Schlächter wider Erwarten

Am 1. Oktober 2015 starb Stanisław Kociołek.

Viereinhalb Jahrzehnte lang tat Stanisław Kociołek alles, um den Verdacht von sich zu weisen, er habe im Dezember 1970, während des Arbeiteraufstandes an der polnischen Ostseeküste, vorsätzlich Menschen in die Gewehrläufe des Militärs und der Miliz getrieben.

Der 17. Dezember 1970 ist als der „Blutdonnerstag“ in die neueste polnische Geschichte eingegangen. Eine S-Bahn nach der anderen hielt ab fünf Uhr früh an der Haltestelle Gdynia Stocznia/ Gdingen Werft. Eine dichte Masse von Arbeitern, Angestellten, Berufsschülern, Studenten ergoss sich in immer neuen Wellen aus den Zügen. Alle waren auf dem Weg zu ihren Betrieben in der unmittelbaren Umgebung: zur Werft, zum Hafen, zur Handelsmarine-Schule. Der einzige Weg vom Bahnsteig dorthin, führte über eine Fuβgängerbrücke, die die benachbarte Fahrbahn überspannte.

Dröhnende Durchsagen aus einem Militärlautsprecher, die Werft sei bis auf weiteres geschlossen, versetzten die Menschen zugleich in Angst und Staunen. Ungläubig starrten sie von oben auf das waffenstrotzende Heerlager unter ihnen. Den Abgang von der Brücke versperrten Truppentransporter, Panzer, Ketten von Wachposten. Chaos und Ratlosigkeit ergriffen zunehmend Besitz von der Menge, während von hinten immer mehr Neuankömmlinge nachdrängten. Die vorderen Reihen am unteren Treppenende näherten sich mehr und mehr den Uniformierten.

Kociołek Gdynia
16. Dezember 1970.  An der S-Bahn-Haltestelle Gdynia Werft kam es nach den Schüssen auf die zur Arbeit gehenden Menschen zu schweren Zusammenstöβen mit dem Militär und der Miliz.

Als sich gegen sechs Uhr früh etwa dreitausend Menschen auf dem Bahnsteig, auf und vor der Brücke befanden, feuerte das Militär mehrere lange Maschinengewehrsalven in die Menge. Zehn Menschen waren sofort tot, viele Dutzende wurden verletzt. Die Sterbenden, die Verwundeten und die in Panik Flüchtenden stellten sich damals nur die eine Frage: „Wieso das alles? Hat uns Kociołek gestern Abend im Fernsehen nicht ausdrücklich aufgefordert an die Arbeit zurückzukehren?“

Genosse Stalin hat immer Recht

Stanisław Kociołek wurde 1933 in Warschau geboren. Ein Arbeiterkind aus armen Verhältnissen. Seine Mutter wusch von früh bis spät die Wäsche fremder Leute. Der Vater, ein Eisenbahner, war als Sympathisant der Kommunisten bekannt. Während der Bruder seines Vaters ein echter Kommunist war. Stanisławs Onkel floh Anfang der 30er Jahre in die Sowjetunion und wurde dort, kurz nach seiner Ankunft, durch einen Genickschuss liquidiert. Er war nicht der einzige.

Während der groβen Terrorwelle, erging im August 1937 nämlich auch der sogenannte „Polen-Befehl“ Nr. 00485: alle Polen seien der Spionage, Sabotage und anderer konterrevolutionärer Verbrechen schuldig, und zu beseitigen. Die „Polen-Hatz“ dauerte in der ganzen Sowjetunion bis 1938, allein die Herkunft war ausschlaggebend. Bilanz laut NKWD-Statistik: von den 139.835 verhafteten Polen wurden 111.091 erschossen, von den verbliebenen kamen die meisten innerhalb eines Jahres in Lagern um.

Zudem lieβ Stalin 1938 die Kommunistische Partei Polens (KPP), wegen angeblicher ideologischer Unzuverlässigkeit, auflösen, ihre in der Sowjetunion lebenden Führungskader, samt Familienmitgliedern, ermorden. Überlebt haben letztendlich nur die Kommunisten, die als politische Häftlinge in polnischen Vorkriegsgefängnissen saβen. Doch ob vor oder nach Stalins Säuberungen, die KPP war in der Vorkriegszeit in der polnischen Gesellschaft stets eine Randerscheinung, eine „Sekte“ ohne jeglichen ernstzunehmenden politischen Einfluss.

