es gleich nach seiner Wahl zum Bürgermeister, Ende 2014, habe Biedroń einen Reifungsprozess durchgemacht, sich von der „Skandalnudel“ in einen fleiβigen, ernstzunehmenden Politiker verwandelt. Nach knapp zwei Jahren im Amt nehmen sich Biedrońs Erfolge bei der Sanierung der hochverschuldeten Stadt jedoch eher dürftig aus. Auch die von ihm versprochene Belebung der sündhaft teuren Investitionsruine eines Aquaparks, die ihm sein Vorgänger hinterlassen hatte, ist längst noch nicht erfolgt. Biedroń wiedźma papież 1 fot.

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Das Amtszimmer des Bürgermeisters von Słupsk mit Papstbild ohne Biedroń (oben) und mit Biedroń (unten rechts) ohne Papstblid.

Der vermeintliche Sieg des Fortschritts ging in Biedrońs Fall nicht automatisch einher mit einem Triumph der Vernunft. In die Schlagzeilen gerät der Bürgermeister regelmäβig lediglich dank seines leeren Aktionismus, seiner kleinen und gröβeren Provokationen, für die er in seiner Anfangszeit als Warschauer Sejm-Politiker auch schon bekannt war. Viele Menschen stöβt das ab, viele klatschen ihm aber auch Beifall, zieht doch wenigstens auf diese Weise, die ansonsten vergessene Provinzstadt, die Aufmerksamkeit der Medien auf sich.

Nachfolgend einige Schlagzeilen.

April 2015. „Biedroń gesteht im TV! Ich bin immer weniger kompetent in Sex-Fragen. Bin 39 und fange langsam an zu vergessen was Sex ist.“

Juni 2015. „Biedroń wirft Portrait Johannes Paul II. aus seinem Amtszimmer weg.“ Der heiliggesprochene Papst ist Ehrenbürger der Stadt. Das so entsorgte Bild wurde anschließend feierlich in der Słupsker Marienkirche aufgehängt.

September 2015. Biedroń verfügt „Allgemeine Erfassung aller Kruzifixe in Schulklassen und Kindergärten in Słupsk. Eltern befürchten ein Verbot.“ Ein erzwungenes Abhängen fand nicht statt.

September 2015. „Biedroń will neue Straβen ausschließlich nach Frauen benennen. Männeranteil ist bereits viel zu hoch“. Die Medien berichten darüber groß und breit, es blieb aber alles beim Alten.

Dezember 2015. „Biedroń verbietet Weihnachtsbaum und Weihnachtsschmuck vor dem Rathaus.“ Nach Protesten lieβ er sich doch noch umstimmen.

Dezember 2015. Für Biedroń ist „Weihnachten nur ein verlängertes Wochenende“.

Februar 2016. „Biedroń stellt sich hinter Wałęsa“, als der Ende 2015 endgültig seiner bezahlten Spitzeltätigkeit für die polnische Stasi Anfang der 70er Jahre überführt wurde.

Februar 2016. „Biedrońs Skandal-Interview“ im Fernsehen. „Wenn man gut im Bett ist, dann muss man ein wenig herumhuren. Wenn man aber Politiker ist, dann muss man das unbedingt tun.“

Mai 2016. „Biedroń will ausdrücklich kommunistische Straβen-Namensgeber in Słupsk beibehalten“.

Biedroń setzt auf Provokation und Polarisierung, und nicht selten sind dabei Unwissenheit und Verblendung seine Wegweiser. So wie jüngst bei der „Rehabilitierung“ von Trina Papistin, die als Hexe 1701 in Stolp verbrannt wurde.

Doch nicht „unsere“ Hexe

„Es soll die Wiederherstellung der Ehre eines Opfers der römisch-katholischen Kirche sein, es soll zeigen, wie auch die Kirche Frauen gequält hat. Wir wollen, dass „unsere“ Hexe nicht vergessen wird, und wollen laut kundtun, wie man Frauen, auch in unserem Land, behandelt hat“, hieβ es auf der offiziellen Internetseite der Stadt.

Inzwischen wurde die Eintragung gelöscht. Zu groβ war die Blamage.

Biedroń wiedźmy fot. 1 Trina war der Kosename von Katherina, eigentlich Katarzyna, denn Trina war Polin und verheiratet mit dem Kaschuben Martin (Marcin) Nipkow. Sie wurde Papistin genannt, weil sie katholisch war. Nach Nipkows Tod heiratete sie den Metzger Andreas Zimmermann.

Trina trug damals ihr Katholischsein so offen zur Schau, „wie Biedroń heute seine Homosexualität“, schrieb ein Regionalhistoriker, als der stets auftrumpfende Biedroń seiner Ignoranz überführt wurde. Das damalige Stolp war, bis auf wenige Ausnahmen, zu denen Trina gehörte, rein protestantisch. Und das Land, in dem sie ermordet wurde, war nicht „unser Land“ sondern hieβ Preuβen. Polnisch wurde Stolp erst 1945, also 244 Jahre nach Trinas Verbrennung.

Trina, als „Papistin“ verspottet, war eine ausgewiesene Heilkräuterkennerin, die oft um Hilfe gebeten wurde. Das konnte den örtlichen Quacksalbern und Apothekern gar nicht gefallen. Und es war tatsächlich der Apotheker Zienecker, der am 4. Mai 1701 beim Stolper Magistrat gegen Katherina Zimmermann, früher Nipkow, genannt Trina Papistin, Beschwerde wegen Hexerei einlegte.

Und so nahm das Unheil seinen Lauf. Stadtrat Holz wandte sich an die Juristische Fakultät der protestantischen Universität Rostock, die im Juli 1701 das Martern einer Katholikin als rechtens befand. Eine der ältesten Universitäten Deutschlands, und nicht die katholische Heilige Inquisition, brachte daher Trina, die vermeintliche Hexe, auf den Scheiterhaufen.

Biedroń wiedźmy fot. 2 Am 11. August 1701 begann das Foltern. Trinas Extremitäten wurden in einen Stock geklemmt, mittels Schraubstöcken brach man ihr die Beine und Arme. Sie gestand, widerrief, wurde daraufhin, einige Tage später, mit glühenden Eisen traktiert, blieb nunmehr jedoch standhaft bis an ihr Ende. Am 30. August 1701 starb sie auf dem Scheiterhaufen, zurück blieben ihr Ehemann und die Kinder.

Die Kirche hat zu danken

Einen Rückzieher konnte sich Biedroń nicht erlauben. Am 29. Juni 2016 fasste der 24-köpfige Stadtrat von Słupsk einen Beschluss über die Benennung von elf Kreiseln im Verlauf der neuen Umgehungsstraβe, die den Stadtkern entlasten soll. Auf diese Weise kam eine polnische, katholische Märtyrerin in Słupsk posthum zu Berühmtheit und Ehren.

Stadtpräsident Biedroń machte gute Miene zum unerwarteten Ausgang seiner Aktion. Dass sich der örtliche Bischof ausdrücklich bei ihm bedankte und erwägt, wie es heiβt, zum Todestag der Märtyrerin am Kreisel eine groβe heilige Messe zu feiern, war so nicht geplant.

Vor Ignoranz und ihren Folgen schützt auch der angeblich so rationale Atheismus offensichtlich nicht.

