Das Wichtigste aus Polen. 30. Oktober bis 24. Dezember 2023

Aleksandra Rybińska und Janusz Tycner diskutieren über die Auswirkungen der Parlamentswahlen in Polen ♦ Kurzzeitregierung Morawiecki ♦ Regierung Tusk. Kurswechsel um 180 Grad ♦ „Demokratisierung“ mit brachialen Methoden ♦ Neue Ukraine-Politik im Fahrwasser Berlins.




21.04.2023. Die Flinte nicht ins ukrainische Korn geworfen

Ende gut, alles gut? Die Lage jedenfalls ist im Griff. Die Flut des ukrainischen Weizens ergießt sich seit einigen Tagen nicht mehr unkontrolliert über ganz Polen. Erlaubt sind nur noch verplombte Eisenbahntransfers von der ukrainischen Grenze zu den polnischen Häfen. Wie bereits alle Kraftstofftransporte in Polen, werden die Getreideladungen jetzt zudem von Zoll und Steuerfahndung elektronisch überwacht.

Die Behörden haben buchstäblich im letzten Augenblick die Reißleine gezogen und damit einen gewaltigen Bauernaufruhr abgewendet. Sie überrumpelten Brüssel mit einem sofortigen Importstopp für alle ukrainischen Agrarprodukte. Ungarn, die Slowakei, Rumänien und Bulgarien schlossen sich bald darauf an, und Kiew wurde am Verhandlungstisch dazu gebracht, der neuen Regelung zuzustimmen. Dabei wurde lediglich der Zustand hergestellt, der von Anfang an hätte gelten sollen.

Die gut gemeinte Solidarität mit der Ukraine hat die polnischen Regierenden monatelang alle Warnungen in den Wind schlagen lassen. Derweil sind seit Juli 2022, als die EU für ein Jahr alle Importzölle für ukrainische Einfuhren aufgehoben hatte,  knapp 1,3 Millionen Tonnen Mais, knapp 800.000 Tonnen Weizen und ca. 700.000 Tonnen ukrainischer Raps nach Polen gelangt.

Eigentlich sollten sie über polnische Häfen nach Afrika gebracht werden. Doch in den meisten Fällen geschah genau das nicht. Ukrainische Lkw hielten stattdessen vor großen und kleinen Futtermittelfirmen, Getreide- und Ӧlmühlen, Silo-Großanlagen, um ihre billige Fracht abzuladen. Auf riesigen Flächen fruchtbarster Schwarzböden, bei niedrigen Arbeitskosten und ohne die zahlreichen kostspieligen EU-Vorgaben, erzielen heute dänische, holländische und deutsche Agrarfirmen in der Ukraine Rekorderträge zu Niedrigpreisen, mit denen keine EU-Landwirtschaft mithalten kann.

Die Nachfrage nach polnischem Getreide sank dramatisch und genauso sanken die Preise. Eine Tonne Konsumweizen kostete Anfang April 2023  maximal 1.150 Zloty, während mindestens 1.400 Zloty notwendig sind, um den Bauern eine kleine Gewinnmarge zu gewähren. Nach der Schließung der Grenze für unkontrollierte ukrainische Einfuhren will die Regierung den Bauern nun die entstandene Differenz pro Tonne auszahlen. Staatliche Siloanlagen sollen den polnischen  Weizen aufnehmen, damit die Speicher der Bauern bis zur Ernte leergeräumt sind. Nur so ist der Ruin von Abertausenden von Bauern abwendbar.

Bevor die Abwehrmaßnahmen im Hauruckverfahren eingeführt wurden, versuchte Landwirtschaftsminister Henryk Kowlaczyk, ein enger Vertrauter des Recht-und-Gerechtigkeit-Chefs Jarosław Kaczyński, schnell noch die Katastrophe, deren Herannahen er zunächst tatenlos zugesehen hatte, im Einvernehmen mit der Brüsseler EU-Zentrale, in deren Kompetenz die Handelspolitik fällt, abzuwenden. Dort sah man jedoch keinen Grund zu schnellem Handeln, um der ungeliebten Warschauer Regierungsmannschaft aus der Bredouille zu helfen.

Anders in Warschau. Im Oktober 2023 finden in Polen Parlamentswahlen statt. Der Unmut der Bauern, der traditionellen Wahlklientel der Nationalkonservativen, würde die seit 2015 regierende Partei zweifelsohne um den dritten Wahlsieg in Folge bringen.

Obwohl eigentlich ein enger Vertrauter, wurde Landwirtschaftsminister Kowalczyk im Nu an die Luft gesetzt. Der Einfuhrstopp trat am 16. April mit sofortiger Wirkung in Kraft. Polen berief sich dabei auf die EU-Verordnung Nr. 478 aus dem Jahr 2015. Diese sieht vor, dass ein EU-Staat Einfuhrverbote und -beschränkungen verhängen kann, wenn dies wegen Gefährdung der öffentlichen Ordnung geboten ist. Und die Gefahr war in diesen Tagen in Polen wahrlich im Verzug. Tausende von Treckern standen bereit, um das Land lahmzulegen.

Kaczyński und seine Umgebung stellten wieder einmal ihre viel  gepriesene Handlungsfähigkeit unter Beweis, diesmal jedoch bei der Abwehr einer Gefahr, die sie lange ignorierten und die sie problemlos hätten im Keim ersticken können.

Das geschah zum Unmut Moskaus, wo man sehr auf eine anti-ukrainische Wende im polnischen Volksempfinden gehofft hatte. Ebenso in Deutschland. Die Zeitung „Die Welt” frohlockte bereits: „Diese Aktion Polens stellt die Loyalität zur Ukraine infrage”. Seht her, sind nicht auch die unbequemen polnischen Musterhelfer im Grunde nur kleinliche Egoisten? Und ist Polens Uneigennützigkeit, aus der seine wachsende Bedeutung in der europäischen Politik aufkeimen soll, eine Mär?

Am meisten enttäuscht ist jedoch die „totale”, wie sie sich selbst nennt, Opposition mit Donald Tusk an der Spitze. Im Unmut der Bauern witterte sie eine neuen Gamechanger, die Chance, eine schnelle Wende zu eigenen Gunsten herbeizuführen. Wo sie schon die Hoffnung auf einen harten Winter aufgeben musste, mit erfrorenen alten Menschen in ihren Wohnungen, unbezahlbaren Strom- und Heizkosten, einem Brotpreis von 30 Zloty (ca. 6,50 Euro, heute kostet 1 kg Brot durchschnittlich 8 Zloty, d.h. ca.1,75 Euro).

Doch die Zustimmungswerte für die Regierenden klettern seit Wochen beständig auf die 40-Prozent-Marke zu. Donald Tusk und die ihm genehmen Medien tun plötzlich so, als hätte es ihre dramatischen Aufrufe zur Grenzschließung nie gegeben. Jetzt prangern sie die „mangelnde Solidarität mit der Ukraine” an, sehen in den Sofortmaßnahmen eine „EU-feindliche Eigenmächtigkeit”, „einen neuen Anlauf zum Polexit” und „puren Wahlkampf”.

In Wahrheit jedoch hat das im letzen Augenblick aufgerüttelte Polen drastische Maßnahmen ergriffen, um die EU und die Ukraine zum Handeln zu zwingen, und es war erfolgreich. Die ursprüngliche Idee, ukrainisches Getreide durch Polen auf den Weg nach Afrika zu bringen, musste wiederbelebt werden, nicht mit dem Ziel, der Ukraine das Leben schwer zu machen, sondern den polnischen Landwirten keine Probleme zu bereiten und den sozialen Frieden zu wahren.

RdP




11.04.2023. Putins Morden macht den ukrainischen Völkermord nicht ungeschehen

Der Staatsbesuch Wolodymyr Selenskyjs in Warschau am 5. April 2023 war ein einziges Festival beiderseitiger Bekundungen von Einigkeit, Solidarität und engster Verbundenheit im Kampf gegen den russischen Überfall auf die Ukraine. In den ansonsten gewohnt kämpferischen und in Warschau mit stürmischem Beifall überschütteten Reden des Gastes, in seinen Lobeshymnen auf die Hilfs- und Opferbereitschaft „unserer polnischen Brüder und Schwestern”, tauchte jedoch das schwierigste historische Thema, die ukrainischen Wolhynienmassaker an etwa 100.000 Polen zwischen 1943 und 1945, nicht auf.

Nach dem Überfall Russlands auf die Ukraine im Februar 2022 wurde es von polnischer Seite ganz und gar ausgeklammert. Es sollte in solch harten Zeiten die Beziehungen zu dem sich kämpfend verteidigenden Land nicht belasten. Das funktioniert bis heute, doch immer mehr Polen, auch wenn sie ansonsten hundertprozentig hinter der Ukraine stehen, fällt es schwer, Kiews diesbezügliches beharrliches Schweigen ohne Weiteres hinzunehmen.

Ihre Frage lautet: Sind nicht gerade die grausamen russischen Verbrechen an der ukrainischen Zivilbevölkerung der richtige Anlass für die ukrainischen Eliten, über die Verbrechen der ukrainischen Nationalisten während des Zweiten Weltkriegs nachzudenken? Das ist schwierig und erfordert Mut von der ukrainischen Führung. Wolodymyr Selenskyj, der in anderen Fragen sehr schneidig daherkommt, legt hier eine geradezu beklemmende Hasenfüßigkeit an den Tag.

