Unsterblich oder geduldet. Polens Vietnamesen

Eine Welt für sich.

Zarter Jasminduft schwebt in der Luft. Weiβe, teefarbene und rosarote Orchideen blühen auf den Fensterbänken. An milchigen, schmalen Tischchen feilen schwarzhaarige Mädchen die Fingernägel der Kundinnen. Wehmütig miauender Gesang strömt aus kleinen Lautsprechern. Der Besuch hier ist wie eine Reise nach Vietnam, nur braucht man längst nicht so weit zu fahren. Das „Asian Nail Studio“ befindet sich in einem der vielen Verkaufspavillons an der Aleja Jana Pawła II., mitten in Warschau.

Die Chefin hier, ist Lan Huong Le Hoang, zu Deutsch: Jasminduft. Ihr Vater hatte vor 24 Jahren in Warschau ein Doktoranden-Stipendium bekommen und durfte die Familie mitbringen. Sie hatten sich schnell eingelebt, die Freiheit schätzen gelernt, ins kommunistische Vietnam zurück wollten sie schon bald nicht mehr.

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Intergration gelungen? Vietnamesiches Hochzeitspaar legt, ganz nach polnischer patriotischer Sitte, Blumen am Warschauer Grabmal des Unbeklannten Soldaten nieder.

Lan absolvierte alle Stufen des polnischen Schulwesens und brachte ihr Jurastudium an der Warschauer Universität zum Abschluss. Gemeinsam mit einer vietnamesischen Freundin, die großes Geschick darin besaß, bemalten beide sich zum Spaβ immer wieder mal die Fingernägel. Aus diesem Spaβ wurde irgendwann ein Hobby, dann eine Leidenschaft, schlieβlich der Beruf, für den Lan die Jursiterei aufgab.

Die Kundinnen kommen gerne zu ihr. Nicht nur, weil der Nagellack, den sie bei Lan aufgetragen bekommen lange hält. Manche schätzen es auch, dass sie mit den vietnamesischen Manicure-Mädchen nicht plaudern müssen, da es deren bescheidene Polnisch-Kenntnisse einfach nicht erlauben.

Ab und an schaut Lans Tochter Angela vorbei. Sie besucht die elfte Klasse, spricht kaum mehr Vietnamesisch, geht an Nachmittagen zum Zeichen- und Tanzunterricht, und fühlt sich als hundertprozentige Polin. Die Mutter macht für sie im Salon-Hinterzimmer schnell eine Portion Jasminreis warm.

Manchmal gibt es auch noch eine zweite Schüssel. Angelas Schwarm ist drei Jahre älter und heiβt Antoni Trang. Alle rufen ihn, wie es in Polen üblich ist, mit dem Kosenamen Antek. Im nächsten Jahr will er im zweiten Anlauf das Abitur in Polnisch schaffen. Die Sprache bereitet ihm, anders als Angela, immer noch Probleme. Antek heiβt eigentlich mit Vornamen An, aber der Vorname, dem ihm seine polnischen Kumpels gegeben haben gefällt ihm besser. Anteks Eltern kamen aus der ehemaligen DDR nach Polen als er gerade Zwei wurde.

Rege, duftend, höflich

Sie waren Vertragsarbeiter, die im vereinigten Deutschland plötzlich vor dem Nichts standen. Der groβe volkseigene Betrieb wurde schnell abgewickelt, die Umgebung war feindselig, die Behörden drängten zur Ausreise. In Polen arbeiteten sie auf dem Bau, in vietnamesischen Bars, bis sie genug Geld hatten, um am stillgelegten Warschauer Sportstadion, auf dem östlichen Weichselufer, eine Box zu mieten und dort preisgünstige Unterwäsche zu verkaufen. Das machen sie bis heute. Als das alte Stadion abgerissen wurde, um einer modernen Arena für die Fuβball-EM 2012 zu weichen, zogen Anteks Eltern mit ihrem Kleinhandel um nach Wólka Kosowska.

