Ansturm. Ukrainische Kinder an polnischen Schulen

Es muss gehen.

Unter den mehr als zwei Millionen ukrainischen Flüchtlingen, die sich im Augenblick in Polen befinden, gibt es etwa siebenhunderttausend Kinder. Sie ins polnische Schulsystem aufzunehmen und es weiterhin funktionsfähig zu halten, gleicht einer Herkulesaufgabe. Dazu ein Gespräch mit Bildungs- und Wissenschaftsminister Przemysław Czarnek.

Przemysław Czarnek ist seit Oktober 2020 Minister für Bildung und Wissenschaft.

Wie beurteilen Sie die allgemeine Mobilisierung der jungen Polen, die zu Hilfe gekommen sind? Was lernen wir über sie?

Przemysław Czarnek: Ich bin stolz auf sie. Sie kümmern sich um ihre ukrainischen Altersgenossen, helfen ihnen. Ich besuche Schulen, spreche mit Schülern, Lehrern und Schulleitern. Ich stehe in ständigem Kontakt mit den Beamten der Schulaufsicht. Die Solidarität der Schulgemeinschaften ist wirklich ermutigend.

Jeden Tag kommen etwa zehntausend und mehr Schüler aus der Ukraine im polnischen Bildungssystem neu hinzu. Wie lange kann das noch so weitergehen?

Das System hat sicherlich seine Grenzen. Daran habe ich keinen Zweifel. Auch das nötige Geld steht nicht grenzenlos zur Verfügung. Es sei jedoch daran erinnert, dass das polnische Bildungssystem in den letzten fünfzehn Jahren aufgrund der demografischen Krise eineinhalb Millionen Kinder verloren hat, sodass es durchaus Möglichkeiten und Reserven gibt. Schulen wurden geschlossen, stehen leer und auch die verbleibende Infrastruktur wird derzeit nicht genutzt. Mit flexiblem Handeln und in aller Ruhe können wir eine Menge tun, um ukrainischen Kindern zu helfen. Ich möchte jetzt keine Kapazitätsgrenze für das System setzen, gebe aber zu, dass das Ganze sehr kompliziert ist und viele Herausforderungen mit sich bringt.

Einerseits müssen wir das Bildungssystem so flexibel wie möglich gestalten, um die ukrainischen Flüchtlinge aufnehmen zu können, aber wir müssen auch daran denken und dafür sorgen, dass polnische Kinder in polnischen Schulen, trotz dieser schwierigen Lage, ihre Ausbildung normal fortsetzen können.

So etwas war nicht vorherzusehen. Es gibt etwa zwei Millionen Flüchtlinge in Polen. Wir schätzen, dass fast siebenhunderttausend von ihnen Kinder sind. Sie werden nach und nach in polnische Schulen und Kindergärten aufgenommen. Natürlich ist die Entscheidung, eine Schule zu besuchen, nicht das Erste, was die Eltern beschließen. Kinder, die vor dem Krieg geflohen sind, müssen sich erst einmal ausruhen, um den erlebten Albtraum zu verarbeiten, und erst dann wird der Entschluss gefasst, zur Schule zu gehen.

Gehen die Kinder zunächst eher in normale Klassen oder in Vorbereitungskurse?

Vorläufig wurden die meisten von ihnen in bereits bestehenden Klassen untergebracht. Wir appellieren jedoch an die lokalen Behörden, Vorbereitungskurse einzurichten. Sie bieten den ukrainischen Kindern günstigere Bedingungen für die Eingliederung in das polnische System. Wenn sie zunächst einmal unter sich sind, fühlen sie sich besser und sicherer als in polnischen Klassen, insbesondere wenn sie die Sprache nicht sprechen.

Die Kenntnis der polnischen Sprache sollte das Kriterium für die Schulleiter sein. Wenn ein ukrainisches Kind Polnisch versteht, dann ist es natürlich kein großes Problem, mit polnischen Kindern in eine Klasse zu gehen. Versteht das Kind hingegen kein Polnisch, ist es besser, es in einem Vorbereitungskurs einzuschreiben.

Es gibt sie bereits an einzelnen Schulen, es gibt aber auch Kurse, die gemeinsam von mehreren Schulen oder sogar mehreren Gemeinden eingerichtet werden. Es kommt darauf an, wie viele Kinder es in einer Gegend gibt. Ein Vorbereitungskurs ist weniger stressig für diese Kinder, und es geht darum, dass sie keinen Stress mehr haben sollen, vor allem wenn man bedenkt, was sie durchgemacht haben.

Aber es besteht keine Verpflichtung, solche Vorbereitungskurse einzurichten?

Bis auf Weiteres besteht keine Verpflichtung. Wir wollen das System gerne flexibel halten. Die Situation ist in Großstädten anders als in kleineren Orten. Die Unterbringungs- sowie die finanziellen Möglichkeiten der lokalen Behörden sind unterschiedlich, ebenso wie die Bedürfnisse in Bezug auf die Anzahl der zu betreuenden Kinder.

