Mantel aus Menschenhaut

Ein Mord entsetzt das Land und harrt der Aufklärung.

Er brachte eine Studentin um und zog ihr die Haut ab, um sich einen Mantel daraus zu nähen. Nach knapp zwanzig Jahren konnte eines der fürchterlichsten Verbrechen in der polnischen Kriminalgeschichte aufgeklärt werden. Oder doch nicht?

Das Triebwerk des Bugsierschleppers „Łoś” („Elch”) heulte zuerst auf, dann fiel die Drehzahl rapide ab. Das gerade einmal zwanzig Meter lange Schiff kann mit seinem Dreihundert-PS-Motor schwere Lastkähne problemlos an das Ufer heranschieben. Mit einem solchen Manöver war der Schlepper am 6. Januar 1999 gerade auf der Weichsel in Kraków/ Krakau beschäftigt, als plötzlich nichts mehr ging. Es war kurz nach vier Uhr nachmittags, die Dunkelheit brach an. „Morgen früh werden wir die Blockierung beheben“, entschied der Kapitän.

Es war menschliche Haut

Es war nichts Ungewöhnliches. Fast jeden Tag holte die dreiköpfige Besatzung Baumwurzeln, Plastikplanen, Autoreifen, die sich in der Schiffsschraube verfangen hatten aus dem Wasser. Doch dieses Mal war es etwas anderes, schwer definierbares. „Erst als ich ein durchstochenes Ohrläppchen sah wurde mir klar: es ist menschliche Haut“, berichtete der Kapitän der Regionalzeitung „Gazeta Krakowska“.

Der Bugsierschlepper „Łoś” („Elch”).

Die Beamten der Wasserschutzpolizei waren auf den ersten Blick der Meinung, entweder sei jemand ertrunken oder als Leiche ins Wasser geworfen worden und dann in die Schiffsschraube geraten. Kurz darauf, als man den Fund an Deck holte und ausgebreitete, wurde jedoch das ganze Ausmaß des Grauens offenbar. „Es war ein Mantel“, so der Kapitän. Keine Knochen, keine Eingeweide, nur Haut, hier und da zerfetzt und zerrissen. Keine Schiffsschraube konnte einen Menschen dermaβen präzise enthäuten. So etwas hatten die Männer noch nie gesehen.

Verschlossen und kontaktscheu

Katarzyna Z. studierte Religionswissenschaften. Das war schon ihre dritte Fakultät. Nach dem Abitur schaffte sie es einen Platz im sehr begehrten Fach Psychologie zu ergattern, aber nach dem ersten Semester brach sie ab. Sie legte eine halbjährige Pause ein, bevor sie Geschichte zu studieren begann, hielt es aber nicht lange durch. Auch das dritte Studium wurde ihr schnell langweilig. Nachher stellte sich heraus, sie hatte während der letzten zwei Wochen ihres freien Lebens die Wohnung am Morgen regelmäβig verlassen, erschien aber kein einziges Mal zu einer Vorlesung.

Katarzyna Z. war 23 Jahre alt als sie eines grausamen Todes starb.

„Ich habe sie nur einmal gesehen, beim ersten Seminar. Danach nie mehr. Sie hatte aufgehelltes, lockiges Haar, trug einen dunklen, weiten Pullover. Sie setzte sich in die letzte Bank, machte einen sehr verschlossenen Eindruck. Wahrscheinlich kann ich mich deswegen an sie erinnern“, gab die Religionsethnologin Dominika Bernasik zu Protokoll.

Am 12. November 1998 nachmittags wollte Katarzyna zusammen mit ihrer Mutter einen Arzttermin wahrnehmen. Sie kam nicht, blieb seither verschwunden und würde wahrscheinlich bis heute als „vermisst“ gelten, wäre da nicht der grausame Fund in der Weichsel gewesen.

Die Feststellung um wen es sich handelte gestaltete sich zu Anfang schwierig. Die Haut hatte lange im Wasser gelegen, ihre Zersetzung war fortgeschritten. Doch eine Woche später entdeckte jemand ein am Knie abgetrenntes menschliches Bein am Ufer. Die Einschnitte am Bein und an der Haut passten genau zueinander. Anhand der Hosenbeinreste konnte Katarzyna identifiziert werden. Der DNA-Befund brachte drei Monate später die Bestätigung.

Hannibal Lecter als Vorbild?

Knapp fünfzehn Jahre vor dem Mord schrieb der amerikanische Thriller-Autor Thomas Harris seinen Beststeller „Das Schweigen der Lämmer“. Der Psychopath Hannibal Lecter entführt und ermordet grausam Frauen im amerikanischen Mittleren Westen. Aus ihren Hautfetzen näht er sich ein Kostüm. Im Jahr 1991 wurde der Roman verfilmt. Der Streifen mit Jodie Foster und Anthony Hopkins in den Hauptrollen gilt als einer der furchterregendsten Filme in der Kinogeschichte und wurde mit fünf Oscars ausgezeichnet.

Anthony Hopkins als Hannibal Lecter in „Das Schweigen der Lämmer“.

Hatte sich der Täter von dem Film inspirieren lassen? FBI-Fachleute, von den Krakauer Fahndern um Unterstützung gebeten, waren davon überzeugt.

Katarzyna Z. galt als sehr verschlossen und kontaktscheu. Sie war dabei, als ihr Vater bei einer Bergwanderung in der Hohen Tatra in die Tiefe stürzte. Der Unfall und der qualvolle Tod des Vaters im Krankenhaus hatten ihr sehr zugesetzt. Sie litt an Depressionen.

Sogar der Mutter fiel es schwer zu sagen, wofür sie sich interessierte. Sie hatte kein Hobby. Die beiden einzigen Freundinnen, mit denen sie Umgang hatte, sagten, ihre einzige Leidenschaft sei die Musik der US-Psychedelic-Rockband „Greatful Dead“ gewesen. Eine Woche vor ihrem Tod hatte sie weitere Cassetten der Gruppe in einem Studentenclub bestellt, diese aber nicht mehr abgeholt. Wochenlang durchforsteten die Fahnder das abstruse Psychedelic-Fanmilieu nach Verbindungen und Spuren. Vergeblich.

Im Mai 1999 glaubte die Polizei den Fall gelöst zu haben. In dem Krakauer Vorort Mogiliany wurde eine zerstückelte Leiche gefunden. Die vom Gesicht abgezogene Haut lag zusammengenäht daneben. Ein Sohn hatte seinen Vater ermordet und stülpte sich die Hautmaske über den Kopf, um dem Groβvater den Vater vorzutäuschen.

Zudem studierte der Täter, der Russe Wladimir W., Psychologie an der Jagiellonen Universität. Dort könnte er Katarzyna kennengelernt haben. Doch ein Zusammenhang zwischen den beiden makabren Morden war nicht nachzuweisen. Wladimir W. wurde zu fünfundzwanzig Jahren Haft verurteilt. Inzwischen sitzt er die Strafe in Russland ab.

Das was von Katarzyna Z. geborgen werden konnte, wurde im Juli 1999 beigesetzt. Die restlichen Leichenteile blieben verschwunden.
Dank pathologischen Untersuchungen konnte Katarzynas Todesdatum mit einiger Genauigkeit auf die erste Dezemberhälfte 1998 festgelegt werden. Jedes Jahr um diese Zeit erschien Robert J. an ihrem Grab. Beim Verhör gab er zu Protokoll aus Zeitungen von dem Mord erfahren zu haben und groβes Mitleid mit dem Opfer zu empfinden.

Ein Meister im Häuten

Die Fahnder waren von Anfang an davon ausgegangen, der Täter sei ein Serienmörder. Doch es vergingen Jahre und es ereignete sich kein zweites solches Verbrechen. Man begann zu spekulieren, der Täter sei inzwischen tot oder säße wegen einer anderen Straftat im Gefängnis. Oder hatte der Mörder vielleicht weitere als vermisst geltende Frauen genauso grausam umgebracht und ihre Leichen sehr gut versteckt?

Eines war von vornherein klar: der Täter war ein Meister im Häuten. Einem Menschen die Ganze Haut in einem Stück vom Leib abzuziehen ist sehr schwer. War der Täter ein Kürschner oder ein Metzger, ein Jäger, geübt im Abziehen von Fellen oder gar ein Chirurg? Und war derjenige, der Katarzynas Haut so meisterhaft präpariert hatte auch ihr Mörder oder hatte er lediglich ihre Leiche gefunden und die Gelegenheit genutzt, um seine abartige Neigung auszuleben?

Ein weltweit führender portugiesischer Experte, der Folterspuren an menschlichen Körpern untersucht, wurde hinzugezogen. Er hatte keine Zweifel: Katarzyna war schwer miβhandelt worden. Im Medizinischen Gerichtsinstitut in Wrocław/ Breslau gelang es mit Hilfe der 3D-Technik das Martyrium der jungen Frau, die schweren Hiebe und Tritte, mit denen sie traktiert worden war, zu rekonstruieren. Sportmediziner, die sich bestens mit Kampfsportverletzungen auskannten, bestätigten die Befunde.

Der Peiniger hatte seinem Opfer Anästhetika verabreicht, die eine Schmerz- und Bewusstseinsausschaltung verursachen. Erst nach etwa drei Wochen setzte er ihrem Leben ein Ende.

Zudem gelang es an dem Hosenbein winzige Partikel von Pflanzen auszumachen, die nur an wenigen Orten in Kraków und Umgebung vorkommen.

Viele Indizien, keine Beweise

Nach und nach verdichteten sich die Indizien, die auf Robert J. als den Täter hindeuteten. Der heute 52-Jährige wohnte mit seiner Mutter im Krakauer Stadtteil Kazimierz, unweit der Weichsel. Sein auffälliges Benehmen war bekannt: der Hang zu Frauenunterwäsche, das Beobachten der Frauen im Haus gegenüber durch ein Fernglas.

Robert J. wird dem Haftrichter vorgeführt.

Robert J. hatte einige Jahre vor dem Mord in einem der Krakauer Krankenhäuser eine Zeit lang als Aushilfe im Seziersaal gearbeitet. Später jobbte er im Zoologischen Institut der Jagiellonen Universität, wo er die Häutung von Tieren beobachtet haben könnte. Eines Tages hatte Robert J. aus heiterem Himmel alle Versuchstiere getötet und wurde daraufhin kurzerhand rausgeschmissen.

Die in Kraków eher seltenen Pflanzen wuchsen in der Nähe des hölzernen Sommerhauses, dass Robert J. gehörte. Dort, so die Fahnder, habe er sein Opfer gefoltert und umgebracht. Das Haus brannte jedoch kurz nach dem Mord ab.

Nach der Festnahme auf offener Straβe im Stadtteil Kazimierz am 4. Oktober 2017

(hier ein Polizei-Video)

durchsuchten Fachleute tagelang seine Wohnung. Sogar die Fliesen im Bad, die er kurz nach dem Mord verlegt haben soll, wurden von den Wänden abgeschlagen.

Seit gut zwölf Jahren befindet sich Robert J. in psychiatrischer Behandlung. Diagnose: paranoide Schizophrenie, eine Erkrankung, so die Fahnder, die ein intelligenter und durchtriebener Täter gekonnt vortäuschen kann. Jedenfalls erschien Robert J. viele Jahre lang regelmäβig mit Rezepten eines Psychiaters in seiner Apotheke. Ob er die Medikamente tatsächlich einnahm oder sich auf diese Weise nur eine Legende für den Fall seiner Verhaftung aufbaute? Als ihm bei der Festnahme die Handschellen angelegt wurden, sagte er zu den Beamten, er sei unzurechnungsfähig.

Es heiβt, Robert J. befinde sich zur Beobachtung auf der psychiatrischen Station im Untersuchungsgefängnis in Kraków.

Wie es scheint, hofft die Staatsanwaltschaft, dass sich durch Vernehmungen die Indizien, die gegen gegen Robert J. sprechen, in feste Beweise wandeln werden. Ob diese Rechnung aufgehen wird bleibt vorerst offen. Mord verjährt in Polen nach dreiβig Jahren, neunzehn sind bereits vergangen.

© RdP




Vier Frauen, ein Kühlschrank

Feminismus in Polen.

Vier Damen hatten beschlossen einen Kühlschrank in die vierte Etage zu tragen. Es bleibt natürlich jeder Frau unbenommen Kühlschränke zu schleppen, so oft und so hoch hinauf wie sie will, doch gerade diese konkrete Plackerei, stattgefunden vor nicht allzu langer Zeit, ist es wert sich nicht unbemerkt in der Finsternis der verflossenen Zeit aufzulösen.

Es handelte sich dabei nämlich um kein normales Schleppen. Dieses Schleppen verkündete eine Botschaft. Es war ein feministisches Schleppen und offenbarte beiläufig die ganze Kuriosität dieser Ideologie.

Die Damen stellten sich dieser Herausforderung, weil ein Sejm-Abgeordneter im Rundfunk gesagt hatte „der Feminismus endet dort, wo es einen Kühlschrank in die vierte Etage ohne Fahrstuhl zu bringen gilt“.

Dem ist nicht immer so. Manchmal beginnt der Feminismus genau dort, wo der Abgeordnete sein Ende sah. Das passiert dann, wenn Frauen einem Mannsbild etwas beweisen oder sich an ihm rächen wollen, und sich dadurch selbst schaden.

Die Sinnlosigkeit des ganzen Unterfangens ist mehr als offensichtlich. Für das Herauftragen eines Kühlschranks in die vierte Etage zahlt man etwa vierzig Zloty (knapp zehn Euro – Anm. RdP). Üblicherweise machen das zwei Männer, die Tragegurte und eine Transportkarre mitbringen. Sie benötigen dafür etwa eine halbe Stunde. Die vier Damen brauchten dafür viel mehr Zeit und haben sich dabei auch noch, wie es heiβt, etliche blaue Flecke und Schürfwunden zugezogen.

