Blinder Bulle, blinde Kuh
Die zweitgrößte Wisentherde Polens ist vom Aussterben bedroht.
Den Bieszczady-Wisenten wird es langsam zu eng. Sie richten Schäden an, vor allem aber werden sie immer kränker. In freier Wildbahn kann man diese Tiere nicht erfolgreich behandeln. Sie müssen erlegt werden.
Die Wisente wurden im Herbst 1963 im Bieszczady-Gebirge, das sich im südöstlichsten Zipfel Polens erstreckt, angesiedelt. Aus einigen Kühen und Bullen entstand eine Herde der niederländisch-kaukasischen Rasse, die einzige ihrer Art in Polen. Sie vergrößerte sich im Laufe der Jahre und wurde zum Stolz der Förster und Naturforscher. Legendär wurde ein Bulle namens „Pulpit”, zu deutsch „Pult”, er begeisterte die Menschen in ganz Polen. Nachdem er im Herbst 1964 aus einem Gehege ausgebrochen war, zog er monatelang durch das Land und besuchte sogar Städte.
Der Wisent (Bison bonasus) ist Europas größtes wild lebendes pflanzenfressendes Säugetier. Er ist in Polen gesetzlich geschützt. Das Gewicht eines Bullen erreicht bis zu 900 Kilogramm, während die Kühe etwas leichter sind und bis zu 650 Kilogramm auf die Waage bringen. Der tägliche Futterbedarf für ein erwachsenes Tier liegt bei bis zu 30 Kilogramm Biomasse. In Polen leben Wisente an sechs Standorten in freier Wildbahn: im Bieszczady-Gebirge, in den Wäldern von Białowieża, Knyszyn und Augustów, in der Puszcza Borecka/Borkener Forst sowie in den westpommerischen Wäldern um Piła/Schneidemühl.
Tödliche Invasion
Als in der zweiten Hälfte der 1990er-Jahre die ersten Tuberkulosefälle in der Bieszczady-Population auftraten, ahnte noch niemand, dass dies nur der Anfang zahlreicher Probleme sein würde. Damals musste eine Herde aus der Oberförsterei Brzegi Dolne (jetzt Ustrzyki Dolne) bis auf das letzte Tier gekeult werden. Die Wisente sind bis heute nicht in diese Gegend zurückgekehrt. Später befiel diese Infektionskrankheit Herden in den Oberförstereien Lutowiska und Stuposiany, danach war Baligród an der Reihe. Jedes Mal mussten die Förster mit Hilfe der Veterinärdienste die angesteckten Tiere aufspüren und erschießen, da es keine Möglichkeit gibt, Wisente in freier Wildbahn zu behandeln.
Die Tuberkulose bekam man zwar in den Griff, doch bald darauf folgte die Thelaziose. Sie wurde 2012 bei einem verendeten Bullen festgestellt, der vier Jahre zuvor aus Irland nach Polen gebracht worden war. Im Jahr 2019 begann die Krankheit weitere Wisente zu befallen, vor allem in den Oberförstereien Baligród und Komańcza. Und sie erwies sich als ein äußerst gefährlicher Gegner. Zumal die Förster wenig darüber wussten. Die letzten Fälle von Thelaziose wurden in den 1960er-Jahren im Urwald von Białowieża und in den Gehegen in Niepołomice/Niepolomitz unweit von Kraków sowie in Pszczyna/Pless in Oberschlesien verzeichnet.
Die durch Fruchtfliegen übertragene Krankheit wird durch Fadenwürmer der Gattung Thelazia verursacht. „Wisente infizieren sich im Frühsommer, und die Krankheitssymptome treten verstärkt im Juli, August und September auf“, erklärt Stanisław Kaczor, stellvertretender Bezirkstierarzt in Sanok. „Infizierte Tiere weisen eine Hornhauttrübung auf. Erosionen und Ulzerationen, die sogar zu einer Schädigung der Augenlinse führen, sind keine Seltenheit. Auch die Bindehaut schwillt stark an, sodass sich das Augenlid nicht mehr öffnen lässt. Eine eitrige Augenentzündung kann zu einer unumkehrbaren Erblindung führen.”
„Thelaziose ist eine sich sehr rasch ausbreitende Krankheit. Wenn sie bei einem Tier auftritt, greift sie leicht auf andere über“, erklärt Professor Wanda Olech-Piasecka von der Warschauer Universität für Biowissenschaften, eine Expertin für Wisente. Ihrer Meinung nach wird die Übertragung von Tuberkulose und Thelaziose durch die Herdenhaltung dieser Tiere begünstigt.
