Violinistin, Kommunistin, Dissidentin

Am 1. Mai 2018 starb Wanda Wiłkomirska.

Wenn sie mit dem Bogen über die Saiten der Geige strich, kam es unvermeidlich zum Gipfeltreffen einer herausragenden künstlerischen Persönlichkeit mit einem der wunderbarsten und anspruchsvollsten Musikinstrumente, die von Menschenhand gespielt werden.

Ihr langes Leben verlief stets zweigleisig. Ihre Musikkarriere führte gradlinig von Erfolg zu Erfolg, bis auf den Olymp der weltbesten Interpreten. Ihr Privatleben dagegen, reich an politischen Verstrickungen und darauffolgenden Befreiungsschlägen, war ein kurvenreicher Pfad, manchmal entlang des Abgrunds.

Geboren 1929, war sie zehn Jahre alt, als im September 1939 Hitlers Armeen in Polen einfielen und ihre erste Gratwanderung begann. Die Wiłkomirskis wohnten damals in Polens zweitgröβter Stadt Łódź (Lodsch) und waren in Fachkreisen und bei Musikliebhabern landesweit als musizierende Familie bekannt. Auch in ihrem Leben, wie konnte es anders sein, spiegelte sich das schwierige Schicksal Polens jener Zeit wieder.

Eine der Musik verschriebene Familie

Seit 1795 war Polen zwischen Russland, Preuβen und Österreich endgültig aufgeteilt, und blieb, bis 1918, von der Europakarte verschwunden. Wandas Groβvater, ein Pole und Untertan des Zaren, diente als Arzt in der russischen Armee. Im rebellischen Kaukasus, den es immer wieder zu befrieden galt, kam 1873 sein Sohn und Wandas Vater, Alfred auf die Welt, ein musikbesessener Junge, der sich ganz und gar der Violine verschrieb.

Alfred Wiłkomirski mit seiner ersten Ehefrau Aniela. Moskau 1912.

Seine erste Frau Aniela, eine Polin, lernte Alfred in Moskau kennen, wo er am Konservatorium studierte und später unterrichtete. Aniela gebar Alfred Wiłkomirski drei Kinder. Kazimierz (1900-1995) war ein sehr erfolgreicher Cellist, Dirigent und Musikpädagoge. Michał (1902-1988) machte sich in den USA als Violinist einen Namen. Maria (1904-1995) war Pianistin und Musikprofessorin.

Unter der Aufsicht des Vaters traten die Drei bis zum Ausbruch der bolschewistischen Revolution und des russischen Bürgerkrieges als das „Trio Wiłkomirski“ in Moskau auf. Beliebt und renommiert, sollte es jahrzehntelang überdauern. Immer wieder trafen sich später die in aller Welt verstreuten Geschwister, gaben Konzerte in Polen, Frankreich, den USA.

„Trio Wiłkomirski“. Moskau 1915. Von links: Michał, Maria, Kazimierz.

Nur knapp entkam die Familie der Mord- und Vernichtungswut der Bolschewisten und deren Gegnern, die Russland nach 1917 in ein Inferno des Elends verwandelten. Ende 1919, im gerade wieder unabhängig gewordenen Polen, in der Stadt Kalisz angekommen, arbeiteten sich die Wiłkomirskis, die von ihrem Vermögen nur das, was sie am Leibe trugen retten konnten, wieder empor. Auf der Suche nach einer Stelle, die es Alfred erlauben würde die Familie durchzubringen, zogen sie von Kalisz, mit Stationen in Lublin und Warschau, schließlich nach Łódź.

Der Ehefrau und Mutter Aniela hatten die beiden letzten, schrecklichen Jahre in Russland schwer zugesetzt. Sie starb 1923. Zwei Jahre später heiratete der Witwer Alfred Wiłkomirski seine Schülerin in der Musikschule von Kalisz, die achtundzwanzig Jahre jüngere jüdische Kaufmannstochter Dorota Temkin. Alfred wollte mit ihr drei Kinder zeugen, denn er dachte allen Ernstes daran ein zweites Familien-Trio zu gründen.

Doch nur zwei Kinder kamen zur Welt: 1926 in Kalisz der Sohn Józef, der es zu einem angesehenen Cellisten, Dirigenten und Musikpädagogen brachte, sowie 1929 in Warschau Wanda. Mit vier Jahren begann Vater Alfred ihr das Violinspiel beizubringen.

