Tschetschenien. Polens erkaltete Liebe
Ein Mythos und sein Ende.
Am 18. Oktober 2020 erstach und enthauptete ein 18-jähriger Tschetschene den Lehrer Samuel Paty unweit von Paris auf offener Straße. Die Polizei erschoss den Täter. Sein Name: Abdullach Nawzorow . Er war drei Jahre alt, als seine Familie in Polen den Asylantrag stellte. Sie wurde abgewiesen.
Die Familie Nawzorow kam im August 2005 nach Polen. Die Behörden schenkten den Schilderungen des Familienvaters keinen Glauben. Er soll den antirussischen Partisanen geholfen haben, dafür dann von uniformierten Männern entführt und einige Tage lang misshandelt worden sein. Als den Nawzorows das Asyl verweigert worden war, fuhren sie nach Russland zurück und versuchten es zwei Jahre später in Frankreich. Mit Erfolg. Dreizehn Jahre danach ereignete sich die Tragödie.
Diese Geschichte, breit kolportiert von den Medien in Polen, dürfte einen Großteil der polnischen Öffentlichkeit wieder einmal darin bestärkt haben, es sei richtig, islamische Migranten möglichst nicht ins Land zu lassen und ihnen, wenn nötig, lieber vor Ort zu helfen. So mancher wird sich dabei auch mit Unbehagen an Zeiten erinnert haben, als in Polen ausgerechnet den Tschetschenen Tür und Tor offen standen, und ihnen eine Woge der Sympathie entgegenschlug. Knapp 95.000 von ihnen hat das Land seit Anfang der neunziger Jahre aufgenommen.
Hätte Abdullach Nawzorow auch in Polen seine Tat begangen? Terrorismus-Expertin Prof. Aleksandra Gasztold von der Warschauer Universität hält das für möglich. Der Auslöser, sagte sie dem Wochenmagazin „Sieci“ („Netzwerk“), müssten nicht Mohammed-Karikaturen sein, die der Lehrer Paty im Unterricht gezeigt hatte. In Polen finden diese keine Beachtung. Seinen Zorn hätte stattdessen z. B. ebenso einer der nicht selten erheblich manipulierten Dokumentarfilme auf Youtube über geheime CIA-Gefängnisse in Polen wecken können.
Um terroristische Anschläge zu verüben, sind gewisse psychische Voraussetzungen notwendig. Die meisten radikalen Islamisten leben ihre Frustrationen und ihren Zorn im Internet aus und gehen nie darüber hinaus. Beim jungen Nawzorow nahm der Drang zur Tat überhand. Er ähnelte einer tickenden psychischen Zeitbombe, die letztendlich explodierte. So etwas kann überall passieren, meinte Prof. Gasztold.
Dr. Daniel Boćkowski von der Universität Białystok dagegen, einer der besten Kenner der tschetschenischen Gemeinde hierzulande, sagte in „Sieci“, dass der Jugendliche keine Gelegenheit gehabt hätte sein Attentat in Polen zu verüben. Schlicht und einfach deshalb, weil seine Familie, wie so viele andere, über kurz oder lang das Land ohnehin in Richtung Westeuropa verlassen hätte.
Wie wir heute wissen, fühlte sich die radikalisierte Familie Nawzorow wohl in Frankreich, in dem extrem islamistischen Milieu der Salafisten, das sie umgab. Abdullachs Großeltern, sein Vater und sein Bruder sind nach dem Mord schnell ins Fadenkreuz der französischen Polizei geraten. Auch ein Nachbar, der im Internet dazu aufgerufen hatte den Lehrer Paty zu „bestrafen“. Ebenso muslimische Schüler, die dem Attentäter Paty gezeigt haben sollen. Solche Parallelwelten gibt es in Polen nicht.
Die polnische Drehtür
Um zu verhindern, dass sie entstehen können, weigert sich die polnische Grenzpolizei seit einigen Jahren Asylanträge von Tschetschenen an der polnisch-weißrussischen Grenze entgegenzunehmen. Bis Corona ausbrach, kampierten Dutzende tschetschenische Familien wochenlang auf dem Bahnhof und in den umliegenden Billighotels im weißrussischen Brest. Jeden Morgen nahmen sie den Zug nach Polen und wurden an der polnischen Grenzstation Terespol als Wirtschaftsflüchtlinge zurückgeschickt. Nur ab und an durften einige wenige den Asylantrag stellen.
Im Juli 2020 verurteilte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte Polen deswegen zur Zahlung von jeweils 34.000 Euro an zwei tschetschenische Familien und einen Mann. Sie wurden zwischen 2016 und 2017 regelmäßig in Terespol abgewiesen. Das Land sei preiswert davongekommen, so der Tenor der Internet-Kommentare damals. Schließlich gehe es darum, potentielle Gefährder nicht ins Land zu lassen, da seien gut 100.000 Euro kein Geld.