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Wólka Kosowska bei Warschau. Handel, Wandel, vietnamesiche Betriebsamkeit.

Knapp 20 km südlich von Warschau haben chinesische und vietnamesische Kaufleute ein ansehnliches Handelszentrum gebaut, in dem hunderte von Asiaten alles feilbieten, was ihre Landsleute und die Polen an Asiatischem begehren. Es ist eine Welt für sich, in der es vor ein paar Jahren zu Krawallen kam, als die asiatischen Eigentümer die asiatischen Händler mit hohen Mietpreisen in die Verzweiflung trieben. Etwas später verwüstete dann ein Groβbrand die engen Boxen- und Ladenzeilen. Von Brandstiftung war die Rede, aber welcher Staatsanwalt oder Polizist schafft es schon in die verschwiegene Welt der Asiaten vorzudringen. Der Wiederaufbau ging schnell vonstatten und der Handel läuft, von außen betrachtet, ab wie eh und je: rege, von exotischen Düften umhüllt, stets höflich.

Direkt in Warschau vermischen sich der polnische und der vietnamesische Handel in trauter Eintracht auf dem riesigen überdachten Basar in der Marywilska Straβe. Schlüpfer und Socken kosten bei den Vietnamesen 2 Zloty (50 Cent), ein Paar Jeans 40 Zloty (10 Euro), ein Winteranorak 50 Zloty (ca. 12 Euro). Natürlich darf man nicht erwarten, dass die Sachen lange halten.

Antek redet mit seinen Eltern Vietnamesisch, zu Hause wird vietnamesisch gegessen. Mutter Trang bemüht sich alle heimatlichen Feste zu begehen und deren Riten zu pflegen, aber Antek geht es genauso wie Angela: Polen ist seine Heimat. Vier Mal hat er schon die Groβeltern in Vietnam besucht, aber dort fühlt er sich fremd, auch wenn sich Oma, Opa und der Rest der Familie alle Mühe geben, ihm sein Kommen mit allerlei Annehmlichkeiten zu versüβen.

Ba Lan zieht an

Mehr Vietnamesen als an der Weichsel findet man in Europa nur in Frankreich (ca. 500.000) und in Deutschland (ca. 100.000). In Polen stellen sie die gröβte ständig hier lebende Ausländergruppe. Offiziell sind es 20.000, aber Pfarrer Edward Osiecki, der betreuende Seelsorger, schätzt ihre Zahl auf bis zu 60.000. Die Polen haben Probleme einzelne Vietnamesen voneinander zu unterscheiden, dank diesem Umstand sind viele „unsterblich“. Wenn jemand stirbt, wird sein Pass mit dem begehrten Aufenthaltsvisum teuer an einen frisch zugereisten Landsmann weiterverkauft.

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Verhaltensregel Nr. 1: bloβ nicht auffallen, Polizei und Behörden im weiten Bogen umschiffen.

Viele Vietnamesen besitzen überhaupt keine Papiere. Anfang der 90er Jahre begannen organisierte Schleusergruppen sie illegal nach Polen zu bringen. Zunächst ging es per Flugzeug, mit russischem Visum nach Moskau und von dort, versteckt in LKWs, durch die Ukraine und Weiβrussland bis an die polnische Grenze. Die Familie in Vietnam musste bis zu diesem Zeitpunkt den noch fehlenden Anteil des Schleuserlohnes von bis zu 10.000 Dollar bezahlt haben, und nun begann das, manchmal wochenlange, Warten in Scheunen und verlassenen Barracken auf das denkbar schlechteste Wetter, um dann zu Fuβ die Absperrungen zu überwinden. Auf der polnischen Seite wartende Autos brachten die Illegalen innerhalb von zwei Stunden irgendwo in die Nähe von Wólka Kosowska, damit sie bei Ihresgleichen untertauchen konnten.

