Das Wichtigste aus Polen 13. März bis 16. April 2022

Aleksandra Rybińska und Janusz Tycner diskutieren die wichtigsten Ereignisse der letzten Zeit in Polen ♦ Polens politische Aktivitäten im Ukrainekrieg. Vorläufige Bilanz ♦ Ukrainische Flüchtlinge. Aufnahme konfliktlos aber nicht problemlos ♦ Viktor Orbans Haltung zum Ukrainekrieg beschädigt die polnisch-ungarischen Beziehungen ♦ Deutsche Zeitenwende aus polnischer Perspektive ♦ Angela Merkel. Ein Denkmal bröckelt.




1.04.2022. Ukraine-Krieg. Ungarische Freunde auf Abwegen

„Im Konflikt zwischen Russland und der Ukraine steht Ungarn auf der Seite Ungarns“, so die unmissverständliche Botschaft von Ministerpräsident Viktor Orban in diesen Tagen. Sie erfüllt sehr viele Menschen in Polen mit Traurigkeit und Sorge.

Es gibt nämlich eine tiefe Verbundenheit zwischen unseren beiden Nationen, die seit dem späten Mittelalter viele Male unter Beweis gestellt wurde. So auch 1848-1849, als polnische Freiwillige unter General Józef Bem bis zum Letzten mit um die Freiheit Ungarns kämpften.

Und während Deutschland, wie auch die Tschechoslowakei, ihre Grenzen 1920 schlossen, schickte das nach dem Ersten Weltkrieg selbst schwer geprüfte Ungarn, im letzten Augenblick, tonnenweise Munition und trug so entscheidend zur Rettung des gerade unabhängig gewordenen Polens bei. Die Sowjets konnten vor Warschau abgewehrt werden.

Im Herbst 1939, nach dem deutsch-sowjetischen Überfall, nahm Ungarn Zehntausende polnischer Flüchtlige auf, mit einer Herzlichkeit und Großzügigkeit, die ihresgleichen sucht. Es widerstand monatelang dem Druck Hitlerdeutschlands und ließ Tausende polnischer Armeeangehöriger, als Zivilisten getarnt, auf Umwegen nach Frankreich ziehen, damit diese sich dort, bei den neu aufgestellten polnischen Einheiten, melden konnten.

Eine gigantische Woge der Hilfsbereitschaft erfasste Polen während des Ungarnaufstands gegen die Sowjets 1956. Die Hälfte aller Hilfslieferungen (Blutkonserven, Verbandsmaterial, Medikamente, Milchpulver) kam damals aus Polen.

Nur Ungarn stand und steht Polen in Brüssel bei, angesichts der maßlos überzogenen Vorwürfe zur Rechtstaatlichkeit und der Sanktionsdrohungen.

Heute jedoch fehlt es in Ungarn an Verständnis dafür, wie sehr Polen in diesem Krieg mit der Ukraine mitfühlt, und wie sehr es sich bewusst ist, dass es das nächste Angriffsziel Russlands sein kann. Ungarn weigert sich, in der bewährt freundschaftlichen Weise auf unserer Seite zu stehen. Und das tut weh.

Sehr vieles, was Polen und Ungarn verbindet, wird bestehen bleiben. Genauso wie die Loyalität und Solidarität in vielen schwierigen Situationen der letzten Jahre sowie die vielen Momente echter Freundschaft nicht einfach getilgt werden können. Vielleicht lässt sich die jetzige Krise in unseren Beziehungen nach den Wahlen am 3. April 2022, die Orban mit großer Wahrscheinlichkeit wieder gewinnen wird, beheben. Eine Korrektur der ungarischen Politik ist dann nicht ausgeschlossen.

Wir sind mit der jetzigen Politik Ungarns gegenüber der russischen Aggression nicht einverstanden, aber das setzt das Gebot der Redlichkeit nicht außer Kraft. Wer Viktor Orban als einen Mittäter und Verbündeten Putins darstellt, sagt nicht die Wahrheit.

Ungarn nimmt ukrainische Flüchtlinge auf, leistet großzügig humanitäre Hilfe, und zwar in nicht geringerem Umfang als Polen und mit nicht weniger Engagement. Budapest verurteilt eindeutig die russische Aggression, trägt alle bisherigen EU-Sanktionen uneingeschränkt mit, unterstützt die Ukraine in internationalen Foren und befürwortet den ukrainischen EU-Beitritt. Orban sagte auch, dass nach der Aggression gegen die Ukraine die ungarisch-russischen Beziehungen nicht mehr so sein könnten wie zuvor.

