27.08.2022. Vier Millionen Kriegsflüchtlinge in Polen. Wir haben es geschafft

Auch in Warschaus ältester und schönster Grünanlge, dem Łazienki (Bäder)-Park mit seinem Wasserschloss und dem schwungvollen Chopin-Denkmal, an dem im Sommer jeden Sonntag Pianisten die Musik des Meisters darbieten, hat der Krieg im Osten seine Spuren hinterlassen. Man trifft hier keine Japaner mehr, die, wie alle ausländischen Touristen in diesem Jahr, Polen wegen seiner Nähe zu den Kriegsschauplätzen meiden. Sattdessen wird der Park bevorzugt von ukrainischen Müttern besucht, die mit ihren Kindern im Schatten der alten Bäume Abkühlung finden. Sie füttern Eichhörnchen, bewundern die Schwäne, begleitet von Großmüttern, Tanten, älteren Geschwistern, eher selten von Männern, die zumeist in der Heimat, oft an der Front, geblieben sind. Es geht familiär und fröhlich zu.

Man denkt sofort an Kommentatoren, die sich selbst als „Realisten“ bezeichnen, und die im März, April, Mai stirnrunzelnd vorrechneten, „wie viel uns die Flüchtlinge kosten“, und warnten, dass „selbst das reiche Amerika sich nicht Millionen von Migranten leisten kann“. Sie sollten ihre ominösen Berechnungen bei Seite legen und einen Moment lang darüber nachdenken, wieviel Gutes, angesichts der offensichtlichen demografischen Krise, in der Polen steckt, dieser Zustrom junger Menschen aus einem uns nahen Land bewirken kann.

Die Bevölkerungszahl Polens ist im letzten halben Jahr von knapp 38 Millionen auf fast 42 Millionen angestiegen. Düsteren Prognosen zufolge würde der plötzliche Zustrom von Flüchtlingen nach dem 24. Februar 2022 unser Sozialsystem, in das sie aufgenommen wurden, überfordern. Die Plage der Massenarbeitslosigkeit würde aufleben. Schulen und Kindergärten würden überlastet sein. Der Wohnungsmarkt sollte zusammenbrechen und das nach der Pandemie schwer gestörte Gesundheitssystem würde einen tödlichen Schlag erleiden. Am Ende sollte sich unsere Hilfsbereitschaft verflüchtigen und das Land im Chaos versinken. Nichts dergleichen ist geschehen, und es gibt keine Anzeichen dafür, dass es geschehen wird.

Auf den Straßen der polnischen Städte hört man heute Russisch und Ukrainisch fast so oft wie Polnisch, aber die Sonne scheint wie früher, die Straßenbahnen fahren und die Lehrer und Krankenschwestern sind so unzufrieden wie immer. Die Ukrainer leben sich gut ein. Massenkonflikte bleiben aus. Es gibt Probleme, aber das ist nicht der Weltuntergang.

Zur Überraschung der Skeptiker besteht Polen den Praxistest der sozialen und institutionellen Improvisations- und Anpassungsfähigkeit außerordentlich gut. Das ist eine ermutigende Nachricht, denn die Fähigkeit, neue Mitglieder in die Gesellschaft zu integrieren, kann sich auf das Wirtschafts- und Wohlstandswachstum nur positiv auswirken.

RdP

 




Zwei Millionen Flüchtlinge. Polen, was nun?

Es gilt vieles zu überdenken.

Polen gelang es, den ersten gewaltigen Ansturm der ukrainischen Kriegsflüchtlinge in geordnete Bahnen zu lenken. Wie ging das vonstatten? Welche technischen und organisatorischen Schwierigkeiten, welche Ängste und Vorbehalte der Ankömmlinge galt es zu überwinden? Wie will man diejenigen, die in Polen bleiben wollen, integrieren? Antworten bringt das nachfolgende Gespräch mit Paweł Szefernaker, dem Regierungsbevollmächtigten für Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine.

Paweł Szefernaker.

Paweł Szefernaker, geb. 1987. Jurist und Verwaltungsfachmann. Seit 2010 Politiker der Partei Recht und Gerechtigkeit. Zwischen 2014 und 2018 Chef der Parteijugend. Seit 2015 Sejm-Abgeordneter. Ab Januar 2018 Staatssekretär im Innenministerium. Seit April 2022 Regierungsbevollmächtigter für Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine.

Wissen Sie noch, was Sie am 24. Februar, dem Tag, an dem Russland die Ukraine überfallen hat, gemacht haben?