Kriegserlebnisse

Einige Monate nach dem Einmarsch der Deutschen in Łódź am 8. September 1939 wurde die Textil-Metropole zu Ehren von Karl Litzmann, eines kaiserlichen Generals und späteren nationalsozialistischen Politikers, in Litzmannstadt umbenannt und an das Reich angegliedert. Die Juden kamen ins Ghetto, die Polen wurden enteignet, aus besseren Wohnungen fortgejagt, drangsaliert, in Konzentrationslager deportiert.

Deutscher Einmarsch in Łódź am 8. September 1939, begleitet vom Jubel der örtlichen Deutschen (oben). Umbenennung in Litzmannstadt.

Das ungefähr einhundertdreißig Kilometer nordöstlich gelegene Warschau lag nun hinter einer streng bewachten Grenze im von Deutschland besetzten sogenannten Generalgouvernement, in dem Generalgouverneur Hans Frank, von Krakau aus, seine Schreckensherrschaft ausübte.

Vater Alfred brachte die beiden Kinder, Józef und Wanda, dauerhaft bei Verwandten in Warschau unter. Die Eltern blieben in Łódź. Der Vater gab deutschen Offizieren aus besseren Kreisen, die bei ihm in Zivil erschienen, private Musikstunden. Die Mutter blieb als Jüdin unerkannt.

Doch Warschau war keineswegs sicherer. Die beiden jungen Wiłkomirskis übten Musik zu Hause. Der Warschauer Hausherr und Verwandte war, wie konnte es anders sein, Musiklehrer, aber polnische Schulen waren auch hier geschlossen. Sie lernten in Bildungszirkeln, die ihren Unterricht streng konspirativ in Privatwohnungen abhielten. Groβangelegte Razzien, bei denen alle Gefassten, von der Straβe weg, zur Zwangsarbeit ins Reich oder in KZs geschickt, bzw. an Ort und Stelle in öffentlichen Hinrichtungen zur Abschreckung erschossen wurden, hielten die Stadt in Atem.

Am 1. August 1944 brach in ganz Warschau ein Aufstand aus. Die Russen waren vom Osten her im Anmarsch. Die der polnischen Exilregierung in London unterstellte Heimatarmee (Armia Krajowa- AK) wollte die Stadt von den, wie man fälschlicher Weise annahm, abrückenden Deutschen befreien und die Sowjets als Hausherrn in der Hauptstadt empfangen, um so das Einsetzen eines kommunistischen Regimes zu verhindern.

Die Rechnung ging nicht auf. Die Russen stoppten ihren Vormarsch, die Deutschen holten Verstärkung heran. Am 3. Oktober 1944, nach dreiundsechzig Tagen, kapitulierten die Aufständischen. Die Intensität der Straβenkämpfe stand denen von Stalingrad in nichts nach. Am Ende waren circa zweihunderttausend Warschauer tot. Die restliche Bevölkerung wurde innerhalb weniger Tage vertrieben.

Die Russen schauten vom anderen Weichselufer zu, wie die Deutschen dreieinhalb Monate lang die leere Stadt planmäβig niederbrannten und in die Luft sprengten. Erst Mitte Januar 1945, als das Vernichtungswerk vollbracht war, setzten sie über den Fluss, um das tote Ruinenmeer zu „befreien“.

Entfesselte Soldateska. Russische Wlassow-Verbände im Warschauer Aufstand 1944.

Den Stadtteil Ochota, in dem Wanda lebte, mussten die Aufständischen schon Mitte August 1944 räumen. Durch eine entfesselte Soldateska der russischen Wlassow-Verbände unter deutschem Kommando folgte eine tagelange Orgie von Massenmorden, Vergewaltigungen, Brandschatzungen und Plünderungen.

Der fünfzehnjährigen Wanda gelang es wie durch ein Wunder aus dieser Hölle zu entkommen. Sie schlug sich bis in die Warschauer Vororte durch. Ein Eisenbahner nahm sie ein Stück in Richtung Łódź mit. Ohne Geld überredete sie in dem Ort Koluszki einen professionellen Schmuggler, sie über die streng bewachte Grenze ins Reich zu bringen. Der Mann lieferte sie nachts bei den Eltern in Łódź ab. Überglücklich dankten sie es ihm mit der goldenen Uhr des Groβvaters und den letzten goldenen Ohrringen, die Wandas Mutter noch besaß.