Im Sommer 1943 machten sich ukrainische  Nationalistenführer: Stepan Bandera, Roman Schuchewytsch, Dmytro Kljatschkiwskyj, Mykola Lebed und andere erneut daran, eine polen- und judenfreie Ukraine zu schaffen. Es war ein von langer Hand vorbereiteter Völkermord, der unter der Schirmherrschaft der deutschen Besatzer stattfand.

Ehemalige ukrainische Hilfspolizisten, die sich bereits bei den Massenmorden an Juden „bewährt” hatten, auch Mitglieder ukrainischer KZ-Wachmannschaften folgten massenhaft dem Aufruf der Nationalisten und desertierten mit ihren Waffen in die Partisanenabteilungen der Ukrainischen Aufständischen Armee. Begleitet von Horden aufgestachelter ukrainischer Bauern, leisteten sie ab Juli 1943 ganze Arbeit. Wichtigster Schauplatz dieses Völkermordes war Wolhynien.

Häuser, Gärten, Kirchen, Friedhöfe und alle anderen Anzeichen  jahrhundertelanger polnischer Anwesenheit in Wolhynien haben Banderas Helden dem Erdboden gleichgemacht und diese Erde in den meisten Dörfern umgepflügt. Wo einst  polnisches Leben war, pfeift heute der Wind über die Brachen oder wogt der ukrainische Weizen.

An mindestens 2.122 Orten wurden polnische Zivilisten, die Großeltern der heutigen polnischen „Brüder und Schwestern”, Kinder jeden Alters, Frauen, Männer, Greise, in wahren Blutorgien, zumeist mit Äxten, Messern, Mistgabeln und Holzknüppeln umgebracht. Ihre sterblichen Überreste haben die ukrainischen Mörder wie Tierkadaver in anonymen Gruben verscharrt. Bis heute verweigert die Ukraine Polen, sie zu bergen und sie menschenwürdig zu bestatten. Dahinter verbirgt sich die panische Angst, dass Hunderte von Gedenkorten in Wolhynien der Ӧffentlichkeit das wahre Ausmaß des bis jetzt beharrlich geleugneten Völkermordes vor Augen führen würden.

Das wiederum würde die Frage nach sich ziehen, warum die Massenmörder und die geistigen Urheber dieser Taten: Bandera, Kljatschkiwskyj, Schuchewytsch, Lebed usw., genauso wie die ukrainischen Freiwilligen der verbrecherischen SS Division „Galizien” in der Westukraine mit unzähligen Denkmälern, Gedenktafeln, Umzügen sowie mit Publikationen, und mit Sondermarken der ukrainischen Post zu Galionsfiguren der ukrainischen Freiheit stilisiert werden. Sie gelten als unbefleckte Patrioten und Helden des späteren Kampfes gegen die Sowjets, die 1944 die Westukraine von den Deutschen zurückerobert haben. Was sie zuvor anrichteten, wird geflissentlich ausgeblendet.

Die intellektuelle Elite der Ukraine ist offensichtlich nicht bereit, das einzusehen und daraus die Konsequenzen zu ziehen. Und Polen?

Polen sollte Selenskyj nicht dazu zwingen, denn das Wichtigste ist jetzt der Sieg an der Front und die zukünftige Sicherheit unseres Teils von Europa. Die Eliten in Kiew müssen selbst erkennen, dass das Wegschauen nicht ewig dauern kann.

Es wird nämlich schwer zu vereinbaren sein, Putin vor den Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag zu schicken und gleichzeitig Bandera zu loben. Und wie lange kann man die russischen Gräueltaten an einigen Hundert Zivilisten in Butscha als Völkermord bezeichnen und gleichzeitig die Wolhynienmassaker abstreiten oder behaupten, dass das ukrainische Abschlachten Zehntausender polnischer Zivilisten kein Völkermord, sondern höchstens eine weitere Ausprägung „ukrainisch-polnischer Zwistigkeiten” war.

Vor zwanzig Jahren hatte es den Anschein, als wäre die offizielle Ukraine bereit, sich in Sachen Wolhynien mit der Wahrheit zu messen. Im wolhynischen Pawliwka, dem früheren polnischen Poryck, wo im Juli 1943 ukrainische „Freiheitskämpfer” 222 Polen bestialisch ermordet hatten, sagte Staatspräsident Aleksander Kwaśniewski, neben ihm der ukrainische Präsident Leonid Kutschma: „Kein Ziel oder Wert, selbst ein so hehres wie die Freiheit und Souveränität einer Nation, kann Völkermord, das Abschlachten von Zivilisten, Gewalt und Vergewaltigung, das Zufügen von grausamen Leiden an Mitmenschen rechtfertigen“. Und er fügte hinzu, dass nicht das gesamte ukrainische Volk für dieses Verbrechen an den Polen verantwortlich gemacht werden könne.

„Wir wollen unsere Versöhnung auf der Wahrheit aufbauen: das Gute als gut und das Böse als böse bezeichnen“, diese Worte Kwaśniewskis aus dem Jahr 2003 muss man den ukrainischen Verantwortlichen von heute wieder in Erinnerung rufen. Und warten.

RdP




23.02.2023. Joe Bidens klare Warschauer Ansagen. Auch an Deutschland

Neuigkeiten brachte Joe Biden nach Warschau nicht mit. Doch wer die Rede des US-Präsidenten vom 21. Februar 2023 in den Gärten des Warschauer Schlosses mit der geringschätzigen Bemerkung abtut, Biden habe „mit viel Pathos nichts Neues verkündet“, der verkennt nicht nur die enorme Bedeutung der Botschaft, die die Ansprache enthielt, sondern auch den Ernst der Lage, in der Biden das Wort ergriff.

Die Rede des US-Präsidenten fiel nicht nur in die Woche des Jahrestages des russischen Überfalls auf die Ukraine, sondern auch in eine schwierige Phase des Krieges. Den Verteidigern gehen Munition und Männer aus, während Putin immer neue Truppen an die Front wirft. Auch wenn die Frühjahrsoffensive der Russen noch keine Erfolge zeigte, so kommen doch bange Fragen und nagende Zweifel auf: Wie lange hält die Ukraine noch durch? Bekommt sie weiterhin die erforderliche Unterstützung? Spekuliert man im Kreml zu Recht darauf, dass sich Kriegsmüdigkeit im Westen breitmacht und die Ukraine ihrem Schicksal überlassen wird?

All dem musste und wollte Biden entgegentreten, und hielt sich dabei an die antike Erkenntnis „Repetitio est mater sapientiae“, dass „die Wiederholung die Mutter der Weisheit“ sei. Er trug seine Warschauer Rede mit typisch amerikanischem Pathos vor und fand einfache und klare Worte, mit denen er die Haltung Amerikas mit Nachdruck bekräftigte. Falls jemand Zweifel an der Entschlossenheit der USA gehabt haben sollte, der Ukraine weiterhin zu helfen, nach Bidens Warschauer Rede dürften sie zerstreut sein.

Die Ansprache hatte mehrere Adressaten, denen sie unmissverständlich klarmachen sollte, wie Amerika denkt und wie es zu verfahren gedenkt.

Zum einen die Ukraine. Das wichtigste Signal in diese Richtung hatte Biden bereits am Vortag mit seinem unerwarteten Kurzbesuch in Kiew gegeben. In Warschau verkündete er dann ausdrücklich, dass die USA an der Seite der Ukraine bleiben werden, „solange es nötig ist“. „Die Ukraine wird niemals zu einem Sieg für Russland. Niemals“, rief der Präsident. „Es sollte keine Zweifel geben: Unsere Unterstützung für die Ukraine wird nicht nachlassen“.

Zum anderen Russland. Putin erlebe nun etwas, das er nicht für möglich gehalten hätte. Er habe den Westen auf die Probe gestellt mit der Frage, ob sein Angriff unbeantwortet bleibe. „Als er seine Panzer in die Ukraine beorderte, dachte er, wir würden wegschauen“, doch der Westen habe nicht weggeschaut. „Wir waren stark.“ Nun sei klar, dass die Antwort laute: „Russland wird in der Ukraine niemals siegen“.

Der US-Präsident wandte sich auch an die Menschen in Russland: „Die Vereinigten Staaten und die europäischen Nationen wollen Russland nicht kontrollieren oder zerstören“. Der Westen habe vor Kriegsbeginn nicht vorgehabt, Russland anzugreifen, wie Putin behauptet. „Jeder Tag, an dem der Krieg weitergeht, ist seine Entscheidung. Er könnte den Krieg mit einem Wort beenden. Es ist ganz einfach.“

Adressaten waren auch das Gastgeberland Polen und weitere acht Staaten der „Bukarest Neun“, die osteuropäischen Nato-Länder von Estland bis Bulgarien, mit deren Staats- und Regierungschefs sich Biden am Tag darauf in Warschau getroffen hatte. Diese Länder stellen die vorderste Front der kollektiven Verteidigung.

