5.04.2022. Butscha und die Nebenkostenabrechnung

Noch nie hat man so viele Sanktionen verhängt und ein angegriffenes Land so sehr unterstützt, wie jetzt die Ukraine. Aber das ist nicht genug.

Die Russen morden weiter, zerstören Städte, vertreiben Millionen von Menschen, viele wahrscheinlich für immer. Und sie geben uns unverhohlen zu verstehen, dass sie noch nukleare, chemische und biologische Waffen im Köcher haben.

Der Krieg um die Ukraine dauert bereits sechs Wochen. Für den Westen sind eineinhalb Monate der Aufopferung für ein Land, das außerhalb des Westens liegt, obwohl es unbedingt dazugehören möchte, etwas Außergewöhnliches. Wir sind besser, als man es erwarten konnte.

Aber, das reicht nicht aus. Ständig werden neue Sanktionen angekündigt, weitere Russen auf schwarze Listen gesetzt, weitere Unternehmen ziehen sich unter dem Einfluss der öffentlichen Meinung vom russischen Markt zurück.

Doch irgendetwas funktioniert trotzdem nicht. Dem Rubel geht es gut. Gestern, am 4. April 2022, musste man 83 Rubel für einen Dollar zahlen. In der zweiten Märzwoche, als er am schwächsten war, lag der Kurs bei mehr als 150 Rubel. Die Moskauer Börse funktioniert wieder und ist im Wachstum begriffen. Die russische Zentralbank lockert die Beschränkungen für Finanztransfers ins Ausland. Gazprom verzeichnet Rekordgewinne aus dem Verkauf von Rohstoffen und nimmt täglich mehr als 900 Millionen Euro ein.

Der Handel zwischen Russland und dem Westen wurde bisher lediglich eingeschränkt. Russische Handelsschiffe werden in allen Häfen der Welt gelöscht und beladen. Tausende russischer und weißrussischer LKWs rollen durch Polen bis nach Lettland und Estland, wo sie ihre Ladungen über die Grenze nach Russland bringen. Die EU-Kommission, die als einzige in Sachen Handelspolitik das Sagen hat, lässt es geschehen.

Haben die bisherigen Sanktionen, noch, nicht gewirkt? Das ist die optimistische Auslegung. Oder, so die pessimistische Version, es existieren so viele Ausnahmen, dass die Russen mit ihnen leben können und sich in aller Ruhe auf die Siegesparade am 9. Mai auf dem Roten Platz vorbereiten?

Vor allem einige tonangebende Staaten Westeuropas, wie Frankreich, Deutschland, Italien, Österreich, aber auch Ungarn sollten sich einer Gewissensprüfung unterziehen. Dort wehrt man sich dagegen, der russischen Wirtschaft mit einem Handelsboykott und dem Erdöl- und Erdgasembargo den K.o.-Schlag zu versetzen. Man ist empört, entsetzt und voller Mitgefühl ob des russischen Vorgehens, beschützt aber unnachgiebig eigene Unternehmen, Arbeitsmärkte und die künftigen Beziehungen zum Kreml, ohne sich groß darum zu scheren, wie die Zukunft der Ukraine und der ihr am nächsten liegenden Länder aussehen wird. Die Sorge um die nächste Tankfüllung und Nebenkostenabrechnung überwiegt.

Die neueste makabre Pointe in diesem Katz-und-Maus-Spiel lautet: Die Russen morden in Butscha, Deutschland „bestraft“ daraufhin Russland, indem es 40 russische Diplomaten des Landes verweist, pumpt aber weiterhin Milliarden in Putins Kassen und verweigert den Ukrainern die Lieferung von einhundert Marder-Schützenpanzern.

Je länger das Stopfen von Löchern bei den Sanktionen und das Sich-Durchringen zu etwas größeren Opfern dauert, umso größer die Wahrscheinlichkeit, dass die Ukraine diesen Krieg nicht gewinnt und Russland, mit seinem Köcher voller Massenvernichtungswaffen, sich in eine noch größere Bedrohung verwandelt.

RdP




18.03.2022. Russen-Boykott. Vernunft tut Not!

Auch in Polen nehmen Kultureinrichtungen und Veranstalter russische Musik und Theaterstücke aus ihrem Programm, und sagen Auftritte russischer Künstler ab. Die antirussische Aufregung sorgt für Diskussionsstoff.

Drei Argumente sprechen für den Boykott.

Erstens: Der von Putin ausgelöste blutige Krieg ist ein unpassender Zeitpunkt, um Russlands Größe zu bewundern, auch wenn diese Größe im kulturellen Bereich unbestreitbar ist.

Zweitens: Auch Kultureinrichtungen wollen ihre Haltung zum Ausdruck bringen, und es ist ganz natürlich, dass sie auf diese Weise protestieren.

Drittens: Wir mögen Schostakowitsch weiterhin und halten Tschaikowsky keineswegs für Putin-freundlich, aber dass, was Putin tut, schließt Russland und die Russen aus der internationalen kulturellen Gemeinschaft aus.

So weit, so gut.

Man kann verstehen, dass Filmfestspiele keine von der russischen Regierung finanzierten Produktionen zeigen wollen, aber was soll man mit Kirill Serebrennikows Film machen? Ein herausragender, vom Putin-Regime verfolgter Regisseur, dessen „Petrov’s Flu“ vorerst nicht in die Kinos kommt. Was tun mit Produktionen, deren Urheber gegen die Behörden und das System vorgehen? Einige polnische Festivalveranstalter (New Horizons und Millennium Docs Against Gravity) behielten ihren gesunden Menschenverstand, andere (z. B. das Warschauer Filmfestival oder Cinema on the Border) fackelten nicht lange und bedankten sich bei den Russen.