Bald darauf, Ende Januar 1945, galt es den Einmarsch der Sowjets zu überleben. Mutter und Tochter versteckten sich tagelang in einem getarnten Keller, um den Vergewaltigungen und Morden der ständig betrunkenen „Befreier“ zu entgehen, bis sich die Lage beruhigte.

Der rote Backfisch

Der Kommunismus hielt in Polen in jener Zeit nach und nach Einzug. Aber es gab wieder polnische Schulen, einen polnischen Kulturbetrieb, polnische Musik durfte wieder gespielt werden. Für die eher unpolitische Musikerfamilie Wiłkomirski war das auschlaggebend.

Wanda Wiłkomirska 1947, mit achtzehn Jahren. Ein Backfisch der bald rot werden sollte.

„Meine Eltern und meine Stiefgeschwister, alles erwachsene Leute, gut zwanzig Jahre älter als ich, waren davon sehr angetan, dass die neuen Machthaber Musikschulen eröffneten, Konzertsäle bauten. Ich dagegen gehörte der jungen Generation an, für die es damals Polnischsein nur im Doppelpack mit dem Kommunismus gab. Wir kannten es nicht anders“, berichtete die Violinistin im September 1998, in einem Interview für die „Gazeta Wyborcza“ („Wahlzeitung“).

Vater Alfred durfte an der wiedereröffneten Musikhochschule in Łódź unterrichten, an der auch seine Tochter Wanda studierte. Fachleute waren von ihr hingerissen. Wie schnell sich ihre Spieltechnik verbesserte, wie einfühlsam sie die Stücke interpretierte, wie schnell sie ein neues Repertoire einübte. Backfisch Wanda war einsame Spitze auf weiter Flur.

Die polnischen Kommunisten waren, anders als in Deutschland, Frankreich, der Tschechoslowakei, vor dem Krieg nur eine isolierte, unbeliebte, bedeutungslose politische Sekte. Sie versuchten, so die allgemeine Empfindung in Polen damals, das gerade unabhängig gewordene Land wieder unter die Fuchtel, diesmal die des roten Russlands zu bringen, das das zaristische, weiβe Russland beerbt hatte.

Jetzt, nach 1945, waren die verachteten Kommunisten Polens Herrscher von Moskaus Gnaden. Der allgemeine Terror, mit dem sie ihre Macht festigten, konnte auf Dauer nicht das einzige politische „Angebot“ sein. Mit dem Wiederaufbau und der Rekonstruktion der zerstörten Altstädte von Warschau, Gdańsk, Wrocław, mit der massiven Förderung der klassischen und der volkstümlichen polnischen Kultur, gelang es ihnen, die vom furchtbaren Krieg zermürbte polnische Gesellschaft für sich etwas gnädiger zu stimmen, teilweise auch zu begeistern.

Die vom bürgerlichen Vorkriegspolen „geerbten“ Künstler in den neuen, sozialistischen Kulturbetrieb einzubinden, um sich selbst und die neue Diktatur ein Stück weit in den Augen der Gesellschaft zu legitimieren, „Normalität“ vorzutäuschen, das war das eine Ziel. Noch wichtiger aber war es, neue, junge, herausragende Sportler, Wissenschaftler, Künstler, „aus eigener Zucht“ vorzuweisen.

Die talentierte Wanda Wiłkomirska passte hervorragend in dieses Schema. Ihre faszinierende Begabung ging einher mit ihrem politischen Engagement.

„Ja, ich bin, wenn es darauf ankam, im grünen Hemd und roter Krawatte des kommunistischen Jugendverbandes aufgetreten, zum Beispiel 1951 bei den Weltfestspielen der Jugend und Studenten in Ostberlin. Aus dem Publikum donnerten uns auf der Bühne immer wieder Jubel-Sprechchöre entgegen: »Stalin, Bierut (Stalins Statthalter in Polen – Anm. RdP), Wilhem Pieck!«. Ich habe bei den Umzügen zum 1. Mai die rote Fahne geschwungen. Ich bin in die kommunistische Partei eingetreten. Ich habe damals an diese Idee geglaubt, und ich habe das nie verheimlicht“.