© RdP




Polen – EU. Versuch einer Bestandsaufnahme

Prof. Marek Cichocki und Janusz Tycner diskutieren unmittelbar vor dem britischen EU-Referendum über das Verhältnis Polens und der Polen zur EU und zur europäischen Intergration.
Wie steht die polnische Regierung zum Brexit?
Was für ein Europa schwebt den Regierenden in Warschau vor?
Wo beginnt und wo endet die Europabegeisterung der Polen?
Nicht die EU-Gelder, sondern der freie europäische Markt, die Investitions- und Niederlassungsfreiheit, gepaart mit harter Arbeit der Polen machen der Erfolg des Landes seit dem EU-Beitritt aus.
Die mythischen EU-Gelder und die Wirklichkeit einmal nachgerechnet.
Tusk: „EU-Geld ausgeben“, Kaczyński: „EU-Geld investieren“.
Die Mehrheit der Polen teilt die Meinung der Regierung: keine Euro-Währung in absehbarer Zeit.
Die EU-Osterweiterung von 2004 nach zwölf Jahren rückwirkend betrachtet.
Statt noch mehr Zentralisierung, Angleichung und Brüsseler Befugnisse, braucht die EU eine Pause zum Nachdenken wie es weiter gehen soll.




Blanke Ostflanke

Die Verwundbarkeit der Nato im Baltikum und in Polen.

In der russischen Enklave Kaliningrad und in den russischen Gebieten, die unmittelbar an Lettland und Estland grenzen, befinden sich heute die gröβten Truppenansammlungen innerhalb Europas. Die militärische Schwäche der Nato in dieser Region und eine enorme bewaffnete Überlegenheit Russlands, laden Moskau regelrecht zu einem Vorstoβ ein.

Nachfolgend dokumentieren wir groβe Auszüge eines Artikels, der in der Wochenzeitung „Gazeta Polska“ („Polnische Zeitung“) vom 24. April 2016 erschienen ist.

Wschodnia flanka emblemat szczytu
Die Probleme der Ostflanke sind Thema des Nato-Gipfeltreffens in Warschau am 8.-9.Juli 2016.

Die russische Übermacht äuβert sich vor allem in der Fähigkeit, aus dem Stand, zeitlich und räumlich begrenzte, unvermutete Blitzangriffe vornehmen zu können. Ein solcher Überfall auf Nato-Gebiet würde nicht unbeantwortet bleiben. Der Kreml kann jedoch dabei davon ausgehen, dass eine Erwiderung der Nato so viel Zeit in Anspruch nehmen wird, dass sich das Bündnis am Ende vor vollendete Tatsachen gestellt sehen könnte.

Widerstand der Liliputaner

Durchaus vorstellbar wäre, dass die Russen innerhalb von 72 Stunden die drei baltischen Staaten überrollen, und dann der Nato mit dem Einsatz von Atomwaffen drohen, sollte das Bündnis den Versuch wagen die besetzten Gebiete zurückzuerobern. Friedensbewegte Massenproteste in Westeuropa, vor allem in Deutschland, lautstarke Appelle „vernünftiger“ Politiker und Medien „mit Russland zu reden“ und „Russland zu verstehen“ könnten das Schicksal des wieder einmal von Russland besetzten Baltikums schnell besiegeln.

Wschodnia flanka Nato mapa
Die Nato-Ostflanke

Insgesamt können die drei baltischen Staaten: Estland, Lettland und Litauen für den Kriegsfall vier bis fünf reguläre Brigaden (etwa 30.000 Mann) aufbieten, unterstützt von der Territorialverteidigung. Es handelt sich hierbei ausnahmslos um leichte Infanterie, fast gänzlich ohne schweres Gerät. Eine eigene Luftwaffe haben die Balten, bis auf einige wenige lettische Hubschrauber sowjetischer Bauart, nicht. Ihre Flugabwehr besteht aus tragbaren Singer- und Mistral-Raketen, geeignet um Luftziele in geringen Höhen abzuschieβen.

Die Seestreitkräfte bestehen aus einigen wenigen Minensuch- und kleinen Patrouillenbooten. Weder die in der letzten Zeit angeschafften 90 Schützenpanzerwagen der estnischen Armee noch die neuen leichten Panzerhaubitzen der lettischen Streitkräfte könnten der erdrückenden russischen Übermacht etwas anhaben.

Polen einsam an vorderster Front

Eine Schlüsselrolle im Nato-Ostseeraum spielt Polen. Seine Landstreitkräfte bestehen aus drei Divisionen mit u. a. zehn voll ausgerüsteten Infanteriebrigaden. Das Land verfügt, nach der Türkei, über die meisten Panzer unter den europäischen Nato-Staaten. Es handelt sich dabei überwiegend um deutsche Leopard-Panzer. Ein Teil stammt jedoch noch aus der Zeit des Warschauer Paktes, wurde aber, soweit möglich, aufwendig auf den neusten Stand gebracht.

Die neue Regierung unter Frau Beata Szydło ist inzwischen emsig dabei, die Versäumnisse ihrer Vorgänger abzuarbeiten. Eine Freiwilligen-Territorialarmee wird aufgebaut. Truppenstandorte vom Westen des Landes (ein Überbleibsel aus der Epoche des Warschauer Paktes) werden in den, bis jetzt fast wehrlosen, Osten des Landes verlegt. Eine zahlenmäβige Aufstockung der Streitkräfte ist im Gange.

Doch seine geographische Lage dürfte es Polen kaum erlauben, den drei baltischen Staaten zur Hilfe zu kommen. Wie eine geballte Faust schwebt die russische Enklave Kaliningrad über dem Land, und im Osten erstreckt sich das mit Russland militärisch eng verwobene Weiβrussland. Polen hätte groβe Mühe das eigene Territorium zu verteidigen.

Wschodnia flanka Suwałki

Warschau liegt nur knapp 300 Kilometer von den Ausgangsstellungen des potentiellen Angreifers entfernt und wäre schnell Ziel eines starken russischen Zangenangriffs von Norden (Kaliningrad) und Osten (Weiβrussland), der die polnischen Streitkräfte im Raum der sog. Suwalki-Lücke umgehend von der polnisch-litauischen Grenze abschneiden würde.

Nato mit Lupe suchen

Die ständige militärische Anwesenheit der Nato in und an der Ostsee blieb seit dem Nato-Beitritt der drei baltischen Staaten im Jahr 2002 auf ein absolutes Minimum beschränkt. Im Rahmen der s.g. Baltic Air Policing Mission überwachen vier in Litauen stationierte Jagdflugzeuge jeweils eines Nato-Landes drei bis vier Monate lang den Luftraum über dem Baltikum. Anschlieβend wird an ein anderes Nato-Land, das über Luftstreitkräfte verfügt, übergeben. Seit Mai 2014 sind auch in Estland abwechselnd vier Nato-Flugzeuge stationiert.

Gröβere Verbände von Nato-Schiffen erscheinen in der Ostsee nur selten zu Übungen.

In Polen und im Baltikum sind, nach dem Rotationsprinzip, einige Kompanien der US-Army stationiert. Ihre Anwesenheit soll die Hemmschwelle für einen eventuellen russischen Angriff deutlich erhöhen. Obwohl rein symbolisch, garantiert die US-Präsenz eine sofortige Einbeziehung der USA in einen von Russland angezettelten Konflikt.

Erst jetzt werden in Polen und im Baltikum erste Geräte- und Vorratslager für amerikanische Truppen, die im Ernstfall zur Hilfe kommen sollen, angelegt.

Im Kriegsfall hat die „Einsatzgruppe mit sehr hoher Einsatzbereitschaft“ (VJTF) der Nato 48 Stunden um zu reagieren. Ihr zur Seite sollen kleine Einheiten von Spezialkräften, sowie sehr beschränkte Luftwaffen- und Marinekontingente stehen.