Es heißt, solche Praktiken wie in Terespol widersprechen den geltenden internationalen Regelungen. Ein Asylantrag muss, von jedem der sich verfolgt fühlt, im ersten sicheren Staat entgegengenommen werden und wer ihn stellt, muss Aufnahme finden solange sein Ersuchen geprüft wird. Das dauert in Polen mindestens ein Jahr.
Leider widerspricht das Verhalten der allermeisten aufgenommenen Tschetschenen stark den geltenden Regelungen. Ohne auch nur den Beginn des Asylverfahrens abzuwarten, machen sie sich fast ausnahmslos auf und davon, vorzugsweise nach Deutschland, Frankreich, Belgien und Schweden. Dort leben ihre Verwandten aus dem Familienclan. Dort haben ihre Landsleute islamisch-tschetschenische Netzwerke geschaffen, die sich in Parallelwelten verwandeln. Ausnahmsweise einmal aufgegriffen und im Polizeikonvoi nach Polen überstellt, flüchten sie erneut. Drehtüreffekt nennt man das.
Der polnische Vertreter bei der Verhandlung in Straßburg hat diese Argumente vorgebracht. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat sie nicht berücksichtigt.
In Deutschland, wo inzwischen schätzungsweise 12.000 Tschetschenen leben, sind Berichte wie der vom Mai 2019 im „Spiegel“ fast schon an der Tagesordnung: „BKA warnt vor Tschetschenen-Mafia. Banden aus Tschetschenien sind in Deutschland auf dem Vormarsch – zu dieser Einschätzung kommt das Bundeskriminalamt in einer vertraulichen Analyse.“
„Brutal, vernetzt, abgeschottet. Bedrohung durch Kriminelle aus dem Kaukasus“, so der Titel eines ZDF-Berichtes im September 2019.
„Schutzgeld-Mafia: Lange Haftstrafen für Tschetschenen“ titelte im Januar 2020 die „Sächsische Zeitung“. Ähnliche Schlagzeilen aus deutschen Medien findet man im Internet zuhauf.
In Polen nicht heimisch geworden
In Polen haben zwischen 2003 und 2019 knapp 95.000 Tschetschenen um Asyl nachgesucht. Etwa 71.000 Verfahren wurden eingestellt, weil die Antragsteller nach Westeuropa ausgereist waren. Etwa 18.000 Fälle wurden negativ beschieden, woraufhin die Betroffenen Polen Hals über Kopf ebenfalls in Richtung Westen verlassen haben. Dasselbe taten die meisten der gut 6.000 Tschetschenen, denen in Polen Asyl gewährt wurde. Heute leben in Polen etwa 2.500 Tschetschenen mit Asyl oder Duldung. Hinzu kommen ca. 1.000, deren Verfahren noch laufen.
Doch ob in Polen oder in Deutschland, sie gelten den Behörden als eine besonders schwierige Gruppe und die tschetschenischen Männer als besonders gewaltbereit, weil sie schnell zum Messer greifen, ihre Frauen oder Kinder verprügeln. Der Hang zur Gewalt hat mit der Kriegermentalität, dem Ehrenkodex und dem ausgeprägten Männlichkeitskult der kaukasischen Bergbewohner zu tun. Zudem bleiben die Clan-Strukturen, in denen sie sich seit Jahrhunderten in ihrer Heimat organisieren, auch außerhalb der Heimat erhalten. In ihnen spielt sich das Leben der Tschetschenen auch in der Fremde ab.
So kommt es, dass, anders als die Vietnamesen, Weißrussen oder Ukrainer, sich die Tschetschenen in Polen nicht integrieren. Auch nach zehn und mehr Jahren Aufenthalt sprechen sie kein Polnisch, leben vom Geld, das ihnen Clan-Mitglieder aus Westeuropa schicken.
Als das Arbeitsamt in Łomża, in Nordostpolen, wo die meisten Tschetschenen in zwei Einrichtungen untergebracht sind, 2017 für achtzig von ihnen einen Lehrgang organisierte, nahm im Anschluss nur ein Teilnehmer eine reguläre Arbeit auf. Nicht anders war es im Jahr darauf.
„Als Einzelpersonen fallen sie nicht auf, sind zurückhaltend und höflich. Es genügt aber, dass sie zwei, drei Landsleute treffen, gleich werden sie laut, herausfordernd, streitsuchend, belästigen vorbeigehende Frauen. Obwohl Moslems, trinken sie so, wie man in Russland, von wo sie kommen, üblicherweise trinkt: viel und gerne, und dann wird es richtig gefährlich.“ In Łomża und Umgebung bekommt man das oft zu hören.