Henryk-Wieniawski-Violinwettbewerb in Poznań 1952. Wanda Wiłkomirska beim Auslosen der Auftrittsreihenfolge.

Nur Talent zu haben und eisern zu üben genügte damals nicht, um entsprechend gefördert zu werden. Sie durfte bereits 1947 eine Ausbildung in der renommierten Franz-Liszt-Akademie in Budapest absolvieren, um dann, zwei Jahre später, bei Henryk Szeryng in Paris einen Meisterkurs zu belegen. Ein Aufbaustudium an der Warschauer Musikakademie folgte, und mit ihm der erste groβe Durchbruch: der zweite Platz im Henryk-Wieniawski-Violinwettbewerb in Poznań 1952. Da war sie gerade dreiundzwanzig.

Zerstörte Warschauer Nationalphilharmonie vor und nach dem Wiederaufbau.

Zwei Jahre später war sie auf nationaler Ebene ganz oben angekommen. Am 21. Februar 1955 wurde das wiederaufgebaute Gebäude der Warschauer Nationalphilharmonie feierlich seiner Nutzung übergeben. Wanda Wiłkomirska spielte bei der Einweihung mit dem Orchester der Philharmonie das 1. Violinkonzert von Karol Szymanowski (1882-1937), dem nach Chopin wohl namhaftesten polnischen Komponisten.

„Wenn man heute diese Aufnahme hört, fällt es schwer einen Interpreten zu finden, der in den letzten gut sechzig Jahren diese Komposition mit nur annährend ähnlicher Leidenschaft, Zärtlichkeit und emotionalem Einfühlungsvermögen spielen würde“, schrieb in einem Nachruf auf Wiłkomirska der Musikredakteur der Zeitung „Rzeczpospolita“ („Die Republik“).

Im kommunistischen Establishment angekommen

Die nächsten gut fünfundzwanzig Jahre lang, bis zu ihrer Emigration Anfang 1982, war Wanda Wiłkomirska Solistin der Nationalphilharmonie, absolvierte mit ihr Dutzende von Auslandstourneen. Bei ihren ersten Gastspielen in den USA 1961 schaffte sie mit Leichtigkeit ihren dritten groβen Durchbruch, dieses Mal den internationalen. Der legendäre Impresario Samuel Hurok hörte sie in der New Yorker Carnegie Hall und nahm sich ihrer sofort an. Amerika lag Wanda Wiłkomirska zu Füβen. Immer neue Einladungen zu Soloauftritten in den Staaten und volle Konzertsäle waren ihr von nun an sicher.

Mit Arthur Rubinstein 1961 in New York.

Damals war sie schon längst im kommunistischen Establishment angelangt, auch durch ihre Heirat. Ihren Ehemann lernte sie unter wahrlich ungewöhnlichen Umständen in Ostberlin 1952, während der Tage der Polnischen Kultur kennen.

Die hübsche Violinistin ging die breite Wendeltreppe des Hotels hinunter. Ihr entgegen kamen zwei Herren, von denen einer laut sagte: „Schau mal, was für eine heiβe Stute!“, in der Annahme sie verstehe kein Polnisch. Der Satz kam aus dem Munde von Mieczysław Rakowski (1926-2008), damals noch ein junger Kultur-Parteiapparatschik, der zum Polittross der polnischen Delegation gehörte. Sein Entsetzen war groβ, als beim Galakonzert die Violinistin Wanda Wiłkomirska angekündigt wurde, und die „heiβe Stute“ die Bühne betrat.

Wiłkomirska, Rakowski in ihren guten Jahren.

Rakowski soll einen Blumenstrauβ mit einem Entschuldigungskärtchen vor ihrem Zimmer abgelegt und die halbe Nacht in der Hotelbar seine Scham in Wodka ertränkt haben. Beim Frühstück sah man sich wieder und, siehe da, sofort sprang der Funke der Zuneigung in beide Richtungen über. Er habe sie, so Wiłkomirska, als Frau begehrt und nicht zuerst als berühmte Violinistin, wie es die Männer vor ihm taten.

Sie blieben bis 1970 verheiratet, hatten zwei Söhne, eine Villa mit Hauspersonal in Warschau, ein schmuckes Sommerdomizil in Masuren, verkehrten in den obersten Zirkeln der kommunistischen Machthaber, ihrer Familien und deren Günstlinge aus der Welt der Kunst, der Wissenschaft, der gleichgeschalteten Medien.