Wozu das alles? Die Feministinnen sagen, dass sie es nicht hinnehmen können und wollen wenn Frauen wegen ihres Geschlechts herabgesetzt werden. Die Behauptung des Abgeordneten, sagen sie, erfülle diesen Tatbestand, woraus man schlieβen kann, sie seien der Meinung, Frauen sind körperlich genauso gebaut wie Männer.

Jetzt muss nur noch ein feministisches Gremium vor Empörung erbeben, da Frauen für das Treppenhinauftragen von Kühlschränken halb so viel Lohn erhalten wie Männer. Schlussendlich müssen sie ja die vierzig Zloty durch vier teilen.

Ich weiβ, es klingt absurd, aber viele andere feministische Einfälle sind es auch, nur wir merken es nicht mehr. Der Feminismus ist inzwischen überall, und man bekommt es sogar beim Kühlschranköffnen mit der Angst zu tun, er könnte uns auch dort begegnen.

Gewiss, wir Frauen haben viele Probleme. Doch der Feminismus hilft uns nicht mit diesen Problemen fertig zu werden. Viel eher vergröβert er sie und schafft neue, indem er so tut als seien wir Männer und uns zu all dem auch noch  Kühlschränke schleppen lässt.

Die Glosse von Joanna Operacz (Foto) erschien im Wochenmagazin „Niedziela“ („Der Sonntag“) vom 8. Oktober 2017.

RdP




Lutherjahr wunderbar? Kritischer Blick aus Polen. Zum Hören

Prof. Grzegorz Kucharczyk und Janusz Tycner im Gespräch über den Protestantismus in Polen. ♦ 500 Jahre Reformation.  Kein Anlass zum Feiern? ♦ Der rasante Aufstieg und das jähe Ende der Reformation in Polen. ♦ Hat das katholische Polen die falsche Religion?  Max Weber auf Irrwegen. ♦ Verstrickungen und Verdrängungen. Der Protestantismus im kommunistischen Polen. ♦ Luther: gefeiert weil ungelesen. 

Grzegorz Kucharczyk, „Krise und Zerstörung. Skizzen zur protestantischen Reformation“.

Briefmarke der Polnischen Post von 2017 zum fünfhundertsten Jahrestag der Reformation.




Das Wichtigste aus Polen 8. Oktober – 15.Oktober 2017

Kommentatorin Olga Doleśniak-Harczuk und Janusz Tycner diskutieren die  wichtigsten Ereignisse der letzten Zeit in Polen. ♦ Landesweite Gebetsinitiative „Rosenkranz bis zu den Grenzen“ erntet groβen Zuspruch in Polen, Häme und Nasenrümpfen in Deutschland. ♦ Das abgekühlte Verhältnis zwischen Staatspräsident Andrzej Duda und der Regierungspartei Recht und Gerechtigkeit nützt beiden Seiten des Konfliktes und schwächt die Opposition. ♦ Gute Haushalts- und Wirtschaftslage Polens spiegelt sich im Staatshaushaltsentwurf 2018 wieder. ♦ Die betrügerischen Reprivatisierungen in Warschau werden endlich geahndet.




Mehr Bildung durch Veränderung

Vom Sinn und Nutzen der polnischen Schulreform.

Deutsche Medien widmeten der polnischen Bildungsreform groβe Aufmerksamkeit und es war wie immer. Viele Dutzend Beiträge, die ausnahmslos in ihrer Darstellung und Beurteilung kein gutes Haar an den Veränderungen ließen. Die Titel sprechen für sich: „Rückkehr zum autoritären Unterricht“, „Zurück zu den Ostblock-Schulen“, „Staatsziel Verdummung“, „37.000 Lehrern droht die Arbeitslosigkeit“, „Schulreform in Polen. PiS pisst alle an“.

Es war von „Massenprotesten“ die Rede, obwohl es dem postkommunistischen Lehrerverband ZNP nur einmal, am 19. November 2016, gelang eine gröβere Demonstration zu veranstalten. Dass die, fast genauso groβe Solidarność-Lehrergewerkschaft zu der Reform stand und mit ihr, laut Umfragen, die meisten Polen, fand keine Erwähnung. Nur die Kritiker kamen in den deutschen Medienbeiträgen zu Wort, die Befürworter der Reform und diejenigen, die diese Reform umsetzten tauchten nicht auf.

Nachstehend bringen wir die Übersetzung des Interviews mit der polnischen Bildungsministerin Anna Zalewska aus dem Wochenmagazin „Gazeta Polska“ („Polnische Zeitung“)  vom 6.September 2017.

Anna Zalewska

Anna Zalewska, geboren 1965. Studium der Polonistik an der Universität Wrocław/ Breslau. Lehrerin, Kommunalpolitikerin in Niederschlesien, Sejm-Abgeordnete von Recht und Gerechtigkeit seit 2007. Seit November 2015 Bildungsministerin im Kabinett Beata Szydło.

Einer der wichtigsten Vorwürfe lautet, die Schulreform sei zu schnell durchgeführt worden. So schnell, wurde prophezeit, dass am Schulbeginn 2017 viele Kinder vor nicht aufnahmefähigen Schulen stehen werden.

Am letzten Schultag vor den Sommerferien, dem 23. Juni 2017 haben die Schüler der sechsten Klassen keine Abgangszeugnisse der Grundschule, sondern Versetzungszeugnisse in die siebte Klasse bekommen. Sie werden den Unterricht, statt im dreijährigen Gymnasium, in der nun erweiterten Grundschule bis zur achten Klasse fortsetzten. Bis jetzt läuft alles nach Plan. Nirgendwo in Polen standen Kinder und Jugendliche zu Beginn des neuen Schuljahres am Montag, dem 4. September 2017, vor verschlossenen Schulgebäuden.

Die Schulreform war eines der wichtigsten Wahlversprechen von Recht und Gerechtigkeit während des Wahlkampfes im Herbst 2015. Für die Reform, d. h. für die Rückkehr zur achtklassigen Grundschule, gefolgt von einem vierjährigen Lyzeum mit Abitur, beziehungsweise von einer neu konzipierten, zweistufigen (3 + 2 Jahre) Berufsschule, sprachen sich damals bis zu achtzig Prozent der Polen aus. Im Jahr 2017, trotz einer geradezu hysterischen Angst- und Protestkampagne, sind es immer noch gut sechzig Prozent.

Das heiβt, das vorherige Modell aus dem Jahr 1999: sechs Jahre Grundschule plus drei Jahre Gymnasium plus drei Jahre Lyzeum hat sich in den Augen der meisten Polen nicht bewährt. Dieses Modell läuft in zwei Jahren aus, mit dem Abgang der heute zweiten, im Jahr 2019 dann dritten Gymnasialklassen.

Was konkret war an diesem Modell schlecht?

Das Herausreiβen pubertierender Jugendlicher nach der sechsten Klasse aus ihrer angestammten schulischen Umgebung, die Verpflanzung in ein Gymnasium und nach drei Jahren weiter, in ein Lyzeum, dass zu kurz dauerte, um eine abiturwürdige Allgemeinbildung zu vermitteln. Das ging nicht gut. Erzieherisch nicht und bildungsmäβig auch nicht. Die wenigen Gymnasien, die gut funktionierten, waren leider nur Ausnahmen die die Regel bestätigten.

Dennoch, ging das Ganze nicht zu schnell?

Nein, es musste jetzt sein, denn 2018 haben wir Kommunalwahlen. Träger der Grundschulen und der jetzt stufenweise stillgelegten Gymnasien, sind in Polen die Kommunen. Sie sind es die, ausgestattet mit gesetzlich festgelegten staatlichen Bildungssubventionen sowie aus eigenen Mitteln, Einstellungen vornehmen, die Lehrer und das Verwaltungspersonal bezahlen, die Schulgebäude unterhalten. Die Reform in einem Wahljahr durchzuführen wäre purer Wahnsinn, ein sicheres Rezept für ein Chaos im Bildungswesen.

Zum anderen hatten wir im Vorfeld ein gewaltiges Informations- und Konsultationsprogramm auf die Beine gestellt. Die groβe nationale Debatte begann im Februar letzten Jahres und endete im Juni 2016. Wir haben insgesamt knapp siebzehnhundert Experten: Universitätspädagogen, Lehrer, Fachleute aus den Kommunalverwaltungen usw. nach ihrer Meinung gefragt. Wir haben fünfzig Debatten im Bildungsministerium abgehalten sowie jeweils eine groβe Diskussionsveranstaltung in den sechzehn Woiwodschaften (Provinzen – Anm. RdP). Wir hatten in diesen vier Monaten einhundertdreiβig groβe Meetings mit Vertretern der Kommunen. Es sind knapp viertausend Stellungnahmen und Anmerkungen eingegangen, viele von ihnen über die speziell eingerichtete Internetseite http://reformaedukacji.men.gov.pl/.

Ende Juni 2016 haben wir die Bilanz der Diskussion gezogen. Mitte September 2016 sind die entsprechenden Gesetzentwürfe vorgestellt und eine sechswöchige öffentliche Debatte eröffnet worden. Ende November 2016 wurden die Gesetzentwürfe ins Parlament eingebracht und Ende Dezember 2016 wurden sie verabschiedet, damit die Kommunen bis Ende August 2017 Zeit hatten sie umzusetzen.

Wir haben auf offener Bühne, transparent und zugleich energisch ein wichtiges Vorhaben aus unserem Wahlprogramm umgesetzt, das eine breite Zustimmung in der Bevölkerung hat.

Und die Finanzierung?

Die staatliche Bildungssubvention für die Kommunen, die ja pro Schüler gezahlt wird, hätte 2017 um knapp 1,5 Milliarden Zloty (ca. 360 Millionen Euro – Anm. RdP) gekürzt werden müssen, aufgrund der kleineren Schülerzahl. Wir haben sie nicht gekürzt und zusätzlich um gut 400 Millionen Zloty (ca. 100 Millionen Euro – Anm. RdP) erhöht, damit die Kommunen die Mehrkosten der Reform bezahlen können.

Was noch war in der Vorbereitungsphase wichtig?

Die rechtzeitige Fertigstellung der Rahmenlehrpläne und die Einweisung der Lehrer. Auβerdem sollten alle Schüler kostenlose Lehrbücher erhalten.

Heiβt das, dass es einheitliche Lehrbücher für alle Schulen geben wird?

Auf keinen Fall. Die Schüler an allen jetzt auslaufenden Gymnasien (nur noch Klasse acht bis neun) und an allen Grundschulen (Klasse eins bis sieben und ab September 2018 auch Klasse acht, entsprechend dem neuen Modell) bekommen ihre Bücher umsonst. Das bedeutet nicht, dass Lehrer und Eltern bei der Auswahl nichts zu sagen haben. Sie haben die Wahl, sie entscheiden. Die Auswahl an zugelassenen Lehrbüchern in allen Fächern ist in Polen sehr groβ.

Die Regierung von Recht und Gerechtigkeit hat so mit der Praxis unserer Vorgänger gebrochen und schafft das kostenlose, vorgeschriebene Einheitslehrbuch für die Klassen eins bis drei ab.

Die Opposition und die ihr nahestehenden polnischen und ausländischen Medien behaupteten hartnäckig, es werde Massenentlassungen von Lehrern geben. Viele Lehrer würden weniger Unterrichtsstunden haben und somit auch niedrigere Einkommen.

Das stimmt nicht. Umgekehrt, durch die Reform entstehen neue Arbeitsplätze.

Woher?

Wir haben nicht erlaubt, dass in den Grundschulen die neuen siebten Klassen zusammengelegt werden. Früher war das so. Um Kosten zu sparen haben Kommunen an den jetzt auslaufenden Gymnasien (die alle Schüler durchlaufen mussten – Anm. RdP) ab der siebten Klasse so wenige Parallelklassen wie möglich eingerichtet. Das heiβt: wenn es in allen Grundschulen einer Kommune, sagen wir, zwanzig sechste Klassen gab, dann wurden daraus in den Gymnasien derselben Kommune neun, vielleicht zehn Klassen. Jetzt soll es genauso viele siebte wie sechste Klassen geben. Keine Zusammenlegungen. Dadurch wird es im Landesdurchschnitt achtzehnhundert Klassen dieser Stufe mehr geben.

Mehr Arbeit entsteht auch dadurch, dass in den neuen Rahmenprogrammen mehr Unterrichtsstunden vorgesehen sind. Wir erwarten, dass in den nächsten zwei Jahren an den Schulen zehntausend neue Stellen entstehen werden.

Der Polnische Lehrerverband (ZNP) sagt, Sie verbreiten amtlichen Optimismus und er zeichnet düstere Szenarien eines Scheiterns der Reform. Wie gestaltet sich ihr Verhältnis mit dem ZNP, der am heftigsten gegen die Veränderungen wettert?

(Der Polnische Lehrerverband – ZNP blickt auf eine knapp einhundertzwanzigjährige Tradition zurück, wurde allerdings in der kommunistischen Zeit sehr gründlich ideologisch durchdrungen. Etwa sechzig Prozent seiner Mitglieder waren in der kommunistischen Partei, darunter praktisch alle Schuldirektoren und ihre Stellvertreter. Das wirkt bis heute nach.

Der ZNP hat sich nach 1989 offiziell politisch engagiert, auch bei Wahlen. Er ist bis heute eng liiert mit den Postkommunisten und lehnt die nationalkonservative Regierung aus Prinzip ab. Einen wichtigen Platz unter den ZNP-Mitgliedern nehmen die Direktoren der etwa 7500 Gymnasien ein, die aufgrund der Reform abgeschafft werden und somit wird dieser Personenkreis seine bisherigen Leitungsfunktionen verlieren.

Die Lehrer-Solidarność dagegen steht eindeutig zu der Reform, auch wenn sie sie in manchen Punkten kritisiertAnm. RdP)

Was das Scheitern angeht, so gibt es dafür nicht die geringsten Anzeichen. Die Umsetzung klappt bis jetzt sehr gut.