Weiteren vorgesehenen Entsatztruppen bleiben sieben Tage Zeit. Das Problem besteht darin, dass innerhalb der beiden Fristen (zwei bzw. sieben Tage) die genannten Nato-Streitkräfte ihre Einsatzfähigkeit erreichen sollen. Vor Ort erscheinen würden sie erst danach, und das nur, wenn alle 28 Nato-Regierungen dem Einsatz zugestimmt haben. Und das kann dauern.

Die besetzen baltischen Staaten können also im Ernstfall nur auf die schnelle Reaktion der USA zählen. Hierfür bestimmt ist die 82. Luftlandedivision in Fort Bragg/South Carolina. Ein Bataillon dieser Einheit kann innerhalb von 18 Stunden an jedem Ort in der Welt landen, die ganze Division, mit Ausrüstung, spätestens nach 96 Stunden.

Es soll nach Westen gehen

Seit einigen Jahren modernisieren und bauen die Russen ihre Streitkräfte im Westen des Landes sehr zügig aus und sind dadurch, im Ostseeraum, der Nato konventionell weit überlegen.
Die Veränderungen begannen bereits in der Amtszeit des vorherigen Verteidigungsministers Anatolij Serdjukow (2007-2012) und werden unter seinem Nachfolger Sergei Schoigu mit noch mehr Nachdruck fortgesetzt.

Viele kleine, oft heruntergekommene Standorte wurden geschlossen, verbliebene hat man aufwendig modernisiert. Wo früher oft die Hälfte, und mehr, des Personals fehlte, ist heute die volle Sollstärke vorhanden. Neue Standorte und Einheiten sind entstanden.

Seit 2010 existiert der Westliche Wehrkreis. Es ist der gröβte von vier Wehrkreisen, in die Russland aufgeteilt wurde. Er erstreckt sich von der Arktis bis zur Ukraine und vom Ural bis zur Ostsee. Seine Kommandozentrale befindet sich in St. Petersburg. Ihm unterstellt sind drei Armeen, eine ganze Reihe weiterer selbständiger Bodentruppeneinheiten, die Baltische- und die Nordmeerflotte, erhebliche Luftlande- und Luftabwehrkräfte sowie strategische Atomraketeneinheiten.

Zu den beweglichsten Einheiten gehören drei Luftlandedivisionen und drei Brigaden SpezNas-Sondertruppen des russischen militärischen Nachrichtendienstes GRU, die gegnerische Befehlszentralen und wichtige Anlagen im Hinterland des Gegners im Handstreich besetzten oder vernichten sollen.
Ihnen zur Seite stehen eine Flotte von Transport- und Kampfflugzeugen und starke Luftabwehreinheiten. Schnell auf groβe Entfernungen verlegbar, wären diese Kräfte geeignet die Vorhut eines Überraschungsangriffs auf die baltischen Staaten zu bilden.

Eine zweite Welle würde, wie bereits erwähnt, aus den drei  Armeen bestehen, von denen zwei inzwischen bereits voll einsatzfähig sind und eine sich im Aufbau befindet.

Das Kommando der 6. Armee befindet sich in St. Petersburg. Die Kräfte der 6. Armee sind im Osteeraum entlang der Grenze zu Lettland, Estland und Finnland verteilt: in der Nähe von Pskow, um St. Petersburg und auf der Karelischen Landenge.

Die 1. Panzerarmee mit Kommando in Moskau, besteht u. a. aus zwei Elite-Einheiten: die 4. Kantemirow-Division und die 2. Taman-Division. Sie sollen im Ernstfall über Weiβrussland auf Polen, Litauen und die Nord-Ukraine vorstoβen.

Die 20. Armee mit Kommando in Woronesch wird neu aufgestellt. Sie soll über weniger Panzer, dafür mehr leichte Kampffahrzeuge verfügen.

Die 1. und die 20. Armee sollen bevorzugt mit dem modernsten Kampfpanzer T-14 Armata und dem neuentwickelten Schützenpanzer T-15 Kurganez beliefert werden.

Der unsinkbare „Flugzeugträger“ Kaliningrad

Eine sehr groβe strategische Bedeutung hat die Gegenwart Russlands an der Pregelmündung.

Der wichtigste Marinestützpunkt der Baltischen Flotte befindet sich in Baltijsk/Pillau. Hier liegen die meisten der fünfzig Schiffe dieses Verbandes vor Anker (darunter zwei Zerstörer, zwei Fregatten, drei Korvetten und zwei U-Boote vom Typ Projekt 877 Heilbutt). Sehr wichtig für eventuelle Angriffsoperationen sind die vier groβen Landungsschiffe der Ropucha-Klasse und die zwei gröβten Luftkissenlandungsboote der Welt vom Typ „Wisent“, die jeweils bis zu 140 Soldaten und 30 Tonnen Fracht befördern können. Dem Kommando der Baltischen Flotte untersteht auch eine nicht kleine Anzahl von Flugzeugen des Typs Su-24, Su-27, An-26, Mi-24, Mi-8 und Ka-27.

Bałtyk mapa

Die Baltische Flotte Russlands hat zwei Aufgaben zu erfüllen. Zum einen soll sie die Kaliningrader Enklave verteidigen und die Seeverbindungen nach St. Petersburg schützen. Zum anderen soll sie die baltischen Staaten und Polen von der See her abriegeln, indem sie vom Finnischen Meerbusen, den Alandinseln, der Insel Gotland bis hin zur Südküste der Ostsee operiert.

Die russische Flotte verfügt in der Ostsee über eine enorme Übermacht. Die baltischen Staaten haben keine Seestreitkräfte. Die polnische Marine, in die seit dem Ende des Kommunismus kaum investiert wurde, ist heute praktisch kampfunfähig. Die Finnen beschränken sich auf die Küstenverteidigung, die sie allerdings mit modernen Schiffen bewerkstelligen. Schweden hat seine einst sehr starke Marine weitgehend abgeschafft. Die deutsche Marine, nur im äuβersten westlichen Winkel der Ostsee präsent und zu offensiven Operationen ohnehin kaum fähig, hätte vor allem mit dem eigenen Küstenschutz und der Sicherung der dänischen Meerengen alle Hände voll zu tun.

Im Kaliningrader Gebiet sind drei Bodentruppeneinheiten stationiert: die 336. Marineinfanteriebrigade in Bakltijsk/Pillau, die 79. Motorisierte Infanteriebrigade in Gusew/Gumbinnen und das 7. Motorisierte Infanterieregiment in Kaliningrad.

Warschau in 12 Minuten vernichtet

In Tscherniachowsk/Insterburg hat die 152. Garde-Raketenbrigade ihren Standort. Sie ist mit Totschka-U-Gefechtsfeld-Kurzstreckenraketen (70 – 120 Kilometer Reichweite) ausgerüstet. Das System, auf geländegängigen Lastkraftwagen installiert, ist hochbeweglich und schnell verlegbar. Die kürzeste Zeit zwischen voller Fahrt, anhalten und dem Raketenstart beträgt nur fünf Minuten. Jedes Fahrzeug ist mit einer Rakete ausgestattet, die mit unterschiedlichen, auch atomaren, Gefechtsköpfen bestückt werden kann, deren Sprengkraft bis zu 200 Kilotonnen beträgt (die Hiroshima-Atombombe hatte eine Sprengkraft von 15 Kilotonnen).