Rakowski, den man der liberalen Fraktion in der KP zurechnete, erklomm langsam aber zielführend die Sprossen der kommunistischen Karriereleiter. Er wurde ZK-Mitglied, war seit 1957 Chefredakteur der damals viel gelesenen Wochenzeitung „Polityka“. Unter den Bedingungen der Diktatur erfüllte sie, wie die Wochenzeitung „Das Reich“ im Dritten Reich oder die „Literaturnaja Gazeta“ in der Sowjetunion, eine Ventilfunktion, sollte feinfühliger, weniger grob als die gängige Parteipropaganda, die gebildeten Schichten ansprechen.

Rakowski wollte hoch hinaus. Doch er musste seit 1956 zunächst Parteichef Gomulka überdauern, der infolge der blutigen Arbeiterunruhen an der polnischen Ostseeküste im Dezember 1970 gestürzt wurde, und weitere zehn Jahre dessen Nachfolger Edward Gierek, der im Sommer 1980 aus gleichem Grund wie Gomulka abdankte.

Rakowski mit General Jaruzelski. Als „Liberaler“ im Lager der Knüppelkommunisten angekommen.

Erst unter General Jaruzelski, der am 13. Dezember 1981 Solidarność verbot und das Kriegsrecht ausrief, schlug die Stunde des „Liberalen“ Rakowski. Er wurde stellvertretender Ministerpräsident, danach, im Sommer 1989, Parteichef einer schon dahinsiechenden polnischen KP, die er auf ihrem letzten Parteitag im Januar 1990 mit zu Grabe trug.

Fleiβig, flink, selbstbewusst

Ihr Mann war von der Politik, Wanda Wiłkomirska war von ihrer Berufung als Violinistin besessen. Es gab Jahre, in denen sie mehr als einhundert Konzerte in der ganzen Welt und oft auch in den entlegendsten Winkeln Polens gab. Wochenlang war sie nicht zu Hause. „Spiele so gut, dass sie dich wieder einladen wollen“, nach diesem Motto baute sie ihre Karriere auf.

Mit Wolfgang Sawallisch in Wien.

Sie war fleiβig, flink, nicht überheblich, hatte keine Starallüren, aber, wenn es darauf ankam, war ihr Selbstbewusstsein ungebrochen und berüchtigt. Wiłkomirska verstand sich hervorragend mit dem DDR-Stardirigenten Kurt Masur, mit Wolfgang Sawallisch, der sie immer wieder zu Auftritten mit den Wiener Symphonikern holte. Sie hat aber auch so manchen Dirigenten in die Schranken gewiesen, wie den schnell aufbrausenden und herrischen Sir John Barbirolli.

Sir John Barbirolli.

„Er wollte bei der Eröffnung des Londoner Barbican Center im März 1982 das Violinkonzert von Benjamin Britten (1913-1976) spielen. Ich habe es eingeübt. Die erste Probe. Wir beginnen zu spielen. Barbirolli bricht sofort ab und sagt, ich soll an dieser Stelle nicht verlangsamen. Ich sage »Yes, Sir«. Kurz danach wieder dasselbe. Ich soll so spielen, wie der Komponist es wollte. »Yes, Sir«. Beim vierten Mal, an einer Stelle die ich auf meine Weise interpretierte, sagte ich ihm: »Ich will das so spielen«. »Streite nicht mit mir«. »Ich weiβ, Sie haben Britten persönlich gekannt und Sie haben eine Vorstellung, wie man sein Konzert spielen soll. Ich habe meine Vorstellung. Wollen Sie eine Solistin haben, die nur yes, yes, yes von sich gibt?« Er schaute mich an und sagte »Du hast Recht, mein Kind«. Ab dann hat er mich immer wieder engagiert“, berichtete sie Jahre später.

Mitte der 60er Jahre in der Warschauer Nationalphilharmonie. Ihr Selbstbewusstsein war ungebrochen und berüchtigt.

Zubin Mehta musste sich ihren Vortrag über Karol Szymanowski anhören, den er zuerst, in ihren Augen, zu unterschätzen schien. Sie redete so gut, wie sie spielte und durfte danach noch mehrere Male mit den New Yorker Philharmonikern auftreten.