Ich versuche Konflikte zu vermeiden. Als Bildungsministerin war ich verantwortlich für die Vorbereitung der Reform. Ich habe mit allen wichtigen Lehrer-Verbänden verhandelt. Der ZNP hat mich hart angegriffen, wozu er das Recht hat. Leider agiert der Verband in Sachen Bildungsreform sehr, oder fast nur, politisch. Die lautstarke ideologische Kritik der Rahmenlehrpläne überwiegt bei ihm eindeutig zu Ungunsten der Arbeitnehmerprobleme.

Andererseits haben der ZNP und ich in vielen Fragen ein Einvernehmen erzielt. Wenn Kameras und Mikrophone nicht dabei sind, können ZNP-Vertreter sehr sachlich vorgehen.

So ist es zum Beispiel im Koordinationsausschuss, dem Vertreter des Bildungsministeriums, der wichtigsten Gewerkschaften und der Kommunen angehören. Dort haben wir mittlerweile die Eckdaten des künftigen Bildungsfinanzierungsgesetzes abgesteckt. Das stimmt zuversichtlich.

Wie steht es um die Gehaltserhöhungen für Lehrer?

Es wird sie ab März 2018 in drei Stufen geben. Die erste Erhöhung soll fünf Prozent betragen. Hinzu kommt die neue monatliche Fünfhundert-Zloty-Zulage (ca. 120 Euro – Anm. RdP) für herausragende Leistungen. Bisher haben viele Lehrer nach fünfzehn Jahren den Höhepunkt ihrer Berufskarriere erreicht – die Ernennung zum Diplomlehrer. Oft fehlte danach der Anreiz sich weiterzubilden, neue Aktivitäten zu entwickeln. Um das zu ändern, soll es die neue Zulage geben, begrenzt auf maximal fünf Jahre. Dann wird es eine Überprüfung der Leistungen nach genau festgelegten Kriterien und eine eventuelle Verlängerung geben.

Wer wird darüber entscheiden?

Letztendlich die Schulleitung.

Mit der Reform werden die dreijährigen Gymnasien abgeschafft und neue Rahmenlehrpläne eingeführt. Wo wird es die gröβten Veränderungen geben?

Die neuen Rahmenlehrpläne verändern den Unterricht vor allem in der ersten, vierten und siebten Klasse. Es sind sehr moderne Rahmenlehrpläne. Die Kinder in der ersten Klasse sollen die Grundlagen des Programmierens kennlernen, das Schachspielen, das beim Mathematiklernen sehr hilfreich ist, und sie sollen lautes Vorlesen üben.

In der vierten Klasse wird es eine Vorbereitung zum Lernen neuer Fächer wie Naturkunde, Physik usw. geben. In den ersten drei Klassen der Grundschule werden die Schüler von einem, höchstens zwei Lehrern unterrichtet und rundum betreut. Der Übergang zum Fachunterricht in der vierten Klasse, zum selbständigen Lernen, zur selbständigen Vorbereitung für Klassenarbeiten usw. hat sich als zu abrupt erwiesen. Viele Kinder waren damit überfordert. Deswegen wollen wir an dieser Stelle eine mehrmonatige Übergangsphase einrichten.

Schon in der siebten Klasse wird es eine Einleitung und Vorbereitung auf das vierjährige Lyzeum bzw. die neugestalteten Berufsschulen geben. Zudem sollen in den nächsten drei Jahren alle Schulen Breitbandinternet bekommen.

Wie wird der neue Geschichtsunterricht aussehen?

Es gab sehr viel Kritik seitens der Geschichtslehrer und der Historiker an den Universitäten daran, wie Geschichte zur Zeit der Tusk-Regierung unterrichtet wurde. Es herrschte eine enorme Beliebigkeit. Es gab sogenannte Themenblöcke zur Auswahl und so lernten die Schüler die Geschichte der Südamerika-Indianer und erfuhren kaum etwas über die Geschichte Polens. Auβerdem reichte weder im dreijährigen Gymnasium noch in dem darauffolgenden dreijährigen Lyzeum die Zeit aus um die Geschichte des 20. Jahrhunderts zu behandeln. Es war ein Trauerspiel.

Ja, und das haben wir geändert. Seit 1999 bis letztes Jahr teilte sich der zwölfjährige Schulzyklus in vier Teile. Die ersten zwei Teile entfielen auf die sechsjährige Grundschule – Kleinkinder bis dritte Klasse, dann die älteren Kinder bis Klasse sechs mit Fachunterricht. Danach kamen das dreijährige Gymnasium (sagen wir Klasse sieben bis neun) und das ebenfalls dreijährige Lyzeum (Klasse zehn bis 12).
Die Allgemeinbildung endete nach der ersten Klasse des Lyzeums (mit Ende des zehnten Schuljahres). Dann lernten die Schüler nur noch ihre Abiturfächer, und wer sich für Biologie und Chemie entschied, kam ab dem sechzehnten Lebensjahr nicht mehr in Berührung mit Geschichte, Musik, Geographie usw.

Im Geschichtsunterricht soll es jetzt einen kompletten Kurs der polnischen Geschichte geben, von den Anfängen bis zum Ende des 20. Jahrhunderts.

Da kommt der Vorwurf auf, das sei engstirniger Nationalismus.

Ja, ich weiβ. Es wird uns gar vorgeworfen, die Reform führe nordkoreanische Zustände herbei. Aber im Ernst. Parallel wird ja die Weltgeschichte behandelt, aber den Schwerpunkt bildet die polnische Geschichte und mit ihr all die Kontroversen, die sie mit sich bringt: warum ist die Adelsrepublik untergegangen, der Streit um den Sinn der nationalen Aufstände usw.

Nur wenn genügend Zeit hierfür gegeben ist, kann man sich mit der eigenen Geschichte ausführlich auseinandersetzten. Dazu muss man sie aber erst einmal kennenlernen. Das war in den letzten knapp zwanzig Jahren unmöglich. Was, bitte sehr, ist schlecht daran, dass polnische Kinder dank der polnischen Schule gut über die Geschichte ihres Landes Bescheid wissen.

Es heiβt, sie haben Lech Wałęsa aus dem Geschichtsunterricht getilgt.

Das entsprechende Kapitel des Rahmenlehrplanes heiβt „Solidarność und ihre Helden“. Damit ist auch Wałęsa gemeint. Aber nicht er allein, wie er heute allen Ernstes behauptet, hat den Kommunismus bezwungen, sondern es waren Zehntausende von einfachen Solidarność-Mitgliedern und Solidarność-Aktivisten, die das bewirkt haben. Dem müssen wir Rechnung tragen.

Auch der Rahmenlehrplan für Polnisch wird im gleichen Sinne angegriffen.

Wir haben nur für mehr Ausgewogenheit gesorgt. Bis jetzt wurden im Literaturunterricht fast ausnahmslos neuere und moderne Autoren behandelt, die die Linke für würdig hielt, dass sie behandelt werden. Wir haben diese Liste etwas verkürzt um den Schülern auch Vertreter anderer Sichtweisen näherzubringen. Czesław Miłosz, Witold Gombrowicz, Sławomir Mrożek bleiben, aber hinzugekommen sind so wichtige „konservative“ Schriftsteller und Dichter wie Jarosław Marek Rymkiewicz oder Wojciech Wencel, und das weckt in den linksliberalen Kreisen helle Empörung.

Und was ist mit Darwins Evolutionstheorie? „Darwin fliegt raus“, titelte vor nicht langer Zeit eine deutsche Zeitung als sie über die polnische Bildungsreform berichtete.

Darwin bleibt im Biologieunterricht. Neben seiner Evolutionstheorie wird jedoch auch ihre missbräuchliche Umdeutung und Übertragung ins Politische, also die menschenfeindliche Ideologie des Sozialdarwinismus erwähnt und ihr wird die Schöpfungstheorie gegenübergestellt. Das sollte noch erlaubt sein.

Sie sind zuversichtlich.

Ja, weil wir von der Richtigkeit unseres Tuns überzeugt sind und weil eine breite Unterstützung für die Reform spürbar ist.

RdP




AfD? Für Polen passé

Nach der Bundestagwahl. Chancen, Risiken, Nebenwirkungen für Polen. Aus Warschau betrachtet.

Der Soziologieprofessor und Europa-Abgeordnete Zdzisław Krasnodębski ist einer der wichtigsten intellektuellen Vordenker der nationalkonservativen Regierungspartei Recht und Gerechtigkeit. Das Gespräch mit ihm, das wir in leicht überarbeiteter Form wiedergeben, erschien im Wochenmagazin „Do Rzeczy“ („Zur Sache“) vom 8. Oktober 2017.

Prof. Zdzisław Krasnodębski.

Vor kurzem haben Sie öffentlich gesagt, Angela Merkel sei politisch geschwächt aus den letzten Bundestagswahlen hervorgegangen und aus diesem Grund werde sie nun eher bereit sein, ein Einvernehmen mit der jetzigen Warschauer Regierung zu suchen.

Ich bin der Meinung, dass eine deutsche Regierung, die aus drei sehr unterschiedlichen Parteien besteht, ein für uns zugänglicherer Partner sein wird als die groβe Koalition der CDU mit den Sozialdemokraten. Die SPD hat seinerzeit viel für die Verständigung mit Polen und die Anerkennung der Oder-Neiβe-Grenze getan, heute jedoch ist sie vor allem eine Partei mit sehr starken Bindungen an Russland. Gerhard Schröder gehört weiterhin zu ihrem nahen Umfeld, einstige enge Mitarbeiter Schröders, wie z.B. Frank-Walter Steinmeier und Sigmar Gabriel verfügen in der SPD über groβen Einfluss.

Ohne die SPD in der deutschen Regierung wird es leichter fallen an den Sanktionen gegen Russland festzuhalten. Es kann auch gelingen den Bau der Nord Stream 2–Gasleitung von Russland nach Deutschland unter der Ostsee aufzuhalten. Angela Merkel hat immer wieder beteuert diese Gasleitung sei ein rein wirtschaftliches Vorhaben. Damit hat sie zu verstehen gegeben, dass die Verbindungen zu Russland für sie kein Dogma seien, sondern eine Frage der Interessenlage. Die Grünen sind in Bezug auf Russland noch viel kritischer.

Die Grünen und die Liberalen sind also paradoxerweise unsere Verbündeten?

Wir, die polnischen Nationalkonservativen, haben in Deutschland keine dauerhaften Verbündeten, mit denen wir auf breiter Front zusammenarbeiten könnten. Möglich jedoch sind umstandsbedingte, taktische Zweckbündnisse. Mit den Grünen in der Russlandpolitik, mit den Liberalen in der Europapolitik, weil sie, wie wir, die Pläne zur Schaffung einer Kern-EU aus Ländern die den Euro haben ablehnen usw.

Die herben Stimmeneinbuβen der CDU von knapp neun Prozent hängen eindeutig zusammen mit der „Willkommenspolitik“ von Frau Merkel.

Wenn sie nach ihrer Entscheidung im Jahr 2015, die Grenze für die Immigrantenflut zu öffnen gefragt wird, verteidigt sie ihren damaligen Entschluss und weigert sich ihren Fehler einzugestehen, aber das sind nur Worte. In Wirklichkeit hat sie ihre Herangehensweise grundlegend geändert. Sie spricht jetzt von Sicherheit, von Bedrohungen, von Ausweisungen derer, denen kein Asyl gewährt wurde. Im Wahlkampf war keine Rede mehr von der „Willkommenskultur“, das Wort des Jahres 2017 in Deutschland lautet „Gefährder.

Sicherlich waren die Wahlergebnisse, obwohl eigentlich vorhersehbar, ein Schock für das deutsche politische Establishment. Die Deutschen haben eindeutig zu verstehen gegeben was sie von der Immigrationspolitik der offenen Tür halten. Verloren hat die bisherige Regierungskoalition, verloren haben die Sozialdemokraten, einen gewaltigen Erfolg verzeichneten dafür die bisherigen nicht im Parlament vertretenen Parteien, die AfD und die FDP. Das kann man nicht mehr einfach so übergehen.

Wird aufgrund dessen die EU aufhören Polen wegen seiner Weigerung Immigranten aufzunehmen anzugreifen?

Ja. Das Programm der zwangsweisen Umverteilung der Immigranten ist gescheitert. Selbst die Deutschen haben ihre Verpflichtungen diesbezüglich nur zu siebenundzwanzig Prozent erfüllt. Frau Merkel hat einst die Richtung der Immigrationspolitik in der EU vorgegeben, und sie wird jetzt die neue, entgegengesetzte Richtung vorschreiben.

Welche Richtung wird die EU unter der Führung von Frau Merkel jetzt einschlagen?

Ganz bestimmt werden die radikalen Ideen des französischen Staatspräsidenten Macron nicht verwirklicht. Es werden wahrscheinlich einige neue Gremien zur besseren Koordinierung der EU-Politik entstehen, aber das wird nur zu einer weiteren Streuung der Kompetenzen führen und nicht zu einer Bündelung oder Zentralisierung.

Es ist nicht vorstellbar, dass die Deutschen ihren Finanzminister einem EU-Finanzminister unterordnen. Es wird auch keine Zustimmung aus Berlin für einen separaten Haushalt der Euro-Zone geben. Die Deutschen haben nicht die geringste Absicht für die Kosten der Sanierung der südlichen EU-Staaten, zu denen sie auch Frankreich zählen, aufzukommen. Darauf beruht meine Zuversicht was die polnisch-deutschen Beziehungen in der nächsten Zeit angeht.

Was wird sich in der deutschen Politik mit dem Einzug der AfD in den Bundestag ändern?

Nachdem Frauke Petry, die Mitvorsitzende der AfD, die Partei verlassen hat, ist es ungewiss wie lange diese Gruppierung überdauern wird und ob es nicht zu weiteren Abspaltungen kommt. Das deutsche politische und mediale Establishment wird jedenfalls alles nur Erdenkliche unternehmen, um die AfD zu marginalisieren.
Wie auch immer, klar ist, dass diese Partei Meinungen eines bedeutenden Teils der deutschen Öffentlichkeit wiedergibt, die bis jetzt im Bundestag nicht zu hören waren.