Aber Ungarn lehnt ein völliges Verbot russischer Energieimporte ab, geauso wie eine Handelsblockade. Es weigert sich zudem, selbst Waffen an die Ukraine zu liefern,ebenso lässt es keine Waffen im Transit passieren.

Ja, die Ungarn sollten unbedingt mehr tun. Unter solchen Umständen, wie wir sie jetzt haben, muss man sich bedingungslos auf die Seite der Opfer von Mariupol und Donezk und auf die Seite der Wahrheit stellen. Diese fehlende Uneingeschränktheit ist ein für Polen schmerzhafter Makel des Budapester Tuns. Dass Deutschland und Frankreich ähnlich verfahren, macht die Sache nicht besser. Von einem guten Freund verlangt man mehr.

RdP

29.03.2022. Putins Krieg und die Schuld der Russen

Wer eigentlich führt den Krieg gegen die Ukraine? Die Russen oder nur Wladimir Putin?

Der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz wird nicht müde zu betonen, dass nicht das Volk, sondern den Präsidenten die Schuld trifft. „Dieser Krieg ist Putins Krieg“ legte sich Scholz bereits in seiner TV-Ansprache am 24. Februar 2022, dem Tag des russischen Einmarsches fest, und bleibt seither dabei. Er ist nicht der Einzige.

Frage an den Bundeskanzler: Wurde Polen 1939 von Deutschland und den Deutschen oder von Hitler überfallen? Natürlich gab der „Führer“ den Befehl dazu. Es gibt jedoch Menschen, die darauf hinweisen, dass Hitler dreimal hintereinander (Juli und November 1932, März 1933) Wahlen gewann, und legal an die Macht kam. Erst danach konnte er, das schon Anfang 1933 begonnene Werk der „Gleichschaltung“ Deutschlands in seiner Gänze anpacken und vollenden.

Die allermeisten Deutschen bejubelten ihn und folgten ihm auf seinen Eroberungszügen bis zum Nordkap, nach Nordafrika, bis vor die Tore Moskaus, hissten die Hakenkreuzfahne auf dem Elbrus, billigten oder nahmen seine verbrecherische Besatzungspolitik hin. Also sagen wir, dass es die Deutschen waren, die Polen überfallen haben, obwohl sich niemand empört, wenn gesagt wird, dass es Hitler war. Wer jedoch behauptet, es war nur Hitlers Krieg, dem wird heute heftig widersprochen.

Ist das bei Putin anders? Im Jahr 2004 erhielt er 53 Prozent der Stimmen (die Wahlergebnisse wurden im Allgemeinen nicht in Frage gestellt). Danach schaffte er schrittweise demokratische Strukturen und Verfahren ab, zerstörte die Opposition, befriedete auf bestialische Weise Tschetschenien, nahm sich Teile von Georgien, die Krim, den Donbass, bombte Syrien fast in die Steinzeit zurück. Und die Russen? Sie bejubelten ihn. Bis zu 80 Prozent von ihnen unterstützen heute Putins Ukraine-Krieg beziehungsweise nehmen ihn billigend oder resignierend in Kauf.

So gesehen sind Sanktionen, die in erster Linie die Gesellschaft treffen, gerechtfertigt. Auch die Auflösung von Verträgen mit putinfreundlichen russischen Künstlern, die Verbannung des russischen Sports, einer der tragenden Säulen in Putins Propaganda, von internationalen Wettkämpfen, und die Weigerung westlicher Verleiher ihre Filme in russischen Kinos zeigen zu lassen. Millionen russischer Befürworter des Krieges bekommen all das schmerzhaft zu spüren.

Das Ziel ist, das russische Volk gegen den Krieg aufzubringen. Den Menschen das Leben dermaßen schwer zu machen, sie so tief zu frustrieren und zu ermüden, bis es sich für ihren Präsidenten nicht mehr lohnt, die Ukraine zu vernichten.

Um die Deutschen gegen Hitler aufzubringen, legten die Allierten mit ihren Flächenbombardements eine deutsche Stadt nach der anderen in Schutt und Asche. Da kommt das russische Volk dieses Mal eher glimpflich davon.