Nur mit Leonard Bernstein verband sie eine tiefe, gegenseitige Abneigung, und zwar auf den ersten Blick. Bei der Probe eines Tschaikowski-Konzertes brach sie plötzlich ab und sagte: „Zu schnell“. „Zu schnell für wen? Für Sie?“, gab der sichtlich ungehaltene Dirigent zurück. „Nicht für mich, für Tschaikowski“, antwortete Wiłkomirska. Sie sind nie wieder gemeinsam aufgetreten.

Ihre Bühnenpartner waren die bekanntesten Musiker der Welt: Arthur Rubinstein, Gidon Kremer, Martha Argerich, Kim Kashkashian, Mischa Maisky. Wiłkomirska spielte als Solistin bei der Eröffnung des neuen Opernhauses in Sydney 1973 vor der Queen und ebenfalls vor mehreren US-Präsidenten.

Polnische Violinistin mit deutschem Pass

Mit Krzysztof Penderecki 1966 in Warschau.

„Sie blieb immer eine durch und durch polnische Violinistin“, schrieb Staatspräsident Andrzej Duda in einem Kondolenzbrief, der bei ihrer Beerdigung vorgelesen wurde. Es ist eine wahre und wichtige Feststellung, doch so selbstverständlich, wie sie auf den ersten Blick erscheint, ist die Angelegenheit nicht.

Kaum ein polnischer Solist von Weltrang hat nach 1945 so sehr die polnische Musik in der Welt bekannt gemacht, wie Wanda Wiłkomirska. Dank ihr erfuhren Zuhörer in fremden Ländern, dass die polnische Musiktradition nicht ausschlieβlich aus Chopins Mazurkas und Pendereckis kakophonischen Concertos besteht.

Mit dem Komponisten und Dirigenten Witold Lutosławski Anfang der 70er Jahre.

Unerbittlich, und manchmal zum Leidwesen ihrer Impresarios, schob sie, wo sie nur konnte, in die Programme ihrer Soloauftritte, zwischen Bach, Paganini, Tschaikowski, Werke polnischer zeitgenössischer Komponisten ein: Henryk Wieniawski (1835-1880), Karol Szymanowski (1882-1937), Grażyna Bacewicz (1909-1969), Tadeusz Baird (1928-1981), Augustyn Bloch (1929-2006), Zbigniew Bargielski (geb. 1937), Zbigniew Bujarski (1933-2018), Roman Maciejewski (1910-1998), Włodzimierz Kotoński (1925-2014). In Polen hat sie deren Werke uraufgeführt. Die polnische Musik war ihr sehr wichtig und sie war im wahrsten Sinne des Wortes ihre beste Botschafterin.

Umso mehr erstaunte es, dass diese durch und durch polnische Künstlerin Mitte der achtziger Jahre ihre polnische Staatsangehörigkeit demonstrativ aufgegeben hat und Deutsche wurde. Es war der Endpunkt eines langen Prozesses.

Auch wenn Mieczysław Rakowski in seinen Tagebüchern die Sehnsucht nach seiner Frau immer wieder zur Sprache bringt, irgendwann fand sich eine deutlich jüngere, attraktive Künstlerin, eine Schauspielerin, die mehr Zeit für ihn hatte. Wanda Wiłkomirskas Scheidung von Rakowski 1970 ging einher mit einer wachsenden Ablehnung des Kommunismus, die sie an den Tag legte.

Rakowski war intelligent und sah sehr wohl, welche Katastrophen der Kommunismus allein in Polen anrichtete. Stets leicht distanziert, hielt er jedoch an ihm fest. Zu wichtig waren ihm Macht, Geltung, Ansehen. Seine geschiedene Frau schöpfte ihr Selbstbewusstsein aus ihren hart erarbeiteten musikalischen Erfolgen und sie zog Konsequenzen aus dem, was sie sah und erlebte, im Westen wie im kommunistischen Osten.

Zu berühmt, als dass ihr die Behörden ernsthaft etwas antun konnten.

Bald nach der Trennung gab sie ihren Parteiausweis zurück. Immer öfter unterschrieb sie Protestbriefe gegen Schikanen der Machthaber, setzte sich für Verfolgte ein. Ihr berühmter Name zierte die Mitgliederliste des Komitees zur Verteidigung der Arbeiter (KOR). Sie wurde eine Dissidentin.