Paradoxerweise wird die AfD zu einer Demokratisierung des politischen Lebens in Deutschland beitragen. Sie hat eine Bresche geschlagen in der deutschen Konsensdemokratie, in der alle mit allen weitestgehend einer Meinung sind. Das wird die politische Debatte beleben. Die AfD wird in den schläfrigen Bundestag Unruhe, Streit und Unverfälschtheit bringen.

Ein Teil der polnischen Konservativen begrüβt den Einzug der AfD in den Bundestag, weil sie sich der Einwanderung von Immigranten widersetzt, weil sie die konservativen Werte hochhält. Gleichzeitig lobt der AfD-Chef Alexander Gauland die Wehrmacht. Wenn Donald Trump verspricht sein Land groβ zu machen, dann bewundern ihn die Polen dafür. Wenn ein Deutscher dasselbe über sein Land sagt, dann wird vielen Menschen in Polen unwohl.

Die meisten Leute, die heute die AfD prägen sind seit Jahren in der deutschen Politik. Nicht wenige von ihnen waren einst in der CDU, wie die den Polen zur Genüge bekannte Erika Steinbach. Auch der Wehrmacht-Bewunderer Gauland war dreiβig Jahre lang aktiv in der CDU.

Diejenigen bei uns, von denen sie eingangs sprachen, übertragen, weil ihnen das Wissen fehlt, polnische Sichtweisen und Einschätzungen auf Deutschland, ein Land mit einer völlig anderen politischen Kultur wie die unsere. Sie sympathisieren mit der AfD weil sie gegen den Zuzug von islamischen Immigranten ist und ein eindeutig nationales Profil an den Tag legt.

Man darf aber nicht vergessen, dass unsere Nationalkonservativen vor allem an die Tradition der freiheitlichen polnischen Adelsrepublik anknüpfen, die, nach Jahrhunderten, bei der dritten polnischen Teilung 1795 untergegangen ist sowie an die Tradition des langen polnischen Freiheitskampfes danach, bis 1989.

Die AfD dagegen schöpft ihre politische Kraft zu einem erheblichen Teil aus dem zumeist polenfeindlich eingestellten ostdeutschen Wählerpotential. Betrachtet man die Lebensführung nicht weniger AfD-SpitzenpolitikerInnen, dann sieht man wie weit die AfD von den christlichen Werten, zu denen sich die polnischen Nationalkonservativen eindeutig bekennen, entfernt ist. Der polnische Katholizismus steht bei der AfD genauso wenig im Kurs wie bei den übrigen deutschen Parteien.

AfD-Parteiprogramm auf Polnisch.

Die AfD ist äuβerst prorussisch und sehr antiamerikanisch, umgekehrt sieht es bei den polnischen  Nationalkonservativen aus. Die AfD will den Austritt Deutschlands aus der Nato, während Polens Nationalkonservative geradezu Nato-süchtig sind. Können sie sich vorstellen, dass die AfD, mit Alexander Gauland an der Spitze, mit uns gemeinsam den Jahrestag des Ausbruchs des Warschauer Aufstandes vom August 1944 begeht? Oder Verständnis für die polnischen Reparationsforderungen aufbringt?

Alice Weidel schrieb, die Mitglieder der deutschen Bundesregierung von Angela Merkel seien „nichts anderes als Marionetten der Siegermächte des Zweiten Weltkrieges und hätten die Aufgabe das deutsche Volk klein zu halten.“ Das erinnert stark an die revisionistischen deutschen Klagen über den Versailler Vertrag zu Zeiten der Weimarer Republik.

Die AfD weiβ, immer noch, lediglich dreizehn Prozent der Deutschen hinter sich, und bei Weitem nicht alle von ihnen teilen diese Meinung. Wenn jemand sich als deutscher Patriot bezeichnet, dann muss man ihn unbedingt fragen, auf welche Periode, welche Ereignisse, welche Persönlichkeiten der deutschen Geschichte er seinen Patriotismus bezieht? Auf die deutschen Befreiungskriege? Auf den hehren ideellen Widerstand gegen Hitler von Dietrich Bonhoeffer, der Geschwister Scholl und der Weiβen Rose etwa? Auf Bismarck, welcher in Polen umgehend sehr ungute Erinnerungen weckt? Oder auf etwas anderes? Die AfD beantwortet diese Frage nicht eindeutig. Wer sich mit ihr politisch einlässt tappt daher unweigerlich in eine Falle.

Ich bin der Meinung, die AfD knüpft an die Wilhelminische Zeit an und träumt von der Wiederherstellung der damaligen Groβmacht Deutschland inmitten Europas, herausgelöst aus der EU und aus der Nato, und wenn es sich eines Tages ergeben sollte, dann gerne „Von der Maas bis an die Memel, von der Etsch bis an den Belt“. Die Oder-Neiβe-Grenze wäre da nur hinderlich.

Trotz einiger Sympathiebekundungen meiden die regierenden polnischen Nationalkonservativen Kontakte und Begegnungen mit der AfD. Zu groβ sind die Unterschiede.

Die Hitlerzeit ist in Deutschland immer noch ein Tabu, sogar die AfD hat nicht den Mut den Nationalsozialismus zu rehabilitieren. Aber viele ihrer Funktionäre und Sympathisanten, vor allem diejenigen, die aus dem Dunstkreis der NPD kommen, tun es scheibchenweise indem sie z. B. fordern, die Deutschen sollen endlich aufhören sich Asche aufs Haupt zu streuen für die Verbrechen der Nazis.

Wenn Gauland der Wehrmacht Anerkennung zollt, dann hat er ihr zweifelsohne hervorragendes, hocheffizientes soldatisches Handwerk vor Augen. Wir dagegen haben vor Augen was die unbenommen glanzvollen militärischen Siege der Wehrmacht an Völkermord, Zerstörung und unsäglichem Leid mit sich gebracht haben. Deswegen gibt es aus polnischer Sicht mit der AfD, obwohl es zu einigen Themen ähnliche Vorstellungen geben mag, obwohl es ihrerseits einige Sympathiebekundungen für die polnischen Nationalkonservativen gab, nichts zu bereden.

Auch wenn einige in Polen, sei es aus Unwissenheit oder aus Trotz, gewisse Sympathien für die AfD zum Ausdruck bringen, so gilt für die heutige offizielle polnische Politik: Keine Illusionen und keine Kontakte mit der AfD.

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RdP




Das Wichtigste aus Polen 17. September – 7. Oktober 2017

Kommentatorin Aleksandra Rybińska und Janusz Tycner diskutieren die  wichtigsten Ereignisse der letzten Zeit in Polen. ♦ Ergebnisse der Bundestagswahlen, die neuen deutschen Regierungskonstellationen und die deutsch-polnischen Probleme: Nordstream 2, Kriegsreparationen, Begrenzung der deutschen Medienvorherrschaft in Polen. Neue Ansätze kaum in Sicht. ♦ Separatisten in Katalonioen und in Oberschlesien. Mehr Unterschiede als Gemeinsamkeiten. ♦ Renteneintrittsalter gesenkt. Statt 67 Jahre für alle, ab dem 1. Oktober 2017 mit 60 Jahren (Frauen) und 65 (Männer) in die Rente. Werden Frauen so diskriminiert? ♦ Ende der hohen Altersrenten für ehemalige Beamte der polnischen Staatssicherheit. Ein später Akt der Gerechtigkeit. ♦ Ab 2018 sollen Angestellte im Handel zwei freie Sonntage im Monat haben. Die Freiheit des Sonntagsshoppings und das Recht auf den arbeitsfreien Sonntag. Was wiegt mehr?




Kaczyński und die Juden

Ob für oder gegen Kaczyński, beide verfeindeten Lager der polnischen Juden fordern gleichermassen die Achtsamkeit des mächtigen Politikers ein.

Die einen preisen das heutige Polen als ein gutes Land für die Juden, die anderen warnen vor dem angeblich sprunghaft wachsenden Antisemitismus.

Dazu veröffentlichen wir ein Gespräch mit Jonny Daniels, erschienen im Wochenmagazin „wSieci“ („imNetzwerk“) vom 28.August 2017.

Jonathan Daniels, geboren 1986, lebte bis zu seinem achtzehnten Lebensjahr in London, zog dann nach Israel. Er studierte den Talmud an einer Jeschiwa Hochschule, leistete Wehrdienst in der israelischen Armee und studierte anschlieβend Politologie an der Bar-Ilan-Universität in Tel Aviv. Daniels arbeitete als Assistent und Berater in verschiedenen höheren Behörden der israelischen Verwaltung. Eine Zeit lang beriet er Unternehmen, die in Israel Fuβ fassen wollten.

Mit dem polnischen Staatspräsidenten Andrzej Duda.

Vor einigen Jahren kam er nach Polen, ins Land seiner Vorfahren, die in dem Zweitausend-Seelen-Städtchen Dobrzyń nad Wisłą (Dobrin an der Weichsel), ungefähr sechzig Kilometer südöstlich von Toruń/Thorn lebten. Während der polnischen Teilungen gehörte Dobrzyń zu Russisch-Polen, in der Zwischenkriegszeit 1918-1939 zu Polen. Juden stellten zeitweise bis zu einem Drittel der Stadtbevölkerung. Die meisten von ihnen, darunter Daniels Vorfahren, wanderten um 1900 in die USA aus.

Mit Pater Tadeusz Rydzyk. Daniels pflegt den jüdisch-polnischen Dialog als Gast des Senders Radio Maryja und seines Fernsehablegers TV Trwam.

Daniels hat inzwischen seinen Lebensmittelpunkt nach Polen verlegt. Er gründete die Stiftung „From the Depths“ („Aus den Tiefen“) mit dem Ziel, diejenigen Polen, die Juden während der deutschen Besatzung retteten (worauf die Todesstrafe für die ganze Familie stand, siehe das Beispiel der Familie Ulma) ausfindig zu machen und zu ehren. Daniels, mit seinen exzellenten Kontakten in die höchsten Kreise der Politik in beiden Ländern, gehört inzwischen zu den wichtigsten Mittlern zwischen Polen und Israel.

War der von Ihnen organisierte Besuch jüdischer Führungspersönlichkeiten bei Jarosław Kaczyński (am 19. August 2017 – Anm. RdP) eine Reaktion auf den Brief der Vorsitzenden einiger jüdischer Gemeinden, in dem behauptet wird, in Polen hätten „antijüdische Haltungen“ an Bedeutung gewonnen?

Nein, das Gespräch war schon vorher geplant. Es traf sich jedoch gut, dass es gerade in dieser Zeit stattfand, denn so konnten wir, teilweise wenigstens, die unangenehmen Folgen des unklugen Vorgehens der Vorsitzenden der jüdischen Gemeinden abschwächen.

Treffen Jaroslaw Kaczyńskis mit Vertretern polnischer Juden am 19. August 2017.

Unklug?

Wie überall, gibt es zweifelsohne auch in Polen Antisemitismus, aber man sollte das rechte Augenmaβ behalten. Wir sitzen hier in einem koscheren Warschauer Restaurant. Um uns herum sind Juden mit Kipas. Niemand sieht beunruhigt aus. Die Tür zum Lokal ist weit geöffnet, das Schild über der Tür gibt eine eindeutige Auskunft darüber, was sich hier befindet. Es gibt keine Bewachung, weil sie nicht notwendig ist. So etwas ist mittlerweile in Paris und in vielen anderen westeuropäischen Städten unvorstellbar. Dort haben die Juden allen Grund Angst zu haben und sie haben Angst.

Wie steht es also um den Antisemitismus in Polen?

Er ist unvergleichbar schwächer und unvergleichbar weniger rabiat als in Westeuropa. Zudem, er nimmt nicht zu, wie es die Vorsitzenden der jüdischen Gemeinden behaupten.

Antisemitische Schmiererei.

Hat Polen also kein Problem mit dem Antisemitismus?

Kein Problem, das kann man natürlich nicht sagen. Auch die Regierung macht diesbezüglich Fehler, aber das bezieht sich ausschlieβlich auf die Öffentlichkeitsarbeit. Polen ist ein leichtes Ziel. In Sachen internationale Öffentlichkeitsarbeit hinkt es Israel und den amerikanischen Juden dreiβg Jahre hinterher.

Die polnische Regierung reagiert zu spät und zu schwach auf solche, eher seltenen Zwischenfälle, wie der öffentlichen Verbrennung einer Judenstrohpuppe in Wrocław (am

Staatspräsident Andrzej Duda an der Klagemauer in Jerusalem. Januar 2017.

19. November 2015, der Täter wurde zu drei Monaten Haft ohne Bewährung verurteilt – Anm. RdP) oder den Überfall von Fuβballhooligans auf israelische Sportler (am 3. August 2017 in Płońsk bei Warschau, die zwei Opfer erlitten leichte Schürfwunden, die Täter wurden ermittelt und warten auf ihren Prozess – Anm, RdP).

In Zeiten von Twitter muss man sofort die 140 Zeichen mit einer eindeutigen moralischen Verurteilung veröffentlichen. Wenn es Opfer gibt, muss man sie spätestens am nächsten Tag besuchen. Es geht hier jedoch nur um Öffentlichkeitsarbeit. Wenn aber jemand der jetzigen nationalkonservativen polnischen Regierung Antisemitismus vorwirft, dann ist das eine niederträchtige Lüge.

Warum niederträchtig?

Weil die jetzige Regierung nicht nur nicht antisemitisch ist, sie gehört zu den pro-israelischsten auf unserem Planeten. Ich kann nicht über alles reden was ich weiβ, aber beide Staaten arbeiten auf vielen Gebieten auβergewöhnlich eng zusammen und begegnen sich mit groβer Achtung. Ich möchte unterstreichen: das gilt gerade für die jetzige Regierung von Recht und Gerechtigkeit.