Das Totschka-U-System kann kurzfristig durch das Iskander-M-System ersetzt werden, wodurch sich die Reichweite der Atomraketen auf bis zu 700 Kilometer erhöht. Eine Iskander-Atomrakete, abgeschossen in einem soeben angefahrenen Waldstück des Kaliningrader Gebietes, erreicht Warschau innerhalb von 12 Minuten und ist praktisch nicht abzuwehren.

Die Tscherniachowsker-Raketenbrigade verfügt auch über die S-300 Antaios und S-400 Triumph, mobile, allwettertauglichen Langstrecken-Boden-Luft-Lenkwaffensysteme zur Bekämpfung von Kampfflugzeugen, Marschflugkörpern sowie ballistischen Kurz- und Mittelstreckenraketen. Damit beherrschen die Russen den gesamten Luftraum zwischen Süd-Lettland und Nord-Polen.

Ein wichtiger Bestandteil des kompletten Systems ist die in Pionerski/Neukuhren gebaute gewaltige Radarstation Woronesch-DM, die ein Gebiet von 10.000 Quadratkilometern überwacht.
Insgesamt sind im Kaliningrader Gebiet bis zu 15.000 Soldaten stationiert. Diese Zahl kann kurzfristig beachtlich erhöht werden. In vier groβen Vorratslagern werden Waffen und Ausrüstung für bis zu 20.000 Mann vorgehalten.

Von Pskow bis Lida

Kräfte die für den Angriff auf Lettland und Estland vorgesehen sind, wurden in der Gegend von Pskow zusammengezogen. Pskow selbst ist Sitz der 76. Garde Luftsturmdivision. Diese Eliteeinheit, deren Soldaten in der Ukraine und in Syrien im Einsatz waren, besteht aus zwei Luftsturmregimentern und allen notwendigen Unterstützungseinheiten. Insgesamt 7.000 Fallschirmjäger. Ebenfalls in Pskow stationiert ist die 2. Selbständige SpezNaz-Spezialtruppenbrigade.

Ungefähr 50 Kilometer südlich von Pskow, in Ostrow wurde im Sommer 2013 die 15. Armee-Fliegerbrigade gebildet. Sie verfügt über knapp einhundert Kampfhubschrauber Mi-28N Nachtjäger und Ka-52 Alligator, dazu einige Dutzend Transporthubschrauber Mi-8MTV-5 und Mi-26T. Eine Stunde Flug trennt sie von Riga. Sie fliegen zu niedrig, um von der lettischen Luftraumüberwachung entdeckt zu werden.

Ein ähnlicher Kampfhubschrauber-Standort entsteht in Puschkin, 25 Kilometer südlich von St. Petersburg.

In unmittelbarer Nachbarschaft der estnischen Grenze entstand 2009 eine völlig neue Einheit, die 25. Motorisierte Infanteriebrigade in Wladimirski Lager. In Luga, 140 Kilometer südlich von St. Petersburg, sind die 9. Artilleriebrigade und die 26. Raketenbrigade beheimatet. Letztere wurde ganz und gar auf mobile Iskander-M-Abschusssysteme umgestellt. Das Bild einer durch und durch militarisierten Region an der estnischen Grenze wird ergänzt durch die 138. Motorisierte Infanteriebrigade in Kamenka bei St. Petersburg. Hinzu kommt der Luftstützpunkt in Lewaschow und die um St. Petersburg herum stationierten S-400 Luftabwehrraketen.

Weiβrussland kann Moskau nicht „Nein“ sagen

Eine besondere Bedeutung spielt Weiβrussland. Es ist an Russland durch einen Unionsvertrag gebunden. Die Luftverteidigungssysteme beider Staaten bilden eine Einheit und halten regelmäβig umfangreiche gemeinsame Übungen ab.
Im Ernstfall wäre Weiβrussland nicht in der Lage Russland die Nutzung seines Luftraums und Territoriums zu verbieten. Im Sommer 2013 begann Russland mit der Stationierung von Su-27M3-Jagdflugzeugen im Luftwaffenstützpunkt Lida, unweit der litauischen Grenze. Ein weiteres russisches Geschwader wird bald ins benachbarte Baranowitschi verlegt.

Zwar versucht Staatspräsident Lukaschenka zu lavieren, aber im Ernstfall, davon gehen westliche Planer fest aus, werden die weiβrussischen Streitkräfte an russischer Seite in den Kampf ziehen. Die weiβrussische Luftwaffe zählt 100 Kampfflugzeuge und 20 Kampfhubschrauber. Die Landstreitkräfte bestehen aus drei mechanisierten Infanteriebrigaden, zwei Luftlandebrigaden und einer Brigade Spezialtruppen.

Das Kriegsszenario

Die meisten Fachleute gehen davon aus, dass ein Krieg Russlands gegen die baltischen Staaten mit Provokationen seitens der russischen Minderheiten in Estland (30 Prozent der Bevölkerung) und Lettland (26 Prozent) beginnen würde. Ein Aufruhr in diesen Staaten könnte Moskau als Vorwand dienen unmittelbar einzugreifen. Wahrscheinlich kämen am Anfang, als ortsansässige „Partisanen“ getarnt, „grüne Männchen“, kleine russische Spezialeinheiten ohne Abzeichen, zum Einsatz. Danach reguläre Truppen.

Der Angriff auf Litauen, wo keine nennenswerte russische Minderheit lebt, könnte der schnellen Errichtung eines Landkorridors zwischen Weiβrussland und dem Kaliningrader Gebiet dienen.

Generell würde Russland schnell vollendete Tatsachen schaffen wollen, und die Nato durch die Androhung eines Atomwaffeneinsatzes vom Handeln abzuhalten versuchen. Deswegen ist in den russischen Plänen ein völliges Abschneiden des Baltikums von der Auβenwelt vorgesehen: durch den „Riegel“ zwischen Kaliningrad und Weiβrussland, die Seeblockade und die volle Kontrolle über den Luftraum, wozu sich die mobilen S-300 und S-400 Luftabwehrraketen sehr gut eignen.

Zusammenfassend kann man davon ausgehen, dass der russische Angriff, nach einer kurzen „grüne-Männchen-Episode“, mit einem von Weiβrussland ausgehenden Vorstoβ zur Schaffung einer Landbrücke nach Kaliningrad beginnen würde. Gleichzeitig würde ein von Kaliningrad und Weiβrussland aus vorgenommener Zangenangriff in Richtung Warschau beginnen, um polnische Truppen möglichst hinter die Weichsel zurückzudrängen. Mit massiven Luftlandeoperationen würden die Russen zeitgleich Lettland und Estland einzunehmen versuchen.

Danach würde Moskau mit Atombombendrohungen und Gesprächsangeboten die westliche Öffentlichkeit zum Einlenken und zur „realistischen“ Anerkennung vollendeter Tatsachen zu überreden versuchen.

„Faut-il mourir pour Riga?“

„Faut-il mourir pour Dantzig?“ – „Muss man für Danzig sterben?“ lautete der Titel eines Artikel, den der französische Sozialist und spätere Faschist Marcel Déat am 4. Mai 1939 in der Pariser Zeitung „L’Œuvre“ veröffentlicht hat. „Pourquoi mourir pour Dantzig?“ wurde damals sofort zu einem wichtigen Schlagwort in der französischen und britischen politischen Debatte.

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Deat-Artikel mit Deat-Foto. „Muss man für Danzig sterben?“

Dahinter verbarg sich der Aufruf, die französischen und britischen Beistandsgarantien für Polen nicht einzuhalten. Sie sahen vor, dass die Westalliierten spätestens zwei Wochen nach dem Angriff auf Polen im Westen die Kampfhandlungen gegen Deutschland eröffnen. Nach Déats Motto wurde das einsam kämpfende Polen im September 1939 Hitler und Stalin überlassen. Neun Monate später waren die Deutschen in Paris, und wegen Danzig starben am Ende 50 Millionen Menschen auf der ganzen Welt.