Biden sagte das, was von ihm erwartet wurde. Er bekannte sich unmissverständlich zu Artikel 5 des Nato-Vertrages, der gegenseitigen Beistandsverpflichtung. „Ein Angriff auf einen ist ein Angriff auf alle“, rief er der Menge zu. Jeder Zentimeter des Bündnis-Territoriums werde verteidigt. Das sei ein „heiliger Eid“. Alles andere wäre eine Überraschung gewesen, doch gerade im östlichen Mitteleuropa kann dieses Bekenntnis nicht oft genug beteuert werden.

Mit seinem zweiten Besuch in Warschau innerhalb eines Jahres unterstrich Biden unmissverständlich, dass er Polens Schlüsselrolle und seine enormen Anstrengungen, der Ukraine zu helfen, zu würdigen weiß. An das Leid der Flüchtlinge erinnernd, lobte er die Polen für ihre „außerordentliche Großzügigkeit“ in deren dunkelster Stunde. Der polnischen Präsidentengattin rief er gar „I love you“ zu, nachdem er ihren Einsatz für Flüchtlinge gewürdigt hatte.

Polen mit seiner knapp 500 Kilometer langen Grenze zur Ukraine hat fast zwei Millionen Ukrainer aufgenommen und inzwischen weitgehend integriert, ohne sie in Flüchtlingslager oder Sammelunterkünfte zu stecken. Es liefert in großem Ausmaß Munition, Waffen, darunter gut dreihundert Panzer, Kampfausrüstung jeglicher Art, repariert unter Hochdruck beschädigtes Kriegsgerät, trainiert ununterbrochen ukrainische Soldaten und fungiert als Drehscheibe für fast alle ausländischen Waffenlieferungen, die die Ukraine auf dem Landweg erreichen.Gleichzeitig finanziert es zu einem bedeutsamen Teil die Stationierung von knapp 11.000 amerikanischen Soldaten auf seinem Territorium.

Warschau preschte auch wiederholt mit Initiativen zur militärischen Unterstützung für Kiew vor, es fordert ständig neue Sanktionen, mobilisiert andere hilfswillige Staaten und wird nicht müde, Nachzügler zu brandmarken. Russland, so die Warschauer Sicht, muss möglichst dauerhaft angriffsunfähig gemacht werden. Genauso denkt man in Washington.

Dass Biden zum zweiten Mal seit März 2022 nach Polen flog, ohne in Berlin zwischenzulanden, gibt zu denken. Man darf davon ausgehen, dass seine klaren Warschauer Botschaften auch an die unzähligen deutschen Bedenkenträger, Zauderer, Bremser, Russlandversteher und Russlandeinbinder, Kreml-Dialogbeschwörer, Putins Telefonpartner und Friedensstifter auf Kosten der Ukraine gerichtet waren. Haltungen, deren Konsequenzen die Ukraine tragen muss.

Es ist nicht vorstellbar, dass Joe Biden seine klaren Botschaften vor dem Berliner Schloss, am Lustgarten, hätte verkünden können, ohne wütende Proteste und gellende Pfeifkonzerte zu ernten. In der Frontstadt Westberlin war John F. Kennedy noch „ein Berliner“. Im Frontstaat Polen ist Joe Biden ein Warschauer. So ändern sich die Zeiten.

RdP




18.01.2023. Leo bleibt nicht in Lodz

Es gibt die Logik der Schützengräben und es gibt die Logik der politischen Kabinette. Nur manchmal, für eine gewisse Zeit, gelingt es, sie miteinander in Einklang zu bringen.

Es geschah am 1. März 2022. Wenige Tage nach Beginn des russischen Überfalls auf die Ukraine, hat eine ukrainische Aktivistin den damaligen britischen Premierminister Boris Johnson auf einer Pressekonferenz in Warschau zur Rede gestellt. Sie warf ihm vor, er habe Angst nach Kiew zu fahren, wo Bomben auf ukrainische Kinder fallen. Und die Nato wolle nicht für die Verteidigung der Ukraine kämpfen oder wenigstens ein Flugverbot für den ukrainischen Luftraum verhängen, um den Dritten Weltkrieg nicht herauszufordern.

Die Erwartung, die Nato würde sich auf einen Krieg mit der Atommacht Russland einlassen, galt sogar für die größten Freunde der angegriffenen Ukraine als unzumutbar. Außerdem ereignete sich der Zwischenfall in Warschau bereits einige Wochen vor der Entdeckung der russischen Kriegsverbrechen, die durch Butscha symbolisiert werden. Danach änderte sich im Westen die Einstellung zum Krieg. Boris Johnson reiste als einer der ersten westlichen Politiker nach Kiew, und sein Land wurde zu einem der wichtigsten Verbündeten der Ukraine, auch in Sachen Waffenlieferungen.

Eines hat sich sicherlich nicht geändert: Niemand im Westen, auch nicht Polen, will den Dritten Weltkrieg. Und das ist verständlich. Auch die Errichtung einer Flugverbotszone ist nach wie vor unmöglich.

Ansonsten ist es aber schon zur Regel geworden, dass die öffentliche Meinung den Politikern in der Frage der Waffenlieferungen an die Ukraine stets deutlich voraus ist. Unter ihrem Druck verschiebt sich die Grenze dessen, was den Ukrainern gegeben werden kann, darf und soll. Leider geschieht das viel zu langsam, auch wenn die Angst vor Putins nuklearer Vergeltung mit jeder überschrittenen Schwelle abnimmt.

Nach fast einem Jahr des Krieges ist man bei Panzern aus westlicher Produktion angelangt. Wir in Polen überlegen nur noch, wie wir unsere Leopardpanzer am schnellsten den Ukrainern zukommen lassen können. Derweil grübeln die Deutschen darüber nach, ob sie sie aus eigenen Beständen abgeben und den anderen, so auch uns, erlauben sollen, diese Panzer bereitzustellen. Als Hersteller der Leos hat Deutschland das letzte Wort.

Die Logik des Zauderns prallt wieder einmal mit der Logik der Schützengräben und der in Kälte, Dunkelheit und Ruinen ausharrenden Ukrainer zusammen: „Lasst uns die Angreifer vertreiben und ihnen die Möglichkeit nehmen, Raketen auf unsere Köpfe abzuschießen. So bald wie möglich!“.

Jeder Tag, an dem in Berlin beraten wird, bedeutet weitere tote Soldaten und Zivilisten, mehr Waisen, mehr Menschen, die für ihr Leben traumatisiert sind, und solche, die sich entschließen zu flüchten.

Die Logiken der Kabinette und der Schützengräben können miteinander in Einklang gebracht werden. Was noch im Wege steht, ist der Widerstand des deutschen Bundeskanzlers, der von Polen, Frankreich, Holland, Norwegen, dem Vereinigten Königreich, anderen Verbündeten und deutschen Politikern, auch aus seiner eigenen Regierung, unter Druck gesetzt wird. Am Ende seines schon zum Ritual gewordenen Zauderns wird Olaf Scholz nachgeben müssen.

Doch machen wir uns nichts vor. Dieser Einklang wird von kurzer Dauer sein und es wird so kommen, wie schon oft zuvor. In Anbetracht der Größe des ukrainischen Kriegsschauplatzes werden es zu wenige Panzer sein, und sie werden spät, vielleicht sogar zu spät kommen.

Der Verschleiß an Waffen und Munition ist auf der ukrainischen Seite gewaltig. Um den Sieg davontragen zu können, werden uns die Ukrainer schon bald um Kampfhubschrauber und Flugzeuge, um noch weiter reichende Kanonen und Raketenabschussvorrichtungen, womöglich gar um Kriegsschiffe bitten. So gesehen, blickt das deutsche Zaudern, Schwanken und Innehalten in eine große Zukunft.

RdP




3.07.2022. Botschafter Melnyk ist zu weit gegangen

In einer Zeit, in der Russland in seinem Land schlimmste Kriegsverbrechen begeht, relativiert der weltweit bekannteste Botschafter der Ukraine die entsetzlichen Verbrechen der ukrainischen Nationalisten unter Stepan Bandera. Trotz der raschen Reaktion von Politikern aus Warschau und Kiew werden die Äußerungen von Andrij Melnyk länger im Gedächtnis bleiben und das polnisch-ukrainische Vertrauen untergraben. Putin darf sich freuen.

Andrij Melnyk hatte sich bisher auf die Kritik an Deutschland spezialisiert, wo er seit vielen Jahren Botschafter ist. Er ist eine Berühmtheit, die die deutschen Fernseh- und Rundfunkstudios kaum noch verlässt. Seine wahrlich undiplomatischen Kommentare sollten Politik und Öffentlichkeit in der Phase der deutschen Sowohl-als-auch Zeiten-Halbwende wachrütteln, beschämen, zum Umdenken und entschlossenen Handeln bewegen.