Paweł Szefernaker: Wir hatten uns schon viele Tage lang unter Hochdruck auf mögliche Fluchtszenarien vorbereitet. Am Vortag dauerte die Arbeit bis spät in die Nacht. Gegen sechs Uhr morgens weckte mich der Anruf meines Chefs Mariusz Kamiński, des Ministers für Inneres und Verwaltung. Er ordnete die Einrichtung von Auffangstationen an der polnisch-ukrainischen Grenze an.

Warum wurden ausgerechnet Sie mit dieser Aufgabe betraut?

Die Empfangsstellen für Flüchtlinge sollten die Woiwoden (Regierungspräsidenten – Anm. RdP) vorbereiten. Und die Aufsicht über die Woiwoden ist mein Tätigkeitsbereich im Ministerium.

Wann haben Sie begonnen, sich auf eine mögliche Flüchtlingswelle vorzubereiten?

Einige Wochen vor Ausbruch des Krieges begannen die regelmäßigen Videokonferenzen mit den sechzehn Woiwoden. Aktionspläne wurden aktualisiert, die vor Ort vorhandenen Ressourcen überprüft, Nachschub geliefert.

Die Opposition und deren Medien hatten noch vor dem russischen Überfall behauptet, die Regierung tue nichts gegen die möglichen Folgen des Krieges an den Grenzen. Die Regierung hat dazu geschwiegen. Warum?

Grenzwoiwodschaften Lublin (oben) und Karpatenvorland.

Das sind sehr sensible Themen. Zu viel Lärm kann Panik auslösen, ernsthafte wirtschaftliche Folgen haben. Deshalb haben wir uns auf konkrete Maßnahmen konzentriert, nicht auf Gespräche. Wichtig war vor allem, die vorhandenen Krisenpläne auf das Management großer Flüchtlingsströme anzupassen. Insbesondere die beiden Grenzwoiwodschaften Lublin und Karpatenvorland, wo es insgesamt acht Grenzübergänge in die Ukraine gibt, mussten vorbereitet werden, damit es dort nicht zu einer humanitären Katastrophe kommt.

Manch einer mag sich fragen: Warum waren diese Pläne veraltet?

Es geht nicht um Aktualität, sondern um eine spezifische Krisensituation, auf die man sich einstellen muss. Niemand auf der Welt hat das Coronavirus vorausgesehen, das innerhalb weniger Tage die ganze Welt eingefroren, Grenzen geschlossen, Flugzeuge am Boden gehalten und den Fernunterricht eingeführt hat. Ebenso hat niemand in Europa vorausgesagt, dass es Tage geben würde, an denen innerhalb von 24 Stunden mehr als 100.000 Flüchtlinge aus der Ukraine in Polen ankommen würden. Am Rekordtag waren es über 140.000. Die Pläne von vor einigen Jahren sahen viel kleinere Maßstäbe vor. Aber als sich der Wandel abzeichnete, haben wir sofort reagiert.

Welche Herausforderungen bringen solche Massen von Flüchtlingen in so kurzer Zeit mit sich?

Das Problem ist nicht nur die Zahl der Flüchtlinge. Es ist allgemein bekannt, dass viele von ihnen aus Kriegsgebieten kommen und deswegen dringend humanitäre und psychologische Hilfe brauchen. Unter ihnen befinden sich auch Menschen mit Behinderung. Einige Flüchtlinge kommen mit Autos an, die sie versichern müssen. Die Haustiere der Flüchtlinge müssen geimpft werden. Auch ein Problem, das wir an der Grenze dringend lösen mussten.

Behinderte auf der Flucht.

Doch die Grenze ist nur der Anfang der Herausforderung. Dann gibt es noch den Transport ins Landesinnere. Wir haben 1.500 Busse angemietet. Dazu die Unterbringung, die Koordinierung der Zentren, in die die Menschen geschickt werden können. Viele Aufgaben wurden von den lokalen Behörden übernommen, viele Städte und Gemeinden leisteten hervorragende Arbeit. Die Verantwortung für die ganze Sache lag jedoch bei der Regierung.

Tiere mit auf der Flucht.

Reporter der BBC, von Fox News, CNN und viele andere waren überrascht, dass bei Kriegsausbruch auf unserer Seite der Grenze die Infrastruktur für die Registrierung von Flüchtlingen bereits vorhanden war. Wartete alles in Lagerhäusern in der Nähe? Hat die Armee das arrangiert?