„Die jetzige polnische Regierung gehört zu den pro-israelischsten auf unserem Planeten.“ Ministerpräsidentin Beata Szydło und Amtskollege Benjamin Netanjahu in Tel Aviv. November 2016.

Sehr bezeichnend ist eine Episode von vor einigen Jahren. Ich habe damals eine Reise von Knesset-Abgeordneten nach Polen organisiert und wollte nach den offiziellen Feierlichkeiten zum Jahrestag der Befreiung von Auschwitz noch eine halboffizielle Begegnung mit ranghohen polnischen Politikern arrangieren. Die damalige Tusk-Regierung war daran nicht sonderlich interessiert. Zu dem Treffen kamen schließlich ganz wenige Abgeordnete der regierenden Bürgerplattform, dafür aber sehr viele Sejm-Abgeordnete von Recht und Gerechtigkeit, sogar Europa-Abgeordnete dieser Partei, darunter der jetzige Staatspräsident Andrzej Duda. Das gab mir zu denken.

Das bedeutet noch lange nicht, dass man in Polen nicht mit Antisemitismus in Berührung kommt.

In der ersten Jahreshälfte 2017 haben einhundertfünfzigtausend israelische Touristen Polen besucht, meistens auβerhalb von Holocaust-Gedenkfeierlichkeiten. Es kamen auch achtundsiebzig israelische Journalisten. Polen ist dicht dran das touristische Reiseland Nummer eins der Israelis zu werden.

Weil es in Polen keine islamistischen Terroranschläge gibt?

Ja, das auch, aber kämen diese Menschen nach Polen, wenn es hier auf Schritt und Tritt eine antisemitische Stimmung gäbe? Außerdem kommen viele von ihnen ein zweites oder drittes Mal. Polen ist ein gutes Land für Juden.

Das „Tel Aviv“ in der Poznańskastrasse. Eines von zwanzig jüdischen Restaurants in Warschau.

Warum also schreiben die Vorsitzenden der jüdischen Gemeinden einen Brief, in dem sie das Gegenteil behaupten?

Vor allem deswegen, weil es Personen sind, die sich tief in dem innerpolnischen politischen Konflikt auf der Seite der jetzigen Opposition engagiert haben. Es genügt ihre Facebook-Profile einzusehen, um festzustellen, dass sie keine Gelegenheit auslassen ihre tiefe Ablehnung gegenüber der jetzigen Regierung kundzutun.

Handelt es sich also ihrerseits um eine Instrumentalisierung des Antisemitismus-Vorwurfs im Kampf gegen Recht und Gerechtigkeit?

Das was sie tun, ist nicht nur dumm, sondern auch gefährlich. Sie schreien „Der Wolf kommt, der Wolf kommt!“ und es gibt keinen Wolf. Wenn sie so weiter machen, und der Wolf sollte eines Tages doch auftauchen, wird niemand ihr Rufen ernstnehmen.

Wird ihr Rufen von den Juden im Westen nicht schon heute ernstgenommen?

Unser Treffen mit Jarosław Kaczyński hat die Wirkung des Briefes weitgehend reduziert. Viele einflussreiche jüdische Medien, wie zum Beispiel das amerikanische Wochenmagazin „The Forward“, haben sowohl das Gespräch, wie auch unsere entschiedene Kritik an diesem Schreiben wahrgenommen. Ein unguter Beigeschmack ist leider geblieben.

Dabei muss man berücksichtigen, dass es zwei wichtige Zentren der jüdischen Meinungsbildung gibt: Israel und die USA. In Israel überwog lange Zeit eine antipolnische Stimmung. Das hat sich geändert.

Ist es in den USA anders?

Leider ja. Bei den amerikanischen Juden war die antipolnische Stimmung immer deutlich stärker und aggressiver als in Israel. Jetzt wird dieser Unterschied noch gröβer, weil sich die Stimmung in Israel zum Besseren wendet, während sie in Amerika unverändert bleibt.

Eine wichtige Rolle spielt dabei die Tatsache, dass viele amerikanische Juden mit der liberalen Linken sympathisieren und das macht sie automatisch zu Gegnern der jetzigen Regierung in Warschau.

In Israel dagegen hat die Linke sehr an politischer Bedeutung verloren. Dort ist der Brief kaum auf Resonanz gestoβen, in Amerika hingegen schon. In den USA wird er kolportiert und seine Aussagen werden verschärft durch entsprechende Kommentare der Anti-Defamation League (Antidiffamierungsliga – Anm. RdP). Sie ist immer noch eine der einflussreichsten jüdischen Organisationen, zu der jedoch immer mehr Juden wegen ihrer zunehmenden Linkslastigkeit auf Distanz gehen.

Zudem wissen die meisten amerikanischen Juden nicht, dass die Gemeinden nicht mehr die einzigen Vertreter der polnischen Juden sind. Das jüdische Leben in Polen wird immer vielfältiger.

Das alljährliche zehntägige Festival der Jüdischen Kultur in Kraków sucht seinesgleichen in der Welt.

Sie wissen wahrscheinlich auch nicht, dass die polnischen Juden heute politisch genauso gespalten sind, wie die gesamte polnische Gesellschaft, nämlich in Anhänger und Gegner der jetzigen Regierung. Der Brief der Vorsitzenden der jüdischen Gemeinden erweckt den Eindruck, eine solche Spaltung gäbe es nicht. Wurde er geschrieben und veröffentlicht, weil seine Verfasser der von ihnen ungeliebten Regierung zusetzen wollten?

Die Geldgeber der jüdischen Gemeinden in Polen sind fast ausschlieβlich linksliberale amerikanische Juden. Das wirkt sich eindeutig auf die politische Haltung der Vorsitzenden aus. Solche Attacken unter dem Vorwand der „Verteidigung der Juden“, wie der erwähnte Brief, sind so gesehen sehr lohnend. Man erhält leichter und auch mehr Geld, wenn die Geber überzeugt sind, dass das was sie sponsern bedroht ist.

Wie gesagt, die jetzige Warschauer Regierung ist auβerordentlich juden- und israelfreundlich, aber sie muss auf die gelegentlich vorkommenden antijüdischen Vorfälle entschiedener reagieren. Dieser Mangel diente den Vorsitzenden der jüdischen Gemeinden als Vorwand.

Das Verfassen des Briefes war eine politische Aktion mit dem Ziel die Aufmerksamkeit internationaler Medien zu wecken und ein Signal zu senden: „polnische Juden werden bedrängt“. Ansonsten hätten die Autoren ihren Brief nicht publik gemacht, und schon gar nicht sofort nachdem sie ihn abgeschickt hatten, ohne eine Antwort abzuwarten. Offensichtlich wollten sie der internationalen Öffentlichkeit einreden Kaczyński sei ein Antisemit, was einfach nicht wahr ist.

Staastpräsident Lech Kaczyński (1949-2010) mit dem Oberrabiner Polens Michael Schudrich (Mitte) am 21. Dezember 2008 in der Warschauer Synagoge am Beginn des Chanukkafestes.

Jarosław Kaczyński und sein ums Leben gekommener Bruder Lech hatten schon in ihrer Kindheit einige jüdische Freunde.

Ich sage es mit allem Nachdruck: wenn etwas den Antisemitismus in Polen erwecken kann, dann sind es solche Aktionen, wie der Brief der Vorsitzenden der jüdischen Gemeinden. Das wird deren Gewissen belasten.

Ihre Stiftung „From the Depths“ zeichnet Polen aus, die während des Krieges Juden gerettet haben. Woher diese Idee?

Bei meinen Reisen durch Polen bin ich ins Dorf Rekówka (ca. 150 Kilometer südlich von Warschau – Anm. RdP) gekommen. Nach dem Krieg war dort bisher kein Jude vor mir gewesen. In Rekówka haben deutsche Gendarmen zwei Familien, darunter sechs Kinder zwischen zwei und zwölf Jahren, für das Verstecken von Juden ermordet. Ich war schockiert, weil niemand bis dahin den Nachkommen dieser Menschen auch nur ein offizielles Wort des Dankes gesagt hat.

Wie sind die Auszeichnungen Ihrer Stiftung im Vergleich zu dem Titel „Gerechter unter den Völkern“, den die Gedenkstätte Yad Vashem vergibt zu sehen?

Wir rivalisieren nicht mit Yad Vashem. Es soll einfach mehr Möglichkeiten geben solch tapfere Menschen zu würdigen.

RdP

Rede von Jarosław Kaczyński

am 18. September 2017 bei einer Gedenkveranstaltung im Warschauer Zoo. Dessen Direktor Jan Żabiński (1897 – 1974) und seine Frau Antonina (1908 – 1971) haben während der deutschen Besatzung einige Hundert Juden aus dem Warschauer Ghetto herausgeschmuggelt, sie auf dem weitgehend zerstörten Zoo-Gelände versteckt, um sie von hieraus an geheime Orte auf dem Land zu bringen. Dafür wurden sie 1965 mit dem Titel Gerechte unter den Völkern ausgezeichnet. Bei der Gedenkveranstaltung, unter Beteiligung offizieller Vertreter Israels, wurden, meistens posthum, Polen geehrt, die Juden während der deutschen Besatzungszeit gerettet haben.

Kaczyński sagte unter anderem:

„Der Holocaust war ein unvergleichlich schweres Verbrechen, ein Ausdruck des Bösen in seiner radikalsten Form. Dieses absolut Böse trat in der Geschichte viele Male hervor, aber im zwanzigsten Jahrhundert zeigte es sein schrecklichstes Antlitz. Dem absolut Bösen widersetzte sich etwas, was man als das absolut Gute bezeichnen kann, ein Heldentum höchster Güte, das vor dem Tod nicht zurückwich. (…)

Der Antisemitismus von heute nimmt andere Formen an als früher. Der heutige Antisemitismus äuβert sich in der Feindschaft zum Staat Israel. Sie ist charakteristisch für die Linke und einige andere politische Kräfte in Europa. (…)

Jemand hat gesagt, Israel sei ein kleiner Staat. Nein, Israel ist nicht klein. Israel hat bewiesen, dass nicht das Territorium, sondern die Kraft des Geistes und die Entschlossenheit von der Gröβe eines Staates Zeugnis ablegen. Israel ist auf seine Weise ein groβer Staat. Diese Gröβe ist der Beweis für die Kraft des Geistes aber auch der Beweis dafür, dass es über uns eine höhere Kraft gibt, die über alles entscheidet, denn ohne sie könnte Israel nicht existieren. Das ist das Wunder unserer Zeit. Der heutige Antisemitismus richtet sich gegen Israel. (…)

Es ist sehr gut, dass es eine Stiftung gibt, die es sich zum Ziel gesetzt hat, die Würdigung derer, die diesen Heldenmut aufgebracht haben fortzusetzten und zu erweitern. Die Stiftung „From the Depths“ will, dass viele, die nicht die höchste Genugtuung erfahren haben, bisher nicht als Gerechte unter den Völkern ausgezeichnet wurden, doch noch aus der Vergessenheit geborgen und geehrt werden. (…)

Antonina und Jan Żabiński.

Diejenigen, die der Opfer des Holocaust gedenken, erinnern auch an jene, welche Menschen vor dem Holocaust retteten. Es waren die tapfersten der Tapferen. Dafür gebietet ihnen ewiger Ruhm. Ich verneige mich vor ihnen.“

Brief der Vorsitzenden der jüdischen Gemeinden in Polen an Jarosław Kaczyński

Warszawa, den 4. August 2017

Herrn Jarosław Kaczyński Vorsitzender von Recht und Gerechtigkeit

Geehrter Herr,
mit groβer Beunruhigung nehmen wir in den letzten Monaten eine Zunahme von antisemitischen Haltungen in Polen wahr, eine Brutalisierung der Sprache sowie von Verhaltensweisen, von denen viele gegen unsere Gemeinschaft gerichtet sind.

Mit besonderer Empörung erfüllen uns die Ereignisse der letzten Tage, die die Befürchtung wecken, dass wir in einem für uns immer weniger sicheren Umfeld leben. Ein wachsender Antisemitismus in der öffentlichen Debatte, die dem Senator Marek Borowski vorgehaltene jüdischen Herkunft seiner Vorfahren durch die Journalistin des Polnischen Fernsehens Magdalena Ogórek, das Auftauchen faschistischer Fahnen und Parolen von ORN Falanga bei staatlichen Feierlichkeiten; dies alles weckt schlimmste Erinnerungen. Vor einigen Tagen verbreitete der Abgeordnete von Recht und Gerechtigkeit, Herr Bogdan Rzońca (fonetisch Schontza – Anm. RdP) über die sozialen Medien seine absurden, menschenverachtenden Gedankengänge: „(…) Ich überlege warum es, trotz des Holocaust, so viele Juden unter den Befürwortern der Abtreibungen gibt.“ Das zeigt einen vollkommenen Mangel an Sensibilität sowie ein Unverständnis dafür, was das Wesen des Holocaust war.

Dafür gibt es unsererseits keine Billigung. Polen ist unsere Heimat und wir wollen hier nicht unerwünscht sein, doch immer öfter haben wir diesen Eindruck. Der Vorfall von vor einigen Tagen, als israelische Sportler aus antisemitischen Beweggründen tätlich angegriffen wurden, zeigt, dass der Antisemitismus aus der Sphäre der Worte in die Sphäre der Taten übergeht. Wir haben Angst um unsere Sicherheit und unsere Zukunft in Polen, wir wollen keine Wiederholung des Jahres 1968.

Als Sie vor vierzehn Monaten bei den Gedenkfeierlichkeiten zum Jahrestag der Beseitigung des Ghettos von Białystok gesprochen haben empfanden wir Ihre Worte als ermutigend. Wir haben gehofft, dass Sie unsere Gemeinschaft unterstützen werden, dass wir Ihrerseits auf Verständnis sowohl für unsere Geschichte als auch für unsere jetzige Lage treffen würden.