Wir zwingen niemanden dazu, aber wir halten die Vorbereitungskurse für die bessere Lösung. Schließlich wissen wir nicht, wie lange die Kinder in Polen bleiben werden. Wir hoffen, dass dieser Krieg so bald wie möglich zu Ende ist und sie, und ihre Eltern, in die Heimat zurückkehren können. Unter diesem Gesichtspunkt macht es keinen Sinn, ukrainische Kinder in polnischen Klassen einzuschreiben.

Anders sieht es aus, wenn sie in den nächsten Monaten und Jahren in Polen bleiben. Die Vorbereitungskurse ermöglichen ihnen dann den schrittweisen Einstieg in das polnische Bildungssystem, sodass sie die polnische Sprache erlernen können und so, ab Beginn des Schuljahres am ersten September, in einer Klasse mit polnischen Kindern unterrichtet werden können.

In der öffentlichen Debatte taucht jedoch das Argument auf, dass die Kinder in den Vorbereitungskursen isoliert sind.

An Integration mangelt es nicht. Im Gegenteil. Die Kinder treffen sich auf dem Flur, während des Sportunterrichts, bei gemeinsamen Mahlzeiten, nehmen an Wettbewerben teil. Unsere Aufgabe ist es, uns um diese ukrainischen Kinder zu kümmern, damit sie so schnell wie möglich gesund und in guter Verfassung nach Hause zurückkehren können, denn sie werden in einer freien und unabhängigen Ukraine gebraucht. Integration ist sehr wichtig, aber sie sollte nicht mit Gewalt erfolgen und nicht auf Kosten von Kindern, die ein enormes Trauma erlebt haben.

Deshalb plädieren wir so nachdrücklich für die Einrichtung von Vorbereitungskursen. Die Aufnahme von Kindern aus der Ukraine sollte auch mit dem geringsten Schaden für das polnische Schulsystem erfolgen. Polnische Kinder brauchen einen ruhigen Unterricht, sie müssen sich auf Prüfungen, Zwischenprüfungen und Tests vorbereiten, und sie müssen ohne Ablenkung lernen können. Es ist äußerst wichtig, das Gleichgewicht zu halten.

Und wie wird die Einschulung der ukrainischen Kinder finanziert?

Der Betrag, der aus dem staatlichen Bildungszuschuss für den Unterricht von Kindern in Vorbereitungskursen bereitgestellt wird, ist um vierzig Prozent höher als der Betrag, der für einen Schüler in einer Grundschulklasse bereitgestellt wird. Das ist für die Kommunen von Vorteil.

Die Subvention fällt dadurch höher aus, weil die Zahl der Teilnehmer der Vorbereitungskurse geringer ist und es auch bleiben wird, und weil zusätzliche Lehrer, einschließlich Lehrerassistenten, eingestellt werden müssen. Auf jeden Fall werden bereits Lehrer aus der Ukraine, die Polnisch sprechen oder zumindest verstehen, für die Durchführung solcher Vorbereitungskurse eingesetzt.

Wann werden die Kommunen das Geld bekommen?

Die Überweisungen werden monatsweise erfolgen. Die Migration ukrainischer Flüchtlinge findet auch innerhalb Polens statt. Die Menschen sind auf der Suche nach dem besten Platz zum Leben. Nach der ersten Zeit der Unterbringung bei polnischen Familien wollen sie unabhängig werden. Daher die monatliche und nicht die jährliche Abrechnung, damit die Kommunen jederzeit über die notwendigen Mittel verfügen.

Was ist mit Lehrern aus der Ukraine, die in Polen arbeiten möchten?

Dank des vom Parlament verabschiedeten Flüchtling-Sondergesetzes sind die Regeln für die Einstellung von Lehrern aus der Ukraine sehr flexibel. Erforderlich ist lediglich die Erklärung der Lehrkraft, dass sie bereit ist, angestellt zu werden, und dass sie Polnisch spricht. Wir verlangen kein polnisches Sprachzertifikat. Solche Lehrkräfte werden auch als Hilfslehrer in den Vorbereitungskursen eingesetzt, damit die Schüler Kontakt zu Lehrern haben, die Ukrainisch oder Russisch sprechen.

Wir erstellen auch eine Liste ukrainischer Lehrer, die Arbeit suchen und an polnischen Schulen eingesetzt werden möchten. Ein solches Formular ist auf der Website des Ministeriums für Bildung und Wissenschaft verfügbar. Auf diese Weise kann jeder Lehrer, der aus der Ukraine kommt und über einigermaßen gute Polnischkenntnisse verfügt, an einer polnischen Schule eingestellt werden. Lehrkräfte, die kein Polnisch können, es aber lernen möchten, können an den Sprachkursen teilnehmen, die wir gerade einführen. Später werden sie mit diesen Fähigkeiten auf dem Arbeitsmarkt Fuß fassen können. Das Interesse an den Kursen ist groß. Es ist ein großes Anliegen ukrainischer Lehrer, im polnischen Bildungssystem zu arbeiten.

Vielleicht ist die Einstellung von Lehrern aus der Ukraine ein Mittel gegen den Personalmangel an polnischen Schulen?