Raubüberfälle, Körperverletzung, Diebstahl, räuberische Erpressung, selten ein Mord. Wegen dieser Straftaten geraten Tschetschenen immer wieder in Polen hinter Gitter. Haben sie die Hälfte oder zwei Drittel der Strafe verbüßt, werden sie des Landes verwiesen, ohne Recht auf Rückkehr. Das rigide Vorgehen der Grenzpolizei an der weißrussischen Grenze und die Abwanderung der Tschetschenen in den Westen Europas, ersparte Polen das Entstehen von extrem gewalttätigen „Banden aus Tschetschenien“, vor denen das deutsche Bundeskriminalamt so eindringlich warnt.
Auch in Polen muss der Staatsschutz ein waches Auge auf die Tschetschenen haben. Mancher junge Asylant sucht den Kontakt zum Islamischen Staat, will als Kämpfer nach Syrien oder Afghanistan reisen. Es wird immer wieder mal Geld für den „heiligen Krieg“ gesammelt. Bis jetzt gelingt es solche Betätigungen im Ansatz zu unterbinden, aber Nachrichten darüber ruinieren den Ruf der Ankömmlinge zunehmend.
Dabei sind die Tschetschenen mit ihrem Ansehensverlust wahrlich von einem hohen Sockel gestürzt.
„Polen und der Kaukasus. Russlands offene Wunden“
In Polen, das selbst, unter den Zaren und unter den sowjetischen Kommunisten, knapp drei Jahrhunderte lang die brutale russische Vorherrschaft erleiden musste, wurde der tschetschenische Freiheitskampf Anfang der neunziger Jahre, kurz nach dem Zerfall des Ostblocks, mit großer Sympathie bedacht. Sie war so stark, weil zugleich ein Mythos wiedererwachte, der seit zweihundert Jahren immer wieder aufs Neue in Polen die Herzen höher schlagen ließ: Die Überlieferung von der polnisch-tschetschenischen, bzw. polnisch-kaukasischen Schicksalsgemeinschaft.
Anfang des 19. Jahrhunderts hatte Russland zur endgültigen Eroberung des Kaukasus angesetzt. Sie verschlang knapp ein halbes Jahrhundert (1817 bis 1864), so erbittert war der Widerstand der Tschetschenen, Inguschen. Karatschaier, Mescheten und der anderen Kaukasus-Völker.
Ende Mai 1851 kam der junge Fähnrich Leo Tolstoi (1828-1910) dorthin. Bis Januar 1854 kämpfte er gegen die Einheimischen in einer Artilleriebrigade. Tolstoi verarbeitete seine Beobachtungen und Erfahrungen in den Kaukasus-Erzählungen. Mit ihnen begann sein Schriftstellerruhm.
In der Novelle „Hadschi Murat“ legt Tolstoi dem russischen Generalgouverneur der baltischen Provinzen, Baron Wilhelm Lieven, eine Aussage in den Mund, die im damaligen Russland eine weit verbreitete Überzeugung wiedergab. An der Tafel des Zaren Nikolaus I. (1796-1855) sagt Lieven zum preußischen Gesandten: „Polen und der Kaukasus, das sind die beiden offenen Wunden Russlands. Wir brauchen jeweils etwa einhunderttausend Mann in diesen beiden Gegenden“.
An den zwei entgegengesetzten Rändern des russischen Imperiums brachen nämlich regelmäßig nationale Aufstände aus. Russische Truppen, die sie bekämpften, hatten nicht selten dieselben Kommandeure. Dazu gehörte Iwan Paskewitsch (1782-1856), einer der fähigsten und grausamsten russischen Heerführer im 19. Jahrhundert.
Der Feldmarschall unterwarf zwischen 1826 und 1830 nacheinander die Reste von Aserbaidschan und Armenien, und die Bergvölker Dagestans. Zar Nikolaus I. beorderte Paskewitsch im Frühjahr 1831 direkt aus dem Kaukasus nach Polen, zur Niederwerfung des Ende November 1830 ausgebrochenen großen nationalen Aufstandes.
Wie im Kaukasus säumten Hunderte von Galgen den Weg seiner Truppen, dazu Leichen von Opfern der Erschießungskommandos, Kolonnen in Ketten gelegter Aufständischer, die von berittenen Kosaken zu Fuß nach Sibirien getrieben wurden. Niedergebrannte Dörfer aber auch zerstörte katholische Kirchen und Klöster, da sie die lokalen geistigen Hochburgen des Widerstandes waren.