Viele Aufgaben wurden und werden in gemeinsamen Anstrengungen der Regierung, der Regierungspräsidenten, der Kommunen und der NGOs durchgeführt. Das funktioniert. Wir als Regierung hatten Zelte, Betten, Logistik vorgehalten. Wir haben auch die Krisenvorräte an Lebensmitteln im Voraus aufgefüllt. Alle erforderlichen Dienststellen des Innen- und des Verteidigungsministeriums waren in vollem Einsatz. Die Grenzpolizei, die Armee, einschließlich der Territorialkräfte, die Feuerwehr und die Polizei legten viel Professionalität und Engagement an den Tag.

Hilfsstation an der Grenze.

Dass die Aufnahmestellen an der Grenze, auf den Bahnhöfen und im Landesinneren so schnell eingerichtet werden konnten, war zur Überraschung vieler genau diesen Vorbereitungen zu verdanken. Die Verfahren waren geregelt, notwendige Maßnahmen wurden stündlich eingeleitet, je nachdem, wie sich die Situation entwickelte. Die Nichtregierungsorganisationen fügten sich hier nahtlos ein und errichteten an der Grenze ihre Hilfsstationen. Im Endergebnis hat Polen die schwierige Prüfung der ersten Tage nach dem russischen Angriff auf die Ukraine gut bestanden.

Westliche Medien berichteten, dass am Tag des Kriegsbeginns die Alarmsirenen in Medyka ertönten.

Sie haben den Grund nicht verstanden: Es war die freiwillige Feuerwehr, die ihre Mitglieder zusammenrief, um zu Hilfsleistungen an die Grenze auszurücken.

Die Medien der totalen Opposition, wie sie sich selbst nennt, haben immer wieder behauptet, dass Freiwillige einspringen mussten, weil die Regierung nicht bereit war.

Das ist ein Irrtum. Die Herausforderung war so groß, dass es genug Aufgaben und Arbeit für alle gab. Das wurde von allen, die uns damals besuchten, betont. Sie sahen die großen staatlichen, kommunalen und freiwilligen Anstrengungen, und als Fachleute konnten sie auch die Effizienz der Regierung einschätzen. Vertreter des UNHCR, des UN-Flüchtlingshilfswerks, waren voll des Lobes.

Schwarzafrikaner auf der Flucht.

Die Medien haben die Komplexität der Situationen, mit denen wir konfrontiert waren, nicht immer verstanden. Nehmen wir zum Beispiel die Angehörigen von Drittstaaten, die aus der Ukraine geflohen sind. Es waren hauptsächlich junge Leute aus Afrika oder Asien, die dort studierten, es war eine wirklich große Gruppe. Andere hatten dort gearbeitet.

Es gab Anschuldigungen, dass es eine Rassensegregation an der Grenze gibt.

Das ist ein völliges Missverständnis. Die überwältigende Mehrheit der ukrainischen Flüchtlinge sind Frauen mit Kindern, die ein besonderes Gefühl der Sicherheit brauchen, einschließlich einer Zone der Intimität. Bei den Asiaten und Afrikanern handelte es sich um junge Männer, die schnell weiterziehen wollten. Will uns in diesem Zusammenhang wirklich jemand vorwerfen, dass wir beschlossen hatten, diese beiden Gruppen in verschiedene Zentren, in getrennte Säle zu schicken? Die Behauptungen einiger westlicher Medien, es handele sich um Rassensegregation, waren sehr unfair.

Haben Sie die Menschen beim Grenzübertritt kontrolliert?

Wir sind davon ausgegangen, dass jeder kontrolliert werden muss, schließlich ist die Sicherheit der Polen das Wichtigste. Aber nicht jeder hatte einen Pass, insbesondere Minderjährige. Einige Grenzübergänge, die nur für den motorisierten Verkehr geeignet waren, mussten plötzlich Tausende von Fußgängern aufnehmen. Auf der anderen Seite der Grenze bildeten sich Warteschlangen, so dass wir auch dorthin, in Zusammenarbeit mit den ukrainischen Grenzsoldaten, Wasser und Lebensmittel transportierten. Eine humanitäre Katastrophe wurde vermieden. Momentweise bestand diese Gefahr.

Heute sind wir stolz darauf, dass so viele Menschen gekommen sind und keine Flüchtlingslager errichtet werden mussten. Aber es gab eine Liste mit möglichen Standorten?