Wird das alles, im Ernstfall, einen potentiellen Autoren des Artikels mit dem Titel „Faut-il mourir pour Riga?“ in Hamburg oder Paris von seiner Absicht abbringen?

RdP




Einkaufen und an Polen denken

Pola. Patriotisches Shoppen leicht gemacht.

Pola hatte ihre Premiere am 11. November 2015, dem polnischen Unabhängigkeits- und Nationalfeiertag. Das Interesse war von Anfang an beachtlich, doch zum wahren Durchbruch verhalf dieser neuen App der Mitteldeutsche Rundfunk (MDR) im Januar 2016, mit einem spöttischen Beitrag über das Vorhaben, das die Polen zum Kaufen von polnischen Produkten anspornen soll.

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Das offizielle Emblem

 

Die Schöpfer von Pola haben den Bericht, den in Deutschland kaum jemand zur Kenntnis genommen hat, mit polnischen Untertiteln versehen und Ende März 2016 ins Internet gestellt. Er wurde inzwischen gut einhunderttausend Mal angeklickt und ist hier zu sehen.

Der deutsche Spott wirkte sehr motivierend, sagen die Erfinder. Die Zahl der Benutzer stieg zwischen Ende März und Mitte Juli 2016 von sechzig auf gut zweihunderttausend. „Die Leute laden die App massenweise herunter und wandern forschen Schrittes in die Geschäfte, um polnische Produkte zu erstehen“, so Polens gröβtes Wochenmagazin „Gość Niedzielny“ („Sonntagsgast“), dessen Beitrag zum dem Thema vom 17. April 2016 wir nachfolgend im Wesentlichen wiedergeben.

Was sagt Pola?

Die App Pola hat ein Team geschaffen, das der konservativen Denkfabrik Klub Jagieloński (Jagiellonen-Klub) nahesteht. Die Aufgabe dieser App: schnell und einfach, anhand des Strichcodes feststellen, ob Produkte, die man kaufen möchte: Lebensmittel, Kosmetika, Kleidung, Druckerzeugnisse usw. von polnischen Firmen hergestellt wurden. Jeder kann so bewusst wählen: „eigenes“ oder „fremdes“ Produkt. Die Schöpfer der App ergänzen die Datenbank ständig um neue Produkte, auf die sie die Nutzer aufmerksam machen.

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Jakub Lipiński.

Die Idee scheint in vielen Köpfen gleichzeitig gereift zu sein. „Ich habe einen Freund getroffen“, berichtet Jakub Lipiński, einer der Schöpfer, „der von der Notwendigkeit ein solches Anwenderprogramm zu schaffen sprach. Am Abend desselben Tages im Jagiellonen-Klub kam ein anderer mit derselben Idee auf mich zu.“

Gespräche, Diskussionen, Verhandlungen begannen. Wichtig war die Unterstützung des Instituts für Logistik und Lagerung (Instytut Logistyki i Magazynowania), einer Regierungsagentur, die Strichcodes zuteilt. „Ohne deren Datenbank hätten wir kaum etwas ausrichten können“, sagt Lipiński.

Immer mehr Enthusiasten stieβen dazu: Programmierer, Mathematiker, die den erforderlichen Algorithmus bestimmten, Computerdesigner- und Graphiker. Die Fachgruppe zählte etwa zwanzig Personen. Alle arbeiteten an Pola ehrenamtlich.

Wie funktioniert das?

1. Pola-Internetseite https://www.pola-app.pl/ aufrufen.
2. App aufs Mobiltelefon herunterladen und installieren.
3. Beim Einkauf an den Strichcode des Produktes halten.
4. Informationen sowie Punktezahl für das Produkt ablesen.
5. Sich für oder gegen den Kauf entscheiden.

Jedem Produkt werden zwischen null und einhundert Punkte zuerkannt.

Hat das Unternehmen keinen ausländischen Investor – 35 Punkte. Ist es in Polen registriert – 10 Punkte. Produziert es in Polen – 30 Punkte. Forscht das Unternehmen in Polen – 15 Punkte. Hat es ausschlieβlich polnische Eigentümer – 10 Punkte.

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Bier Okocim geprüft. Das Ergebnis: „Unternehmen von Carlsberg. 55 Punkte. Anteil polnischen Kapitals – 0%. Stellt in Polen her – ja. Forscht und entwickelt in Polen – ja. In Polen registriert – ja. Teil eines ausländischen Konzerns – ja.“

So lange es Pola nicht gab, versuchten Verbraucher anhand der ersten drei Ziffern auf dem Strichcode die Herkunft der Ware abzulesen. Die Kennziffer 590 steht eigentlich für Polen, aber das besagt nur, dass die Firma in Polen registriert ist, sie kann dabei aber dennoch z. B. Teil eines ausländischen Konzerns sein.

Pola braucht keine Werbung

Die Arbeiten an der App dauerten ein Jahr lang. Die Informatiker, Designer und Redakteure taten ihr Bestes damit Pola nicht nur schlüssig, sondern auch modern und übersichtlich daherkommt.
Piotr Trudnowski, der Pola vermarktet, sagt: „Es fällt heute sehr leicht den Verbraucherpatriotismus zu propagieren. Die Leute wollen „unsere“ Waren kaufen. Die Meisten sind von der App sehr angetan, preisen sie in den sozialen Netzwerken an. Pola ist inzwischen ein Selbstläufer und der deutsche Fernsehbericht, den wir mit polnischen Untertiteln ins Netz gestellt haben, hat dazu erheblich beigetragen.“ Bis Mitte Juli 2016 haben die Benutzer fünf Millionen Strichcodes durchgescannt.

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Pola-Internetseite www.pola-app.pl. „Pola. Nimm sie mit zum Einkaufen.“

Dank Pola kann man kleine Firmen ausfindig machen, die sich ihren Weg in den Markt erst mühsam bahnen müssen. Man kann auch feststellen, welche von den aus früherer Zeit bekannten Firmen überhaupt noch polnisch sind. Spätestens dann wird dem Verbraucher bewusst, dass die traditionsreiche Schokolade „Wedel“, die berühmten Kinderseifen „Bambino“ und „Bobas“ oder der „urpolnische“ Wodka „Wyborowa“ sich längst in ausländische Produkte verwandelt haben.

Deutsche haben leicht höhnen

„Die Deutschen haben leicht höhnen“, sagt der Soziologe Dr. Tomasz Sturowicz. „Um uns zu verstehen, sollten sie unsere Verhältnisse auf Deutschland ummünzen.

Das hieße dann nämlich: Sie kaufen fast ausschließlich in polnischen Supermärkten ein. 80 Prozent der Medien, der Banken und Versicherungen in Deutschland sind in polnischer Hand. Der einzige Energieversorger in der Stadt und die Müllabfuhr sind polnische Firmen u. s. w., u. s. f. Der freie Handel in der EU führt nun mal dazu, dass die Stärkeren die Schwächeren übernehmen. Das sättigt den Markt, verdrängt die kleinen einheimischen Firmen und lässt keine oder nur wenige neue entstehen.“

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Vielen Polen sind Patriotismus, die Liebe zum Vaterland und die Verteidigung ihrer polnischen Identität wichtig. Deswegen“, so der Soziologe weiter, „ist es nicht wenigen Menschen bei uns ein Bedürfnis mal etwas für die hart um ihre Existenz kämpfenden polnischen Unternehmen zu tun. Pola informiert sie, und sie treffen die Entscheidung. Aber genauso entscheiden der Preis und die Qualität. Ein polnisches Produkt, das ausländischen Waren diesbezüglich deutlich unterlegen ist, hat auch bei den gröβten Verbraucherpatrioten auf Dauer keine Chance“, so Sturowicz.