Ba Lan, wie Polen auf Vietnamesisch heiβt, zieht viele Vietnamesen an. Einerseits ist das Leben an der Weichsel schwer. Es gibt keinerlei staatliche Unterstützung, kein Begrüβungsgeld, kein Harz IV, keine staatlich finanzierten Eingliederungsprogramme. Nur wenige karitative Organisationen, wie die katholische Caritas oder einige Anlaufstellen in der Warschauer alternativen Szene, leisten bescheidene Hilfe. Wer nach Polen als Immigrant kommt, der muss sich selbst, wie einst Baron Münchhausen, am eigenen Haarschopf packen um sich aus den Niederungen der Gesellschaft heraus zu befördern.

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Handeln, Feilschen, Improvisieren, ungebunden sein, dem Staat möglichst aus dem Weg gehen, sein eigenes Ding machen, was viele Polen geradezu im Blut haben und leben, das ist auch das vietnamesiche Element.

Die genügsamen und fleiβigen Vietnamesen sind dazu imstande. Für sie hat Polen auch erhebliche Vorteile. Hier fällt das Abtauchen leichter als in Deutschland, die vietnamesischen Netzwerke funktionieren zuverlässig. Landsleute nehmen die Neuankömmlinge bei sich auf, geben ihnen Arbeit in ihren „Familienunternehmen“ oder Kredit zum Kauf der ersten eigenen Warenpartie. Es gilt noch die notwendigsten Worte, wie „pięć złotych“ („fünf Zloty“), „dwa złote“ („zwei Zloty“), „zielony“, „niebieski“ („grün“, „blau“) zu lernen, dann kann es losgehen. Handel, Wandel, Feilschen, Improvisieren, ungebunden sein, dem Staat möglichst aus dem Weg gehen, was viele Polen geradezu im Blut haben und leben, das ist auch ihr Element. Und noch etwas sehr Wichtiges: angefeindet werden sie äuβerst selten, und wenn, dann wissen sie sich handfest zur Wehr zu setzten.

Verhaltensregel Nr. 1 ist allerdings natürlich: bloβ nicht auffallen, Polizei und Behörden im weiten Bogen umschiffen. Zwischen 2007 und 2014 hat die polnische Grenzpolizei knapp 500 Vietnamesen beim illegalen Grenzübertritt festgenommen. Dazu kamen weitere 400, die im Landesinneren, zumeist ohne Papiere, aufgegriffen wurden. Sie kamen in Abschiebehaft, und man hoffte, die vietnamesische Botschaft würde ihre Identität bestätigen, doch das ist noch nie vorgekommen. Spätestens nach zwölf Monaten werden sie dann freigelassen und erhalten, seit 2008, eine Duldung.

Das Papier wird jedes Jahr automatisch erneuert, denn einen geduldeten Ausländer kann man praktisch nicht mehr abschieben. Nun dürfen sie legal arbeiten, Gewerbe treiben, sich sozialversichern, das Schulwesen in Anspruch nehmen, offiziell eine Wohnung mieten, nur um die polnische Staatsangehörigkeit dürfen sie nicht nachsuchen.

Asia-Food und Suppenkönig

Ein Fehler, wie Pfarrer Osiecki meint, denn sehr viele sind schon weit mehr als zehn Jahre im Lande und haben sich bestens integriert. Den Vietnamesen steht er seit gut elf Jahren bei, seitdem ihn ein junger Bursche einst auf der Straβe angesprochen hat. Der hatte Glück, denn Pfarrer Osiecki war damals gerade, nach zehn Jahren Missionsarbeit auf Papua Neuguinea, in seine Heimat zurückgekommen und zu jener Zeit dabei eine erste Anlaufstelle für Emigranten („Centrum Emigranta“) in der Warschauer Ostrobramska Straβe einzurichten. Dort konnten Fremde kostenlos Teetrinken und für 1 Zloty (ca. 25 Cent) ein Butterbrot bekommen, umsonst ins Internet gehen oder einen Polnisch Grundkurs besuchen. Osiecki und die ihn unterstützenden Ordensschwestern begleiten ihre Schützlinge ebenfalls zu den Ämtern.