RdP

27.03.2022. Biden in Polen

Das Meiste hat Joe Biden mit seiner Anwesenheit in Polen am 25. um 26. März 2022 gesagt. Er befand sich zur richtigen Zeit am richtigen Ort, an dem der Führer der freien Welt sein sollte.

Biden hielt eine wichtige, bedeutende und symbolträchtige Rede, die den historischen Moment gut wiedergab. Sie enthielt alles, was der mächtigste Politiker des Westens verkünden sollte, angesichts des Ukraine-Krieges, in einem Land an der Ostflanke der NATO, im Hof des Warschauer Königsschlosses, das als Symbol der im Zweiten Weltkrieg völlig zerstörten und später wiederaufgebauten polnischen Hauptstadt gilt.

Man fühlte sich an John F. Kennedy 1961 („Ich bin ein Berliner“) und an Ronald Reagan 1987 („Herr Gorbatschow, öffnen Sie dieses Tor. Herr Gorbatschow, reißen Sie diese Mauer nieder!“) in West-Berlin erinnert. Damals herrschte der Kalte Krieg. Jetzt, nur wenige Stunden vor Joe Bidens Rede am 26. März 2022, fielen russische Raketen auf Lviv, weniger als 400 Kilometer von Warschau entfernt, 60 Kilometer von der polnischen Grenze.

Es war eine russische Machtdemonstration und ein deutliches Zeichen dafür, dass Putin nicht viel von Amerika hält. Die Antwort der USA fiel eindeutig aus. „Nach Artikel 5 des Nato-Vertrages haben wir die heilige Pflicht, jedes Mitglied und jeden Zentimeter des Nato-Gebiets mit der Kraft unserer kollektiven Verteidigung zu beschützen.“ Für den Frontstaat Polen und seine Menschen war das die wichtigste Aussage in dieser Rede.

Im Kampf gegen Putins Regime will Amerika jedoch bestimmte rote Linien nicht überschreiten, angefangen bei einer direkten militärischen Beteiligung auf ukrainischem Gebiet. Es sind die Ukrainer, so der Präsident, die „an vorderster Front stehen müssen“. Er versicherte, dass Amerika „auf ihrer Seite sei“, allerdings in der derzeitigen Form: durch Waffenlieferungen, verschärfte Sanktionen und die Isolierung Russlands. Ob das ausreichen wird, um Russlands Niederlage herbeizuführen?

Der seinerzeit als vergreist und schwerhörig belächelte „Sleepy Joe“ hat sein erstes Amtsjahr, 2021, mit naiv wirkenden Versuchen zugerbracht, Russland zu besänftigen. Er hat sich in Genf von Putin abspeisen lassen und obendrein drei wirkungslose telefonische „Gipfeltreffen“ mit ihm abgehalten, was den Kreml in seinen Plänen nur bestärkt hat. Glücklicherweise konnten die US-Geheimdienste und das Pentagon Biden schließlich davon überzeugen, dass Russland zuschlagen würde. Jetzt haben wir in Polen einen führungsstarken, kompromisslosen US-Präsidenten erlebt, der zu Höchstform aufgelaufen ist.

Es ist zu hoffen, dass das so bleibt. Biden verwies wiederholt auf die Worte Johannes Paul II. aus dem Jahr 1979 in Warschau: „Habt keine Angst“. „Die Macht einer geeinten freien Welt ist unschlagbar.“ Doch wenn überhaupt, dann treibt uns in Polen und die Ukrainer nur eine Angst um. Sie resultiert aus vielen bitteren historischen Erfahrungen: Es ist die Angst vor starken Worten auf die faule Kompromisse folgen.

RdP

25.03.2022. Frontstaat Polen

Ein Blick auf die Karte genügt, um das bestätigt zu bekommen. An Polens knapp 1300 km langer Ostgrenze entfallen gerademel einhundert Kilometer auf den EU-Staat Litauen. Ansonsten grenzt Polen an die beiden Kriegsparteien Russland (Gebiet Kaliningrad ca. 230 km) und die Ukraine (ca.530 km).

Hinzu kommen gut 400 km Grenze zu Weißrussland, wo die russische Armee inzwischen schaltet und waltet wie sie will. Sie schießt von dort Raketen ab und schickt Kampfflugzeuge gegen die Ukraine, versorgt in Krankenhãusern ihre Verwundeten und lagert in weißrussischen Leichenhallen ihre Gefallenen. Zudem ist jeden Augenblick mit dem Kriegseintritt des Lukaschenka-Regiems gegen die Ukraine zu rechnen.