Wir haben immer noch Zehntausende freie Plätze in Sammelunterkünften. In der ersten Welle kamen hauptsächlich diejenigen, die einen klaren, präzisen Plan hatten. Das Zeichen dafür waren die Autos der Angehörigen, die an der Grenze auf sie warteten. Oft hatten sie bereits eine Anlaufstelle oder einen Reiseplan, oder sie beschlossen einfach, in Polen eine Unterkunft, eine Wohnung oder einen Arbeitsplatz zu suchen. Zu diesem Zeitpunkt nutzten nur 5 Prozent der Grenzgänger die Aufnahmestellen.

Ukrainische Flüchtlinge, Warschauer Messehalle.

Später stieg dieser Prozentsatz stark an. Viele der Geflüchteten sind zum ersten Mal im Ausland, viele haben durch den Krieg ihr ganzes Hab und Gut verloren. Wenn jemand angibt, dass er keine Unterkunft hat, wird er an eine der Sammelunterkünfte verwiesen. Von Anfang an haben wir Pensionen, Hotels und Beherbergungsbetriebe angemietet, keine Messe-, Sport- oder Konferenzhallen. Allerdings kann eine solche Notwendigkeit noch eintreten, niemand weiß, ob wir nicht in einiger Zeit mit einer weiteren Flüchtlingswelle konfrontiert werden. Wir haben eine Liste mit mehreren Hundert solcher Einrichtungen und genügend Ausstattung für alle.

Von Anfang an hatten wir lediglich zwei Messehallen in Warschau und in Nadarzyn bei Warschau als Orte für mehrtägige Aufenthalte vorgesehen, da sehr viele Flüchtlinge explizit nach Warschau wollen. Die Messehallen werden von Reisebussen aus der Ukraine direkt angefahren. Menschen können sich dort ausruhen, ihre Familien und Freunde anrufen und weiterziehen. Es gibt immer noch viele solcher Menschen.

Egal, welche Welle es war, alle wollten in die großen Städte gehen.

Das ist verständlich. Sie kennen Polen nicht, sie haben Angst, irgendwo weit ab vom Schuss zu landen, ohne Kontakte und Kommunikation. Aus der Ukraine bringen sie die Erfahrung mit, dass die Großstädte boomen, während die Provinz dahinvegetiert. Ich erinnere mich an einen Bus voller Frauen mit Kindern, denen wir sagten, wir würden nach Bydgoszcz (Bromberg – Anm. RdP) fahren. Der Name der Stadt sagte ihnen nichts. Also schlugen wir Pułtusk vor, eine Stadt in der Nähe von Warschau. Sie zögerten auch, erst als wir ihnen auf der Karte zeigten, wie nah es an der Hauptstadt lag, konnten wir ihre Bedenken ausräumen.

Ist jemand in Ihren Wahlkreis, Koszalin (Köslin – Anm. RdP), gekommen? Oder noch weiter gefasst: in die Woiwodschaft Westpommern?

Natürlich gibt es in meinem Wahlkreis Flüchtlinge, die lokale Gemeinschaft hilft ihnen sehr, und Radio Koszalin hat mit großem Erfolg Polnischkurse organisiert. Aber unser Bestreben, Züge von Przemyśl aus in verschiedene Regionen des Landes zu bringen, und nicht nur nach Warschau, Katowice und Kraków, ist auf verschiedene Hindernisse gestoßen.

Es gab einen Fall, bei dem mehrere Hundert Menschen nach Szczecin reisen sollten, aber nur etwa ein Dutzend ankamen. Die meisten von ihnen stiegen unterwegs in großen Städten aus. Ähnlich verhält es sich mit Zügen, die beispielsweise nach Olsztyn, Gdynia und Bydgoszcz fahren. Aber auch das kann man verstehen. Viele dieser Menschen dachten, dass der Krieg nicht lange dauern würde, sie wollten so nah wie möglich an der Grenze bleiben.

Ukrainische Urlauber, jetzt Flüchtlinge. Landung in Szczecin.

In Szczecin hingegen landeten etliche Flugzeuge mit ukrainischen Staatsbürgern, die sich auf Urlaubs- oder Geschäftsreisen befanden und nach Ausbruch des Krieges dort festsaßen, und nicht in ihr Land zurückkehren konnten. Auch der Flughafen in Poznań empfing solche Flugzeuge. In den ersten Tagen nach dem 24. Februar landeten in beiden Städten Maschinen aus der ganzen Welt mit Ukrainern an Bord.

Was geschah dann mit ihnen?

Viele von ihnen hatten die Ukraine für ein paar Tage verlassen, um Ferien zu machen oder Geschäften nachzugehen. Plötzlich stellte sich heraus, dass sie in Polen ein neues Leben beginnen mussten. Wir haben uns genauso um sie gekümmert wie um die Menschen, die direkt aus der Ukraine kamen.