Bei der Kritik an Melnyk trafen sich die Entspannungsromantiker (War doch nicht alles schlecht), die Patrioten (Wie kann man es wagen, über unseren Bundespräsidenten oder Bundeskanzler die Wahrheit zu sagen), die Angsthasen (Aber wenn der Putin dann böse mit uns ist…), die Geizhälse (Auf etwas Wohlstand verzichten, niemals…), die Chauvinisten (Der Melnyk soll still sein, der vertritt ja ein korruptes Lan…), die Altlinken (Egal, was kommt, wir stehen zum Land der Oktoberrevolution), die Wirtschaftsfreunde (Embargos sind schlecht fürs Geschäft)…. In Anbetracht solch einer Gesellschaft kann man durchaus sagen, „Viel Feind, viel Ehr.“

Dieses Mal jedoch, verteidigte Melnyk in einem Interview eifrig Stepan Bandera. Für ihn ist der von der Ukrainischen Aufständischen Armee an etwa hunderttausend Polen zwischen 1943 und 1945 begangene bestialische Völkermord eine verständliche, wenn nicht gar legitime, blindwütige Vergeltung für die Diskriminierung von Ukrainern in Polen vor dem Zweiten Weltkrieg und ansonsten nichts Besonderes. Die Polen nutzen das Thema politisch aus und Moskau verbreitet bis heute falsche Behauptungen über die Ermordung von vielen Tausend Juden durch Banderas Mordbanden, so Melnyk.

Nach dem Einmarsch Russlands in der Ukraine wurden die schwierigen historischen Fragen auf polnischer Seite in Bezug auf die Ukraine mit Erfolg zum Schweigen gebracht. Sie sollten in solch harten Zeiten die Beziehungen zu dem sich kämpfend verteidigenden Land nicht belasten. Das funktionierte, fiel aber vielen Polen nicht leicht.

Hierbei geht es darum, dass Massenmörder und die geistigen Urheber dieser Taten wie Bandera, Dmytro Kljatschkiwskyj, Roman Schuchewytsch, Mykola Lebed und Dutzende andere, in der Westukraine mit Denkmälern, Gedenktafeln, in Umzügen und Publikationen zu Helden stilisiert werden. Gleichzeitig verweigert die Ukraine bis heute Polen, die sterblichen Überreste der in Massengräbern verscharrten polnischen Zivilisten, die zumeist mit Äxten, Messern, Mistgabeln und Holzknüppeln umgebracht wurden, zu bergen und sie menschenwürdig zu bestatten.

Ihre Häuser, Gärten, Kirchen, Friedhöfe und alle anderen Zeichen ihrer jahrhundertelangen Anwesenheit in Wolhynien haben Banderas Helden dem Erdboden gleichgemacht und diese Erde in vielen Dutzenden von Dörfern umgepflügt. Sie haben bei der groß angelegten ethnischen Säuberung, der die deutschen Besatzer tatenlos zusahen, ganze Arbeit geleistet. Wo einst polnisches, aber auch jüdisches und tschechisches (auch einige Tausend Tschechen waren in Wolhynien ansässig) Leben war, pfeift der Wind über die Brachen oder wogt der begehrte ukrainische Weizen,

Deshalb lösten die Worte eines bekannten Diplomaten einen solchen Schock und Empörung in Polen aus. Die polnische Diplomatie war sich der Folgen für das Bündnis zwischen Warschau und Kiew bewusst, das während des Krieges mühsam und aufopferungsvoll aufgebaut worden war, und eilte zu Hilfe. Außenminister Zbigniew Rau und Minister Jakub Kumoch aus dem Präsidialamt beruhigten die Situation auf Twitter. Das ukrainische Außenministerium distanzierte sich von Melnyk und griff schnell ein. Die Äußerungen des Botschafters seien dessen private Meinung, die nicht mit der Position des Außenministeriums übereinstimme.

Es ist merkwürdig, dass das die private Meinung eines Botschafters ist. Sie passt zu einem nationalistischen Kolumnisten oder rechtsradikalen Aktivisten, nicht jedoch zu einem Diplomaten. Melnyks Worte lassen sich nicht so einfach ausradieren. Er hat Polen, dem treuesten Verbündeten der Ukraine in der Not, schwer zugesetzt und seinem Land in einer Zeit geschadet, in der es an der Front Niederlagen einstecken muss und vom müden Westen zunehmend unter Druck gesetzt wird, den Krieg zu Putins Konditionen zu beenden.

Vor fünf Monaten sorgten die Worte des deutschen Marinekommandeurs Vizeadmiral Kay-Achim Schönbach für große Empörung. Zu einer Zeit, als Russland Zehntausende von Truppen an die Grenze zur Ukraine schickte, äußerte sich Schönbach bei einem Treffen in Indien über Putin, der Respekt verdiene, und über die Krim, die nie wieder unter die Kontrolle Kiews zurückkehren werde. Es handelte sich dabei um die private Meinung eines ranghohen Militärs, auch wenn einige vermuteten, dass er eine weit verbreitete deutsche Gesinnung offenbart hatte. Kurz danach wurde Schönbach abberufen.

Botschafter Melnyk kritisierte Schönbach besonders heftig und sprach von deutscher Arroganz und Größenwahn. Er begrüßte die Absetzung des deutschen Marinebefehlshabers, war aber der Ansicht, dass das keine ausreichende Reaktion Berlins sei: Es reiche, so Melnyk, nicht aus, um das Vertrauen wiederherzustellen. Wie wahr.

RdP




Zwei Millionen Flüchtlinge. Polen, was nun?

Es gilt vieles zu überdenken.

Polen gelang es, den ersten gewaltigen Ansturm der ukrainischen Kriegsflüchtlinge in geordnete Bahnen zu lenken. Wie ging das vonstatten? Welche technischen und organisatorischen Schwierigkeiten, welche Ängste und Vorbehalte der Ankömmlinge galt es zu überwinden? Wie will man diejenigen, die in Polen bleiben wollen, integrieren? Antworten bringt das nachfolgende Gespräch mit Paweł Szefernaker, dem Regierungsbevollmächtigten für Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine.

Paweł Szefernaker.

Paweł Szefernaker, geb. 1987. Jurist und Verwaltungsfachmann. Seit 2010 Politiker der Partei Recht und Gerechtigkeit. Zwischen 2014 und 2018 Chef der Parteijugend. Seit 2015 Sejm-Abgeordneter. Ab Januar 2018 Staatssekretär im Innenministerium. Seit April 2022 Regierungsbevollmächtigter für Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine.

Wissen Sie noch, was Sie am 24. Februar, dem Tag, an dem Russland die Ukraine überfallen hat, gemacht haben?

Paweł Szefernaker: Wir hatten uns schon viele Tage lang unter Hochdruck auf mögliche Fluchtszenarien vorbereitet. Am Vortag dauerte die Arbeit bis spät in die Nacht. Gegen sechs Uhr morgens weckte mich der Anruf meines Chefs Mariusz Kamiński, des Ministers für Inneres und Verwaltung. Er ordnete die Einrichtung von Auffangstationen an der polnisch-ukrainischen Grenze an.

Warum wurden ausgerechnet Sie mit dieser Aufgabe betraut?

Die Empfangsstellen für Flüchtlinge sollten die Woiwoden (Regierungspräsidenten – Anm. RdP) vorbereiten. Und die Aufsicht über die Woiwoden ist mein Tätigkeitsbereich im Ministerium.

Wann haben Sie begonnen, sich auf eine mögliche Flüchtlingswelle vorzubereiten?

Einige Wochen vor Ausbruch des Krieges begannen die regelmäßigen Videokonferenzen mit den sechzehn Woiwoden. Aktionspläne wurden aktualisiert, die vor Ort vorhandenen Ressourcen überprüft, Nachschub geliefert.

Die Opposition und deren Medien hatten noch vor dem russischen Überfall behauptet, die Regierung tue nichts gegen die möglichen Folgen des Krieges an den Grenzen. Die Regierung hat dazu geschwiegen. Warum?

Grenzwoiwodschaften Lublin (oben) und Karpatenvorland.

Das sind sehr sensible Themen. Zu viel Lärm kann Panik auslösen, ernsthafte wirtschaftliche Folgen haben. Deshalb haben wir uns auf konkrete Maßnahmen konzentriert, nicht auf Gespräche. Wichtig war vor allem, die vorhandenen Krisenpläne auf das Management großer Flüchtlingsströme anzupassen. Insbesondere die beiden Grenzwoiwodschaften Lublin und Karpatenvorland, wo es insgesamt acht Grenzübergänge in die Ukraine gibt, mussten vorbereitet werden, damit es dort nicht zu einer humanitären Katastrophe kommt.

Manch einer mag sich fragen: Warum waren diese Pläne veraltet?

Es geht nicht um Aktualität, sondern um eine spezifische Krisensituation, auf die man sich einstellen muss. Niemand auf der Welt hat das Coronavirus vorausgesehen, das innerhalb weniger Tage die ganze Welt eingefroren, Grenzen geschlossen, Flugzeuge am Boden gehalten und den Fernunterricht eingeführt hat. Ebenso hat niemand in Europa vorausgesagt, dass es Tage geben würde, an denen innerhalb von 24 Stunden mehr als 100.000 Flüchtlinge aus der Ukraine in Polen ankommen würden. Am Rekordtag waren es über 140.000. Die Pläne von vor einigen Jahren sahen viel kleinere Maßstäbe vor. Aber als sich der Wandel abzeichnete, haben wir sofort reagiert.

Welche Herausforderungen bringen solche Massen von Flüchtlingen in so kurzer Zeit mit sich?