Daher wäre für uns, Ihre starke und entschiedene Verurteilung des Antisemitismus, eine Stellungnahme zu unseren Gunsten, besonders wichtig.

Mit Hochachtung

Anna Chipczyńska, Vorsitzende der Jüdischen Glaubensgemeinde in Warschau
Lesław Piszewski, Vorsitzender des Verbandes der Jüdischen Glaubensgemeinden in Polen

RdP




Das Wichtigste aus Polen 20. August – 16. September 2017

Kommentatorin Olga Doleśniak-Harczuk und Janusz Tycner diskutieren die  wichtigsten Ereignisse der letzten Zeit in Polen. ♦ Polen wartet gespannt auf zwei Gesetzentwürfe des Staatspräsidenten zur Justizreform. Wie weit hat sich Andrzej Duda politisch von den Nationalkonservativen entfernt? ♦ Jean Claude Junckers neueste Europa-Visionen  stoβen auf wenig Gegenliebe in Polen. ♦ Kriegsreparationen von Deutschland sind ein  heiβes Eisen.

Lesen Sie das polnische Rechtsgutachten – deutscher Text.

♦ Der deutsche Bundestagswahlkampf mit polnischen Augen gesehen.




Białowieża-Wald. Es blutet das Försterherz

Verzweifelte Klage über die Borkenkäferplage.

Nichtstun, den Białowieża-Wald dem Borkenkäferbefall preisgeben oder zur Tat schreiten und Rettungsmaβnahmen ergreifen? Der polnischen Staatlichen Forstverwaltung wird in den Berichten der Weltpresse über das Geschehen im Białowieża-Wald die Rolle des Bösewichtes zugedacht. In einer öffentlichen Stellungnahme, die mehrere polnische Zeitungen abgedruckt haben, halten die polnischen Förster dagegen und legen ihre Sicht der Dinge dar.

„Sehr geehrte Damen und Herren,

seit fünf Jahren stirbt ein beträchtlicher Teil des Waldkomplexes von Białowieża vor unseren Augen. Es ist keine für die Natur typische Abfolge des Vergehens und Wiederauflebens. Es ist eine Erscheinung von den Ausmaβen und der Heftigkeit einer Naturkatastrophe, wie es sie in diesem Gebiet seit den zwanziger Jahren des 20. Jahrhunderts nicht mehr gegeben hat.

Der Białowieża-Wald liegt im polnisch-weiβrussischen Grenzgebiet und hat eine Fläche von 1.500 Quadratkilometern, wovon 42 Prozent zu Polen gehören.

Der beispiellos groβe und lang anhaltende Befall durch den Buchdrucker oder Großen achtzähnigen Fichtenborkenkäfer (Ips typographus) verändert den Wald in einer Weise, die Wissenschaftler nicht endgültig vorhersagen können. Menschen, die bisher von diesem Wald bezaubert waren, sind entsetzt. Uns, die Mitarbeiter der Forstverwaltung, erfüllt das mit Trauer. Diese Katastrophe hätte vermieden werden können, hätte man uns nicht zur Tatenlosigkeit gezwungen. Noch ist es jedoch nicht zu spät, um diese Heimsuchung wenigstens zu begrenzen.

Der Białowieża-Wald ist aufgeteilt in drei Oberförstereien: Browsk (oben), Hajnówka (Mitte) und Białowieża (unten). Dort gibt es drei Schutzgebiete, der Rest des Bestandes ist Wirtschaftswald, in dem die Ökologen gegen die aktive Bekämpfung der Borkenkäferplage protestieren. Sie plädieren seit langem dafür, den ganzen Białowieża-Wald in einen riesigen Nationalpark zu verwandeln, was  jedoch die Bewohner der Gegend ablehnen. Der jetzige Białowieża-Nationalpark (rechts) ist von der Borkenkäferplage bis jetzt nicht betroffen.

Die polnische Staatliche Forstverwaltung kümmert sich um den Białowieża-Wald seit knapp einhundert Jahren.

Dank ihrer Bemühungen entstanden in einem Teil des Waldkomplexes nicht nur das abgeschirmte „strenge Schutzgebiet“ des Białowieża-Nationalparks (BNP) sondern auch einige frei zugängliche Schutzgebiete.

Deutsche Rodungen in Białowieża. Originalunterschrift: „Ein Eichenriese mit 1,60 m Durchmesser“.

Es war die polnische Staatliche Forstverwaltung, die den Waldkomplex wiederhergestellt hat, nach den riesigen russischen und vor allem deutschen Kahlschlägen im Ersten Weltkrieg.

(Nach dem verlorenen Krieg gegen Japan (1904 – 1905) entschloss sich die russische Verwaltung, der damals der Białowieża-Wald im dreigeteilten Polen unterstand, die wertvollen Forste industriemäβig auszubeuten. Die Anfänge dieser brutalen Nutzung wurden durch den Einmarsch deutscher Truppen im August 1915 unterbrochen.

Deutsche Rodungen in Bialowieza. Russische Kriegsgefangene schaufeln nach heftigen Schneefällen die Gleise einer der Schmalspurbahnen frei.

Was folgte, war ein Raubbau noch größeren Ausmaβes. Die Deutschen bauten ein dreihundert Kilometer langes Schmalspurbahnnetz, über das sie bis 1918 etwa 5 Millionen Kubikmeter Holz abtransportierten. Dieses wurde in der Umgebung in fünf neugebauten Sägewerken verarbeitet, ergänzt durch eine Fabrik zur Herstellung von Holzwolle, ein Fertighauswerk und die damals gröβte Holzverkohlungsanlage Europas. Die Endprodukte gingen ins Reich.

Deutsche Rodungen in Białowieża waren gedacht als ein Probelauf vor der geplanten industriellen Holzgewinnung in den Urwäldern deutscher Afrikakolonien.

Die Deutschen hinterlieβen einen verwüsteten Białowieża-Wald. Hektarweise zerfurchte Flächen waren tonnenweise bedeckt mit Ästen, Sägemehl, Laub und Nadeln. Hierin lag der Ursprung der eingangs erwähnten riesigen Borkenkäferplage zu Beginn des 20. Jahrhunderts – Anm. RdP).

Bald darauf galt es, den Folgen der rücksichtslosen Rodungen durch die britische Firma The Century Timber Corporation (7.000 Hektar Wald in den Jahren 1924 – 1929) Herr zu werden.

Raubrodungen der britischen Century Timber Corp. Mitte der zwanziger Jahre des 20. Jh.

(Aus Geldnot vergab die polnische Regierung an Century Timber Corp. eine Rodungslizenz für die Jahre 1924 – 1934, um Rücklagen für die Stabilisierung der damals hochinflationären Landeswährung zu schaffen. Die gigantischen Raubrodungen bester Waldbestände durch die Engländer, ohne Neuanpflanzungen, hinterlieβen riesige kahle Flächen. Im Jahr 1929 kündigte die Regierung vorzeitig den Vertrag und zahlte der Firma 325.000 Pfund Sterling Entschädigung – Anm. RdP).

Ein historischer Augenblick. Nach der Ausrottung setzen polnische Förster am 19. November 1929 die ersten rückgezüchteten Wisente im Białowieża-Wald aus.

Die polnische Staatliche Forstverwaltung hat die Rückzüchtung und die Wiederansiedlung der ausgerotteten Wisente betrieben. Sie wirtschaftete und wirtschaftet im Białowieża-Waldkomplex, schützt ihn in enger Zusammenarbeit mit Wissenschaftlern vor allen erdenklichen Gefahren, pflegt seine Vielfalt, gewinnt Holz für die lokale Bevölkerung ohne jedoch den Bestand und den Naturreichtum zu gefährden.

Heute leben knapp sechshundert Wisente in freier Wildbahn im Białowieza-Wald.

Heute versuchen einige Öko-Aktivisten, Wissenschaftler und Medien der Öffentlichkeit einzureden, die Forstverwaltung vernichte den Białowieża-Wald. Sie unterstellen ihr niedrigste Beweggründe und niederträchtiges Handeln. Wir können nicht zulassen, dass die Arbeit von fast einhundert Jahren und das von der Forstverwaltung geschaffene Werk unwidersprochen auf diese Weise herabgesetzt werden.

Mindestens acht Prozent des Białowieża-Waldes sind bereits abgestorben.

Die Staatliche Forstverwaltung, das sind vor allem Menschen, die dauerhaft mit dem Wald leben, in ihm arbeiten, den Wald verstehen. Sie verfügen über einen groβen Sachverstand und erfüllen mit voller Überzeugung ihren öffentlichen Auftrag. Und sie lieben ihren Białowieża-Wald.

Sowohl angehende, wie auch gestandene Forstleute aus anderen Landesteilen „pilgern“ zu diesem Wald um ihr Wissen zu erweitern, die hiesige Natur zu beobachten und die hier gewonnenen Erfahrungen bei sich zuhause umzusetzen. Der Vorwurf die Staatliche Forstverwaltung will den „Białowieża-Urwald für Geld roden“ kann nicht anders als eine Lüge bezeichnet werden.

Unberührter Urwald im Białowieża-Nationalpark. Die Borkenkäferplage ist hier noch nicht angekommen.

In der Diskussion um den Białowieża-Wald herrscht heute zu viel Aufregung, zu viele einfache Rezepte und Unwahrheiten werden ins Spiel gebracht. Bitte machen Sie sich mit den wichtigsten Tatsachen bekannt, um sich anschließend eine Meinung zu bilden.

Die Forstleute sagten von Anfang an, dass nicht der Borkenkäfer an sich, sondern die Ausmaβe des jetzigen Befalls, des gröβten seit etwa einhundert Jahren, das Problem ist. Mindestens acht Prozent des Białowieża-Waldes sind bereits abgestorben. Auf dem Gebiet der drei Białowieża-Oberförstereien: Białowieża, Browsk und Hajnówka hat der Borkenkäfer innerhalb von wenigen Jahren etwa 900.000 Fichten auf einer Fläche von 7.200 Hektar absterben lassen. Wir verlieren ein bekanntes, schönes und viel bewundertes Naturerbe, das sich dank vielen passiven und aktiven Schutzmaβnahmen gebildet hat.

Vom Borkenkäfer vernichteter Wald in der Oberförsterei Browsk.

● Schafft es die Natur im Alleingang mit der Katastrophe fertig zu werden? Der Białowieża-Wald ist auβergewöhnlich wertvoll. Er ist jedoch nicht groβ genug und unterliegt von allen Seiten einer enormen Belastung aufgrund der Auswirkungen der Zivilisation, mit der Folge, dass ganz und gar unbeeinflusste Naturprozesse in ihm nicht stattfinden können.

Vom Borkenkäfer vernichteter Wald in der Oberförsterei Hajnówka.

Aktive Schutzmaβnahmen sind notwendig

Schon heute beobachten wir, dass, wenn menschliches Zutun unterbunden wird, auf den vom Borkenkäfer vernichteten Flächen, sich vor allem die viel Schatten spendenden Hainbuchen, neben Haselnusssträuchern und invasiven Gräsern ansiedeln.

Tut man nichts, erfolgt eine Reduzierung der natürlichen Vielfalt. So z. B. leben im Bereich der Fichte viel mehr Insektenarten als im Bereich der Hainbuche, also hat das Absterben der Fichten und das Vordringen der Hainbuchen sehr konkrete Folgen.

Öko-Aktivisten behindern Förster. Protest gegen aktive Schutzmaβnahmen.

Spontane Naturprozesse sind selbstverständlich zulässig, aber wir dürfen auch die aktiven Schutzmaβnahmen nicht vernachlässigen, um die riesige Artenvielfalt, für die der Białowieża-Wald bekannt ist, aufrecht zu erhalten.

Protest gegen den Protest: „Pseudoökologen haben den Białowieża-Wald vernichtet“ (oben).“In so einen Zustand haben Pseudoökologen und Ökoterroristen den Białowieża-Wald gebracht“ (unten).

Die wertvollsten und ursprünglichsten Teile des Waldes werden schon seit langem geschützt, im Białowieża Nationalpark (BNP) und in den Schutzgebieten, die sich innerhalb der Białowieża-Oberförstereien befinden.

Der Białowaieża-Nationalpark hat eine Fläche von gut 10.000 Hektar und untersteht der BNP-Direktion. Hinzu kommen die drei Oberförstereien, die den übrigen Teil des Białowieża-Waldes auf einer Fläche von gut 50.000 Hektar bewirtschaften, von denen 12.000 Hektar auf drei Schutzgebiete entfallen.

Białowieża-Nationalpark (BNP).

Die Rettungsmaβnahmen der Staatlichen Forstverwaltung berühren in keinster Weise den Białowieża-Nationalpark (BNP), sondern nur den Waldbestand in den Oberförstereien, der überwiegend aus Anpflanzungen stammt.

● Es war die Staatliche Forstverwaltung, die aus freien Stücken die Fläche der passiven Schutzmaβnahmen vergröβert hat. Ende März 2016 hat sie auf dem Gebiet der Oberförstereien Browsk und Białowieża zusätzlich eine Referenzfläche von 5.600 Hektar ausgewiesen, wo die menschliche Einwirkung auf ein absolutes Minimum eingeschränkt wurde.

Auf diese Weise sind heute von menschlicher Einwirkung 17.600 Hektar (d.h. 33 Prozent) des Białowieża-Waldes ausgenommen, die sich auf dem Gebiet der drei Białowieża-Oberförstereien befinden und der Staatlichen Forstverwaltung unterstehen (Referenzfläche plus die drei Schutzgebiete). Es sind gar 45 Prozent des gesamten Białowieża-Waldes, zählt man den Białowieża-Nationalpark (BNP) hinzu, der nicht der Staatlichen Forstverwaltung untersteht.