Bei den Ukrainern handelt es sich in der Regel um talentierte, hart arbeitende Menschen. Ich kenne den Fall einer Familie, die auf dem Flughafen Goleniów in der Nähe von Szczecin landete und zu einer polnischen Familie im Kreis Stargard gebracht wurde. Schon nach einigen Tagen ging der Mann in die örtliche Schreinerei, und seine Frau begann, gegen Bezahlung verschiedene Arbeiten im Haushalt zu erledigen. Das zeigt, wie sehr sich diese Einwanderung von den Stereotypen unterscheidet, die manche Menschen in ihren Köpfen haben. Eine westliche Hilfsorganisation kam mit dem Angebot, Wasser und Zelte zu schicken. Es dauerte eine Weile, bis wir verstanden, was sie meinten, und haben dankend abgelehnt.

Kein Wunder, dass sie dieses Bild im Kopf hatten, so ist es oft in der Welt.

Einverstanden. Zum Glück ist das hier anders. Die Ukrainer gehen sehr würdevoll mit der Situation um, in der sie sich befinden. Sie sind dankbar für die Hilfe, denn sie mussten ihr Leben fast von einer Stunde auf die andere ändern. Aber sie haben sich schnell von dem Schock erholt, fast alle wollen schnell wieder auf die Beine kommen, Arbeit finden, ein normales Leben beginnen. Wir können feststellen, dass jeder Vierte in der PESEL-Datenbank  registrierte Ukrainer im erwerbsfähigen Alter eine Arbeit aufgenommen hat. Das sind weit über 100.000 Menschen. Anspruchshaltungen sind äußerst selten.

Ukrainische Flüchtlinge auf dem Warschauer Ostbahnhof.

Es gab jedoch auch Fälle, in denen Migranten auf Bahnhöfen kampierten. Warum?

Auch das ist ein sensibles Thema. Wir haben allen Flüchtlingen immer eine Unterkunft unter normalen Bedingungen angeboten. Aber viele waren entschlossen, sofort weiterzureisen. Sie warteten am Bahnhof auf den Zug, obwohl er erst zwei Tage später kommen sollte. Sie hatten Angst, dass wir sie in irgendeine Halle in der Provinz bringen würden und sie dort festsitzen würden. Erst als sich herumsprach, wie die Dinge in Polen organisiert waren, änderte sich das. Anfänglich haben sie den Informationen, die wir ihnen gegeben haben, nicht geglaubt.

Welche Ängste gab es noch?

Die Frauen fragten sehr häufig, ob man ihnen ihre Kinder wegnehmen würde, wenn sie zur Aufnahmestelle kämen. Ich sage das, um jeden zu bitten, bei der Beurteilung bestimmter Situationen Zurückhaltung zu üben, denn manchmal stehen menschliche Traumata oder Ängste im Hintergrund. Ich möchte Ihnen ein Beispiel geben: Großbritannien erteilte Zehntausende von Einreisevisa, aber die Leute, die sie bekamen, reisten zumeist nicht dorthin. Es stellte sich heraus, dass diese Visa als eine Art Versicherungspolice betrachtet werden. Sie wissen noch nicht, ob sie sie nutzen wollen. Auch das muss man verstehen.

Haben die bereits in Polen lebenden Ukrainer dazu beigetragen, die Ängste ihrer Landsleute zu zerstreuen?

Sehr sogar. Ein ukrainischer Freiwilliger, der den Besuchern erzählt, dass er selbst in Polen lebt, und ihnen versichert, dass es wirklich so funktioniert, wie in der Broschüre beschrieben oder wie es am Infostand dargestellt wird, war immer eine große und wirksame Hilfe bei der Überwindung von Ängsten, Traumata und Missverständnissen. Deshalb haben wir die notwendigen Mittel schnell umgeschichtet, um Ukrainisch-Sprachkurse für polnische Helfer zu organisieren.

„Wir sind mit euch“. Briefmarke der Polnischen Post.

Der Impuls des Herzens befiehlt es, Flüchtlinge unterzubringen, zu ernähren und ihre dringlichsten Bedürfnisse zu erfüllen. Aber wie soll es weitergehen? Wie kann man diese Masse von Menschen in die polnische Rechts- und Wirtschaftsordnung einfügen?