Der Vater Kociołeks und die Genossen, die gelegentlich vorbeikamen, munkelten viel, doch ihr Glaube an den Kommunismus, daran, dass der Genosse Stalin schon weiβ, was er tut, und die Partei immer recht behält, war unerschütterlich. All das hörte der frühreife Stanisław, aufgeweckt und belesen wie er war, von klein auf zu Hause. Seinem Vertrauen in den Kommunismus und in die Sowjetunion tat das sein ganzen Leben lang nicht den geringsten Abbruch.

Den Krieg, der am 1. September 1939 begann, überlebte die Familie in der Hauptstadt. Als im Oktober 1944, nach der Kapitulation des Warschauer Aufstandes, die Stadt von der Zivilbevölkerung geräumt wurde und die Deutschen die planmäβige Zerstörung der übriggebliebenen Bebauung in Angriff nahmen, wurde auch das Haus der Kociołeks irgendwann dem Erdboden gleichgemacht. Als Flüchtlinge kampierten sie derweil, wie Zehntausende ihresgleichen, im Durchgangslager Pruszków unweit der Stadt. Im Durcheinander auf einem Bahnsteig entkamen sie von dort, als sie mit einem Transport in Viehwaggons weggebracht werden sollten. Später erfuhr Kociołek, dass der Zug nach Auschwitz fuhr.

Das Wunderkind der Partei

Mitte Januar 1945 überquerte die Rote Armee endlich die Weichsel und „befreite“ das menschenleere Trümmerfeld Warschau, dessen Entstehung sie vier Monate lang tatenlos vom östlichen Ufer aus beobachtet hatte. Obdachlos geworden, entschieden sich die Eltern, statt in Warschau, ihr Glück in den Polen gerade zuerkannten ehemaligen deutschen Ostgebieten zu suchen. In Iława/ Eylau machte Stanisław das Abitur und absolvierte einen pädagogischen Schnellkurs. Nur so lieβ sich damals der dramatische Lehrermangel beheben. Mit gerade einmal 18 Jahren durfte er die Grundschule im nahegelegenen Dorf Piotrkowo/ Peterkau leiten.

Kociołek młody
Stanisałw Kociołek. Der junge, aufstrebende Apparatschik Mitte der 60er Jahre.

Ein Jahr später schickte ihn die örtliche Parteibehörde zum Studium an die Philosophisch-Soziologische Fakultät der Warschauer Universität. Es war die Zeit des tiefsten Stalinismus. Kinder aus bürgerlichen Familien durften nicht mehr studieren. Arbeiterkinder wie Kociołek, dazu noch vom Kommunismus begeistert, sollten die Hochschulen „erobern“.

Marxistische Analyse als einzige Forschungsmethode, brutale Gängelung der „bürgerlichen Professur“, wissenschaftliche Blitzkarrieren primitivster kommunistischer Einpeitscher, übersetzte, stumpfsinnige sowjetische Lehrbücher als einzige Wissensquelle und die „führende“ sowjetische Wissenschaft als einzige Quelle der Weisheit. So wurden die traditionellen Universitäten, einst geprägt von der Freiheit von Forschung und Lehre, in rote Kaderschmieden verwandelt.

Kociołek, der auftrumpfende kommunistische Aktivist, war in dieser Umgebung in seinem Element. Im dritten Semester, mit 20 Jahren, hatte man ihn in die Partei aufgenommen. Die Bürgen, die ihm die vorgeschriebenen Empfehlungsschreiben gaben, waren keine geringeren, als Jerzy Wiatr, der angehende führende Partei-Politologe und Julian Hochfeld, der gerade dabei war, im Parteiauftrag, die polnische Soziologie in eine marxistische Dogmenlehre zu verwandeln. Nach 1956 wechselte Hochfeld zur Fraktion der „Revisionisten“ über.

Kociołek i Gomułka
Stanisław Kociołek (rechts im Bild), damals Parteichef von Warschau, mit seinem Förderer, Parteichef Władysław Gomułka (2. v. r.) und Ministerpräsident Józef Cyrankiewicz (3. v. r.) bei einer Kundgebung in der Warschauer Altstadt am 1. September 1964, zum 25. Jahrestag des Kriegsausbruchs.

Kociołek wollte Parteikarriere machen. Im politischen „Tauwetterjahr“ 1956, als nach dem Tod Stalins die Abkehr vom Stalinismus und seinen verbrecherischsten Auswüchsen begann, machte man ihn (mit 23 Jahren!) zum Chef der einige tausend Mitglieder zählenden Parteiorganisation an der Warschauer Universität.