Pola ist kein Freibrief

Und die Erdnussbutter der Firma Sante, über die die Autoren des MDR-Beitrages spotten? Sie ist ganz gewiss ein polnisches Produkt aus einem importierten Rohstoff, in Polen von Polen hergestellt. Kautschukbäume wachsen schlieβlich auch nicht in Deutschland, doch die u. a. aus Kautschuk von der Continental AG in Deutschland gefertigten Reifen gelten als ein durch und durch deutsches Produkt.

Hat Pola den polnischen Markt wesentlich beeinflusst? Bis jetzt haben Marktforscher keine grundlegenden Veränderungen ausgemacht. Zweihunderttausend Verbraucher in einem 38-Millionen-Land sind noch keine entscheidende Gröβe. Auch ausländische Hersteller in Polen nehmen bis jetzt, wenigstens offiziell, Pola den Polen nicht übel.

„Solche Aktionen können stimulierend auf die heimische Industrie wirken“, so der Soziologe Sturowicz. „Vom Preisdruck, vom Qualitätszwang, von der Notwendigkeit für ihre Produkte zu werben, vom Muss der Weiterentwicklung, werden sie sie nicht befreien, und das ist auch gut so“.

RdP




Pole belebt da Vincis Tochter

Viola Organista: Streichorchester und Orgel in einem.

Leonardo da Vinci hat sie erfunden und entworfen, danach ist sie ganz und gar in Vergessenheit geraten: die Viola Organista. Spieltauglich konstruiert wurde sie gut fünfhundert Jahre später, nach den Vorgaben des genialen Italieners, vom polnischen Pianisten und Musikinstrumententüftler Sławomir Zubrzycki.

Polens grӧßtes Wochenmagazin „Gość Niedzielny“ („Der Sonntagsgast“) widmete Zubrzycki (fonetisch: Subschitzki) und seinem Werk am 1. Mai 2016 einen Bericht, den wir nachfolgend in großen Auszügen wiedergeben.

Der gebürtige Krakauer ist ein renommierter Berufspianist und Klavichord-Virtuose. Er hat sein Klavierstudium an der Musikakademie in Kraków absolviert und studierte danach als Fulbright-Stipendiat am Boston Conservatory. Seit etwa sieben Jahren dreht sich sein Leben fast ausschließlich um ein Musikinstrument, von dem bis vor kurzem kaum jemand gehӧrt hat. Der Schӧpfer der „Mona Lisa“ und zugleich der wohl genialste Universalgelehrte aller Zeiten hatte viele Ideen und Entwürfe hinterlassen, die ihrer Epoche weit voraus gewesen sind. Acht Skizzen widmete Leonardo da Vinci seiner Viola Organista.

Viola organista Leonardo da Vinvi Uffizien, Florenz
Leonardo da Vinci. Skulptur Uffizien, Florenz.

„Ich mag solche Herausforderungen“, berichtet Zubrzycki. Vor gut zwei Jahrzehnten hat er eine Kopie des Klavichords aus dem Jahr 1775 von Johann Silbermann (1712-1783) angefertigt, eines herausragenden elsässischen Orgelbauers. Das Klavichord wird als der Vorgänger des Klaviers angesehen.

„Einige Jahre später hat mich mein Kollege Kazimierz Pyzik auf ein Instrument hingewiesen, das um 1830 der polnische Pfarrer, Musiktheoretiker und Instrumentebauer Jan Jarmusewicz (1781-1844) in Łańcut (ca. 30 Kilometer ӧstlich von Rzeszów in Südostpolen – Anm. RdP) gebaut hat. Ein Bericht aus jener Zeit sprach von einer Klavioline, einem Streichklavier. Das hat mich fasziniert.“, erzählt Zubrzycki.

Er begann nachzuforschen und stieß auf eine weitere aufregende Information. Der Ideengeber eines solchen Instruments war Leonardo da Vinci (1452-1519). Wahrscheinlich erfand das Genie, auf der Suche nach dem idealen Klangkӧrper, einen, der die Merkmale eines Tasten- und eines Streichinstruments in sich vereinigte. Zum damaligen Zeitpunkt schien das, in der Welt der Musik, die optimale Lӧsung zu sein.

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Viola Organista. Da Vincis Entwurf im „Codex Atlanticus“, Seite 93.

So groß wie ein Klavichord, besaß das Instrument den Klang eines Cellos, teilweise klang es so kräftig wie eine Orgel, und hatte eigentlich eine große Zukunft vor sich. Warum ist nichts daraus geworden?

„Ich verstehe es auch nicht. Vielleicht gab es ein unüberwindbares technisches Problem?“, rätselt Zubrzycki. „Schließlich hat man seit da Vincis Tod einige Male versucht seine Erfindung dauerhaft zu beleben. Es gelang nicht.“

Das erste Instrument nach der Idee von da Vinci konstruierte 1575 in Nürnberg der deutsche Musikinstrumentenbauer und Organist Hans Heyden (1536-1613) und nannte es Geigenwerk oder Geigenklavizimbel. 1576 hat Heyden das Instrument in der von Orlandus Lassus geleiteten Münchener Hofkapelle vorgestellt.

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Hans Heydens Geigenwerk.

Beim Geigenwerk wurden die Saiten wie bei einer Drehleier zum Schwingen gebracht. Heyden ließ im Jahre 1610 die Beschreibung seines Geigenwerkes unter dem Titel „Musicale instrumentum reformatum” drucken. Darin beschreibt er seine Vorteile, wie einen lange anhaltenden Ton, das Vibrato und die Möglichkeit Nuancen hervorzubringen. Von dem Originalinstrument gibt es heute lediglich noch die Beschreibungen des Erbauers und die von Michael Praetorius, in seinem Werk „Syntagma musicum“ aus dem Jahr 1618.

Im Brüsseler Instrumentenmuseum befindet sich ein, 1625 von Raymundo Truchado in Spanien erbautes, Geigenwerk. Eine Eigenerfindung, die nicht mehr spielbar ist. In letzter Zeit wurde in Japan ein Rekonstruktionsversuch unternommen, doch das Ergebnis war enttäuschend.

„Nach dem ich das alles erfahren habe, stand mein Entschluss fest“, erzählt Zubrzycki.

Das erste große Problem bestand darin, dass da Vinci nicht die eine Viola Organista skizziert hat, sondern acht verschiedene Varianten von ihr, weil er seine Erfindung ständig verfeinert hat. „Meine Idee war, die Skizzen da Vincis und den Entwicklungsstand der Musik am Ende des 15. Jahrhunderts gegeneinander abzuwägen. Das Instrument war ja für diese Musik gedacht. Ich hatte auch beschlossen alle vorhergehenden Rekonstruktionsversuche vӧllig außer Acht zu lassen. Es sollte nach Mӧglichkeit ein da-Vinci-Instrument in Reinkultur werden“, sagt Zubrzycki.

