Ukrainer in Polen. Nutzen und Gefahren
Einblicke in eine nationale Debatte. Auf dem Weg zum Zweivölkerstaat?
Etwa eineinhalb Millionen Ukrainer halten sich ständig in Polen auf. Um das zu erfahren, braucht man sich nur auf die Straβen einer beliebigen gröβeren Stadt in Polen zu begeben.
Auf Schritt und Tritt hört man Ukrainisch oder auch Russisch, das die meisten Ankömmlinge aus der Ostukraine sprechen. Sie sind zumeist jung, kommen nach Polen, um zu studieren oder zu arbeiten. Gut vierzigtausend Ukrainer lernen inzwischen an polnischen Hochschulen. Ob an der Supermarktkasse, in Kneipen, auf dem Bau, am Flieβband oder am Steuer städtischer Busse, die weiche, singende Art, Polnisch zu sprechen, verrät auf Anhieb, mit wem man es zu tun hat.
Arbeitskräfte sind rar geworden in Polen. Die Arbeitslosigkeit rutschte im Juli 2019 unter die Vier-Prozent-Marke. Vehement fordern Arbeitgeber die Behörden auf, alle administrativen Hürden zu beseitigen. Der Staat soll vor allem den Ukrainern, die arbeiten wollen, das Tor nach Polen sperrangelweit öffnen.
Die meisten Arbeitsgenehmigungen werden für 180 Tage erteilt. Wer darüber hinaus in Polen Geld verdienen möchte, muss spätestens nach drei Monaten anfangen, sich um eine Verlängerung beim Ausländeramt zu kümmern. Es ist eine mühsame Angelegenheit. Viele belassen es lieber bei dem halben Jahr, reisen aus und kommen anschließend wieder. Es herrscht ein ständiges Kommen und Gehen.
Inzwischen jedoch, haben etwa 200.000 Ukrainer eine Aufenthaltsgenehmigung für drei Jahre. Weitere 50.000 dürfen unbefristet in Polen bleiben. In den letzten Jahren wuchs die Zahl der genehmigten Langzeitaufenthalte um jeweils fünfzehn Prozent.
Insgesamt, so Eurostat, das Statistische Amt der EU, war Polen bereits 2017 mit 597.000 Genehmigungen einsamer EU-Spitzenreiter, wenn es um „die Ausgabe von erstmalig erteilten Aufenthaltstiteln zum Zweck der Erwerbstätigkeit an Nicht-EU-Ausländer“ ging. Die mit Abstand meisten erhielten hierbei Bürger der Ukraine. Weit abgeschlagen auf Platz 2 stand Groβbritannien mit 180.000 Genehmigungen von Erwerbs-Aufenthaltstiteln, gefolgt von Deutschland mit 157.000.
Alles spricht dafür, aber…
Argumente, die für eine ukrainische Masseneinwanderung nach Polen sprechen, sind sattsam bekannt. Es kommen Menschen, so heiβt es, deren Sprache, Mentalität und Religion Polen sehr nahestehen. Sie leben sich leicht ein und sie wissen die geistige und geografische Nähe Polens zu ihrer Heimat sehr zu schätzen.
Deswegen ziehen sie so häufig Polen den westeuropäischen Ländern vor. Dort ist der Verdienst zwar höher, aber mit ihm steigen auch die Lebenshaltungskosten in einer Umgebung, die ihnen viel fremder erscheint als die polnische. Wer Heimweh hat, ist von Polen aus schnell zu Hause.
Sehr viele Ukrainer strömen nach Polen, so ein weiteres Argument, aber bisher leiden der innere und soziale Frieden nicht im Geringsten darunter. Sie kommen, um zu arbeiten, wohlwissend, dass die polnischen Sozialleistungen knapp bemessen und für sie, solange sie die polnische Staatsangehörigkeit nicht besitzen, unzugänglich sind.
Auch Fachleute für Bevölkerungsentwicklung geraten ins Schwärmen. Die polnische Geburtenrate ist karg. Geburten und Todesfälle halten sich seit Jahren die Waage. Je mehr Ukrainer in Polen Familien gründen oder sie nach Polen mitbringen, umso besser für die Bevölkerungsstatistik.
Wo die meisten ukrainischen Einwanderer und Saisonarbeiter in Polen leben, zeigt eine Karte, die anhand ihrer Handys Anfang 2019 erstellt wurde. Ermittelt wurden alle Benutzer, die ihre Telefone auf die ukrainische oder russische Sprache umgestellt hatten und die wenigstens einmal in zwölf Monaten in die Ukraine gereist sind beziehungsweise eine ukrainische SIM-Karte in ihren Apparat einlegten. Auif diese Weise hat man etwa achthunderttausend Menschen erfasst.
Davon waren 56 Prozent Männer. Sie arbeiten meistens auf dem Lande oder in Kleinstädten. Ukrainerinnen hingegen suchten sich überwiegend eine Beschäftigung in den Metropolen. Knapp 40 Prozent der ausgewerteten „polnischen“ Ukrainer waren zwischen 21 und 30, etwa 40 Prozent bis 40 Jahre und nur 7 Prozent waren älter als 50 Jahre alt.