Sie war zu berühmt, als dass ihr die Behörden ernsthaft etwas antun konnten. Nur ab und an lieβen sie sie nicht zu Konzerten ins Ausland reisen. Diese Schikanen schmerzten die leidenschaftliche Musikerin mehr als sie zugeben wollte. Konzerte im letzten Augenblick absagen ist teuer und ihre Agenten überlegten sich schon, ob sie ein zweites Mal ein solches Risiko eingehen wollten. Aber das war ihr das Engagement für die Menschenrechte wert.

Kriegsrecht in Polen.

Sie flog am 12. Dezember 1981 von mehreren Konzerten in Paris nach Warschau zurück. Am nächsten Tag wurde überfallartig das von langer Hand geplante Kriegsrecht über Polen verhängt. Panzer fuhren auf, Massenverhaftungen begannen, Solidarność wurde verboten. Abends kam Rakowski in ihre Wohnung. Er war damals stellvertretender Ministerpräsident und damit einer der Verursacher, ein „Liberaler“ der ins Lager der Knüppelkommunisten gewechselt war.

Er meinte es gut: „Sei vernünftig. Diese Walze wird Dich irgendwann plattmachen, und ich werde Dir nicht helfen können.“ „Nur zugucken, wie andere plattgemacht werden passt mir nicht“, soll sie geantwortet haben. Es sollte für viele Jahre das letzte Gespräch zwischen den beiden gewesen sein.

Die Grenzen Polens waren damals, Ende 1981, Anfang 1982, hermetisch geschlossen. Wiłkomirska sollte Konzerte im Rheinland geben. Unerwartet bekam sie ihren Reisepass von der staatlichen Künstleragentur PAGART ausgehändigt, die im kommunistischen Polen der einzige Auslandsimpresario war. Es war im Warschau jener schrecklichen Tage eine kleine Sensation. Stand Rakowskis Anweisung dahinter? Vieles spricht dafür.

In Würde Abschied nehmen

In der Bundesrepublik angekommen, schickte Wiłkomirska ihren polnischen Pass an die polnische Botschaft zurück, beantragte und bekam deutsche Ausweispapiere. Sie brach nicht mit Polen, sie brach mit dem kommunistischen Polen.

Ihr Heimatland, vom Kommunismus befreit, sah sie erst 1990 wieder. Bis dahin unterrichtete sie seit 1983 an der Hochschule für Musik Heidelberg-Mannheim und zog sich, wohlüberlegt, nach und nach aus dem Konzertbetrieb zurück.

Wissen und Können an die junge Generation weitergeben.

Ihre Fans sollten sie in bester Erinnerung behalten, so wie sie in ihren Glanzzeiten gespielt hat. Das war ihr überaus wichtig. Sie verkaufte ihre prachtvolle Guarneri-Geige und begann ihr Wissen und Können an die junge Generation weiterzugeben. Ab 1999 lehrte sie am Konservatorium in Sydney, gab Meisterkurse in Polen, Japan, der Schweiz, Italien, Finnland, Österreich, war Jurymitglied bei Violinwettbewerben in Moskau, Tokio, London, München, Graz, Wien und natürlich beim Henryk-Wieniawski-Violinwettbewerb in Poznań, wo 1952 ihre groβe Karriere begonnen hatte.

Polen empfing sie 1990 mit offenen Armen. In der Heimat blühte sie wieder auf. Von so viel Begeisterung und Zuspruch überwältigt, kehrte Wiłkomirska für einige Jahre ins intensive Konzertleben zurück. Die Kritiker schrieben immer wieder, die Grande Dame der Violine spiele überraschend perfekt.

Ihr letztes Lebensjahr verbrachte Wanda Wiłkomirska in Skolimów bei Warschau, in einem gediegenen Seniorenheim für Künstler. Bis zuletzt geistig fit, nahm sie es ihren beiden Söhnen übel, dass sie sie dort untergebracht hatten. Bekannte und Schüler kamen oft vorbei. Nach einem schweren Schlaganfall kam sie ins Krankenhaus. Die Ärzte konnten nichts mehr für sie tun.

Überragende Begabung, unermüdlicher Fleiβ und Zivilcourage haben ihr Leben geprägt. Dafür wurde sie bewundert.

Wanda Wiłkomirska starb mit 89 Jahren und wurde am 15. Mai 2018 auf dem Warschauer Powązki-Friedhof feierlich bestattet.

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