Im Zuge der Expansionspolitik des Zarenreiches entzückte und beflügelte der Kaukasus mit seiner atemberaubenden Bergwelt und den dort seit alters her ansässigen Völkern mit unterschiedlichen Religionen, Sitten und Gebräuchen die Fantasie der größten Größen der russischen Literatur und Dichtung. Für die Romantiker Alexander Puschkin, Alexander Bestuschew, Michail Lermontow war der vielgestaltige Kaukasus ein mit Mythen gesättigter Ort romantischer Sehnsucht, orientalischer Fantasien, eine majestätische, „imperiale Landschaft“, die nur des Zarenreiches würdig sei. Dort fanden auch die Kriegsteilnehmer Bestuschew (1837) und Lermontow (1841) den Tod.
Beim Knechten verheizt
Tolstois Erzählungen vom Kaukasuskrieg dagegen sind schonungslose Schilderungen von Heldenmut, Fanatismus, Rohheit, Gräuel und Verrat. In diese Hölle schickte das Zarenregime immer wieder Tausende von Polen. Der Freiheit beraubt und in russische Uniformen gesteckt, wurden sie beim Knechten der kaukasischen Bergvölker verheizt.
„Gibt es eine polnische Familie, die niemanden im Kaukasus hätte?“, fragte rein rhetorisch Hipolit Jaworski in seinen 1877 erschienenen „Erinnerungen aus dem Kaukasus“. Im 19. Jahrhundert waren solche Familien im russischen Teilungsgebiet Polens eine Seltenheit. Jaworski, Kämpfer im polnischen Nationalaufstand von 1830, bezahlte für sein patriotisches Engagement mit zwölf Jahren Zwangsdienst im Kaukasus.
Den Anfang aber machten einige Tausend gefangen genommene Teilnehmer der nationalen Erhebung von 1794. Es war ein verzweifelter Versuch die dritte Teilung Polens, die 1795 stattfand, und das Verschwinden des Landes von der Europa-Karte doch noch abzuwenden.
Auf russische Einheiten verteilt, gingen die Polen in Nordossetien und Nordtschetschenien nach und nach zugrunde. Kälte, Krankheiten und die Hinterhalte der Partisanen des Scheichs Mansur Uschurma und seiner Nachfolger rissen sie reihenweise aus dem Leben.
Ihnen folgten ab 1816 etwa 12.000 gefangene polnische Soldaten der Armeen Napoleons. Es waren die ersten Jahre des fast ein halbes Jahrhundert währenden Kaukasuskrieges. In den unzugänglichen Bergen, befeuert von radikalen Imamen, leisteten die Tschetschenen und zahlreiche Bergvölker Dagestans erbitterten Widerstand.
Wochenlange Märsche im rauen Hochgebirgsklima, durch schneebedeckte Gebirgszüge und über schwindelerregende Pässe, zermürbten die russischen Truppen. Ihre Kriegsführung wurde immer rücksichtsloser und grausamer. Ausrottung sollte dem Widerstand den Boden entziehen. Die ansässige Bevölkerung zahlte es den Angreifern mit gleicher Münze heim.
Danach kamen die besiegten Kämpfer der beiden großen polnischen Aufstände gegen die russische Herrschaft von 1830 und 1861 in den Kaukasus. Außerdem zogen die Russen seit 1835 in ihrem polnischen Teilungsgebiet Jahr für Jahr, mittels brutaler Razzien („Branka“), Rekruten ein. Wer ihnen in Fänge geriet, verschwand für 25 Jahre hinter russischen Kasernentoren. Nicht selten im Kaukasus.
Der französische Konsul in der georgischen Hauptstadt Tiflis schätzte 1840 den Anteil der Polen im russischen Kaukasus-Heer, das zeitweise gut 200.000 Mann zählte, auf 16 bis 19 Prozent. In diesem Bereich schwankte die polnische Quote bis in die siebziger Jahre des 19. Jahrhunderts, als es den Russen gelang den Kaukasus vollends zu erobern.
Deserteure, Sklaven, Mitkämpfer
Auf Schritt und Tritt überwacht, oft drangsaliert, fielen die Polen zudem, genauso wie ihre russischen Kameraden, dem weit verbreiteten Hang der zaristischen Generäle zum Opfer, ihre Untergebenen in aussichtslosen Attacken und Verfolgungsmärschen sinnlos dem Tod preiszugeben.
Wie viele Polen in russischer Uniform in ihrer Verzweiflung zu den Kaukasiern übergelaufen sind oder sich von ihnen gefangen nehmen ließen, lässt sich im Nachhinein nicht feststellen. Sicher ist, dass sie ein ungewisses Schicksal erwartete.