Man kann verstehen, dass das Alte Theater in Kraków die Zusammenarbeit mit Konstantin Bogomolow, der mehr oder weniger offen Putin unterstützt, aufgegeben hat, aber warum wurde das mit seiner Nationalität begründet? Und woher kam die Idee, die Premiere von „Boris Godunow“ in der Warschauer Oper abzusagen? Und welchen Sinn macht es, die Werke aller russischen Komponisten im Kulturprogramm des Polnischen Rundfunks zu streichen?

Sollten nicht, wennschon, dennschon, Buchhändler alle russischen Schriftsteller aus den Regalen nehmen und Bibliotheken ebendiese mit einer Ausleihsperre belegen? Die Romane von Dostojewski und Bulgakow oder die Theaterstücke von Gogol und Tschechow stehen Russland und den Russen kritisch gegenüber, wie der Regisseur Iwan Wyrypajew kürzlich bei einer Aufführung von „Onkel Wanja“ im Warschauer Teatr Polski zu Recht betonte. Der Theaterdirektor sah sich jedoch offensichtlich gezwungen, seine Entscheidung, Tschechow zu spielen, nach der Aufführung zu erklären.

Dabei würde es wahrlich genügen den Saal der Warschauer Oper bei der „Boris Godunow“-Premiere dezent mit einigen ukrainischen Akzenten zu schmücken, anstatt sie abzusagen.

Und noch eins. Wer einen Boykott beginnt, muss auch eine Vorstellung davon haben, wann er ihn beenden will. Wenn der letzte russische Soldat die Ukraine verlassen hat? Mit oder ohne Krim? Mit oder ohne Donbass? Und wenn das noch in ein paar Jahrzehnten nicht passiert ist? Sollen wir uns, um Putin zu ärgern, so lange die Ohren zuhalten, Rachmaninow und Rimski-Korsakow verschmähen, die an diesem Krieg ebenso wenig schuld sind wie Dschingis Khan?




16.03.2022. Mut muss sein

Noch wissen wir nicht, was der Aufbruch nach Kiew bringen wird. Aber eines wissen wir bereits: Polen, Tschechien und Slowenien werden heute von mutigen Männern regiert. Mut ist der Schlüssel zu allem.

Die Kiew-Expedition des Premierministers Mateusz Morawiecki, seines Stellvertreters in der Regierung Jarosław Kaczyński, der Regierungschefs Tschechiens Petr Fiala und Sloweniens Janez Janša ist kein beispielloses Ereignis. Es gab einen Präzedenzfall: die Georgien-Expedition des polnischen Staatspräsidenten Lech Kaczyński, der später, in der Flugzeugkatastrophe von Smolensk im April 2010, tödlich verunglückte.

Lech Kaczyński bat im August 2008 die Staatschefs der drei baltischen Staaten und der Ukraine mit ihm nach Tiflis zu fliegen, in die georgische Hauptstadt, auf die gerade russische Panzerkolonnen vorrückten. Er hielt dort, vor Zehntausenden von Menschen, eine denkwürdige Rede über den Willen Russlands zu imperialer Ausdehnung. „Heute Georgien, morgen die Ukraine, übermorgen die baltischen Staaten, und dann ist vielleicht auch mein Land, Polen an der Reihe.“ Das mutet 14 Jahre später fast prophetisch an.

Damals kehrten die russischen Panzer um. Heute stärken die mutigen Vier der Ukraine den Rücken, indem sie vor Ort der Welt mitteilen, dass dort ein Krieg für die europäischen Werte geführt wird. Werte mit denen sich der Westen jeden Tag so gerne brüstet. Aber wenn Bomben fallen, würden viele dort am liebsten abwarten, bis der Starke den Schwachen befriedet hat, und man getrost zum business as usual zurückkehren kann.

Der deutsche und der österreichische Bundeskanzler, der französische Staatspräsident oder der Ministerpräsident Italiens stiegen in den Zug nach Kiew nicht ein. Es sind Chefpolitiker von Ländern, die durch ihr Vorgehen Russlands Energiemacht vergrößert und es dadurch letztendlich zu Eroberungen ermutigt haben. Mit dem Bau der beiden Ostsee-Unterwasserpipelines Nord Stream 1 und Nord Stream 2 hat sich Deutschland völlig unnötig von Moskau energiepolitisch abhängig gemacht, und gleichzeitig die Ukraine, durch die bisher Erdgas aus Russland nach Westeuropa floss, bewusst einer wichtigen Geldquelle und ihrer geopolitischen Bedeutung beraubt.

Von den vier Mutigen, die nach Kiew aufgebrochen sind, kommen zwei aus Polen. Ohne Mut hat ein mittelgroßes Land, das zwischen zwei Großmächten liegt, keine Chance. Wenn der Mut fehlt, wird Ostmitteleuropa, wieder einmal, zwischen den Mühlsteinen mächtiger Fremdinteressen zerrieben. Ohne Mut, kann die Politik auf Dauer nicht erfolgreich sein. Mut allein, garantiert natürlich noch nichts, aber wenn er fehlt, ist die Katastrophe vorprogrammiert.

Kaczyński, Morawiecki, Fiala und Janša zeigten der Ukraine in ihren schwersten Stunden, dass sie nicht allein ist. Sie zeigten Haltung und sie machten vor, wie man europäische Werte in die Realität umsetzt.

RdP