Im Allgemeinen verändert sich die Art der erforderlichen Unterstützung mit der Zeit. In den ersten 60 Tagen musste man sich auf die Grundbedürfnisse konzentrieren. Die nächsten 60 Tage, um die wir die Bezuschussung (umgerechnet ca. 8 Euro pro Tag und aufgenommene Person – Anm. RdP) für den Aufenthalt von Ukrainern in polnischen Familien verlängert haben, werden ein Übergang zur Anpassungsphase sein. Ziel ist es, bis Ende Juni Mechanismen zu schaffen, die es unseren Gästen ermöglichen, auf eigenen Füßen zu stehen und sich einzuleben.

Wird die Zeit der Förderung für die Aufnahme von Flüchtlingen in Familien noch einmal verlängert?

Solange es keine weitere große Migrationswelle gibt, nicht. Wir wollen, dass bis Ende Juni jeder, der dazu in der Lage ist, unabhängig wird. Natürlich wird es weiterhin Unterstützung geben, aber in anderer Form. Viel hängt von den Ukrainern selbst ab. Sie müssen entscheiden, ob sie länger bei uns bleiben, ob sie in die Gebiete zurückkehren, aus denen sich der Krieg zurückgezogen hat, oder ob sie weiter auf gepackten Koffern warten wollen.

Sie haben erwähnt, dass es unter den Flüchtlingen sehr viele Frauen mit Kindern gibt. Wenn sie zur Arbeit gehen, wer wird sich um die Kinder kümmern?

Wir planen die Einrichtung von Vorschulhorten für ukrainische Kinder. Wenn uns z. B. die UNICEF fragt, wie sie helfen kann, wofür wir Geld brauchen, zeigen wir auf solche Vorhaben.

Nach Angaben des Bildungsministeriums sind 200.000 ukrainische Kinder in das polnische Bildungssystem eingetreten, und 500.000 lernen im ukrainischen Fernunterricht.

Die ukrainische Regierung möchte, dass so viele Kinder wie möglich bei der zweiten Lösung bleiben. Wir respektieren das und bauen keinen Druck auf, den Unterricht in polnischen Schulen aufzunehmen. Aber es besteht auch kein Zweifel daran, dass jeder Monat Aufenthalt in Polen mehr Menschen dazu ermutigen wird, sich bei uns niederzulassen und ein normales Leben in Polen zu beginnen.

Einige Politiker haben wegen angeblicher Privilegien, vorrangig im Gesundheitswesen, Alarm geschlagen. Wie viel Wahrheit steckt darin?

Das ist Unsinn. Jeder Flüchtling aus der Ukraine erhält eine Aufenthaltsgenehmigung für achtzehn Monate und ein einmaliges Begrüßungsgeld von 300 Zloty (ca. 65 Euro – Anm. RdP). Sie können sofort eine Arbeit aufnehmen, was auch unser BIP erhöht und Lücken auf dem Arbeitsmarkt schließt. Sie können ihre Kinder in den Schulen anmelden und die Gesundheitsversorgung nach den gleichen Grundsätzen in Anspruch nehmen wie die Polen. Wo sind hier die Privilegien? Möchte jemand mit ihnen tauschen? Das glaube ich nicht.

An manchen Tagen kamen bis zu 100.000 Ukrainer auf der Flucht in Polen an.

Wir sollten auch nicht vergessen, dass die Hilfe für Flüchtlinge aus der Ukraine heute auch eine Investition in die Sicherheit Polens ist. Jede Anstrengung, die wir unternehmen, um unsere überfallenen Nachbarn zu verteidigen, trägt dazu bei. Und wenn ich mir die Stimmung der Polen anschaue, dann verstehen wir das im Allgemeinen alle, unabhängig von unseren sonstigen Ansichten.

Einige politisch erhitzte lokale Kommunalpolitiker der totalen Opposition haben versucht, aus der Flüchtlingsproblematik politisches Kapital zu schlagen.

Es gab einige solche Versuche, die aber schnell beendet wurden. Sie sahen ein, dass es dafür keinen Platz gibt. Der Bürgermeister einer großen Stadt änderte seine Einstellung, als er von mir hörte, dass wir nicht im Amt sind, um Probleme zu suchen, sondern um sie zu lösen. Und wenn ich erst anfangen würde, in den Medien über seine Schwächen zu sprechen, dann würde ich das Fernsehstudio so schnell nicht verlassen. Schließlich kann jeder über jeden herfallen, aber es geht nicht um uns, sondern um Menschen, die Hilfe brauchen.

Die Kommunen in den Woiwodschaften Lublin und Vorkarpatenland haben hervorragende Arbeit geleistet. Hrubieszów, Chełm, Tomaszów Lubelski, Rzeszów, Lublin, Przemyśl, Ustrzyki Dolne. Von einem Tag auf den anderen erschienen in diesen Städten Massen von Menschen, die Hilfe brauchten. Und sie haben es geschafft.