Das Problem ist nicht nur die Zahl der Flüchtlinge. Es ist allgemein bekannt, dass viele von ihnen aus Kriegsgebieten kommen und deswegen dringend humanitäre und psychologische Hilfe brauchen. Unter ihnen befinden sich auch Menschen mit Behinderung. Einige Flüchtlinge kommen mit Autos an, die sie versichern müssen. Die Haustiere der Flüchtlinge müssen geimpft werden. Auch ein Problem, das wir an der Grenze dringend lösen mussten.

Behinderte auf der Flucht.

Doch die Grenze ist nur der Anfang der Herausforderung. Dann gibt es noch den Transport ins Landesinnere. Wir haben 1.500 Busse angemietet. Dazu die Unterbringung, die Koordinierung der Zentren, in die die Menschen geschickt werden können. Viele Aufgaben wurden von den lokalen Behörden übernommen, viele Städte und Gemeinden leisteten hervorragende Arbeit. Die Verantwortung für die ganze Sache lag jedoch bei der Regierung.

Tiere mit auf der Flucht.

Reporter der BBC, von Fox News, CNN und viele andere waren überrascht, dass bei Kriegsausbruch auf unserer Seite der Grenze die Infrastruktur für die Registrierung von Flüchtlingen bereits vorhanden war. Wartete alles in Lagerhäusern in der Nähe? Hat die Armee das arrangiert?

Viele Aufgaben wurden und werden in gemeinsamen Anstrengungen der Regierung, der Regierungspräsidenten, der Kommunen und der NGOs durchgeführt. Das funktioniert. Wir als Regierung hatten Zelte, Betten, Logistik vorgehalten. Wir haben auch die Krisenvorräte an Lebensmitteln im Voraus aufgefüllt. Alle erforderlichen Dienststellen des Innen- und des Verteidigungsministeriums waren in vollem Einsatz. Die Grenzpolizei, die Armee, einschließlich der Territorialkräfte, die Feuerwehr und die Polizei legten viel Professionalität und Engagement an den Tag.

Hilfsstation an der Grenze.

Dass die Aufnahmestellen an der Grenze, auf den Bahnhöfen und im Landesinneren so schnell eingerichtet werden konnten, war zur Überraschung vieler genau diesen Vorbereitungen zu verdanken. Die Verfahren waren geregelt, notwendige Maßnahmen wurden stündlich eingeleitet, je nachdem, wie sich die Situation entwickelte. Die Nichtregierungsorganisationen fügten sich hier nahtlos ein und errichteten an der Grenze ihre Hilfsstationen. Im Endergebnis hat Polen die schwierige Prüfung der ersten Tage nach dem russischen Angriff auf die Ukraine gut bestanden.

Westliche Medien berichteten, dass am Tag des Kriegsbeginns die Alarmsirenen in Medyka ertönten.

Sie haben den Grund nicht verstanden: Es war die freiwillige Feuerwehr, die ihre Mitglieder zusammenrief, um zu Hilfsleistungen an die Grenze auszurücken.

Die Medien der totalen Opposition, wie sie sich selbst nennt, haben immer wieder behauptet, dass Freiwillige einspringen mussten, weil die Regierung nicht bereit war.

Das ist ein Irrtum. Die Herausforderung war so groß, dass es genug Aufgaben und Arbeit für alle gab. Das wurde von allen, die uns damals besuchten, betont. Sie sahen die großen staatlichen, kommunalen und freiwilligen Anstrengungen, und als Fachleute konnten sie auch die Effizienz der Regierung einschätzen. Vertreter des UNHCR, des UN-Flüchtlingshilfswerks, waren voll des Lobes.

Schwarzafrikaner auf der Flucht.

Die Medien haben die Komplexität der Situationen, mit denen wir konfrontiert waren, nicht immer verstanden. Nehmen wir zum Beispiel die Angehörigen von Drittstaaten, die aus der Ukraine geflohen sind. Es waren hauptsächlich junge Leute aus Afrika oder Asien, die dort studierten, es war eine wirklich große Gruppe. Andere hatten dort gearbeitet.

Es gab Anschuldigungen, dass es eine Rassensegregation an der Grenze gibt.

Das ist ein völliges Missverständnis. Die überwältigende Mehrheit der ukrainischen Flüchtlinge sind Frauen mit Kindern, die ein besonderes Gefühl der Sicherheit brauchen, einschließlich einer Zone der Intimität. Bei den Asiaten und Afrikanern handelte es sich um junge Männer, die schnell weiterziehen wollten. Will uns in diesem Zusammenhang wirklich jemand vorwerfen, dass wir beschlossen hatten, diese beiden Gruppen in verschiedene Zentren, in getrennte Säle zu schicken? Die Behauptungen einiger westlicher Medien, es handele sich um Rassensegregation, waren sehr unfair.

Haben Sie die Menschen beim Grenzübertritt kontrolliert?

Wir sind davon ausgegangen, dass jeder kontrolliert werden muss, schließlich ist die Sicherheit der Polen das Wichtigste. Aber nicht jeder hatte einen Pass, insbesondere Minderjährige. Einige Grenzübergänge, die nur für den motorisierten Verkehr geeignet waren, mussten plötzlich Tausende von Fußgängern aufnehmen. Auf der anderen Seite der Grenze bildeten sich Warteschlangen, so dass wir auch dorthin, in Zusammenarbeit mit den ukrainischen Grenzsoldaten, Wasser und Lebensmittel transportierten. Eine humanitäre Katastrophe wurde vermieden. Momentweise bestand diese Gefahr.

Heute sind wir stolz darauf, dass so viele Menschen gekommen sind und keine Flüchtlingslager errichtet werden mussten. Aber es gab eine Liste mit möglichen Standorten?

Wir haben immer noch Zehntausende freie Plätze in Sammelunterkünften. In der ersten Welle kamen hauptsächlich diejenigen, die einen klaren, präzisen Plan hatten. Das Zeichen dafür waren die Autos der Angehörigen, die an der Grenze auf sie warteten. Oft hatten sie bereits eine Anlaufstelle oder einen Reiseplan, oder sie beschlossen einfach, in Polen eine Unterkunft, eine Wohnung oder einen Arbeitsplatz zu suchen. Zu diesem Zeitpunkt nutzten nur 5 Prozent der Grenzgänger die Aufnahmestellen.

Ukrainische Flüchtlinge, Warschauer Messehalle.

Später stieg dieser Prozentsatz stark an. Viele der Geflüchteten sind zum ersten Mal im Ausland, viele haben durch den Krieg ihr ganzes Hab und Gut verloren. Wenn jemand angibt, dass er keine Unterkunft hat, wird er an eine der Sammelunterkünfte verwiesen. Von Anfang an haben wir Pensionen, Hotels und Beherbergungsbetriebe angemietet, keine Messe-, Sport- oder Konferenzhallen. Allerdings kann eine solche Notwendigkeit noch eintreten, niemand weiß, ob wir nicht in einiger Zeit mit einer weiteren Flüchtlingswelle konfrontiert werden. Wir haben eine Liste mit mehreren Hundert solcher Einrichtungen und genügend Ausstattung für alle.

Von Anfang an hatten wir lediglich zwei Messehallen in Warschau und in Nadarzyn bei Warschau als Orte für mehrtägige Aufenthalte vorgesehen, da sehr viele Flüchtlinge explizit nach Warschau wollen. Die Messehallen werden von Reisebussen aus der Ukraine direkt angefahren. Menschen können sich dort ausruhen, ihre Familien und Freunde anrufen und weiterziehen. Es gibt immer noch viele solcher Menschen.

Egal, welche Welle es war, alle wollten in die großen Städte gehen.

Das ist verständlich. Sie kennen Polen nicht, sie haben Angst, irgendwo weit ab vom Schuss zu landen, ohne Kontakte und Kommunikation. Aus der Ukraine bringen sie die Erfahrung mit, dass die Großstädte boomen, während die Provinz dahinvegetiert. Ich erinnere mich an einen Bus voller Frauen mit Kindern, denen wir sagten, wir würden nach Bydgoszcz (Bromberg – Anm. RdP) fahren. Der Name der Stadt sagte ihnen nichts. Also schlugen wir Pułtusk vor, eine Stadt in der Nähe von Warschau. Sie zögerten auch, erst als wir ihnen auf der Karte zeigten, wie nah es an der Hauptstadt lag, konnten wir ihre Bedenken ausräumen.

Ist jemand in Ihren Wahlkreis, Koszalin (Köslin – Anm. RdP), gekommen? Oder noch weiter gefasst: in die Woiwodschaft Westpommern?

Natürlich gibt es in meinem Wahlkreis Flüchtlinge, die lokale Gemeinschaft hilft ihnen sehr, und Radio Koszalin hat mit großem Erfolg Polnischkurse organisiert. Aber unser Bestreben, Züge von Przemyśl aus in verschiedene Regionen des Landes zu bringen, und nicht nur nach Warschau, Katowice und Kraków, ist auf verschiedene Hindernisse gestoßen.

Es gab einen Fall, bei dem mehrere Hundert Menschen nach Szczecin reisen sollten, aber nur etwa ein Dutzend ankamen. Die meisten von ihnen stiegen unterwegs in großen Städten aus. Ähnlich verhält es sich mit Zügen, die beispielsweise nach Olsztyn, Gdynia und Bydgoszcz fahren. Aber auch das kann man verstehen. Viele dieser Menschen dachten, dass der Krieg nicht lange dauern würde, sie wollten so nah wie möglich an der Grenze bleiben.