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Der Warschauer Pfarrer Edward Osiecki steht den Vietnamesen seit elf Jahren bei.

Hilfe bekommt hier jeder. Osiecki fragt nicht nach dem Glauben. Unter den Vietnamesen sind die meisten entweder ohne Glauben oder Buddhisten. Nie ist es bisher vorgekommen, dass einer von ihnen zum Katholizismus konvertieren wollte, weil er sich davon im katholischen Polen Vorteile versprach. Das machen nur diejenigen, die einen Polen oder eine Polin heiraten, wenn das dem polnischen Partner wichtig ist, weil er kirchlich getraut werden und die Kinder katholisch erziehen möchte. Die meisten Katholiken unter den in Polen lebenden Vietnamesen kamen allerdings schon als Katholiken ins Land.

Immer mehr polnischen Vietnamesen gelingt es inzwischen aus ihrem angestammten Milieu: Asia-Food-Restaurants oder dem Handel mit Billigkleidung auszubrechen. Auffälligstes Beispiel: Tao Ngoc Tu, dessen Vermögen mittlerweile auf 250 Mio. Zloty (gut 60 Mio. Euro) geschätzt wird. Reich gemacht haben ihn die „Vifon“-Tütensuppen mit den markant zusammen gepressten und gewellten Nudeln Made in Vietnam. Heute verkauft seine Firma „Tan Viet“ Soβen, Nudeln, Trockengemüse, getrocknete Pilze und Dörrobst.

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Vietnamesich-polnischer Tütensuppen-Millionär Tao Ngoc Tu.

Tao Ngoc Tu meidet tunlichst die Medien. Einzig vor zwei Jahren, lieβ er sich zum runden Firmenjubiläum in Gdańsk feiern. Die Veranstaltung fand in der Technischen Hochschule statt, die der heutige Millionär vor 25 Jahren selbst absolviert hat.

Mehr als einhundert junge Vietnamesen, so Pfarrer Osiecki, die in Polen studiert haben, arbeiten inzwischen an exponierten Stellen in Groβunternehmen oder betreiben Firmen, die in ihrer Branche als bedeutend eingeschätzt werden. So wie Karol Hoang, der sich im Warschauer Immobiliengeschäft erfolgreich etabliert hat.

Die gelbe Stasi ist immer dabei

Doch eine Idylle ist das Leben der polnischen Vietnamesen keineswegs. Die vietnamesische Oppositionelle Ton Van Anh, inzwischen polnische Staatsbürgerin, weiβ viel darüber zu berichten, wie die vietnamesische Stasi im Emigrantenmilieu schnüffelt, Intrigen schmiedet, Gerüchte streut, die einen gegen die anderen ausspielt, die Menschen verunsichert.

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„Volksfeindin“ daheim. Ton Van Anh hat inzwischen die polnische Staatsbürgerschaft bekommen.

Ihre Eltern, obwohl vermögend, flüchteten Anfang der 90er Jahre nach Polen, die Heimat Johannes Paul II. und der „Solidarność“, weil sie in Freiheit leben wollten. Anh hat Soziologie an der Warschauer Universität studiert. Als sie eine oppositionelle, unabhängige Zeitschrift gründete, erklärte die vietnamesische Botschaft kurzerhand ihren Pass für ungültig. Von nun an war sie eine „Volksfeindin“, der Weg nach Vietnam ist für sie versperrt.

Ton Van Anh : „Viele würden sich wundern, wenn sie erführen, wie viele politische Flüchtlinge, die in Gefängnissen und Arbeitslagern gesessen haben oder als katholische Christen in Vietnam verfolgt worden sind, es unter den anonymen Nudel- und Textilverkäufern gibt.“

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