Auf der breiten ukrainischen Eisenbahnspur direkt nach Olkusz. Ankunft der Flüchtlinge.

Eine große Bewährungsprobe hat zum Beispiel auch die Stadt Olkusz unweit von Kraków in der Woiwodschaft Kleinpolen bestanden. Dank Gleisen mit einer passenden Spurweite für ukrainische Züge, gebaut für die Belieferung der örtlichen Stahlwerke, konnten Personenzüge aus der Ukraine direkt hierher geleitet werden. Innerhalb von 24 Stunden konnten mehrere Tausend Menschen auf diese Weise dorthin gelangen. Der Regierungspräsident von Kleinpolen hatte dort eine perfekte Aufnahmestelle organisiert, und es standen sofort Busse bereit, um die Flüchtlinge auf ganz Kleinpolen und Schlesien zu verteilen.

Über politische und ideologische Trennungen hinweg wurde viel erreicht. Wir haben die Prüfung als Staat, als Nation und als Gesellschaft bestanden.

Lesenswert auch: „Ansturm. Ukrainische Kinder an polnischen Schulen“ und „Geflüchtete Ukrainer. Gut für die Wirtschaft“.

RdP

Das Interview erschien im Wochenmagazin „Sieci“ („Netzwerk“) vom 22. Mai 2022.




12.06.2022. Der Ukraine-Krieg und die polnische Seele

Wir haben es schwarz auf weiß: Die Polen sind das pro-amerikanischste und am stärksten Russland ablehnende Volk der Welt.

Das geht aus einer von der Stiftung Alliance of Democracies zyklisch durchgeführten Erhebung hervor. Bürger aus 52 Ländern beantworten dabei Fragen zu ihrer Einstellung gegenüber den Großmächten der Welt. Die neueste Umfrage wurde im April und Mai 2022 abgehalten, also bereits nach dem Ausbruch des Krieges in der Ukraine. Die Ergebnisse zeigen, dass knapp 90 Prozent der Polen eine negative Einstellung gegenüber Russlands Handeln haben. Gleichzeitig loben sie die Vereinigten Staaten mehr, als es die Amerikaner selbst tun.

Diese Ergebnisse spiegeln treffend die polnischen Befindlichkeiten. Und sie erklären, weshalb es die Realisten in Polen so schwer haben, d.h. jene Politiker und Kommentatoren, die die Politik als einen nicht enden wollenden Wettstreit von Kräften und Interessen umschreiben, und nicht als einen Katalog von Werten, Hoffnungen und Wünschen.

Die antirussische Haltung der Polen ist zu einem großen Teil das Ergebnis historischer Erfahrungen. Der polnischen Teilungen sowie der sowjetischen Besetzung und der Unterwerfung durch Moskau im 20. Jahrhundert. Aus dieser Perspektive nehmen die Polen den russischen Überfall auf die Ukraine wahr, schätzen seine Folgen ein und fühlen sich ganz und gar bestätigt. „So kennen wir die Russen, so sind sie: brutal, primitiv, grausam.“

Kein Wunder also, dass die polnische Öffentlichkeit dazu neigt, sich allen aus Moskauer Sicht ungünstigen Berichten anzuschließen und solche zu verdrängen, die die Situation in einem anderen Licht zeigen. Daher werden Schilderungen, dass die russische Armee zusammenbricht, dass deren Angriffe erfolglos sind und sie nur Verluste erleidet, als wahr akzeptiert. Kurzum: Russland steht unmittelbar vor dem Zusammenbruch, ist ein Koloss auf tönernen Füßen. Ist das wirklich so und nur so? Realisten melden da ihre Zweifel an. Dass die polnischen Medien die Invasion als eine Kette von russischen Katastrophen darstellen, ist eine Form der Befriedigung der emotionalen Bedürfnisse des Publikums.

Die sehr starke Abneigung gegenüber Russland hilft auch ein anderes Rätsel zu lösen. Dieselben Leute, die glauben, dass Russland zerfällt, erwarten gleichzeitig, dass es jeden Moment in Polen einmarschieren wird. Da der Krieg mit Polen unvermeidlich ist, ist es für Polen umso besser, je länger die Kämpfe in der Ukraine andauern. Nur so kann ein Einmarsch russischer Truppen in Polen verhindert werden.