Manchen gelang im Anschluss die Flucht nach Persien oder in die Türkei. Wegen ihres Dauerkonfliktes mit Russland begegneten die Türken den polnischen Freiheitsbestrebungen stets mit Wohlwollen. Die Türkei war jahrzehntelang Zufluchtsort Tausender polnischer Verfolgter des Zarenregimes. In Istanbul starb im November 1855 der polnische Nationaldichter Adam Mickiewicz als er dabei war eine polnische Legion, die gegen die Russen kämpfen sollte, mit aufzustellen.
Im Februar 1857 kehrten etwa achtzig polnische Deserteure aus der Zaren-Armee unter der Führung des zum Islam übergetretenen Artillerie-Obristen Teofil Łapiński (Tefik Bey) aus der Türkei in den Kaukasus zurück. Bis zur Kapitulation des Widerstandführers Imam Schamil 1859 zogen sie zwei Jahre lang an seiner Seite ins Feld gegen die Russen.
Die zweite polnische Expedition aus der Türkei stand unter dem Kommando von Hauptmann Klemens Przewłocki (fonetisch Pschewuotski), auch er war als Klementi Bey zum Islam konvertiert. Als sie im August 1863 im Kaukasus auftauchten, begann der Widerstand zu erlöschen. Nach schweren Kämpfen, teilweise von den Russen aufgerieben, traten die Überlebenden im April 1864 den mühsamen Weg zurück in die Türkei an.
Schafften sie es nicht in die Türkei, gerieten viele polnische Deserteure aus der russischen Armee oft vom Regen in die Traufe. Manche Clanführer der Tscherkessen und Tschetschenen behandelten sie, vor allem am Anfang des 19. Jahrhunderts, wie Arbeitssklaven. Wer von den Geflüchteten in den entlegenen Bergdörfern überleben wollte, war gut beraten zum Islam überzutreten. Die Sitten dort waren streng, das Leben karg und eintönig, die Angst an die Russen ausgeliefert zu werden ein ständiger Begleiter.
Das konnte durchaus passieren, denn die Clans und Stämme kämpften zwar gegen die Eroberer, aber immer wieder kam es auch zu Auseinandersetzungen untereinander. Während solcher unerbittlichen Fehden stellte sich dann nicht selten die eine Konfliktpartei in ihrem blinden Hass auf den gegnerischen Clan auf die Seite der Russen. Blutrache, Verrat, Betrug, das Ausspielen der Clans gegeneinander, die Geschichte der russischen Kaukasuseroberung ist reich an solch düsteren Vorkommnissen.
Entsetzlich war das Schicksal der polnischen Deserteure, wenn sie unter diesen Umständen in die Hände der Russen gerieten. Vielfach zu Hunderten von Stockhieben verurteilt, starben sie einen grausamen Tod.
Erst als es Imam Schamil (1797-1871), einem charismatischen religiösen und politischen Führer gelang den Widerstand der Bergvölker Dagestans und Tschetscheniens zu vereinigen, begann auch eine bessere Zeit für die Überläufer.
Nach einigen schweren Niederlagen begann Schamil um 1840 mit dem Aufbau eines mehr oder weniger geordneten Staates, um dem Widerstand eine solidere Grundlage zu geben. Dazu schuf er eine dreistufige Hierarchie von Dorfvorstehern, Gebietschefs und schließlich seiner eigenen Zentralregierung. Der Staat erhielt ein stehendes Heer, Postwesen, Steuerverwaltung und ein eigenes islamisches Gerichtswesen. Polnische Deserteure konnten nun ihr Können als Artilleristen, Pioniere, Kartografen oder Feldschere unter Beweis stellen.
Knapp zwanzig Jahre lang, in denen er der russischen Armee einige vernichtende Niederlagen zufügte, konnte Schamil sich halten. Etwa einhundertfünfzig Polen sollen ihm während dieser zwei Jahrzehnte beigestanden haben. Als er sich schließlich 1859 ergab, gingen noch etwa fünf Jahre ins Land bis die Russen den Kaukasus endlich ihr eigen nennen konnten.
Jetzt konnten sie einen Großteil ihrer Truppen nach und nach abziehen, damit verkleinerte sich allmählich auch die Zahl der Polen im Kaukasus. Zudem reduzierten sechs Teilamnestien zwischen 1866 und 1883 die Verbannungsstrafen für verschiedene Gruppen polnischer Deportierter im Kaukasus und in Sibirien oder hoben sie ganz auf.
Geologen, Ingenieure, Architekten
Der Krieg war zu Ende. Russland begann den Kaukasus zu erschließen und verkehrstechnisch an das übrige Reich anzubinden. Jetzt schlug die Stunde der Landvermesser, Geologen, Kartografen, Ingenieure, Architekten, Bauplaner. Erneut waren unter ihnen die Polen überdurchschnittlich oft vertreten und wieder einmal hatte das mit der Situation im russischen Teilungsgebiet Polens zu tun.