Vielleicht. Ich wiederhole jedoch immer wieder: Es geht hier und heute nicht darum, die Lücken im polnischen Bildungssystem zu schließen. Es geht darum, sich um diejenigen zu kümmern, die der Hölle des Krieges entkommen sind. In einer freien Ukraine werden jedoch sowohl Kinder als auch Lehrer gebraucht, sobald der Krieg beendet ist. Solche Berechnungen können wir also nicht anstellen.

Wann wird die EU Polen helfen?

Je früher, umso besser, denn die Aufnahme ukrainischer Kinder in das polnische Schulsystem ist sehr teuer. Ich habe darüber mit den Bildungsministern der EU-Länder gesprochen und ich habe mit der EU-Kommissarin Gabriel gesprochen, die für Innovation, Forschung, Kultur, Bildung und Jugend zuständig ist.

Wir nehmen mehr als zwei Millionen Flüchtlinge auf und die EU-Kommission belegt uns mit Quasi-Sanktionen, indem sie die Auszahlung der Gelder aus dem EU-Wiederaufbaufonds, der im Zuge der COVID-19-Pandemie 2020 beschlossen wurde, wegen überzogener Rechtsstaatlichkeitsvorwürfe willkürlich blockiert. Dieses Geld muss freigegeben werden. Ich habe auch an Kommissarin Gabriel appelliert, die zu Unrecht eingefrorenen Mittel freizugeben, da sich darunter auch Gelder für Hochschulbildung und Wissenschaft befinden. In Anbetracht der dramatischen Situation tragen wir alle Kosten und die EU schaut zu.

Wie sieht es mit den Abiturprüfungen und den Abschlussprüfungen am Ende der Grundschule nach der achten Klasse für Ukrainer aus?

Wir werden bei der Aufnahme in die Sekundarschulen und zum Studium keine Präferenzen für Kinder aus der Ukraine einführen. Polnische Kinder haben das Recht, die Schule ihrer Träume zu besuchen. Wenn wir ukrainischen Kindern eine privilegierte Position einräumen, würden viele Probleme und unnötige Spannungen entstehen. Daher werden ukrainische Schüler auf der gleichen Grundlage wie polnische Schüler behandelt.

Stehen Flüchtlingen aus der Ukraine die Türen zu polnischen Universitäten offen?

Ja, natürlich. Die Nationale Agentur für Akademischen Austausch verfügt über Gelder zur Unterstützung dieser Studenten. Wir haben uns im Rahmen des Sondergesetzes auch um polnischstämmige Studenten aus der Ukraine gekümmert, und das sind Hunderte, denen wir bereits einen Studienplatz an polnischen Universitäten zu finanziellen Bedingungen gesichert haben, die mit denen in der Ukraine vergleichbar sind. Die restlichen Gelder werden vom Ministerium für Bildung und Wissenschaft bereitgestellt.

Zu welchem Zweck haben Sie den Rat für die Bildung von Flüchtlingen gegründet?

Dieser Rat setzt sich aus ehemaligen Bildungsministern und ihren Stellvertretern, aus Mitgliedern des Parlamentarischen Ausschusses für Bildung, Wissenschaft und Jugend, Kommunalpolitikern sowie Schulleitern aus verschiedenen Teilen Polens zusammen. Es geht um den Austausch von Erfahrungen, Ideen und Kommentaren. Wir befinden uns in einer außergewöhnlichen Situation. Wir alle lernen, in ihr zu leben. Deshalb ist es gut, auf erfahrene Menschen, Praktiker, zu hören, um die jetzige Flüchtlingskrise zu bewältigen. Wir haben immer mehr ukrainische Kinder in den Schulen. Wir müssen nach Lösungen suchen, die diesen Kindern zugutekommen, aber gleichzeitig die Bildung polnischer Kinder nicht beeinträchtigen.

Wann kehrt in die Schulen die Wehrerziehung zurück? Was werden die Kinder lernen?

Ab dem 1. September wird das Fach Wehrerziehung die wichtigsten Bestandteile der Ausbildung zur Verteidigung, gemeinsam mit Schießunterricht und verteidigungsbezogenem Wissen, umfassen. Das ist notwendig. Heute haben wir die Zustimmung der Gesellschaft zur Wiedereinführung der elementaren Wehrerziehung.

Die Kinder sehen, was um sie herum geschieht, sie wissen, dass hinter unserer Ostgrenze ein Krieg stattfindet. Wir können nicht so tun, als gäbe es dieses Thema nicht. Wir müssen mit den Kindern auf kluge Weise über den Krieg sprechen. Wir müssen betonen, dass wir nicht allein dastehen und sicher sind, dass wir dem stärksten Verteidigungsbündnis der Welt angehören, dass Polen sich noch nie in seiner Geschichte in einer besseren sicherheitspolitischen Lage befand. Aber wer Frieden will, muss sich auf den Krieg vorbereiten.

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RdP

Das Interview erschien im Wochenmagazin „Sieci“ („Netzwerk“) vom 28. März 2022.