Während der Arbeit an diesem Instrument (Aufnahmen hier– Anm. RdP) musste er seine musikalischen Fähigkeiten mit seinen Kenntnissen über Tischlerei- und den Bau von Streichinstrumenten zusammenfügen. „Ständig galt es zu erwägen, wie sich das verwendete Holz verhalten wird, wie es den Klang beeinflussen würde. Ein gewӧhnlicher Instrumentenbauer, der Klaviere oder Klavichorde fertigt, arbeitet nach gewissen Standards und Schemata. Ich dagegen musste ständig experimentieren, vӧllig neue Wege beschreiten“, erinnert sich Zubrzycki.

Drei Jahre und mehr als 5000 Stunden hat Slawomir Zubrzycki für den Bau des Instruments benötigt. Das Ergebnis übertraf alle Erwartungen. Der Nachbau erinnert an ein Piano, doch die 61 Saiten werden nicht mit Hämmern zum Klingen gebracht, sondern von einem mit Pferdehaaren bezogenen Räderwerk wie ein Streichinstrument gespielt. Klavichordähnlich klingt Zubrzyckis Konstruktion, mal wie ein Streichorchester, mal wie eine Orgel.

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Viola Organista. Das Innenleben.

Nach der Fertigstellung 2013 präsentierte Zubrzycki sein Werk weltweit erfolgreich auf vielen Festivals. „Vor mir steht die große Aufgabe meine Spieltechnik zu vervollkommnen und ein neues Repertoire einzustudieren.“

Die mit Eleganz und Raffinesse gefertigte Viola Orgnista ist geradezu eine Augenweide, ein Kunstwerk aus Holz in weiβ, blau und rot gehalten. Auf der Innenseite des Deckels prangen in Latein die Worte Hildegard von Bingens: „Den heiligen Propheten gleich, haben eifrige und weise Männer durch menschliche Kunstfertigkeit vielerlei Musikinstrumente erfunden, um in Herzensfreude spielen zu können.“

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Hildegard-von-Bingen-Zitat auf der Innenseite des Deckels.

Als ich nach dem ersten ӧffentlichen Konzert 2013 gesagt bekam, dass die Klänge dieses Instruments den Menschen sehr nahe gingen, sogar etwas Mystisches in sich trugen, da wusste ich, dass dieses Zitat treffend sei“, sagt Zubrzycki.

Zubrzyckis technische Leistung fand allgemeine Anerkennung. Es gab jedoch auch kritische Stimmen aus der Musikfachwelt. Die Viola Organista klingt zwar originell, aber ist der Klang wirklich durchgehend so schӧn? Vielleicht hat man, gerade wegen dieses gewӧhnungsbedürftigen Klangs, das von Heyden 1575 rekonstruierte Geigenwerk auch so schnell wieder vergessen, spekulierten die Kritiker.

Der Karriere des wiederbelebten Instruments und seines polnischen Erbauers tat das keinen Abbruch. Allein der Name da Vinci beflügelt dabei die Phantasie. Kein Wunder, dass sich die Kunde von der „Wiederauferstehung der da-Vinci-Tochter“ wie ein Lauffeuer den Weg durch die Musikwelt bahnte. Die Aufnahmen der ersten Vorführung der Viola Organista, beim Musikfestival der Stadt Kraków 2013, haben auf YouTube inzwischen gut drei Millionen Neugierige aufgerufen.

Es hagelte Einladungen in die ganze Welt. Aus Spenden wurde die erste CD finanziert: „Viola organista – The da Vinci Sound“. Sie enthält acht Werke aus der Barockzeit, darunter das einzige, das in der Musikgeschichte für ein Streichklavier komponiert wurde: die „Sonate für ein Bogenklavier“ von Carl Philipp Emmanuel Bach.
Eine Komposition auf der CD stammt hӧchstwahrscheinlich von da Vinci selbst. Es handelt sich dabei um die Rekonstruktion einer Komposition, deren Fragment sich auf einem Notenblatt befindet, das auf dem da-Vinci-Gemälde „Bildnis eines Musikers“ zu sehen ist. Die fehlenden Noten hat der bereits erwähnte Zubrzycki-Freund Kazimierz Pyzik, Komponist, Musiktheoretiker und Kenner der Epoche, ergänzt.

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Leonardo da Vinci, „Bildnis eines Musikers“. Pinacoteca Ambrosiana, Mailand.

Zubrzyckis CD fiel der isländischen Musikerin Bjӧrk in die Hände, als sie gerade die instrumentale Streichversion ihres Albums „Vulnicura“ aufnahm. Die Klänge der Viola Organista zogen sie dermaßen in ihren Bann, dass sie ihre gesamte Aufnahme umkrempelte, um dieses Instrument mit auf ihre CD zu bekommen.

„Das alles wurde mir „von Oben“ gegӧnnt. So etwas kann man nicht planen“, sagt Zubrzycki mit voller Überzeugung. „Es ist unbeschreiblich, was meine Rekonstruktion der Viola Organista in Bewegung gesetzt hat“, berichtet er weiter. „Ich muss dafür sorgen, dass das alles nicht vergeudet wird. Seit gut sechs Jahren tue ich nichts anderes als die Viola Organista in die Musikwelt einzubringen. Es ist inzwischen zu meinem wichtigsten Lebensinhalt geworden. So etwas widerfährt einem Menschen nur einmal im Leben“.
RdP




Das Wunder von Wrocław

Geboren 55 Tage nach dem Tod der Mutter.

Die Frau war einunddreiβig, als die Ärzte bei ihr einen Gehirntumor feststellten. Operieren lassen wollte sie sich nicht. Die möglichen Folgen des Eingriffs erschienen ihr zu riskant und so lebte sie zehn Jahre lang mit dem Tumor im Kopf weiter. Der Zusammenbruch kam in der 17. Schwangerschaftswoche. Ein Rettungswagen brachte sie ins Krankenhaus, doch die Neurochirurgen konnten der Patientin nicht mehr helfen.

Nachfolgend dokumentieren wir groβe Auszüge eines Berichts des Wochenmagazins „wSieci“ („Im Netzwerk“) vom 02. – 08. Mai 2016.

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Prof. Andrzej Kübler

„Als sie zu uns kam, lag sie bereits im tiefen Koma und wurde künstlich beatmet. Alles deutete auf den Gehirntod hin“, berichtet Prof. Dr. hab. med. Andrzej Kübler, Leiter der Klinik für Anästhesie und Intensivmedizin der Universitätsklinik in Wrocław/Breslau.

Die Frau war tot, doch ihr ungeborenes Kind lebte. „Als Neonatologin wurde ich gefragt, ob das Kind im Schoβ der Mutter eine Überlebenschance habe“, erinnert sich Prof. Barbara Królak-Olejnik, Leiterin der Klinik für Neugeborenenmedizin des Uniklinikums in Wrocław. „Meine Antwort war, dass höchstens fünf Prozent aller Frühchen, die bis zur 23. Woche auf die Welt kommen, eine solche Chance haben. Bei einer Frühgeburt zwischen der 24. und der 26. Woche dagegen überleben schon bis zu siebzig Prozent von ihnen. Deswegen sollte man versuchen die Schwangerschaft bis zur 25. oder, noch besser, bis zur 30. Woche aufrecht zu erhalten.“

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Prof. Barbara Królak-Olejnik

Die Ärzte stellten sich dieser Herausforderung.

„Eine Kommission zur offiziellen Feststellung des Hirntodes wurde nicht einberufen, denn einige damit verbundene Untersuchungen (Apnoetest, Angiografie der Hirngefäβe) hätten das ungeborene Kind schädigen können. So blieb die Patientin, juristisch gesehen, eine lebende Person. Um das Kind zu retten hielten wir, mit den Möglichkeiten, die die heutige Intensivmedizin bietet, die Funktionen der inneren Organe der Mutter aufrecht, ohne jedoch die Hoffnung zu haben, die werdende Mutter am Leben erhalten zu können“, schildert Prof. Kübler.