Seit der Niederschlagung des großen nationalen Aufstandes von 1830 weigerten sich russische Behörden nämlich in ihrem Teil Polens die Gründung einer Technischen Hochschule zuzulassen. Im Rahmen derselben Vergeltungsmaßnahmen wurde 1831 die polnische Warschauer Universität geschlossen. Hochschulen galten den Russen als gefährliche Keimzellen des nationalen Widerstandes.
Erst 1870 errichteten sie eine ausschließlich russischsprachige Kaiserliche Warschauer Universität. Das russischsprachige Kaiser-Nikolaus II.-Warschauer-Polytechnische-Institut wurde dann endlich knapp dreißig Jahre später, 1898 genehmigt, und das nachdem die Behörden der polnischen Bevölkerung die gesamten Entstehungskosten in Höhe von 3,5 Millionen Goldrubel durch Sammlungen abgenötigt hatten.
Im 19. Jahrhundert konnten Polen aus dem russischen Teilungsgebiet somit nur in Russland studieren, unter den wachsamen Augen der Ochrana, der russischen Geheimpolizei. Die meisten von ihnen lernten an den Petersburger Instituten für Zivilingenieure, Bergbau, Technologie und Medizin. Nur wenige waren vermögend genug, um das Studium bezahlen zu können. Der Rest wurde auf Staatskosten ausgebildet. Im Gegenzug durften die Behörden entscheiden, in welcher Gegend Russlands die Staats-Stipendiaten ihre ersten fünf Berufsjahre abzuarbeiten hatten.
Gemäß der zaristischen Teile-und-Herrsche-Politik wurden nach Russisch-Polen vorzugsweise Russen und Baltendeutsche beordert. Während die Polen vorwiegend in den neuen Industriezentren am Ural und im Kaukasus landeten. Dort arbeiteten sie in den Gouvernement-, Landkreis- und Stadtämtern, im Gesundheitswesen, bei der Staatlichen Technischen Überwachung, im Straßen- und Brückenbau, bei der Errichtung von Raffinerien und Kanalisationen.
Die Rechnung der Behörden ging zumeist auf. Die Polen lebten sich ein, heirateten vor Ort und kletterten die Karriereleiter hinauf. Die erste allrussische Volkszählung von 1897 ergab etwa 60.000 im Nord- und Südkaukasus lebende Polen: Ehemalige Soldaten und Neuankömmlinge.
Unter den letzteren befand sich der damalige Oberbürgermeister von Baku, Stanisław Despot-Zenowicz (1833-1900). Ebenso wie die Ingenieure Stanisław Kierbedź (1845-1910) und sein Vetter Michał Kierbedź (1854-1932), die Miterbauer der 2.500 Kilometer langen Wladikawkas-Bahn, die den Kaukasus mit Russland verband. Technischer Leiter der Bahn war lange Zeit der polnische Ingenieur Wacław Łopuszyński (1856-1929). In dem 1902 erstellten Verzeichnis des leitenden und mittleren technischen Personals der Wladikawkas-Bahn befanden sich unter den gut eintausend Namen 194 mit dem Vermerk „Nationalität: Pole“.
Beim Bau der Bahn verwendete man die ersten genauen Kaukasus-Karten, die Józef Chodźko (1800-1881) seit 1855 erstellt hatte. Der polnische Landkartentechniker aus Wilna verbrachte Jahrzehnte im Kaukasus und starb in Tiflis. Er brachte es im kartografischen Dienst der russischen Armee bis zum Generalleutnant und durfte seine Kaukasus-Karten Zar Alexander II. persönlich präsentieren. Nebenbei erwähnt: Ein anderer Pole, Ignacy Hryniewiecki, tötete Alexander II. und sich selbst in einem Bombenattentat am 13. März 1881 in St. Petersburg.
Ein Mythos entsteht,…
Als die Eroberung des Kaukasus durch Russland 1864 kurz vor ihrer Vollendung stand, erlebte Russisch-Polen eine Zeit verheerender Verfolgungen nach der Niederschlagung des letzten großen antirussischen Aufstandes, der im Januar 1863 ausgebrochen war.
Am 5. August 1864 wurden in Warschau die letzten fünf Anführer der Erhebung öffentlich gehängt. Etwa eintausend Hinrichtungen hatten bis dahin stattgefunden oder sollten noch folgen. 60.000 Bewohner Polen-Litauens traten damals zu Fuß den Weg in die Katorga, die oft lebenslange Verbannung zu schwerster Zwangsarbeit in Sibirien an. Zur Strafe verloren Tausende durch Zwangsenteignungen, Haus und Hof. Die polnische Sprache wurde aus dem öffentlichen Leben verbannt, der Name „Polen“ getilgt und durch „Weichselland“ ersetzt.