Schnell wurde der neue Parteichef Władysław Gomułka auf den dogmatischen, linientreuen Kociołek aufmerksam. Gomułka kam im Oktober 1956 an die Macht. Er war umgeben von Nimbus des Märtyrers, der von den polnischen Stalinisten auf Geheiβ Moskaus drei Jahre lang eingesperrt war, und des Nationalkommunisten, der einen eigenen, polnischen Weg zum Sozialismus einschlagen würde.

Polen lag damals Gomułka zu Füβen, doch dieser wollte der Liberalisierung und Demokratisierung schnell enge Grenzen setzten. So naiv, wie Gorbatschow dreiβig Jahre später, war er nicht. Die „führende Rolle der Partei“ anzutasten, wäre der Beginn einer Entwicklung gewesen, an deren Ende das Ende der Parteidiktatur gestanden hätte. Demokratie und Sozialismus das war ein unlösbarer Widerspruch. Entweder das eine oder das andere, das wusste der Machtmensch Gomułka sehr gut.

Um die im Oktober 1956 entfesselten Geister (freizügigere Medien, Arbeiterselbstverwaltung, die wieder millionenfach zur Schau gestellte Kirchentreue der Polen u. e. m.) nach und nach wieder in die Flasche zu bekommen, brauchte er daher Leute wie Kociołek. Und so wurde der eloquente Betonkommunist zum „Wunderkind der Partei“. Gomułka schicke ihn überall dorthin, wo es galt den Liberalisierungsbestrebungen ein Ende zu setzten.

Zwischen 1958 und 1960 befriedete Kociołek, als ein 25 bis 27 Jahre junger Mann, erfolgreich die starken „revisionistischen“ Kräfte in der Warschauer Parteiorganisation, einer der gröβten und wichtigsten im Lande, deren Leitung er damals innehatte. Anschlieβend bändigte er die rebellischen Geister der Jugendlichen als (1960-1963) Chef des kommunistischen Jugendverbandes ZMS. Mit 31 Jahren stand er 1964 wieder an der Spitze der Warschauer Parteiorganisation. Mit 34 Jahren machte ihn Gomułka zum Parteichef von Gdańsk/ Danzig, wo er, dass muβ man ihm lassen, wesentlich zur Gründung der Universität beigetragen hat.

Im Herbst 1968 wurde Kociołek Mitglied des höchsten Parteigremiums und zugleich engsten Machtzirkels in einem kommunistischen Land. Er stieg (mit nur 35 Jahren) ins Politbüro auf. Im Sommer 1970 holte ihn Gomułka, der in Kociołek seinen Nachfolger sah, aus Gdańsk nach Warschau zurück und machte seinen „Kronprinzen“ zum stellvertretenden Regierungschef, damit der junge Apparatschik auch Verwaltungserfahrung erlangen konnte.

Selbstüberschätzung wird zum Verhängnis

Der junge Parteibonze, daran gewöhnt, dass ihm seine Untergebenen ehrfürchtig zuhören, dass ihm nie widersprochen wird, dass er immer das letzte Wort hat, überschätzte seine Überzeugungskraft, wenn es darauf ankam, sich rhetorisch gegen massiven Widerspruch durchzusetzen. Als es im Frühjahr 1968 zu Studentenprotesten- und Unruhen im ganzen Land kam, fuhr Kociołek, damals noch Danziger Parteichef, in die dortige Technische Hochschule. Hier setzte er zu einer flammenden Rede über den Ruhm des Sozialismus an, und wurde von den Studenten ausgepfiffen und ausgelacht, musste wie ein begossener Pudel abziehen. Kurz darauf begann die Miliz den Protest brutal niederzuknüppeln. Eben diese Selbstüberschätzung, sollte ihm nun zum Verhängnis werden.

Kociołek czołgi na Długim Targu
Gdańsk im Dezember 1970. Panzer auf dem Langen Markt und in der Langen Gasse. Rechts der Neptun-Brunnen.

Am Sonnabend, dem 12. Dezember 1970 verkündeten Rundfunk und Fernsehen, dass am Montag eine drastische Lebensmittelpreiserhöhung in Kraft treten werde. Die Staatskasse war leer und der zunehmend sklerotische Gomułka, der längst den Bezug zur Realität verloren hatte, wollte sie durch eine radikale Kürzung der staatlichen Subventionierung der Lebensmittelpreise kurz vor Weihnachten wieder auffüllen.

Kociołek rozruchy
Gdańsk im Dezember 1970. Zusammenstöβe zwischen der Miliz und Protestierenden.