Polens Verankerung in der Nato und die bilateral mit Washington ausgehandelte Anwesenheit von US-Truppen, die inzwischen auf 10.000 GI’s aufgestockt wurden, bewkirkt, dass, laut Umfragen, die Mehrheit der Polen nicht an eine Ausweitung des Ukraine-Krieges auf das eigene Territorium glaubt.

Dendennoch ist das Frontstaat-Sein eine ernste Angelegenheit. Frontstaat war Pakistan in den zehn Jahren des sowjetischen Afghanistan-Krieges. Es beherbergte Hunderttausende von Kriegsflüchtlingen, war Waffenschmiede, Rückzugs- und Ausfallgebiet für antisowjetische Partisanen. Zwar liegt Polen nicht am Hindukusch, aber eine ähnliche Situation ist denkbar. Polen ein zweites Pakistan, das wäre kein gutes Szenario.

Andererseits zeigt die Geschichte, dass es Frontstaaten gab und gibt, die enorme wirtschaftliche und technologische Entwicklungssprünge vollbracht haben: Frontstaat war bis 1989 Westdeutschland. Bis heute sind es Israel, die „asiatischen Tieger“ Taiwan und Südkorea.

Fundamentale Voraussetzungen für ein gesichertes Dasein am Abgrund all dieser Länder waren und sind: die amerikanische militärische Anwesenheit, amerikanische Sicherheitsgarantien, enorme eigene Verteidigungsanstrengungen und der Wille Widerstand zu leisten.

Polen kann das alles vorweisen. Die Weichen für ein sicheres Fronststaat-Sein sind gut gestellt. Den Rest muss jetzt die hohe Kunst der Außen- und Innenpolitik bewerkstelligen. und eine gehörige Portion Glück gehört auch dazu.

RdP

21.03.2022. Den inkorrekten Ukrainern ins Stammbuch geschrieben

Der Krieg in der Ukraine stellt die politische Korrektheit auf eine harte Probe.

Seitdem er ausgebrochen ist, gibt es, anstatt der oft zitierten Vielfalt, nur noch zwei Geschlechter. Männer kämpfen für ihr Land, Frauen bringen Kinder und Großeltern in Sicherheit. Eine augenfälligere Prachtentfaltung des längst vergessen geglaubten patriarchalischen Rollenmodells kann es wahrlich nicht geben. Wo bleiben die Quoten in diesem Bereich, die gewährleisten, dass die Hälfte der Väter sich um Küche und Kinder kümmert, während die Mütter mit Panzerfäusten im Marschgepäck an die Front ziehen?

Auch überprüft niemand in der ukrainischen Armee den Anteil der Menschen mit unterschiedlichen geschlechtlichen Veranlagungen. Dieser Überprüfung müssten selbstverständlich auch die russischen Streitkräfte unterzogen werden. Da wir Russland jedoch ohnehin verurteilen, mit der Ukraine sympathisieren, sie unterstützen, sollten wir vor allem diejenigen genauer betrachten, denen unsere Gunst zuteil wird.

Schon auf den ersten Blick ist zu erkennen, wie bei den Ukrainern überkommene Männlichkeitsbilder hochgespült werden. Plötzlich steht die „toxische Männlichkeit“ hoch im Kurs: Männer die keine Schwäche zeigen, ihre Gefühle unterdrücken und, man glaubt es nicht, dem Konflikt mit dem Aggressor Putin durch Gewalt beikommen wollen.

Für diesen Männertypus steht exemplarisch der ukrainische Staatspräsident Wolodymyr Selenskyj, der ungerührt im russischen Raketenhagel ausharrt, statt sich in Sicherheit zu bringen. Selenskyjs Spruch: „Ich brauche Munition, keine Mitfahrgelegenheit“, als die Amerikaner anboten ihn gemeinsam mit dem US-Botschaftspersonal aus Kiew herauszubringen, hätte auch von John Wayne oder Clint Eastwood stammen können. Diese erschreckende Diskursverschiebung zu mehr Männlichkeit widerspricht der „feministischen Außenpolitik“ und hat schwerwiegende „psychopolitische“ Folgen.