Es war eine Zeit der Verzweiflung, der nationalen Trauer und des sprachlosen Protestes. Dies äußerte sich im Tragen schwarzer Kleidung und darin, dass Frauen schwarzen Blech- und Eisenschmuck trugen. In den patriotischen Schriften sowie in der mündlichen Überlieferung von damals wurde der hartnäckige Widerstand der kaukasischen Bergvölker zu einem heroischen, urwüchsigen Kampf der Guten und Gerechten gegen die Niedertracht des Bösen verklärt. Zu einem Kampf, in dem auch die Polen, selbst im fernen Kaukasus, der russischen Despotie die Stirn boten.
…ein Mythos lebt auf.
Dieser Mythos lebte vier Generationen später auf, als Präsident Dschochar Dudajew (1944-1996) im Jahr 1992 die Unabhängigkeit Tschetscheniens ausrief und der Kaukasuskrieg gegen die Russen nach knapp 130 Jahren eine Neuauflage erlebte.
Die Überlieferung von der Schicksalsgemeinschaft der beiden Völker war inzwischen um eine weitere Gemeinsamkeit reicher geworden: Die der grausamen sowjetrussischen Deportationen in die unendlichen, unwirtlichen Weiten Sibiriens, Kasachstans, Usbekistans. Etwa dreihunderttausend Polen fielen ihnen knapp zwei Jahre lang, nach dem Einmarsch der Sowjets am 17. September 1939 in Ostpolen bis zum Ausbruch des deutsch-sowjetischen Krieges im Juni 1941, zum Opfer. Die Tschetschenen ließ Stalin im Februar 1944 mit brutaler Gewalt komplett nach Sowjet-Asien verschleppen. Sie durften 1957 zurückkehren.
Es war frappierend zu beobachten, wie sich die Geschichte in den Neunzigerjahren des letzten Jahrhunderts wiederholte. Erneut bekriegten sich die Tschetschenen untereinander und kämpften gleichzeitig gegen die Russen, die Mitte 1996 eine demütigende Niederlage hinnehmen und im Waffenstillstand von Chassawjurt die faktische Unabhängigkeit Tschetscheniens anerkennen mussten. Dschochar Dudajew schien der neue Imam Schamil zu sein.
Doch wie zu Schamils Zeiten war auch jetzt der eigene Staat nicht von Dauer. Besser vorbereitet, fielen die Russen im Oktober 1999 erneut in Tschetschenien ein. Sie brauchten zehn Jahre, um am 16. April 2009 den Endsieg zu verkünden. Die Kampfmethoden waren modern, dementsprechend war das Resultat aus Zerstörung und Töten um ein Vielfaches höher als vor einhundertdreißig Jahren. Grosny, die Hauptstadt Tschetscheniens, glich einem Ruinenmeer.
Die Ernüchterung
In fast allen polnischen Großstädten entstanden damals spontan Solidaritätskomitees mit Tschetschenien. Protestdemonstrationen und Mahnwachen vor russischen Vertretungen in Polen waren lange Zeit an der Tagesordnung, ähnlich wie polnische Hilfskonvois, die das Nötigste in das Kriegsgebiet brachten. Das sprach sich herum in Tschetschenien. In den Jahren 2000 bis 2007 haben gut 35.000 Tschetschenen in Polen um Asyl nachgesucht.
Doch das Schwarz-Weiß-Schema, die klare Trennung: Hier das Gute, dort das Böse versagten zunehmend. Die Russen und ihre tschetschenischen Handlanger gingen barbarisch vor. Wohin sie gelangten, waren Gruppenerschießungen, Misshandlungen, Vertreibungen, Erniedrigungen, Vergewaltigungen, Raub, mutwillige Zerstörungen an der Tagesordnung.
Auf der Gegenseite jedoch verwob sich der Befreiungskampf zunehmend mit einem ausufernden Bandenwesen, mit dunklen Erdöl-, Rauschgift- und Waffengeschäften, mit Blutrache, Verrat und Betrug zu einem politisch-kriminellen Dickicht, vor dem es irgendwann auch den gutwilligsten Freunden des freien Tschetschenien graute.
Zudem führten die Selbstmordattentate vom 11. September 2001 auf das New Yorker World Trade Center der Welt schlagartig die Gefahr des islamistischen Terrorismus vor Augen. Gerade zu dieser Zeit aber ergriff der islamistische Extremismus von der antirussischen Widerstandsbewegung in Tschetschenien Besitz.