Am Montag, dem 14. Dezember 1970 kam es daraufhin in Gdańsk und in dem nahegelegenen Gdynia zu ersten Arbeitsniederlegungen. Arbeiter zogen friedlich vor die Danziger Parteizentrale und forderten Verhandlungen, doch niemand wagte sich zu ihnen heraus. Am Nachmittag kam es dann zu ersten Straβenschlachten mit der Miliz. Die Lawine kam ins Rollen.

Kociołek zabity na dzwiach
Gdańsk im Dezember 1970. Arbeiter tragen einen toten Kameraden durch die Stadt.

Kociołek bat Gomułka nach Gdańsk gehen zu dürfen. Er, der noch vor kurzem dort Parteichef gewesen war, wisse wie man mit den Leuten vor Ort reden müsse, wie man mit politischen Mitteln Herr der Lage werden könne. Als er am Dienstag, dem 15. Dezember eintraf, dauerte der Sturm der Demonstranten auf das Parteihaus, das ebenso wie der Hauptbahnhof und einige weitere Gebäude gerade in Flammen aufging, bereits einige Zeit an. Die ersten sechs Toten waren bereits zu beklagen. Schwere Unruhen wurden auch aus Szczecin/ Stettin und Elbląg/ Elbing gemeldet.

Kociołek trup
Gdańsk im Dezember 1970. Ein Toter wird geborgen.

Durch die Unerfahrenheit der kommunistischen Machthaber bei der Lösung einer solchen Krise, spitzte sich die Lage noch zu. Keine Verhandlungen mit den streikenden Belegschaften, brutalstes Vorgehen der Ordnungskräfte, die wie wild um sich schossen und Festgenommene, oft noch Schüler, bis zur Bewusstlosigkeit zusammenschlugen. Zudem fehlte es an der notwendigen Koordination. Manche Befehle wurden den Militär- und Milizeinheiten direkt aus Warschau erteilt. In der Dreistadt (Gdańsk-Sopot-Gdynia) gab es aber ebenfalls einen militärischen Krisenstab. Hinzu kamen Kociołek und seine Begleiter, als weiteres Entscheidungszentrum. Zudem agierte ein zweiter Gomułka-Vertrauter, das Politbüromitglied Zenon Kliszko, auf eigene Faust.

Kociołek trupy
Gdańsk im Dezember 1970. Erschosssene Demonstranten.

Am 16. Dezember sendete der lokale Fernsehsender am späten Nachmittag, mit einer Wiederholung am Abend, Kociołeks Rede an die Bevölkerung. Sie war nur in Gdańsk und Umgebung zu empfangen. Kociołek sprach von Aufruhr und Rowdytum, begründete damit das Vorgehen der Ordnungskräfte, denen er Dank für ihren Einsatz zollte, appellierte an die Vernunft, stelte fest(ohne die drastischen Preiseröhungen beim Namen zu nennen), dass die Forderungen der Protesiterenden nicht erfüllbar seien und schloss mit der Aufforderung an die Bevölkerung, die Arbeit wieder aufzunehmen.

Derweil befahl Kliszko am selben Tag gegen 16 Uhr, Truppen nach Gdynia zu schicken, die dortige Werft zu schlieβen und abzuriegeln, damit auf diese Weise ein zu erwartender Streik verhindert werden könne. Anschlieβend flog Kliszko nach Warschau, um an einer für 18 Uhr anberaumten Krisensitzung mit Gomułka teilzunehmen. Das Verhängnis nahm seinen Lauf.

Kociołek pożar KW
Gdańsk im Dezember 1970. Das Parteigebäude brennt.

Kociołek behauptete bis zu seinem Tod, zum Zeitpunkt seines Aufrufs von Kliszkos Anordnungen nichts gewusst zu haben. Als ihm das drohende Unheil später jedoch bewusst wurde, habe er mitten in der Nacht verfügt Boten zu den Arbeiterwohnheimen zu schicken, mit der Anweisung, am nächsten Morgen doch nicht zur Arbeit zu gehen. Beweise dafür wurden bis heute nicht gefunden.

Doch wie auch immer, wäre es nicht wirksamer gewesen, beim örtlichen militärischen Krisenstab den Abzug der Einheiten aus Gdynia zu erwirken? Oder wenigstens den S-Bahn-Verkehr einzustellen? Kociołek meinte, auf diese Ideen sei er damals nicht gekommen.