Etwa jede sechste Ukrainerin bis 30 Jahre benutzte eine Schwangerschaftsplanungs-App, woraus man unter Umständen schlieβen kann, dass sie dauerhaft bleiben möchten. Jedenfalls wurden 2018 in Polen knapp 1500 polnisch-ukrainische Ehen geschlossen. Ukrainerinnen gebaren in Polen in demselben Jahr gut 2100 Kinder.
Die meisten Polen sind sich nicht bewusst, dass die Ukrainer in ihrem eigegnen Land in zwei voneinander weitgehend abgeschotteten Welten leben. Die Westukrainer sprechen aus Überzeugung nur ukrainisch, sind in der ukrainischen Tradition verwurzelt, patriotisch, etliche frönen gar unverhohlen dem ukrainischen Nationalismus. Sie sind religiös, feiern die Feste, wie es die Ukrainische griechisch-katholische Kirche vorschreibt. Nur was ukrainisch ist: Unterhaltungsmusik, Filme, das Fernsehen, Gedrucktes wird akzeptiert.
Die Ostukrainer dagegen sprechen russisch, haben ihre eigenen Kneipen und Treffpunkte, feiern im Rhythmus russischer Pop-Musik. Ihre Religiosität ist, wenn überhaupt, zumeist sehr lau. Oft schauen sie auf ihre westukrainischen Landsleute von oben herab: „Dörfler“.
… es gibt auch Kehrseiten.
Noch entwickelt sich die ukrainische Anwesenheit in Polen weitgehend harmonisch, aber wird das auf Dauer so bleiben? Es gibt Warner und Rufer, die das bezweifeln.
Das Wochenmagazin „Do Rzeczy“ („Zur Sache“) vom 11.07.2019 bündelte all ihre Bedenken und Befürchtungen und brachte sie zu Papier. Ob diese wirklich berechtigt sind, darüber wird gestritten. Sie geben auf jeden Fall den Gemütszustand, die Denkweise und die Argumente der polnischen Migrationsgegner wieder.
Erstens. Nach 2004 lieβen sich innerhalb von fünfzehn Jahren etwa eine Million Polen in Groβbritannien und Irland nieder. Gewiss, das war viel und passierte schnell. Doch diese Zahlen verblassen in Anbetracht der Tatsache, dass die 1,5 Millionen Ukrainer während der letzten vier, höchstens fünf Jahre in Polen angekommen sind. Solch ein Einwanderungstempo kommt sonst nur bei groβen Flüchtlingsbewegungen zustande, aufgrund von Kriegen oder gewaltigen Naturkatastrophen. Der lokale Krieg im Donbas taugt in diesem Fall nur bedingt als Ursachenerklärung.
Zweitens. Die plötzliche Verpflanzung einer weitgehend einheitlichen ethnischen Gruppe, einer sofort „gebrauchsfähigen“ Minderheit, stellt ein Experiment dar mit einem sehr ungewissen Ausgang dar.
Drittens. Hält das Einwanderungstempo an, wird die Assimilierungsfähigkeit immer geringer. Die Ankömmlinge werden zunehmend unter sich bleiben wollen, sich eigene Lebensräume schaffen mit eigenen Läden, Schulen, Verbänden, Kultur- und Kultuseinrichtungen, wo man ohne Berührung mit der Sprache und Kultur der Einheimischen leben kann.
Viertens. Man muss auch laut fragen, ob uns irgendjemand gefragt hat, bevor der Masseneinwanderung aus dem Osten Tür und Torgeöffnet wurden? In welchem Wahlprogramm wurde diese Maβnahme angekündigt?
Niemand hat die polnische Gesellschaft danach gefragt. Es gab keine Parlamentsdebatte zu diesem Thema, keine Volksbefragung. Die Masseneinwanderung erfolgte aufgrund der Änderung drittrangiger Verwaltungsvorschriften durch anonyme Abteilungsleiter im Innen- oder Auβenministerium, nach dem Motto: Wir müssen den Andrang besser bewältigen, also die Prozeduren vereinfachen, Fristen verkürzen, Aufnahmekriterien ausdünnen usw.
Fünftens. Wie einst im Nachkriegs-Westdeutschland übt jetzt in Polen die Wirtschaft enormen Druck aus, Arbeitskräfte aus dem Ausland zu holen. „Wir brauchen Leute!“, hallt es von der Ostsee bis zur Hohen Tatra, vom Bug bis an die Oder. Doch diese Leute sind keine Roboter, sondern Menschen, die Familien gründen, die ihre Kinder, Ehefrauen, Eltern nachholen wollen, was man ihnen nicht verübeln, geschweige denn verwehren kann.