Schon vorher, im Juni 1995 und Januar 1996, nahmen die tschetschenischen Feldkommandanten Schamli Bassajew und Salman Radujew Hunderte von Geiseln in den Krankenhäusern von Budjonnowsk in Südrussland und in Kisljar in Dagestan. In Budjonnowsk starben mehr als 120 Menschen, in Kisljar gut 200. Der Angriff eines Tschetschenen-Kommandos auf das Moskauer Dubrowka-Theater im Oktober 2002 kostete 130 Menschen das Leben. Beim Angriff auf die Schule von Beslan in Nordossetien im September 2004 fanden knapp 350 Geiseln, überwiegend Kinder, den Tod.
Das Bild der tapferen Kämpfer wich unter dem Eindruck dieser Tragöden dem Bild rücksichtsloser Terroristen und hat sich seitdem in Polen dauerhaft verfestigt. Auch wenn es in allen vier Fällen die russischen Spezialkräfte waren, die bei ihrer rücksichtslosen Erstürmung wahre Massaker angerichtet haben.
Dr. Daniel Boćkowski von der Universität Białystok hat die Haltung der Polen zu Tschetschenien und den Tschetschenen in den letzten fünfundzwanzig Jahren, bis 2020, untersucht. Es ist die Geschichte eines langsam erkaltenden Enthusiasmus und einer enttäuschten Zuneigung.
Während 1995 gut 70 Prozent der Polen den Kampf der Tschetschenen mit Sympathie verfolgten, waren es nach dem Angriff auf das Moskauer Dubrowka-Theater noch 26 Prozent. Nach Beslan 2004 sank die Zustimmung auf 13 Prozent. Heute rangiert sie bei etwa 5 Prozent.
Ein Tschetschenien-Freund wendet sich ab
„Wir hatten Glück, dass die Familie des Mörders von Lehrer Samuel Paty kein Asyl in Polen bekommen hat. Meine Einstellung zur Einwanderung aus Tschetschenien ist heute anders als früher, eindeutig negativ“, sagte dem magazin „Sieci“ Adam Borowski, Vorsitzender des Komitees Polen-Tschetschenien.
Er war lange Jahre Ehrenkonsul der Tschetschenischen Republik Itschkerien in Polen, eines von den Separatisten 1991 ausgerufenen, international nicht anerkannten unabhängigen Staates. Im September 2010 geriet Borowski ins Rampenlicht der Weltpresse, als polnische Behörden Achmed Sakajew, den Chef der tschetschenischen Exilregierung in Warschau, aufgrund eines in Russland ausgestellten internationalen Haftbefehls, festgenommen haben. Sakajew kam nach Polen zum Weltkongress der Exil-Tschetschenen. Das zuständige Gericht lehnte den Antrag auf Untersuchungshaft ab. Sakajew kam frei, Borowski wich ihm damals nicht von der Seite.
Seine Worte haben Gewicht. Der bekannte antikommunistische Solidarność-Aktivist im Jaruzelski-Polen, war lange Jahre die Galionsfigur der polnischen Pro-Tschetschenien-Bewegung. Danach gefragt wie vielen Tschetschenen er zur Einreise nach Polen verholfen habe, sagt er, es seien bestimmt mehr als zweihundert gewesen. Oft waren das sehr komplizierte Vorhaben, wenn es galt verwundete Kämpfer, die sich im Kaukasus versteckt hielten herauszuholen und in Polen zu betreuen.
„Das waren aber ganz andere Leute als diejenigen, die jetzt kommen wollen. Heute sind das im besten Fall Wirtschaftsflüchtlinge, im schlimmsten Fall russische Agenten oder Kriminelle“, sagt Borowski. Deswegen lehnt er es ab, sich für die an der weißrussischen Grenze abgewiesenen Tschetschenen zu engagieren, auch wenn ihm das humanitäre Organisationen sehr übel nehmen.
Borowski beobachtet, wie sich das Benehmen der Tschetschenen in Polen verändert. „Noch vor einigen Jahren regelte das Adat, das ungeschriebene kaukasische Gewohnheitsrecht, das tägliche und zeremonielle Leben. Inzwischen tut dies zunehmend der Islam. Junge Frauen tragen immer öfter den Hidschab. Die Männer lassen sich Salafistenbärtchen wachsen und nehmen sich Zweitfrauen. Die Gemeinschaft kapselt sich immer mehr ab.“
„Die Missstände häufen sich“, so ein Beamter der Ausländerbehörde in Warschau, der seit langem mit den Tschetschenen zu tun hat. „Nicht wenige von ihnen bekommen verlockende Angebote aus der kriminellen Unterwelt und nehmen sie an. Die junge Generation begeistert sich zunehmend für den Dschihad. Manche sind nach Syrien in den Krieg gezogen. Einige weil sie religiöse Fanatiker geworden sind. Die meisten jedoch wollen sich als Söldner verdingen, weil sie auf Abenteuer und viel Geld hoffen.“
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