Kampf gegen die Zeit

Dass der Vater sein Kind unbedingt retten wollte, war für die Mediziner zusätzlicher Ansporn, aber wie der Kampf ausgehen würde, stand in den Sternen.

Zwar kennt die Medizin einige Dutzend ähnlicher Fälle, aber die meisten betrafen fortgeschrittenere Schwangerschaften, bei denen die lebenserhaltende Therapie für einen kürzeren Zeitraum durchgeführt werden musste.

„Wir hatten keinerlei Erfahrung mit der langfristigen Aufrechterhaltung von lebensnotwendigen Funktionen bei gehrintoten Patienten. Im Normalfall, d.h. im Rahmen der Transplantationsmedizin, dauert es ein, höchstens zwei Tage, bis die Organe für eine Organverpflanzung entnommen werden. Dann werden die Maβnahmen beendet“, sagt Prof. Kübler.

Die schwangere Frau war an ein Beatmungsgerät angeschlossen, bekam blutdruckstabilisierende Medikamente und wurde durch eine in die Bauchwand gelegte Öffnung über eine Magensonde ernährt. Den Ärzten war klar, dass sich ihr Zustand jeden Augenblick verschlechtern konnte, denn beim Ausfall des Gehirns laufen die Funktionen aller inneren Organe sehr leicht aus dem Ruder.

„Das ungeborene Kind wurde kontinuierlich überwacht. Ein Ärzteteam stand stets „Gewehr bei Fuβ“, um im Notfall einen Kaiserschnitt vornehmen zu können, ebenso wir, die Neugeborenenmediziner, um uns des Frühchens anzunehmen“, berichtet Prof. Królak-Olejnik.

Sehr schnell tauchten Probleme auf. Die Patientin erkrankte an einer Lungenentzündung, die mit einem für das ungeborene Kind unbedenklichen Antibiotikum ausgeheilt wurde. Immer wieder fiel der Blutdruck ab, es kam zu Störungen im Hormon- und Elektrolytehaushalt, Insulin musste gespritzt werden.

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Dr. Agnieszka Jalowska

Das Kind entwickelte sich normal, doch die Ärzte können nicht sagen, ob und gegebenenfalls welchen Einfluss, die langfristige Aufrechterhaltung von lebensnotwendigen Funktionen bei der Mutter auf den Jungen haben würde. „Viele schwangere Frauen erkranken an Infektionen und nehmen Medikamente“, erläutert Dr. Agnieszka Jalowska von der Klinik für Neugeborenenmedizin des Uniklinikums in Wrocław. „Diese Mutter jedoch bekam weit mehr Medikamente, und es gab viele bedrohliche Situationen.“

Sehr wichtig war die Arbeit der Krankenschwestern. Sie haben die Patientin gewaschen, eingerieben, ständig die Körperlage verändert, Medikamente verabreicht. Ihr Ehemann war ständig bei ihr, hörte mit ihr gemeinsam Musik, sprach mit ihr, las ihr vor.

Sie waren gut vorbereitet

Fünfundfünfzig lange Tage rangen die Ärzte mit dem Tod. Die Schwangerschaft konnte bis zum Ende der 26. Woche aufrechterhalten werden. Dann kam es zum Kaiserschnitt. Es war höchste Zeit, denn bei dem Eingriff stellte sich heraus, dass der Mutterkuchen nur noch ungenügend durchblutet wurde. Ein Junge mit einem Gewicht von 1.000 Gramm kam auf die Welt.

„Wir waren gut vorbereitet. Der Operationssaal befand sich gleich neben der Intensivstation, in dem die Mutter bis dahin gelegen hatte. Ein Arbeitsplatz für die Neugeborenenmediziner war eingerichtet, ein transportabler Brutkasten mit einem Beatmungsgerät stand bereit. In ihm wurde der Junge auf die Neugeborenen-Intensivstation gebracht. Dort wurde ihm als erstes ein Medikament zur Förderung des Lungenwachstums verabreicht. Das Kind war jedoch so schwach, dass es nicht selbständig atmen konnte. So wurde es vierzig Tage lang künstlich beatmet. In dieser Zeit bekam es schmerzstillende- und die Muskeln entspannende Mittel, um eine schmerzfreie Beatmung und Ernährung zu gewährleisten.

Nach der Geburt trat die Ärztekommission zusammen und stellte den Tod der Mutter fest.

„Dennoch, es ist eine wunderbare Geschichte. Die neuesten Errungenschaften der Medizin wurden angewandt, um ein junges Leben zu retten. Sie sollte immer wieder erzählt werden, da, in demselben Alter, in dem der ungeborene Junge sich beim Hirntod seiner Mutter befand viele Föten, bei denen z. B. das Down-Syndrom diagnostiziert wurde, durch Abtreibung getötet werden“, sagt Dr. Agnieszka Jalowska.

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Universitätsklinik in Wrocław

„Dieser Fall zeigt, dass Unmögliches möglich wurde. Ich kann mir nicht vorstellen, dass ein Arzt nicht Leben retten könnte. Das Leben war da, es existierte im Schoβ der Mutter. Wer, und warum sollte jemand entscheiden dürfen, dass es beendet werden soll?“, fügt Prof. Królak-Olejnik hinzu.

Drei Monate nach der Geburt verlieβ der kleine Wojciech das Krankernhaus. Er wog bereits drei Kilogramm, konnte selbständig aus dem Fläschchen trinken und sein Entwicklungsstand entsprach dem von Säuglingen im selben Alter. Es heiβt, Spazierfahrten an der frischen Luft bekommen ihm gut.

RdP




Smolensk-Katastrophe. Zweifel, Fakten, Hintergründe. Dokumentation Teil 1

Auf dem Foto: Staatspräsident Lech Kaczynski und Ehefrau Maria besteigen das Flugzeug auf dem Weg zu einem Staatsbesuch im Ausland.
Die Smolensk-Katastrophe, der Absturz des Flugzeuges mit 96 Insassen an Board, darunter dem polnischen Staatspräsidenten Lech Kaczynski, am 10. April 2010, wirft bis heute ihren düsteren Schatten auf die polnische Innenpolitik. Nach dem Staatspräsidenten- und Regierungswechsel in Polen im Jahr 2015 wurde die Aufklärung neu aufgenommen.
Worin liegt die Brisanz des Unglücks?
Wie waren seine politischen Umstände und Folgen?
Was nährt die Zweifel?
Die Dokumentation von RdP ist ein Versuch auf diese Fragen Antworten zu finden.




Smolensk-Katastrophe. Zweifel, Fakten, Hintergründe. Dokumentation Teil 2

Auf dem Foto: eine der ersten Aufnahmen des russischen Fernsehens nach dem Flugzeunglück bei Smolensk.
Die Smolensk-Katastrophe, der Absturz des Flugzeuges mit 96 Insassen an Board, darunter dem polnischen Staatspräsidenten Lech Kaczynski, am 10. April 2010, wirft bis heute ihren düsteren Schatten auf die polnische Innenpolitik. Nach dem Staatspräsidenten- und Regierungswechsel in Polen im Jahr 2015 wurde die Aufklärung neu aufgenommen.
Worin liegt die Brisanz des Unglücks?
Wie waren seine politischen Umstände und Folgen?
Was nährt die Zweifel?
Die Dokumentation von RdP ist ein Versuch auf diese Fragen Antworten zu finden.