Ukrainische Urlauber, jetzt Flüchtlinge. Landung in Szczecin.

In Szczecin hingegen landeten etliche Flugzeuge mit ukrainischen Staatsbürgern, die sich auf Urlaubs- oder Geschäftsreisen befanden und nach Ausbruch des Krieges dort festsaßen, und nicht in ihr Land zurückkehren konnten. Auch der Flughafen in Poznań empfing solche Flugzeuge. In den ersten Tagen nach dem 24. Februar landeten in beiden Städten Maschinen aus der ganzen Welt mit Ukrainern an Bord.

Was geschah dann mit ihnen?

Viele von ihnen hatten die Ukraine für ein paar Tage verlassen, um Ferien zu machen oder Geschäften nachzugehen. Plötzlich stellte sich heraus, dass sie in Polen ein neues Leben beginnen mussten. Wir haben uns genauso um sie gekümmert wie um die Menschen, die direkt aus der Ukraine kamen.

Bei den Ukrainern handelt es sich in der Regel um talentierte, hart arbeitende Menschen. Ich kenne den Fall einer Familie, die auf dem Flughafen Goleniów in der Nähe von Szczecin landete und zu einer polnischen Familie im Kreis Stargard gebracht wurde. Schon nach einigen Tagen ging der Mann in die örtliche Schreinerei, und seine Frau begann, gegen Bezahlung verschiedene Arbeiten im Haushalt zu erledigen. Das zeigt, wie sehr sich diese Einwanderung von den Stereotypen unterscheidet, die manche Menschen in ihren Köpfen haben. Eine westliche Hilfsorganisation kam mit dem Angebot, Wasser und Zelte zu schicken. Es dauerte eine Weile, bis wir verstanden, was sie meinten, und haben dankend abgelehnt.

Kein Wunder, dass sie dieses Bild im Kopf hatten, so ist es oft in der Welt.

Einverstanden. Zum Glück ist das hier anders. Die Ukrainer gehen sehr würdevoll mit der Situation um, in der sie sich befinden. Sie sind dankbar für die Hilfe, denn sie mussten ihr Leben fast von einer Stunde auf die andere ändern. Aber sie haben sich schnell von dem Schock erholt, fast alle wollen schnell wieder auf die Beine kommen, Arbeit finden, ein normales Leben beginnen. Wir können feststellen, dass jeder Vierte in der PESEL-Datenbank  registrierte Ukrainer im erwerbsfähigen Alter eine Arbeit aufgenommen hat. Das sind weit über 100.000 Menschen. Anspruchshaltungen sind äußerst selten.

Ukrainische Flüchtlinge auf dem Warschauer Ostbahnhof.

Es gab jedoch auch Fälle, in denen Migranten auf Bahnhöfen kampierten. Warum?

Auch das ist ein sensibles Thema. Wir haben allen Flüchtlingen immer eine Unterkunft unter normalen Bedingungen angeboten. Aber viele waren entschlossen, sofort weiterzureisen. Sie warteten am Bahnhof auf den Zug, obwohl er erst zwei Tage später kommen sollte. Sie hatten Angst, dass wir sie in irgendeine Halle in der Provinz bringen würden und sie dort festsitzen würden. Erst als sich herumsprach, wie die Dinge in Polen organisiert waren, änderte sich das. Anfänglich haben sie den Informationen, die wir ihnen gegeben haben, nicht geglaubt.

Welche Ängste gab es noch?

Die Frauen fragten sehr häufig, ob man ihnen ihre Kinder wegnehmen würde, wenn sie zur Aufnahmestelle kämen. Ich sage das, um jeden zu bitten, bei der Beurteilung bestimmter Situationen Zurückhaltung zu üben, denn manchmal stehen menschliche Traumata oder Ängste im Hintergrund. Ich möchte Ihnen ein Beispiel geben: Großbritannien erteilte Zehntausende von Einreisevisa, aber die Leute, die sie bekamen, reisten zumeist nicht dorthin. Es stellte sich heraus, dass diese Visa als eine Art Versicherungspolice betrachtet werden. Sie wissen noch nicht, ob sie sie nutzen wollen. Auch das muss man verstehen.

Haben die bereits in Polen lebenden Ukrainer dazu beigetragen, die Ängste ihrer Landsleute zu zerstreuen?

Sehr sogar. Ein ukrainischer Freiwilliger, der den Besuchern erzählt, dass er selbst in Polen lebt, und ihnen versichert, dass es wirklich so funktioniert, wie in der Broschüre beschrieben oder wie es am Infostand dargestellt wird, war immer eine große und wirksame Hilfe bei der Überwindung von Ängsten, Traumata und Missverständnissen. Deshalb haben wir die notwendigen Mittel schnell umgeschichtet, um Ukrainisch-Sprachkurse für polnische Helfer zu organisieren.

„Wir sind mit euch“. Briefmarke der Polnischen Post.

Der Impuls des Herzens befiehlt es, Flüchtlinge unterzubringen, zu ernähren und ihre dringlichsten Bedürfnisse zu erfüllen. Aber wie soll es weitergehen? Wie kann man diese Masse von Menschen in die polnische Rechts- und Wirtschaftsordnung einfügen?

Im Allgemeinen verändert sich die Art der erforderlichen Unterstützung mit der Zeit. In den ersten 60 Tagen musste man sich auf die Grundbedürfnisse konzentrieren. Die nächsten 60 Tage, um die wir die Bezuschussung (umgerechnet ca. 8 Euro pro Tag und aufgenommene Person – Anm. RdP) für den Aufenthalt von Ukrainern in polnischen Familien verlängert haben, werden ein Übergang zur Anpassungsphase sein. Ziel ist es, bis Ende Juni Mechanismen zu schaffen, die es unseren Gästen ermöglichen, auf eigenen Füßen zu stehen und sich einzuleben.

Wird die Zeit der Förderung für die Aufnahme von Flüchtlingen in Familien noch einmal verlängert?

Solange es keine weitere große Migrationswelle gibt, nicht. Wir wollen, dass bis Ende Juni jeder, der dazu in der Lage ist, unabhängig wird. Natürlich wird es weiterhin Unterstützung geben, aber in anderer Form. Viel hängt von den Ukrainern selbst ab. Sie müssen entscheiden, ob sie länger bei uns bleiben, ob sie in die Gebiete zurückkehren, aus denen sich der Krieg zurückgezogen hat, oder ob sie weiter auf gepackten Koffern warten wollen.

Sie haben erwähnt, dass es unter den Flüchtlingen sehr viele Frauen mit Kindern gibt. Wenn sie zur Arbeit gehen, wer wird sich um die Kinder kümmern?

Wir planen die Einrichtung von Vorschulhorten für ukrainische Kinder. Wenn uns z. B. die UNICEF fragt, wie sie helfen kann, wofür wir Geld brauchen, zeigen wir auf solche Vorhaben.

Nach Angaben des Bildungsministeriums sind 200.000 ukrainische Kinder in das polnische Bildungssystem eingetreten, und 500.000 lernen im ukrainischen Fernunterricht.

Die ukrainische Regierung möchte, dass so viele Kinder wie möglich bei der zweiten Lösung bleiben. Wir respektieren das und bauen keinen Druck auf, den Unterricht in polnischen Schulen aufzunehmen. Aber es besteht auch kein Zweifel daran, dass jeder Monat Aufenthalt in Polen mehr Menschen dazu ermutigen wird, sich bei uns niederzulassen und ein normales Leben in Polen zu beginnen.

Einige Politiker haben wegen angeblicher Privilegien, vorrangig im Gesundheitswesen, Alarm geschlagen. Wie viel Wahrheit steckt darin?

Das ist Unsinn. Jeder Flüchtling aus der Ukraine erhält eine Aufenthaltsgenehmigung für achtzehn Monate und ein einmaliges Begrüßungsgeld von 300 Zloty (ca. 65 Euro – Anm. RdP). Sie können sofort eine Arbeit aufnehmen, was auch unser BIP erhöht und Lücken auf dem Arbeitsmarkt schließt. Sie können ihre Kinder in den Schulen anmelden und die Gesundheitsversorgung nach den gleichen Grundsätzen in Anspruch nehmen wie die Polen. Wo sind hier die Privilegien? Möchte jemand mit ihnen tauschen? Das glaube ich nicht.

An manchen Tagen kamen bis zu 100.000 Ukrainer auf der Flucht in Polen an.

Wir sollten auch nicht vergessen, dass die Hilfe für Flüchtlinge aus der Ukraine heute auch eine Investition in die Sicherheit Polens ist. Jede Anstrengung, die wir unternehmen, um unsere überfallenen Nachbarn zu verteidigen, trägt dazu bei. Und wenn ich mir die Stimmung der Polen anschaue, dann verstehen wir das im Allgemeinen alle, unabhängig von unseren sonstigen Ansichten.

Einige politisch erhitzte lokale Kommunalpolitiker der totalen Opposition haben versucht, aus der Flüchtlingsproblematik politisches Kapital zu schlagen.