Doch dieselben Arbeitgeber haben nicht die geringsten Hemmungen, die Leute wieder zu entlassen, wenn die Rezession ihre Auftragsbücher leerfegt. Das Problem überlassen sie dann dem Staat und der Gesellschaft. Die westdeutsche Bredouille infolge der Massenansiedlung von Türken sollten hier ein warnendes Beispiel sein.
Sechstens. Wirtschaft, Bevölkerungswissenschaftler, linksliberale Medien fordern vehement, man solle allen Ukrainern sofort ein ständiges Bleiberecht einräumen oder, noch besser, im Schnellverfahren die polnische Staatsangehörigkeit verleihen, verbunden mit dem Recht, Angehörige nachzuholen. Man darf davon ausgehen, dass unter solchen Umständen zehn- wenn nicht hunderttausende jetziger ukrainischer 180-Tage-Pendler dauerhaft bleiben würden.
Polkraine in Sicht?
Siebtens. Holt jeder der jetzt in Polen arbeitenden Ukrainer nur zwei Verwandte nach, würde ihre Gesamtzahl auf bis zu 4,5 Millionen ansteigen. Polen zählt 38 Millionen Einwohner. Das wären auf Anhieb etwa 12 Prozent der Bevölkerung.
In Deutschland und Groβbritannien ist der Ausländeranteil noch gröβer. In Polen jedoch wären dies Menschen ausschlieβlich einer Nationalität, praktisch ein zweites Staatsvolk.
Achtens. Seine Ansprüche und Erwartungen würden das Leben in Polen schnell verändern. Forderungen nach Zweisprachigkeit im öffentlichen Leben, nach politischer Einflussnahme, Forderungen im Namen der Toleranz, die polnische Identität und Lebensart zu ändern, dort wo sie mit der ukrainischen kollidiert, was ebenfalls die bestehenden und damit verbundenen unvermeidlichen Gegensätze, Auseinandersetzungen, Fehden einschließt. Der soziale und der innere Frieden gerieten so schnell in Gefahr.
Neuntens. Seitdem groβe Teile der heutigen Ukraine 1569 durch Sigismund II. August, den letzten König aus der Jagiellonen-Dynastie, Polen einverleibt wurden, besteht die Geschichte der polnisch-ukrainischen Beziehungen aus einer beinahe unendlichen Kette von Konflikten. Ihr wichtigster gemeinsamer Nenner waren schier beispiellose Grausamkeiten.
Ihr Höhepunkt, die Wolhynien-Massaker von 1943, als ukrainische Nationalisten unter deutscher Besatzungs-Schirmherrschaft etwa einhunderttausend Wolhynien-Polen buchstäblich abschlachteten, bestätigte diese historische Regel.
Dieses Kapitel ist bis heute nicht aufgearbeitet. Die Ukrainische Aufständische Armee wird vor allem in der Westukraine als Heldin des Kampfes gegen die Sowjets nach 1945 gefeiert. Ihre Wolhynien-Morde und die Massenmorde an Juden, von denen dieser Landstrich gesäubert werden sollte, bleiben unerwähnt oder werden verharmlost.
Die Ideengeber und Anführer dieser Mordfeldzüge: Stepan Bandera, Roman Suchewytsch, Dmytro Kljatschkiwskyj und andere genieβen in der heutigen Westukraine Heldenstatus, ihre Denkmäler säumen Plätze und Hauptstraβen.
Die sterblichen Überreste ihrer polnischen und jüdischen Opfer dagegen liegen auf Feldern und in Wäldern namenlos verscharrt und dürfen bis heute nicht geborgen werden. Einige hundert Orte, die sie bewohnt hatten, wurden niedergebrannt und umgepflügt. Nichts ist übriggeblieben auβer den Nachkommen der Opfer, die nicht einsehen wollen, dass ihren Vorfahren auch jetzt noch in der Ukraine menschenwürdige Ruhestätten verwehrt werden.
Zehntens. Der Konflikt um diese Vergangenheit belastet heute die polnisch-ukrainischen Beziehungen schwer. Sich ihn mit der neuen ukrainischen Groß-Minderheit noch ins Land zu holen, denn Bandera-Verehrer gibt es unter den Ukrainern viele, wäre mehr als leichtsinnig.
Elftens. Die ukrainische Minderheit im heutigen Polen zählt, laut Volkszählung von 2011, knapp 40.000 Menschen. Vor dem Krieg lebten in Polen, gemäβ der Volkszählung von 1931, nicht ganz 3,5 Millionen Ukrainer. Das waren zehn Prozent der gesamten damaligen Landesbevölkerung. Die Erfahrungen des polnisch-ukrainischen Zusammenlebens aus jener Zeit sind nicht gut. Wer garantiert, dass die Dämonen der Vergangenheit nicht wieder aufleben?
So streiten im Polen die „Verharmloser“ und die „Alarmisten“ um die Handhabung der ukrainischen Zuwanderung. Beide bringen viele gewichtige Argumente ins Spiel, die wir hier zusammengestellt haben.
Jedenfalls gilt auch in diesem Fall: vor dem Schaden klug sein kann man nur, wenn es keine Denkverbote gibt.
© RdP