Dass er vorsätzlich Menschen in den Tod geschickt hat, ist nicht anzunehmen. Einerseits war er der einzige in der Partei- und Staatsführung, der auf dem Höhepunkt der Krise zur Bevölkerung gesprochen hat. Doch durch seinen Fernsehauftritt, hat er gleichzeitig der Tragödie an der polnischen Ostseeküste 1970, sein Gesicht verliehen. Ab dem Augenblickt wurde er im Volksmund zum „Schlächter von der Küste“, zum „blutigen Kociołek“. Bis auf wenige Eingeweihte wusste bis zum Ende des Kommunismus in Polen niemand, was sich damals hinter den Kulissen abgespielt hat.

Neunzehn Jahre lang vor Gericht

Am 20. Dezember 1970 trat Parteichef Gomułka zurück. Sein Nachfolger Edward Gierek gelang es die Krise mit politischen Mitteln zu entschärfen. Das war auch das Ende der kometenhaften Karriere Kociołeks, der nun auf ein politisches Abstellgleis geriet. Bis 1978 war er polnischer Botschafter in Brüssel, dann kurz in Tunesien, von wo ihn der neue starke Mann Polens, General Jaruzelski, im Herbst 1980 wieder auf den Posten des Warschauer Parteisekretärs holte.

Es war die Zeit der ersten Solidarność, die nach den Massenstreiks des Sommers 1980, entstanden war. Der kommunistische Dogmatiker Kociołek sollte wieder einmal die Aufwiegler in den Parteireihen befrieden. Nachdem das Kriegsrecht am 13. Dezember 1981 ausgerufen wurde und der Ausbruch der Freiheit beendet war, setzte Jaruzelski Kociołek jedoch von seinem Warschauer Posten, auf dem er inzwischen zum Kristallisationspunkt unzufriedener orthodoxer Kommunisten geworden war, kurzerhand wieder ab. Kociołek war noch bis 1985 polnischer Botschafter in Moskau und wurde anschlieβend endgültig aufs Altenteil abgeschoben.

Im April 1995 begann vor dem Gericht in Gdańsk der Prozess gegen die zwölf zu jener Zeit noch lebenden Hauptschuldigen an der brutalen Bekämpfung der Arbeiterrevolte vom Dezember 1970. Angeklagt waren Stanisław Kociołek, General Wojciech Jaruzelski – damals Verteidigungsminister, Kazimierz Świtała – damals Innenminister, acht hohe Militärs – einst Kommandeure der an der Befriedungsaktion teilnehmenden Truppenteile und ein Oberst der Miliz.

Kociołek zabici
Gdańsk im Dezember 1970. Zivile Opfer der Proteste. Fotos aus den Akten der polnischen Stasi.

Der Prozess dauerte neunzehn (!) Jahre lang. Die Angeklagten legten immer wieder ärztliche Atteste vor und erschienen meistens nicht zu den Verhandlungsterminen. Das Verfassungsgericht und das Oberste Gericht wurden zwischenzeitlich eingeschaltet. Ein Beisitzer starb und das Verfahren musste neu aufgerollt werden. Anwälte legten reihum ihre Mandate nieder, ihre Nachfolger brauchten Monate, um die Akten zu lesen. 1999 wurde der Prozess nach Warschau verlegt, da die Angeklagten Probleme hatten nach Gdańsk zu kommen. Erst im Oktober 2001 gelang es dem Staatsanwalt die Anklageschrift bis zum Ende zu verlesen usw., usf.

Ausnahmslos alle Richter aus der kommunistischen Zeit konnten in Polen, im Rahmen der „nationalen Versöhnung“, gerade so als wäre nichts gewesen, ihren Beruf weiter ausüben. Eine so geprägte Justiz behandelte den Prozess gegen Leute, die an den Massakern vom Dezember 1970 (insgesamt 45 Tote, knapp 1.100 Verletzte) beteiligt waren wie eine heiβe Kartoffel, begünstigte geradezu die Verzögerungstaktik der Angeklagten und ihrer Verteidiger. Als das Warschauer Appellationsgericht im April 2014 das abschließende Urteil sprach, waren nur noch drei Angeklagte am Leben. Kociołek wurde freigesprochen, zwei Militärs bekamen jeweils zwei Jahre Haft auf Bewährung.

Stanisław Kociołek behauptete immer wieder, er trage die politische und moralische, aber keine strafrechtliche Verantwortung für das Geschehene.

Bilder der oftmals entstellten Gesichter der Toten, bei den Leichenschauen gemacht und nach 1990 in den Akten der polnischen Stasi gefunden, begleiteten Kociołek auf seinem letzten Weg, hochgehalten von schweigenden Demonstranten entlang der Warschauer Friedhofsallee, auf der die Urne mit seiner Asche zu Grabe getragen wurde.

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