Doch wie kann man gleichzeitig an extreme Schwäche und totale Stärke glauben? Und: Sollte man nicht fragen, welche Kosten Polen bereit ist, auf sich zu nehmen, um Moskau zu schwächen? Wie viele ukrainische Kriegsflüchtlinge kann es noch aufnehmen? Wie viel kriegsbedingte Inflation kann es verkraften?

Es gibt Fragen über Fragen, aber sie werden zumeist ausgeblendet. Emotionen lassen sich nicht von Logik leiten. Übertriebene Zuversicht und übermäßige Angst, das Kippen von einem Extrem ins andere, sind psychologisch gesehen keine Seltenheit.

Eine weitere prägende polnische Befindlichkeit ist das fast blinde Vertrauen in die Fähigkeiten Amerikas und das nicht minder merkwürdige und starke Vertrauen in seine guten Absichten. Die Polen lieben Amerika, mehr als die Amerikaner selbst, so das Fazit der eingangs erwähnten Umfrage. Sie idealisieren es. Sie wollen es nicht wahrhaben, dass die USA, auch wenn sie die einzige demokratische Großmacht sind, oft nur ihre eigenen Interessen verfolgen und um Geltung für sich kämpfen. Mit diesem emotionalen Vorteil und dem Wissen um die polnische Liebe ist es für Amerika ein Leichtes, sich in Polen durchzusetzen.


Das wiederum hängt mit einem weiteren Merkmal der polnischen Mentalität zusammen, einem Erbe der Romantik. Die Politik wird nicht in den Kategorien von Stärke und Schwäche wahrgenommen. Was sie prägen soll sind Werte. Folglich ist der Kampf um mehr Einflussnahme und Vorteile in den Augen der Polen vor allem ein Kampf zwischen Gut und Böse, zwischen den Mächten des Lichts und den Mächten der Finsternis.

Deshalb können polnische Politiker nicht das tun, was die Politiker woanders seit Jahrhunderten praktizieren: auf Zeit spielen, ausweichen, Bündnisse schließen und wechseln, andere zynisch hinters Licht führen. Die polnische Öffentlichkeit weigert sich in ihrer Mehrheit zur Kenntnis zu nehmen, dass sich das Gute und das Böse nur selten, vielleicht sogar nie, in Reinkultur offenbaren. Selbst während des Zweiten Weltkriegs ging, wer Hitlers Bösem ein Ende setzen wollte, ein Bündnis mit Stalins nicht weniger Bösem ein. Das freie Polen bot beiden die Stirn.

Man paktiert nicht mit dem Bösen, das Gute muss unterstützt werden. Dieser Grundsatz, übertragen auf den Bereich der konkreten Politik, bedeutet, dass die meisten Polen, wie Untersuchungen erneut zeigen, radikalste Sanktionen gegen Russland wollen, auch wenn das ihren Interessen drastisch zuwiderläuft. Diese Haltung wiederum befreit die Regierung von der Notwendigkeit, sich für die steigenden Lebenshaltungskosten und andere kriegsbedingte Unwägbarkeiten zu erklären, solange sie auf der Seite des Guten steht.

Eigentlich heißt es zu Recht, dass Emotionen keine guten Ratgeber in der Politik sind. Aber vielleicht leben wir inzwischen doch in einer besseren Welt und die alten Wahrheiten sind nicht mehr gültig?

RdP




Das Wichtigste aus Polen 17. April bis 21. Mai 2022

Aleksandra Rybińska und Janusz Tycner diskutieren die wichtigsten Ereignisse der letzten Zeit in Polen ♦ Putinflation oder hausgemacht? Hoher Preisanstieg und heftige innenpolitische Debatte über die Inflation ♦ Keine Konflikte. Gut 2 Millionen Ukraineflüchtlinge haben sich eingelebt, wenn es nur mehr Wohnungen gäbe ♦ Frontstaat Polen: Risiken und Chancen ♦ Ringen um den EU-Wiederaufbaufonds.




Das Wichtigste aus Polen 13. März bis 16. April 2022

Aleksandra Rybińska und Janusz Tycner diskutieren die wichtigsten Ereignisse der letzten Zeit in Polen ♦ Polens politische Aktivitäten im Ukrainekrieg. Vorläufige Bilanz ♦ Ukrainische Flüchtlinge. Aufnahme konfliktlos aber nicht problemlos ♦ Viktor Orbans Haltung zum Ukrainekrieg beschädigt die polnisch-ungarischen Beziehungen ♦ Deutsche Zeitenwende aus polnischer Perspektive ♦ Angela Merkel. Ein Denkmal bröckelt.