Selenskyj, einem offensichtlich aus der Rolle gefallenen drolligen Komiker, dem bei seinem Amtsantritt niemand so viel Medienwirksamkeit bei der Darstellung maskuliner Charakterstärke zugetraut hätte, steht, mit seinem ärgerlichen Machogehabe, der einstige Boxer, jetzt Kiews Bürgermeister, Vitali Klitschko zur Seite. Zwischen Wohnhäuserruinen verkündete er: „Wenn ich sterben muss, dann sterbe ich. Es ist eine Ehre, für sein Land zu sterben.“

Wäre es nicht an der Zeit den Ukrainern deutlich zu sagen, wie irrational sie sich verhalten, wenn sie ausgerechnet den aus der reaktionären Mottenkiste herausgeholten Begriff des „Vaterlandes“ in den Vordergrund ihrer „toxischen Männlichkeit“ rücken? Wie dumm verhalten sie sich zudem, wenn sie darauf bestehen, dass ihr Land das Recht habe in den, seinerzeit von allen Seiten anerkannten, rechtmäßigen Grenzen zu existieren, wo doch jeder weiß, dass Grenzen eigentlich längst abgeschafft gehören. Wird da nicht im Grunde viel Lärm um nichts gemacht?

Und die „Nation“, von der Selenskyj, Klitschko & Co. unentwegt schwadronieren? Sie ist doch nur eine erfundene, abgenutzte und zudem brandgefährliche Zwangsgemeinschaft. Es mutet geradezu absurd an, für sie sterben zu wollen.

Und warum bringt niemand die Ukrainer davon ab, sich ständig auf ihre Tradition und Geschichte zu berufen, was sie nur mit ihrer Vergangenheit verstrickt und ihre Entscheidungsfreiheit einschränkt? Ist es nicht an der Zeit zu verurteilen, dass den in der Ukraine lebenden Menschen eine kollektive nationale Identität übergestülpt wird, die ihre Selbstverwirklichung verhindert? Dabei weiss doch jeder, dass die Loyalität eines Menschen einzig und allein ihm selbst und niemals irgendeinem abstrakten Ganzen gehört.

Wen kümmert es, dass diese Art von Emanzipation Menschen wehrlos macht gegenüber skrupellosen Gangstern wie Putin? Wichtig ist, statt Waffen zu liefern, den Ukrainern bei der Dekonstruktion und Entmystifizierung solch muffiger Begriffe wie Heimat, Volk und Heldentum beizustehen, was einer Anleitung zum selbstbestimmten, politisch korrekten Sterben gleichkommt.

RdP

18.03.2022. Russen-Boykott, Vernunft tut Not!

Auch in Polen nehmen Kultureinrichtungen und Veranstalter russische Musik und Theaterstücke aus ihren Programmen, und sagen Auftritte russischer Künstler ab. Die antirussische Aufregung sorgt für Diskussionsstoff.

Drei Argumente sprechen für den Boykott.

Erstens. Der von Putin ausgelöste blutige Krieg ist ein unpassender Zeitpunkt, um Russlands Größe zu bewundern, auch wenn diese Größe im kulturellen Bereich unbestreitbar ist.

Zweittens. Auch Kultureinrichtungen wollen ihre Haltung zum Ausdruck bringen, und es ist ganz natürlich, dass sie auf diese Weise protestieren.

Drittens. Wir mögen Schostakowitsch weiterhin und halten Tschaikowsky keineswegs für Putin-freundlich, aber dass, was Putin tut, schließt Russland und die Russen aus der internationaloen kulturellen Gemeinschaft aus.

So weit, so gut.

Man kann verstehen, dass Filmfestspiele keine von der russischen Regierung finanzierten Produktionen wollen, aber was soll man mit Kirill Serebrennikows Film machen? Ein herausragender, vom Putin-Regime verfolgter Regisseur, dessen „Fieber“ vorerst nicht in die Kinos kommt. Was tun mit Produktionen, deren Urheber gegen die Behörden und das System vorgehen? Einige polnische Festivalveranstalter (New Horizons und Millennium Docs Against Gravity) behielten ihren gesunden Menschenverstand, andere (z. B. das Warschauer Filmfestival oder Cinema on the Border) fackelten nicht lange und bedankten sich bei den Russen.