Anhand der Referenzfläche und der drei Schutzgebiete wollen wir feststellen, wie sich das Nichteingreifen, das die Öko-Aktivisten fordern, bei diesem gigantischen Borkenkäferbefall auf den Wald auswirkt. Zum Vergleich wird es Flächen geben, auf denen die Staatliche Forstverwaltung aktive Schutzmaβnahmen gegen die Borgenkäferplage betreibt. Wir werden die Auswirkungen beider Methoden in der Praxis vergleichen können.

Eine wirksame Bekämpfung des Borkenkäferbefalls ist möglich. Seit Anfang der 90er Jahre wurden alle vom Borkenkäfer angegriffenen Fichten aus dem Wald entfernt. Das Ausmaβ des Einschlags im Laufe der Jahre war nicht groβ: zwischen einigen Tausend und etwa 25.000 Kubikmeter Holz, abhängig vom Befall.

Eine wirksame Bekämpfung des Borkenkäferbefalls ist möglich.

Der Forstverwaltung wurden die Hände gebunden

Geändert hat sich das mit dem Inkrafttreten der neuen Waldgestaltungspläne 2012 bis 2021 für die Oberförstereien Białowieża, Browsk und Hajnówka. Unter dem Druck der Nichtregierungsorganisationen (NGOs) hat die Leitung des Umweltministeriums (der Regierung Donald Tusk – Anm. RdP) die Obergrenzen für die Holzgewinnung radikal herabgesetzt und weitere Teile des Waldes für die Forstbewirtschaftung gesperrt. Die Forstverwaltung konnte so die befallenen Fichten nicht mehr entfernen. Nicht einmal die wertvollsten, einhundertjährigen Fichtenbestände durften gerettet werden!

Schon im ersten Jahr der neuen Regelungen konnte nur ein Viertel der 23.000 Kubikmeter befallenen Fichten entfernt werden. So nahm das Unheil seinen Lauf. Im Jahr 2013 waren bereits 100.000 Kubikmeter Fichten vom Borkenkäfer befallen, ein Jahr später 200.000 Kubikmeter. Dieser sprunghafte Anstieg dauert an.

Der Forstverwaltung wurden die Hände gebunden. Durch den Borkenkäfer starben innerhalb von fünf Jahren etwa eine Million Kubikmeter Fichten. Davon fortgeschafft wurden nur 190.000 Kubikmeter. Um die Borkenkäferplage abzuwenden hat man 2016 das Holzgewinnungslimit für die Oberförsterei Białowieża erhöht.

Das sind unsere Maβnahmen

Niemand rodet den Białowieza-Wald! Die Behauptung, dass die Rettungsmaβnahmen den gesamten Białowieża-Wald umfassen, dass es dort riesige, gerodete kahle Flächen geben wird ist eine grobe Unterstellung.

Die drei Białowieża-Oberförstereien gewinnen zusammen weniger Holz als eine Oberförsterei in jedem anderen Teil Polens.

So wird Waldwirtschaft nicht einmal in normalen Wäldern betrieben, geschweige denn im Białowieża-Wald. Die drei Białowieża-Oberförstereien gewinnen zusammen weniger Holz als eine Oberförsterei in jedem anderen Teil Polens.
Als 2016 die Öko-Aktivisten Alarm schlugen, dass die Forstverwaltung „den Białowieża-Wald rodet“, haben die drei Białowieża-Oberförstereien zusammen 65.700 Kubikmeter Holz gewonnen, weniger als 2015 mit 83.600 Kubikmetern.

Wie können die Öko-Aktivisten behaupten, dass der Borkenkäfer gar nicht so viele Fichten vernichtet hat und gleichzeitig beteuern, die Beseitigung der Folgen dieser Heimsuchung, die ja gar nicht so groβ sein soll, werde den ganzen Białowieża-Wald vernichten?

Es werden nicht nur kranke Bäume entfernt. In den drei Oberförstereien ist die Forstverwaltung verpflichtet alle die Wälder betreffenden Vorschriften umzusetzen. Dazu gehören der Naturschutz, die öffentliche Sicherheit, die Waldgestaltungspläne, der Schutzplan für das Gebiet Natura 2000 sowie die Anweisungen der Umweltschutzbehörden und der Feuerwehr.

Deswegen werden abgestorbene Fichten, die an Wegen und Pfaden stehen entfernt, denn sie stellen eine Gefahr für die Menschen dar. Sehr groβe, dichte Anhäufungen abgestorbener Fichten werden gelichtet um die hohe Waldbrandgefahr zu vermindern. Fortgeschafft werden auch noch lebende Fichten, die jedoch vom Borkenkäfer befallen sind, damit die Insekten nicht auf gesunde Bäume überspringen. Von allen diesen Maβnahmen sind die Referenzzone und die Schutzgebiete ausdrücklich ausgenommen.

Entfernt werden auch gesunde Bäume, wenn es die Waldgestaltungspläne oder die Schutzmaβnahmen für Natura 2000-Gebiete vorsehen. Letztere regeln u. a. den Schutz und die Pflege von Eichen-Hainbuchen-Wäldern. Aufgrund der Pflegebestimmungen müssen Hainbuchen und Haselnusssträucher beseitigt werden, die den Platz der abgestorbenen Fichten einnehmen. Dasselbe gilt für die vorgeschriebene Erhaltung lichter Eichenwälder, von Orten wo seltene Schmetterlinge vorkommen usw.

Diese Arbeiten werden in den drei Białowieża-Oberförstereien nur in beschränktem Maβe durchgeführt. Vorrang hat die Entfernung toter Fichten an den Wegen und Pfaden, sowie der Einschlag von infizierten Bäumen, um den Borkenkäferbefall auszubremsen.

● Die bereits von allein umgefallenen Bäume werden im Wald gelassen. Dasselbe geschieht mit den eingeschlagenen Stämmen an Wegen und Pfaden in den Schutzgebieten und in der Referenzzone. Der Wald braucht totes Holz, das vielen wertvollen Arten ihren Lebensraum sichert.

Doch in den normal bewirtschafteten Teilen der drei Białowieża-Oberförstereien gibt es bereits so viel totes Holz, dass die volle biologische Artenvielfalt gewährleistet ist. Noch mehr totes Holz wird sie nicht weiter verbessern, dafür aber die Brandgefahr und den CO2-Ausstoβ deutlich erhöhen.

Dass Maschinen für den Einschlag benutzt werden, bedeutet nicht, dass der Umfang des Einschlags gröβer ist. Die Arbeiten in einem Gebiet mit so vielen toten Bäumen sind gefährlich. Der Einsatz des Holzvollernters ist wegen des deutlich verringerten Unfallrisikos sinnvoll. Er wird von nur einem Waldarbeiter, der durch eine verstärkte Kabine geschützt wird, bedient. Der Einsatz des Holzvollernters bedeutet nicht, dass mehr Bäume gefällt werden. Dieselbe Arbeit wird nur schneller durchgeführt.

Der Baumeinschlag durch die Forstverwaltung während der Brutzeit ist völlig legal. Eine ordnungsgemäβ geführte Forstwirtschaft bricht, laut Vorschriften, keine Verbote in Bezug auf den Artenschutz von Pflanzen, Pilzen und Tieren, die im Naturschutzgesetz aufgelistet sind. In Polen und in ganz Europa bleibt die Zahl der Vogelarten stabil oder sie wächst. Wissenschaftler erwähnen die Forstwirtschaft nicht als einen Faktor, der die Vogelbrut und die Vogelzahl wesentlich beeinflussen würde. Deswegen war und ist die Forstwirtschaft von den Brutzeitregelungen befreit, so wie es im Übrigen auch in den anderen EU-Ländern der Fall ist.

Keine Forstarbeiten finden statt in den Schutzzonen um die Nester geschützter Raubvögel, von denen es in den drei Białowieża-Oberförstereien 49 gibt.

Im Białowieża-Wald wird es keine „Baumplantagen“ geben. Werden an einem Ort eine gröβere Anzahl von toten Fichten entfernt, dann pflanzt die Forstverwaltung an dieser Stelle Baumarten, die für diesen Ort typisch sind, und das auch nur, wenn die natürliche Wiederherstellung zu schwach ausfällt.

So geschehen z. B. in der Oberförsterei Browsk, wo im April 2017 auf einigen Hektar freier Fläche, die nach der Entfernung von toten Fichten entstanden ist, die Forstverwaltung 3.500 Eichen, Ahornbäume und Linden gepflanzt hat, als Ergänzung zur Selbstaussaat.

Die Staatliche Forstverwaltung wirkt im Białowieża-Wald nicht mit dem Ziel Gewinne zu machen. Der Einschlag ist notwendig, um Menschen zu schützen, weiteren Waldbestand vor dem Borkenkäferbefall zu bewahren und den Anforderungen der Waldgestaltungspläne und des Naturschutzes gerecht zu werden. Das so gewonnene Holz wird, mit Ausnahme des Anteils, der bewusst liegen bleibt, verkauft, denn sonst würde der Staat, in dessen Namen die Forstverwaltung tätig ist, finanzielle Verluste erleiden.

Doch die groβe Zahl der Naturschutzanforderungen und der Einschränkungen für die Forstwirtschaft, die im Białowieża-Wald gelten, bewirken, dass die drei Białowieża-Oberförstereien naturgemäβ stets defizitär waren und es bleiben werden. Im Jahr 2016 bekamen sie insgesamt einen Zuschuss von 23 Millionen Zloty (ca. 5,5 Millionen Euro – Anm. RdP) aus dem Waldfonds der Staatlichen Forstverwaltung.

Es stimmt nicht, dass die Staatliche Forstverwaltung den Białowieża-Wald für Touristen gesperrt hat. Zeitweilige Zutrittsverbote hatten nur die Oberförstereien Białowieża und Hajnówka eingeführt, doch dies betraf lediglich ausgewählte Orte, an denen entweder tote Bäume entfernt wurden oder ihre Anzahl so groβ war, dass Gefahr drohte. Orte, an denen die Rettungsmaβnahmen abgeschlossen wurden, sind wieder zugänglich.

Aktuelle Karten mit abgesperrten und zugänglichen Flächen findet man auf den Internetseiten der Oberförstereien oder auf der Internetseite der Staatlichen Forstverwaltung www.lasy.gov.pl.

Der gröβte Teil des Białowieża-Waldes und die meist frequentierten Wanderwege sind offen.

Konrad Tomaszewski.

Hochachtungsvoll – Konrad Tomaszewski, Generaldirektor der polnischen Staatlichen Forstverwaltung.“

RdP




Das Wichtigste aus Polen 23. Juli – 5. August 2017

Kommentatorin Olga Doleśniak-Harczuk und Janusz Tycner diskutieren die  wichtigsten Ereignisse der letzten Zeit in Polen. ♦ Das Veto des Staatspräsidenten bremst die Justizreform aus. Reformbefürworter und Reformgegner mit den angekündigten eigenen Gesetzesvorlagen zufriedenzustellen gleicht fast dem Versuch die Quadratur des Kreises zu lösen. Duda traut es sich zu. Man darf gespannt sein. ♦ Veto hin, Veto her, die EU droht wie immer mit Sanktionen. ♦ Auch Moskau will Polen mit Sanktionen belegen und zwar wegen des geplanten Abbaus der noch verbliebnenen sowjetischen Heldendenkmäler ♦ Brüssel und Moskau drohen, die Geburtenrate steigt.




»Lassen Sie ab von Polen.« Ein Franzose schreibt Staatspräsident Macron

„Versuchen Sie bitte nicht auch noch der Staatschef in Warschau zu sein. Dort hat man Sie nicht gewählt.“

Der französische Journalist Olivier Bault lebt und arbeitet in Polen als Korrespondent der katholischen Tageszeitung „Présent“ sowie der Internetportale Réinformation TV und Visegràd Post. Seinen „Offenen Brief an den französischen Staatspräsidenten“ veröffentlichte das Wochenmagazin „Do Rzeczy“ („Zur Sache“). Zwischentitel von RdP.

Olivier Bault.

Sehr geehrter Herr Präsident!

Am 1. Mai 2017, zwischen der ersten und zweiten Runde der französischen Präsidentschaftswahlen, sagten Sie zu Ihren Anhängern:

„Ihr kennt die Freunde und Verbündeten von Frau Le Pen. Das sind die Regime der Herren Orbán, Kaczyński und Putin. Das sind keine Staatsordnungen der offenen und freien Demokratie. Tagtäglich werden dort zahlreiche Freiheiten gebrochen und mit ihnen unsere Werte“.

Etwas früher, in der Tageszeitung „La Voix du Nord“ vom 27. April 2017 haben Sie versprochen, dass, wenn die Franzosen Sie wählen sollten, Sie für eine schnelle Einführung von Sanktionen gegen Polen eintreten werden, weil man ein Land nicht tolerieren darf, das sich „in der EU die Unterschiede in den Sozialkosten zunutze macht und gegen alle Prinzipien der EU verstöβt“.

Sie haben auβerdem gesagt: „Was Whirlpool (Betrieb in Amiens und seine für Mitte 2018 geplante Produktionsverlagerung nach Lodz – Anm. RdP) angeht, wird innerhalb von drei Monaten nach meiner Wahl eine Entscheidung in Sachen Polen gefällt. Ich übernehme dafür die Verantwortung. (…) Ich möchte, dass man sich den Fall Polen in seiner Gänze anschaut und dass bei Angelegenheiten, die die Rechte und Werte der EU betreffen, Sanktionen eingeführt werden“.

Emmanuel Macron im Wahlkampf bei den aufgebrachten Whirlpool-Arbeitern in Amiens am 27. April 2017.

Aus Ihren Drohungen gegen Polen geht hervor, dass Sie diesem Land vorwerfen, es betreibe Sozialdumping und verletzte zugleich die Prinzipien der EU. Sie sagen nicht, um welche Prinzipien es sich handelt, aber Ihre Ansprache vom 1. Mai 2017 hilft besser zu verstehen, was sie meinen.

Sozialdumping? Wovon reden wir?