Es gab einige solche Versuche, die aber schnell beendet wurden. Sie sahen ein, dass es dafür keinen Platz gibt. Der Bürgermeister einer großen Stadt änderte seine Einstellung, als er von mir hörte, dass wir nicht im Amt sind, um Probleme zu suchen, sondern um sie zu lösen. Und wenn ich erst anfangen würde, in den Medien über seine Schwächen zu sprechen, dann würde ich das Fernsehstudio so schnell nicht verlassen. Schließlich kann jeder über jeden herfallen, aber es geht nicht um uns, sondern um Menschen, die Hilfe brauchen.

Die Kommunen in den Woiwodschaften Lublin und Vorkarpatenland haben hervorragende Arbeit geleistet. Hrubieszów, Chełm, Tomaszów Lubelski, Rzeszów, Lublin, Przemyśl, Ustrzyki Dolne. Von einem Tag auf den anderen erschienen in diesen Städten Massen von Menschen, die Hilfe brauchten. Und sie haben es geschafft.

Auf der breiten ukrainischen Eisenbahnspur direkt nach Olkusz. Ankunft der Flüchtlinge.

Eine große Bewährungsprobe hat zum Beispiel auch die Stadt Olkusz unweit von Kraków in der Woiwodschaft Kleinpolen bestanden. Dank Gleisen mit einer passenden Spurweite für ukrainische Züge, gebaut für die Belieferung der örtlichen Stahlwerke, konnten Personenzüge aus der Ukraine direkt hierher geleitet werden. Innerhalb von 24 Stunden konnten mehrere Tausend Menschen auf diese Weise dorthin gelangen. Der Regierungspräsident von Kleinpolen hatte dort eine perfekte Aufnahmestelle organisiert, und es standen sofort Busse bereit, um die Flüchtlinge auf ganz Kleinpolen und Schlesien zu verteilen.

Über politische und ideologische Trennungen hinweg wurde viel erreicht. Wir haben die Prüfung als Staat, als Nation und als Gesellschaft bestanden.

Lesenswert auch: „Ansturm. Ukrainische Kinder an polnischen Schulen“ und „Geflüchtete Ukrainer. Gut für die Wirtschaft“.

RdP

Das Interview erschien im Wochenmagazin „Sieci“ („Netzwerk“) vom 22. Mai 2022.




12.06.2022. Der Ukraine-Krieg und die polnische Seele

Wir haben es schwarz auf weiß: Die Polen sind das pro-amerikanischste und am stärksten Russland ablehnende Volk der Welt.

Das geht aus einer von der Stiftung Alliance of Democracies zyklisch durchgeführten Erhebung hervor. Bürger aus 52 Ländern beantworten dabei Fragen zu ihrer Einstellung gegenüber den Großmächten der Welt. Die neueste Umfrage wurde im April und Mai 2022 abgehalten, also bereits nach dem Ausbruch des Krieges in der Ukraine. Die Ergebnisse zeigen, dass knapp 90 Prozent der Polen eine negative Einstellung gegenüber Russlands Handeln haben. Gleichzeitig loben sie die Vereinigten Staaten mehr, als es die Amerikaner selbst tun.

Diese Ergebnisse spiegeln treffend die polnischen Befindlichkeiten. Und sie erklären, weshalb es die Realisten in Polen so schwer haben, d.h. jene Politiker und Kommentatoren, die die Politik als einen nicht enden wollenden Wettstreit von Kräften und Interessen umschreiben, und nicht als einen Katalog von Werten, Hoffnungen und Wünschen.

Die antirussische Haltung der Polen ist zu einem großen Teil das Ergebnis historischer Erfahrungen. Der polnischen Teilungen sowie der sowjetischen Besetzung und der Unterwerfung durch Moskau im 20. Jahrhundert. Aus dieser Perspektive nehmen die Polen den russischen Überfall auf die Ukraine wahr, schätzen seine Folgen ein und fühlen sich ganz und gar bestätigt. „So kennen wir die Russen, so sind sie: brutal, primitiv, grausam.“

Kein Wunder also, dass die polnische Öffentlichkeit dazu neigt, sich allen aus Moskauer Sicht ungünstigen Berichten anzuschließen und solche zu verdrängen, die die Situation in einem anderen Licht zeigen. Daher werden Schilderungen, dass die russische Armee zusammenbricht, dass deren Angriffe erfolglos sind und sie nur Verluste erleidet, als wahr akzeptiert. Kurzum: Russland steht unmittelbar vor dem Zusammenbruch, ist ein Koloss auf tönernen Füßen. Ist das wirklich so und nur so? Realisten melden da ihre Zweifel an. Dass die polnischen Medien die Invasion als eine Kette von russischen Katastrophen darstellen, ist eine Form der Befriedigung der emotionalen Bedürfnisse des Publikums.

Die sehr starke Abneigung gegenüber Russland hilft auch ein anderes Rätsel zu lösen. Dieselben Leute, die glauben, dass Russland zerfällt, erwarten gleichzeitig, dass es jeden Moment in Polen einmarschieren wird. Da der Krieg mit Polen unvermeidlich ist, ist es für Polen umso besser, je länger die Kämpfe in der Ukraine andauern. Nur so kann ein Einmarsch russischer Truppen in Polen verhindert werden.

Doch wie kann man gleichzeitig an extreme Schwäche und totale Stärke glauben? Und: Sollte man nicht fragen, welche Kosten Polen bereit ist, auf sich zu nehmen, um Moskau zu schwächen? Wie viele ukrainische Kriegsflüchtlinge kann es noch aufnehmen? Wie viel kriegsbedingte Inflation kann es verkraften?

Es gibt Fragen über Fragen, aber sie werden zumeist ausgeblendet. Emotionen lassen sich nicht von Logik leiten. Übertriebene Zuversicht und übermäßige Angst, das Kippen von einem Extrem ins andere, sind psychologisch gesehen keine Seltenheit.

Eine weitere prägende polnische Befindlichkeit ist das fast blinde Vertrauen in die Fähigkeiten Amerikas und das nicht minder merkwürdige und starke Vertrauen in seine guten Absichten. Die Polen lieben Amerika, mehr als die Amerikaner selbst, so das Fazit der eingangs erwähnten Umfrage. Sie idealisieren es. Sie wollen es nicht wahrhaben, dass die USA, auch wenn sie die einzige demokratische Großmacht sind, oft nur ihre eigenen Interessen verfolgen und um Geltung für sich kämpfen. Mit diesem emotionalen Vorteil und dem Wissen um die polnische Liebe ist es für Amerika ein Leichtes, sich in Polen durchzusetzen.


Das wiederum hängt mit einem weiteren Merkmal der polnischen Mentalität zusammen, einem Erbe der Romantik. Die Politik wird nicht in den Kategorien von Stärke und Schwäche wahrgenommen. Was sie prägen soll sind Werte. Folglich ist der Kampf um mehr Einflussnahme und Vorteile in den Augen der Polen vor allem ein Kampf zwischen Gut und Böse, zwischen den Mächten des Lichts und den Mächten der Finsternis.

Deshalb können polnische Politiker nicht das tun, was die Politiker woanders seit Jahrhunderten praktizieren: auf Zeit spielen, ausweichen, Bündnisse schließen und wechseln, andere zynisch hinters Licht führen. Die polnische Öffentlichkeit weigert sich in ihrer Mehrheit zur Kenntnis zu nehmen, dass sich das Gute und das Böse nur selten, vielleicht sogar nie, in Reinkultur offenbaren. Selbst während des Zweiten Weltkriegs ging, wer Hitlers Bösem ein Ende setzen wollte, ein Bündnis mit Stalins nicht weniger Bösem ein. Das freie Polen bot beiden die Stirn.

Man paktiert nicht mit dem Bösen, das Gute muss unterstützt werden. Dieser Grundsatz, übertragen auf den Bereich der konkreten Politik, bedeutet, dass die meisten Polen, wie Untersuchungen erneut zeigen, radikalste Sanktionen gegen Russland wollen, auch wenn das ihren Interessen drastisch zuwiderläuft. Diese Haltung wiederum befreit die Regierung von der Notwendigkeit, sich für die steigenden Lebenshaltungskosten und andere kriegsbedingte Unwägbarkeiten zu erklären, solange sie auf der Seite des Guten steht.

Eigentlich heißt es zu Recht, dass Emotionen keine guten Ratgeber in der Politik sind. Aber vielleicht leben wir inzwischen doch in einer besseren Welt und die alten Wahrheiten sind nicht mehr gültig?

RdP




31.05.2022. Ukraine und die neuen polnischen Realisten

In den letzten Tagen gelang es Henry Kissinger, dem schon etwas in Vergessenheit geratenen ehemaligen US-Außenminister, aufs Neue die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Der inzwischen 99-Jährige huldigte, mittels Video-Schaltung, auf dem Weltwirtschaftsforum in Davos einer Realpolitik, wie aus dem 19. Jahrhundert. Er sagte, die Ukraine müsse territoriale (Abtretung gut eines Drittels des Staatsgebietes) und politische (Abrüstung, keine Nato-Mitgliedschaft) Zugeständnisse an Russland machen, um den Krieg so schnell wie möglich zu beenden.