Man kann verstehen, dass das Alte Theater in Kraków die Zusammenarbeit mit Konstantin Bogomolow, der mehr oder weniger offen Putin unterstützt, aufgegeben hat, aber warum wurde das mit seiner Nationalität begründet? Und woher die Idee, die Premiere von „Boris Godunow“ in der Warschauer Oper abzusagen? Und welchen Sinn macht es, die Werke aller russischen Komponisten im Kulturprogramm des Polnischen Rundfunks zu streichen?

Sollten nicht, wenn schon, denn schon, Buchhädler alle russischen Schriftsteller aus den Regalen nehmen und Bibliotheken ebendiese mit einer Ausleihsperre belegen? Die Romane von Dostojewski und Bulgakow oder die Theaterstücke von Gogol und Tschechow stehen Russland und den Russen kritisch gegenüber, wie der Regisseur Iwan Wyrypajew kürzlich bei einer Aufführung von „Onkel Wanja“ im Warschauer Teatr Polski zu Recht betonte. Der Theaterdirektor sah sich jedoch gezwungen, seine Entscheidung, Tschechow zu spielen, nach der Aufführung zu erklären.

Dabei würde es wahrlich genügen den Saal der Warschauer Oper bei der „Boris Godunow“-Premiere dezent mit einigen ukrainischen Akzenten zu schmücken, anstatt sie abzusagen.

Und noch eins. Wer einen Boykott beginnt, muss auch eine Vorstellung davon haben, wann er ihn beenden will. Wenn der letzte russische Soldat die Ukraine verlassen hat? Mit oder ohne Krim? Mit oder ohne Donbass? Und wenn das noch in ein paar Jahrzehnten nicht passiert ist? Sollen wir uns, um Putin zu ärgern, so lange die Ohren zuhalten, Rachmaninoff und Rimski-Korsakow verschmähen, die an diesem Krieg ebenso wenig schuld sind wie Dschingis Khan?

RdP

16.03.2022. Mut muss sein

Noch wissen wir nicht, was der Aufbruch nach Kiew bringen wird. Aber eines wissen wir bereits: Polen, Tschechien und Slowenien werden heute von mutigen Männern regiert. Mut ist der Schlüssel zu allem.


Die Kiew-Expedition des Premierministers Mateusz Morawiecki, seines Stellvertreters in der Regierung Jarosław Kaczyński, der Regierungschefs Tschechiens Peter Fiala und Sloweniens Janez Janša ist kein beispielloses Ereignis. Es gab einen Präzedenzfall: die Georgienexpedition des polnsichen Staatspräsidenten Lech Kaczyński, der später, in der Flugzeugkatastrophe von Smolensk im April 2010, tödlich verunglückte.

Lech Kaczyński bat im August 2008 die Staatschefs der drei baltischen Staaten und der Ukraine mit ihm nach Tiflis zu fliegen, in die georgische Hauptstadt, auf die russische Panzerkolonnen vorrückten. Er hielt dort, vor zehntausenden von Menschen, eine denkwürdige Rede über den Willen Russlands zu imperialer Ausdehnung. „Heute Georgien, morgen die Ukraine, übermorgen die baltischen Staaten, und dann ist vielleicht auch mein Land, Polen an der Reihe.“ Das mutet 14 Jahre später fast prophetisch an.

Damals kehrten die russischen Panzer um. Heute stärken die mutigen Vier der Ukraine den Rücken, indem sie vor Ort der Welt mitteilen, dass dort ein Krieg für die europäischen Werte geführt wird. Werte mit denen sich der Westen jeden Tag so gerne brüstet. Aber wenn Bomben fallen, würden viele dort am liebsten abwarten, bis der Starke den Schwachen befriedet hat, und man getrost zum business as usual zurückkehren kann.


Der deutsche und der österreichische Bundeskanzler, der französische Staatspräsident oder der Ministerpräsident Italiens stiegen in den Zug nach Kiew nicht ein. Es sind Chefpolitiker von Ländern, die durch ihr Vorgehen Russlands Energiemacht vergrößert und es letztendlich zu Eroberungen ermutigt haben. Mit dem Bau der beiden Unterwasserpipelines Nord Stream 1 und Nord Stream 2 hat sich Deutschland völlig unnötig von Moskau energiepolitisch abhängig gemacht, und gleichzeitig die Ukraine, durch die bisher Erdgas aus Russland nach Westeuropa floss, bewußt einer wichtigen Geldquelle und ihrer geopolitischen Bedeutung beraubt.