Es ist schon befremdlich: der künftige Präsident der Republik, der sich im Wahlkampf als ein Ultraeuropäer darstellt, ein Verfechter einer immer engeren EU-Integration, des freien Handels und des freien Wettbewerbs, droht plötzlich einem EU-Land, weil ein privates Unternehmen beschlossen hat seine Produktion in dieses EU-Land zu verlegen.

Zwar sind die Löhne in Polen niedriger als in Frankreich, aber auch die Arbeitsproduktivität ist geringer. Polen nämlich, genauso wie andere einst kommunistische Staaten, hat seinen Rückstand noch lange nicht aufgeholt und den wirtschaftlichen Entwicklungsstand Westeuropas noch nicht erreicht.

Die jetzige polnische Regierung unter Frau Beata Szydło von der sozialkonservativen Partei Recht und Gerechtigkeit hat zum ersten Mal in Polen einen gesetzlich vorgeschriebenen minimalen Stundenlohn (von 12 Zloty = ca. 2,85 Euro – Anm. RdP) eingeführt. Sozialversicherungsbeiträge müssen seit Neuestem, ungeachtet der Einstellungsform (also auch bei Werk- und Zeitverträgen – Anm. RdP), entrichtet werden.

Warum also werfen Sie dieser Regierung Sozialdumping vor? Als stellvertretender Chef der Präsidialkanzlei von Staatspräsident François Hollande und danach als Wirtschaftsminister in der Regierung Manuel Valls hatten Sie nie Probleme mit den polnischen Regierungen unter Donald Tusk und Ewa Kopacz.

Das wundert schon. Nach seiner Machtübernahme 2007 hat Ministerpräsident Donald Tusk, der heutige Vorsitzende der Europäischen Rates, nämlich einer enormen Ausweitung der zivilrechtlichen Arbeitsverträge zugestimmt. Solche Beschäftigungsformen (Zeitverträge, Werkverträge, gewerbliche Scheinselbständigkeit – Anm. RdP) ermöglichten die Umgehung des polnischen Arbeitsrechts. Für Hunderttausende von Beschäftigten wurden keine oder nur ganz geringe Sozialversicherungsbeiträge abgeführt, sie erhielten kein Kranken- und kein Urlaubsgeld.

Sie sehen einen Splitter in des Bruders Auge, und werden des Balkens in Ihrem Auge nicht gewahr.

Was „das tagtägliche Brechen zahlreicher Freiheiten und damit unserer Werte“ angeht, so sehen Sie einen Splitter in des Bruders Auge und werden des Balkens in Ihrem Auge nicht gewahr.

Das französische Problem mit den No-go-Areas.

In Frankreich, und nicht in Polen, gibt es „No-go-Areas“, wo die Rechte der Bürger nicht geschützt werden. Frauen trauen sich dort nicht auf die Straβe, dürfen keine Lokale betreten.

In Frankreich, und nicht in Polen, kommt es beinahe tagtäglich zu mutwilligen Zerstörungen und Attacken auf christliche Einrichtungen.

Am 3. August 2016. Gewaltsame Räumung der Pariser Hl. Rita-Kirche durch die Bereitschaftspolizei, um den Abriss des Gotteshauses zu ermöglichen.

Nicht in Polen, sondern in Frankreich, wurden Polizeikräfte angewiesen hart gegen friedliche Demonstranten vorzugehen, die für den Erhalt der traditionellen Familie eintraten. Dieselbe Polizei bekam Anweisungen sich bei Ausschreitungen autonomer und linksradikaler Gruppen zurückzuhalten.

Es gab und gibt in Polen zahlreiche Kundgebungen, Märsche und Demonstrationen gegen die seit November 2015 amtierende Regierung. Bis jetzt hat die Polizei gegen die Protestierenden kein einziges Mal Gewalt (Schlagstöcke, Tränengas, Wasserwerfer) eingesetzt. Es gab keine einzige vorläufige Festnahme. Die Polizeimaβnahmen beschränkten sich einige Male auf das Wegtragen von Blockierern und die Feststellung von Personalien. Auch Märsche und Kundgebungen nationalgesinnter Milieus, wie der groβe Marsch zum Unabhängigkeitstag, dem 11. November, in Warschau verliefen bis jetzt ohne Zwischenfälle.

Nicht in Polen, sondern in Frankreich, werden jedes Jahr etwa zweihundertzwanzigtausend ungeborene Kinder getötet. Nicht in Polen sondern in Frankreich hat das Parlament im Februar 2017 ein Gesetz verabschiedet, das für Betreiber von Internetportalen, die gegen die Tötung ungeborener Kinder eintreten, Strafen von bis zu zwei Jahren Freiheitsentzug und bis zu dreißigtausend Euro Buβgeld vorsieht.

Haben Sie vielleicht mit Ihrer Feststellung vom Verstoβ gegen EU-Prinzipien und einem autoritären Regime in Polen, die Brüsseler Anschuldigungen zur Reform des polnischen Justizwesens und den Konflikt um das Verfassungsgericht gemeint? Wenn ja, dann muss man fragen: kennen Sie alle Einzelheiten und Umstände dieser Auseinandersetzung? Vergegenwärtigt man sich, wie sehr Ihnen die französische Finanzstaatsanwaltschaft zum Wahlsieg verholfen hat, dann haben Sie ja vielleicht auch gar nichts dagegen, wenn das Justizwesen korrupt und politisch beeinflussbar ist.

Sozialpolitik demokratiegefährdend?

So oder so, wenn Sie sich der Demokratie verbunden fühlen, dann sollten Sie die Lösung ihrer Probleme lieber den polnischen Wählern überlassen. Die kennen ihr Land besser.

Bitte bedenken Sie auch, dass der Teil der heutigen polnischen Opposition, der sich für die Belegung des eigenen Landes mit Sanktionen ausspricht, einer alten, unglücklichen polnischen Tradition frönt, die wir in Frankreich nicht kennen und die Polen schon einmal, im 18. Jahrhundert, seine Unabhängigkeit gekostet hat: Fremde Mächte um Hilfe bitten, um am Trog zu bleiben und die Sanierung des Landes zu verhindern. Deswegen bleiben Sie, bitte sehr, der Staatspräsident der Franzosen und versuchen Sie bitte nicht, zugleich auch der Staatschef der Polen und der Ungarn zu sein, denn die haben Sie nicht gewählt.

Es ist wahr, dass Organisationen, wie „Reporter ohne Grenzen“ oder „Freedom House“, die Meinungsfreiheit in Polen negativer einschätzen seitdem Recht und Gerechtigkeit an der Regierung ist. Bitte beachten Sie jedoch, dass z.B. „Freedom House“ auch die Sozialpolitik der jetzigen polnischen Regierung (neues Kindergeld, kostenlose Medikamente für Rentner über fünfundsiebzig Jahre usw.) als demokratiegefährdend ansieht, weil sie „die finanziellen Möglichkeiten des Staates für die Ziele einer Partei einspannt“ (Bericht „Freedom in the World 2017“).

Man darf sich schon über die linke Organisation „Reporter ohne Grenzen“ wundern, die geschwiegen hat als die Regierung Donald Tusk faktisch alle konservativen Journalisten aus den öffentlichen Medien davongejagt hat. Als dieselbe Regierung ohne sich zu zieren eingriff, um den politischen Kurs privater Zeitungen („Rzeczpospolita“/„Die Republik“ und „Fakt“) zu ihren Gunsten zu ändern. Als sie Polizei und Staatsanwälte in die Redaktion des Nachrichtenmagazins „Wprost“ (“Direkt“) schickte, die bei Rangeleien mit den Redakteuren versuchten diesen ihre Laptops mit Quellenangaben zu entreiβen.

Medienvielfalt in Frankreich

Lassen Sie uns lieber über die Medienfreiheit in Frankreich reden. Dort haben alle führenden Medien einträchtig Sie unterstützt, und alle haben Ihren Wahlsieg mit einem Enthusiasmus zur Kenntnis genommen, den man eher in totalitären Regimen vermuten würde.

Sowohl in Frankreich als auch in Europa sagt man, Recht und Gerechtigkeit habe in Polen die Kontrolle über die öffentlich-rechtlichen Medien übernommen.

Doch auf welche Weise wurden die Mitglieder des französischen Medienrates (CSA) und in der Folge die Chefs der französischen öffentlich-rechtlichen Medien gewählt? Haben die Franzosen etwa nicht gesehen, wie vor der Debatte der Präsidentschaftskandidaten die Chefin von France Télévisions, Frau Delphine Ernotte, mit Ihrer Gattin wie mit einer alten Bekannten Küsschen ausgetauscht hat?

Küsschen ausgetauscht: Fernsehchefin Delphine Ernotte und Brigitte Macron.

Anstatt sich um den Pluralismus der polnischen Medien zu kümmern, die unter Ministerpräsident Donald Tusk nicht weniger regierungstreu waren (was damals niemanden in Europa gestört hat), nehmen Sie sich bitte des Pluralismus der öffentlich-rechtlichen Medien in Frankreich an.

An dieser Stelle möchte ich Ihnen, Herr Staatspräsident, empfehlen sich mit der Eingabe von „Collectif des Usagers du service public de l’audiovisuel“ (einer Organisation der Nutzer öffentlich-rechtlicher Medien), die den Pluralismus in den mit Gebühren finanzierten französischen Medien anmahnt, zu beschäftigen. Alle in Frankreich wissen, dass sich der Pluralismus unserer französischen öffentlich-rechtlichen Medien nur von der liberalen Linken, die Sie vertreten, bis zur radikalen Linken, die Jean-Luc Mélenchon nahesteht, erstreckt.

Weiter, was die französischen privaten Medien angeht, mit Verlaub Herr Staatspräsident, sie sind alle in den Händen von ihren Freunden, Milliardären um nicht zu sagen Oligarchen. Diese Leute sind nur an ihren Geschäften interessiert, die Sie zu schützen versprachen, und nicht an ehrlicher, objektiver und vielfältiger Berichterstattung.

Dazu gehört Partick Drahi, der aufgrund Ihrer Einflussnahme, als Sie stellvertretender Chef der Präsidialkanzlei waren, den Mobilnetzbetreiber SFR kaufen konnte. Drahi dankte es Ihnen, indem er Ihnen während des Präsidentschaftswahlkampfes alle seine Medien zur Verfügung stellte (BFM TV, Radio RMC, die Zeitungen „Libération“, „L’Express“, L’Expansion“). Auβerdem entsandte Drahi den Chef seiner Mediengruppe, Bernard Mourad in Ihren Wahlkampfstab.

Dasselbe taten Ihre Freunde Vincent Bolloré (Canal+) und Xavier Niel („Le Monde“). Zu ihnen gesellten sich weiterhin solch namhafte Persönlichkeiten der Medienwelt, wie Pierre Bergé („L’Obs“, „Huffington Post“, „La Vie“) oder Arnaud Lagardère (Europe 1, „Paris Match“, Le JDD, RFM). Sogar Serge Dessault, dessen Zeitung „Le Figaro“ zunächst Ihren Konkurrenten François Fillon unterstützt hatte, musste sich vor der ersten Wahlrunde für Sie aussprechen und gegen eine Kandidatin, die die Eurowährung verwerfen und aus der EU austreten wollte.

Das ist verständlich, doch kann man von Medienfreiheit und Medienvielfalt reden, wenn alle groβen französischen Medien sich in den Händen einer kleinen Gruppe von Unternehmermilliardären befinden, die alle in etwa die gleichen Ziele verfolgen?

Medienvielfalt in Polen

Der polnische Staatspräsident Andrzej Duda und die Regierung von Frau Beata Szydło können von einer solch breiten Medienunterstützung in ihrem Land nur träumen. Im Gegenteil! Abgesehen vom öffentlich-rechtlichen Fernsehen gibt es noch zwei groβe TV-Sender: TVN und Polsat. Beide halten mit ihrer tiefen Abneigung gegen die jetzige polnische Regierung nicht hinter dem Berg. Ähnlich verhält es sich mit Rundfunk und Presse, von der die meisten Redaktionen deutschen Medienkonzernen gehören.

Es gibt aber auch konservative Zeitungen und Magazine, denn die polnische Presse ist weit vielfältiger als die französische. So war es auch zu Zeiten der Tusk-Regierung zwischen 2007 und 2015, aber konservative Herausgeber hatten es damals nicht leicht, weil die Tusk-Verwaltung Druck auf Anzeigenkunden machte, damit diese die konservative Presse mieden.

Heute gehören die gröβte Tageszeitung („Fakt“), eines der gröβten Wochenmagazine („Newsweek“) und das gröβte Internetportal (Onet.pl) dem deutsch-schweizerischen Unternehmen Ringier Axel Springer. Diese Medien sind eindeutig gegen Recht und Gerechtigkeit ausgerichtet, gegen deren Vorstellung von einer EU als einem Europa der Nationen sowie ihrer wertkonservativen Weltanschauung.

Bei der zweiten Wahlrunde der Präsidentschaftswahlen gab es in meinem Wahlkreis VII (für Franzosen die in den Ländern Ostmitteleuropas leben) drei Kandidaten, die schon vorab gelobten Ihre künftige Regierung zu unterstützen: einen Sozialisten von der PS, einen Zentristen von der UDI und den Kandidaten Ihrer Partei, der LREM. Ebenso verhielt es sich mit dem Kandidaten der eigentlich oppositionellen Mitte-Rechts-Partei Les Républicains. Um sicher zu gehen meine Stimme nicht für Sie abgegeben zu haben, hätte ich Marine Le Pen wählen müssen.

Die jetzige Struktur der französischen politischen Szene, die ohrenbetäubende Propaganda zu Ihren Gunsten und der Ihrer Anhänger erinnern wahrhaft an Polen, aber an das Polen von vor 1990.

Folglich, Herr Staatspräsident, wenn wir EU-Länder bestrafen wollen, weil dort „tagtäglich zahlreiche Freiheiten gebrochen und mit ihnen unsere Werte“, dann sollten es zuerst nicht Polen und Ungarn sein, sondern eher Frankreich.

Hochachtungsvoll Olivier Bault

RdP