Kissinger sprach laut aus, was viele andere, bis jetzt zumeist, nur hinter vorgehaltener Hand von sich geben. Tatsache ist, dass die Gereiztheit und Unzufriedenheit darüber, dass der Krieg, nach gut drei Monaten, immer noch nicht zu Ende ist, in vielen Hauptstädten spürbar zu steigen beginnt. Gewiss, der Frieden hat seinen Preis und den soll das Opfer, die Ukraine zahlen. Der friedliebende Weltstartege Kissinger wirft, wie selbstverständlich, fremdes Staatsgebiet und seine Bewohner den Russen zum Fraß vor, dabei ließe sich Putin mit der Rückgabe von Alaska an Russland sicherlich noch schneller besänftigen.

Auf dem angesehenen Treffen in Davos führte das Thema auch in anderen Debatten zu heftigen Auseinandersetzungen. Graham Allison, ein Schüler Kissingers und Harvard Professor, wiederholte die These seines Lehrmeisters und argumentierte, dass eine fortgesetzte militärische Unterstützung der Ukraine eine gefährliche Weiterentwicklung des Krieges nach sich ziehen wird. Deshalb müsse man sich mit den Russen an den Verhandlungstisch setzen. Das rief jedoch den heftigen Widerspruch von Lawrence Freedman, eines britischen Militär- und Strategiehistorikers hervor. Sein Argument: Man dürfe auf keinen Fall die weiße Fahne zu einem Zeitpunkt hissen, zu dem Russland zwar geschwächt, aber nicht in seiner Existenz bedroht sei.

Der Streit zwischen Allison und Freedman ist ein gutes Beispiel für die wachsenden Meinungsverschiedenheiten im Westen. Die Verfechter schneller Verhandlungen im Namen des Realismus, möchten mit Russland, so bald es geht, wieder ins Geschäft kommen und machen sich Sorgen um die künftige Stellung des Landes in der Weltpolitik. Kissinger, Scholz, Macron & Co. wollen zudem vermeiden, dass eine starke Ukraine das Gleichgewicht der Kräfte in Europa zum Nachteil Russlands und der traditionellen Russland-Partner Deutschland und Frankreich verändert.

Die Befürworter einer weiteren Unterstützung der Ukraine in Washington, London und Warschau sagen hingegen: Wenn Russland beschlossen hat, mit einem Krieg den Spieß umzudrehen und seine Beziehungen zum Westen völlig zu ruinieren, dann muss man Moskau unbedingt erlauben Selbstmord zu begehen. Russland jetzt die Hand zu reichen, wäre eine große Dummheit.

Man kann also, im Namen des Realismus, die seit gut zwei Jahrhunderten geltenden europäischen Sicherheitsregeln beibehalten und damit Russland weiterhin erlauben seine Nachbarn zu bedrohen, zu erpressen und zu überfallen.

Oder man kann dem neuen Realismus huldigen, indem man die einmalige Gelegenheit ergreift, um die europäischen Sicherheitsregeln dauerhaft zu ändern und damit Russland die Lizenz zum Bedrohen, Erpressen und Überfallen ein für allemal zu entziehen.

Die Polen gehören zu den neuen Realisten. Zu oft war ihr Land in Zeiten des alten Realismus die Ukraine von heute.

RdP




23.05.2022. Emma, Macron, New York Times & Co. Polen stellt sich quer

Man sollte vorsichtig sein, Staatsbesuche als historisch zu bezeichnen. Solche Bewertungen können schnell von der Zeit überholt werden. Der Aufenthalt des polnischen Staatspräsidenten Andrzej Duda am 22. Mai 2022 in Kiew  wird jedoch ganz bestimmt für länger in den Köpfen der Ukrainer und Polen bleiben. Nicht nur, weil Duda der erste ausländische Staatschef war, der seit Beginn des Krieges am 24. Februar 2022 vor dem ukrainischen Parlament, der Werchowna Rada, sprach.

Wichtig waren die spontanen, herzlichen Gesten, die Wolodymyr Selenskij und Duda austauschten. Einen hohen symbolischen Wert hat dabei die Ankündigung Selenskijs, dass alle Polen in der Ukraine, genauso wie jetzt alle Ukrainer in Polen, mit den Einheimischen, bei Sozialleistungen, Steuern, auf dem Arbeitsmarkt, im Gesundheits- und Bildungswesen gleichgestellt sein sollen. Wichtig waren auch die sich anschlieβenden stehenden Ovationen der ukrainischen Abgeordneten.

Noch wichtiger jedoch waren die Worte, die der polnische Staatspräsident an die Ukrainer richtete: „Nur die Ukraine hat das Recht, über ihre Zukunft zu entscheiden. Nichts über dich (Ukraine) ohne dich“. Duda sprach im Namen fast aller Polen. Eine freie Ukraine ist das wirksamste Bollwerk gegen Russland. Sie zu unterstützen ist oberste polnische Staatsraison.

Dudas Worte fielen im richtigen Moment, denn nach drei Monaten Krieg macht sich in Westeuropa Kriegsmüdigkeit breit. In Deutschland unterschreiben Hunderttausende den „Emma“-Brief an den Bundeskanzler, in dem faktisch die Ukrainer zur Kapitulation aufgerufen werden. Frankreichs Staatspräsident Macron sowie Ex-Premier Berlusconi in Italien warnen vor einer Demütigung Russlands. Sorgen bereitet ihnen und nicht nur ihnen, was sein wird, sollte die Ukraine gewinnen.

Und außerdem, so die Klagen in vielen westeuropäischen Hauptstädten, treffen die Sanktionen alle. Die Preise steigen, die Wirtschaft leidet, und es ist an der Zeit, dem Ganzen ein Ende zu setzen. Die Lösung kann nur Frieden heiβen. Zu welchem Preis? Territoriale Zugeständnisse von Kiew an Moskau, das sind die Andeutungen, die Wolodymyr Selenskij in seinen Telefongesprächen mit westlichen Politikern zu hören bekommt.

Die „New York Times“, die wichtigste Tageszeitung der Vereinigten Staaten und vielleicht der ganzen Welt, die sich vor einem Vierteljahrhundert gegen die Nato-Erweiterung um Polen aussprach und diese in einem Kommentar als einen „fatalen Fehler“ bezeichnete, meinte in diesen Tagen, dass „Putin zu viel persönliches Prestige investiert hat“, als dass man von ihm einen Rückzug aus den besetzten Gebieten erwarten könnte.

Diesen Neigungen, Stimmungen und Bestrebungen gilt es sich entschieden zu widersetzen. Ein Paktieren über die Köpfe der Ukrainer hinweg ist mit Polen nicht zu machen, das war die wichtigste Botschaft des Kiew-Besuches von Andrzej Duda.

Das polnische Engagement und die polnische Effizienz haben einen wesentlichen Beitrag dazu geleistet, dass Russland die Ukraine nicht zerschlagen und den Westen nicht zwingen konnte, Mord und Annexion stillschweigend zu akzeptieren. Die Fähigkeit Polens, die Länder der Region zur Unterstützung der Ukraine zu organisieren, Millionen von Flüchtlingen, darunter auch Ehefrauen und Kindern von Soldaten, einen sicheren Zufluchtsort zu bieten, polnische Waffen- und Hilfsgüterlieferungen, der riesige Strom ausländischer Versorgung, der im Transit durch polnisches Territorium die Ukraine erreicht, spielen eine wichtige, vielleicht entscheidende Rolle. Jetzt galt es ein starkes politisches Signal zu setzten.

Der polnische Staatspräsident zögerte nicht, die Ukraine mit einer klaren Botschaft zu unterstützen. Dass freie Nationen nicht käuflich sind, und dass die freie Welt heute das Gesicht der Ukraine trägt. Es gibt keine Politik ohne Moral, keine Sicherheit ohne Wertetreue, ohne die Unterscheidung zwischen Gut und Böse. Der Westen ist diesbezüglich gespalten. Polen hat hierzu klar Position bezogen.

RdP




Das Wichtigste aus Polen 17. April bis 21. Mai 2022

Aleksandra Rybińska und Janusz Tycner diskutieren die wichtigsten Ereignisse der letzten Zeit in Polen ♦ Putinflation oder hausgemacht? Hoher Preisanstieg und heftige innenpolitische Debatte über die Inflation ♦ Keine Konflikte. Gut 2 Millionen Ukraineflüchtlinge haben sich eingelebt, wenn es nur mehr Wohnungen gäbe ♦ Frontstaat Polen: Risiken und Chancen ♦ Ringen um den EU-Wiederaufbaufonds.




Das Wichtigste aus Polen 13. März bis 16. April 2022

Aleksandra Rybińska und Janusz Tycner diskutieren die wichtigsten Ereignisse der letzten Zeit in Polen ♦ Polens politische Aktivitäten im Ukrainekrieg. Vorläufige Bilanz ♦ Ukrainische Flüchtlinge. Aufnahme konfliktlos aber nicht problemlos ♦ Viktor Orbans Haltung zum Ukrainekrieg beschädigt die polnisch-ungarischen Beziehungen ♦ Deutsche Zeitenwende aus polnischer Perspektive ♦ Angela Merkel. Ein Denkmal bröckelt.