Von den vier Mutigen, die nach Kiew aufgebrochen sind, kommen zwei ais Polen. Ohne Mut hat ein mittelgroßes Land, das zwischen zwei Großmächten liegt, keine Chance. Wenn der Mut fehlt, wird Ostmitteleuropa, wieder einmal, zwischen den Mühlsteinen mächtiger Fremdinteressen zerrieben. Ohne Mut kann die Politik auf Dauer nicht erfolgreich sein. Mut allein garantiert natürlich noch nichts, aber wenn er fehlt, ist die Katastrophe vorprogrammiert.

Kaczyński, Morawiecki, Fiala und Janša zeigen der Ukraine in ihren schwersten Stunden, dass sie nicht allein ist. Sie zeigen Haltung und sie machen vor, wie man europäische Werte in die Realität umsetzt.

RdP

15.03.2022. Mit Putin telefonieren

Machen wir uns keine Illusionen: Viele in Europa wären über eine rasche Niederlage der Ukraine erleichtert. Anstatt zu helfen, telefonieren sie mit dem Aggressor

Der Elysée-Palast teilte am Samstag, dem 12. März mit, dass der französische Präsident Emmanuel Macron und Bundeskanzler Olaf Scholz erneut mit dem russischen Präsidenten Wladimir Putin in Sachen Krieg in der Ukraine telefoniert haben. „Die drei Staatschefs haben ein Telefongespräch geführt, in dem Frankreich und Deutschland von Russland die sofortige Einstellung des Krieges forderten“, so das Kommuniqué.


Nach Angaben des Elysée-Palastes hat Macron seit seinem letzten Treffen im Kreml am 7. Februar 2022 bereits neun Telefongespräche mit Putin geführt, darunter am Donnerstag, dem 3. März. Damals hieß es, dass „Macron und Scholz darauf bestanden, dass jede Lösung der Krise durch Verhandlungen zwischen der Ukraine und Russland erfolgen solle“. Macron, Scholz und Putin vereinbarten auch, in den kommenden Tagen weiterhin engen Kontakt zu halten.


Auf der einen Seite haben wir das Ausbremsen wirklich harter Sanktionen (Energieträgerembargo), die Russland in kürzester Zeit in die Knie zwingen könnten (auch wenn sie mit wirtschaftlichen Kosten für Europa verbunden sind), auf der anderen Seite den zwanghaften Hang zum Telefonieren mit dem Aggressor. Alle zwei oder drei Tage ein Anruf – immer mit dem gleichen Ergebnis. Der Nutzen dieser Telefonate für das Opfer, die Ukraine ist gleich Null, während gleichzeitig der Eindruck entsteht, dass Berlin und Paris psychologisch gar nicht in der Lage sind, einen harten, lang anhaltenden Konflikt mit Russland zu ertragen.

Man fragt sich wo wäre Polen, wenn es die Vereinigten Staaten nicht gäbe? Inwieweit könnte die Europäische Union, die ja von den beiden Telefon-Gesprächspartnern Putins dominiert wird, den Staaten im Osten, einschließlich Polen, eine robuste Sicherheit garantieren? Man wird den Eindruck nicht los, dass sehr viele in Westeuropa nach einer raschen Niederlage der Ukraine und dem Triumph Moskaus erleichtert aufatmen würden. Liebend gern würden sie danach erneut so etwas wie die Minsker Gespräche organisieren, bei denen die russischen Eroberungen besiegelt und die Ukraine politisch und militärisch mundtot gemacht würde, um sich reinen Gewissens wieder auf Putin einzulassen.


Aber man muss sich auch fragen: Wo stünden wir, wenn Macron und Scholz zumindest einen Teil der Energie, die sie für das antichambrieren im Kreml aufwenden, darauf verwendet hätten, wirksame Wege zur Bestrafung Russlands zu finden? Oder die Ukraine mit der den Waffen zu versorgen, die es ihr ermöglichen würden, der russischen Armee noch größere Verluste zuzufügen?

Sanktionen, Waffen, Hilfe für Flüchtlinge, Unterstützung für Staaten, die Ukrainer aufnehmen. So sollte die solidarische Antwort der freien Welt auf die russische Aggression aussehen. Alles andere ist in diesem Stadium des Krieges ein beschämendes Ausweichen.

RdP