„Eine gewisse Rolle könnte dabei auch eine reduzierte Immunität spielen, die durch eine sehr geringe genetische Vielfalt verursacht wird, obwohl eine solche Auswirkung der Inzucht beim Wisent bisher nicht bestätigt wurde“, sagt Professor Kajetan Perzanowski, ein pensionierter Mitarbeiter des Museums und Instituts für Zoologie der Polnischen Akademie der Wissenschaften in Warschau. Er hat die Bieszczady-Wisente viele Jahre lang untersucht. „Die Ausbreitung der Thelaziose kann auch mit den jüngsten milden Wintern zusammenhängen, die eine geringe Sterblichkeit der Wirbellosen begünstigen.”
Eine traurige Notwendigkeit
Die von diesem gefährlichen Parasiten befallenen Wisente sind aggressiv (z. B. gehen sie mit ihren Hörnern auf andere Tiere in der Herde los), haben Schwierigkeiten bei der Nahrungssuche, verlieren ihren natürlichen Instinkt und haben keine Angst mehr vor Menschen. Manchmal verstümmeln sie sich selbst. In einem Fall tötete ein entfesselter Bulle sich selbst, indem er mit dem Kopf gegen einen Baum schlug. „Und dann ist da noch das sogenannte weiße Auge, ein offensichtliches Erkennungsmerkmal der Thelaziose. Die Tiere leiden furchtbar“, sagt Wojciech Głuszko, der Oberförster von Baligród. „Es ist unmöglich, gleichgültig zu bleiben, wenn man einen Wisent sieht, der sich sein eigenes krankes Auge ausgeschlagen hat.”
Noch vor wenigen Jahren war der Begriff Thelaziose den meisten Förstern völlig unbekannt. Niemand hatte erwartet, dass sich die Krankheit so schnell ausbreiten und fast die gesamte Bieszczady-Population des Bison bonasus, die hier seit sechzig Jahren gezüchtet wird, befallen würde. An den bisherigen Maßnahmen, wie der Überwachung der Herden und dem Abschuss kranker Tiere, hat sich nicht viel geändert, aber, wie Förster Głuszko betont, sie müssen fortgesetzt werden, denn bisher hat noch niemand eine wirksame Methode zur Behandlung frei lebender Wisente gefunden. „Wann immer Informationen über die Tötung eines geschützten Tieres bekannt werden, empören sich die Aktivisten. Sie verstehen nicht, dass niemand so etwas aus Vergnügen tut. Es ist eine Notwendigkeit.”
Ein einzelnes Tier in einer Herde zu töten, ist nicht möglich. Zu groß ist das Risiko, ein gesundes Tier zu erschießen und die anderen zu verschrecken. Ein einzelnes infiziertes Tier aufzuspüren, ist ebenfalls kein leichtes Unterfangen. Diese Wiederkäuer können sich tief im Wald verstecken und sind manchmal nicht einmal mit einem Fernglas zu erkennen. Der Schuss muss aber sicher sein, auf ein deutlich sichtbares Ziel, damit das Tier nicht leidet. „Die Jagd auf Wisente erfordert Zeit und Geduld, außerdem tragen die für die Sanierungsjagd ausgewählten Jäger eine große Verantwortung, weil es sich um eine streng geschützte Art handelt“, betont Wojciech Głuszko.
Schnelle Reaktion
Laut Professor Kajetan Perzanowski, dem Verfasser des Programms zum Schutz des europäischen Bisons in den Karpaten, sollte die Zahl dieser Tiere im polnischen Bieszczady-Gebirge 400 bis 450 Exemplare nicht überschreiten. Das ist die optimale Dichte für den Wisent und andere Nutzer des Gebiets. „Bei höheren Zahlen führt die Dichte zu mehr Schäden“, fügt Professor Wanda Olech-Piasecka hinzu. „Wisente sind eine Tierart mit geringer Wanderneigung. Bullen wandern manchmal über große Entfernungen, aber die Kühe bleiben im angestammten Gebiet. Daher nimmt die Bedrohung durch Krankheiten und Parasiten zu.“
Derzeit gibt es im Bieszczady-Gebirge zwei Teilpopulationen (die östliche und die westliche), die Ende 2022 insgesamt etwa 750 Wisente zählten. Bei einer solchen Anzahl verursachen die Tiere immer mehr Schäden in den Wäldern und geraten auch in Konflikt mit den Landwirten, da sie manchmal dieselben Wiesen nutzen, auf denen das Hausvieh weidet. Und dann ist es nur noch ein Schritt zur Verbreitung der einen oder anderen Krankheit. Die ersten Bieszczady-Wisente steckten sich vor Jahren bei Hausrindern mit Tuberkulose an.
Nur in der Gegend von Baligród gibt es vom Frühjahr bis zum Spätherbst etwa 300 Wisente (sie ziehen zum Überwintern in die Oberförsterei Lesko). Die Anzahl der Wisente in den Oberförstereien Komańcza, Lutowiska, Cisna und Stuposiany liegt etwas niedriger. Lediglich im Revier von Stupisiany wurden bisher keine an Thelaziose erkrankten Wisente beobachtet.
Eine kleine Herde im oberen San-Tal ist die einzige, die bisher die von Fachleuten und Förstern genannten Bedingungen für einen angemessenen Schutz der Wisente erfüllt. Die Idee ist, dass einzelne Herden getrennt voneinander leben sollten. Dann ist es möglich, die Tiere wirksam zu überwachen und schnell auf Bedrohungen zu reagieren. Außerdem werden kleine Gruppen von der lokalen Bevölkerung viel eher akzeptiert. „Sie akzeptiert die Auswirkungen, die dieses große Säugetier auf landwirtschaftliche Kulturen und den Wald hat“, betont Jan Mazur, stellvertretender Leiter der Regionaldirektion der Staatswälder in Krosno.
Ein erheblicher Anteil älterer Tiere schwächt zusätzlich den Zustand der Population, sie ist anfälliger für Krankheitserreger. In großen Wisentherden ist die Überwachung des Gesundheitszustands definitiv schwierig. Andererseits ist jeder Eingriff, der im Austausch von Tieren zwischen den einzelnen Herden besteht (die sogenannte Zuführung frischen Blutes), sinnlos geworden, weil sich die Inzucht in einer genetisch armen Population ohnehin ständig verstärkt.
Bisse, Zusammenstöße, Ertrinken
In den Jahren 2021 und 2022 wurden im Bieszczady-Gebirge 80 Wisente aufgrund von Thelaziose erlegt. Zwei Jahre zuvor waren es nur vier. Wisente verenden ebenfalls aus anderen Gründen, wenn auch in weitaus geringerer Zahl. Dazu gehören Stürze mit gebrochenen Gliedmaßen und anderen schweren Verletzungen, Bisse von Wölfen und Bären. Einzelne Tiere ertranken im Solina-Stausee, verendeten aufgrund eines Herz-Kreislauf-Versagens oder durch Zusammenstöße mit Kraftfahrzeugen. Insgesamt verendeten aus diesen Gründen in den Jahren 2021-2022 vierundzwanzig Tiere. Bei weiteren zehn konnte die Ursache nicht ermittelt werden.
Ständige Überwachung
Heute besteht die wichtigste Aufgabe darin, die Thelaziose zu bekämpfen. Am 25. Januar erteilte der Generaldirektor für Umweltschutz eine Genehmigung zum Abschuss von bis zu einhundert Wisenten im Bieszczady-Gebirge in den Jahren 2023 bis 2025. In dieser Zeit sollen einige gesunde Exemplare, insbesondere Jungtiere, gefangen und in das Niedere Beskidengebirge in der Nähe von Przemyśl umgesiedelt werden. Die Schaffung neuer isolierter Teilpopulationen ist notwendig. Ob sie wirksam sein wird, wird sich erst in einigen Jahren herausstellen. Außerdem müssen die Lebensräume, die die künftige Nahrungsgrundlage für den König des Waldes bilden, entsprechend gestaltet werden.
Eine solche Maßnahme würde zum einen die möglichen Auswirkungen der Überpräsenz der Wisente abmildern, zum anderen ist die Ausweitung des Populationsgebietes der beste Weg, ihren Fortbestand im Falle epidemischer Krankheiten zu sichern. Außerdem ist eine routinemäßige Überwachung erforderlich, die auch scheinbar gesunde Tiere einschließt. Alle bisherigen Erkenntnisse wurden durch die Untersuchungen von tot aufgefundenen oder wegen Erkrankung erlegter Wisente gewonnen.
Die Umsiedlung von gesunden Tieren und die Bildung kleiner Herden von bis zu 30-40 Exemplaren könnte die letzte Chance sein, den Bieszczady-Wisent zu retten.
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