Pole belebt da Vincis Tochter

Viola Organista: Streichorchester und Orgel in einem.

Leonardo da Vinci hat sie erfunden und entworfen, danach ist sie ganz und gar in Vergessenheit geraten: die Viola Organista. Spieltauglich konstruiert wurde sie gut fünfhundert Jahre später, nach den Vorgaben des genialen Italieners, vom polnischen Pianisten und Musikinstrumententüftler Sławomir Zubrzycki.

Polens grӧßtes Wochenmagazin „Gość Niedzielny“ („Der Sonntagsgast“) widmete Zubrzycki (fonetisch: Subschitzki) und seinem Werk am 1. Mai 2016 einen Bericht, den wir nachfolgend in großen Auszügen wiedergeben.

Der gebürtige Krakauer ist ein renommierter Berufspianist und Klavichord-Virtuose. Er hat sein Klavierstudium an der Musikakademie in Kraków absolviert und studierte danach als Fulbright-Stipendiat am Boston Conservatory. Seit etwa sieben Jahren dreht sich sein Leben fast ausschließlich um ein Musikinstrument, von dem bis vor kurzem kaum jemand gehӧrt hat. Der Schӧpfer der „Mona Lisa“ und zugleich der wohl genialste Universalgelehrte aller Zeiten hatte viele Ideen und Entwürfe hinterlassen, die ihrer Epoche weit voraus gewesen sind. Acht Skizzen widmete Leonardo da Vinci seiner Viola Organista.

Viola organista Leonardo da Vinvi Uffizien, Florenz
Leonardo da Vinci. Skulptur Uffizien, Florenz.

„Ich mag solche Herausforderungen“, berichtet Zubrzycki. Vor gut zwei Jahrzehnten hat er eine Kopie des Klavichords aus dem Jahr 1775 von Johann Silbermann (1712-1783) angefertigt, eines herausragenden elsässischen Orgelbauers. Das Klavichord wird als der Vorgänger des Klaviers angesehen.

„Einige Jahre später hat mich mein Kollege Kazimierz Pyzik auf ein Instrument hingewiesen, das um 1830 der polnische Pfarrer, Musiktheoretiker und Instrumentebauer Jan Jarmusewicz (1781-1844) in Łańcut (ca. 30 Kilometer ӧstlich von Rzeszów in Südostpolen – Anm. RdP) gebaut hat. Ein Bericht aus jener Zeit sprach von einer Klavioline, einem Streichklavier. Das hat mich fasziniert.“, erzählt Zubrzycki.

Er begann nachzuforschen und stieß auf eine weitere aufregende Information. Der Ideengeber eines solchen Instruments war Leonardo da Vinci (1452-1519). Wahrscheinlich erfand das Genie, auf der Suche nach dem idealen Klangkӧrper, einen, der die Merkmale eines Tasten- und eines Streichinstruments in sich vereinigte. Zum damaligen Zeitpunkt schien das, in der Welt der Musik, die optimale Lӧsung zu sein.

Viola Organista Codex Atlanticus (page 93) fot
Viola Organista. Da Vincis Entwurf im „Codex Atlanticus“, Seite 93.

So groß wie ein Klavichord, besaß das Instrument den Klang eines Cellos, teilweise klang es so kräftig wie eine Orgel, und hatte eigentlich eine große Zukunft vor sich. Warum ist nichts daraus geworden?

„Ich verstehe es auch nicht. Vielleicht gab es ein unüberwindbares technisches Problem?“, rätselt Zubrzycki. „Schließlich hat man seit da Vincis Tod einige Male versucht seine Erfindung dauerhaft zu beleben. Es gelang nicht.“

Das erste Instrument nach der Idee von da Vinci konstruierte 1575 in Nürnberg der deutsche Musikinstrumentenbauer und Organist Hans Heyden (1536-1613) und nannte es Geigenwerk oder Geigenklavizimbel. 1576 hat Heyden das Instrument in der von Orlandus Lassus geleiteten Münchener Hofkapelle vorgestellt.

Viola Organista Geigenwerk-Hans-Hyden-1575 fot
Hans Heydens Geigenwerk.

Beim Geigenwerk wurden die Saiten wie bei einer Drehleier zum Schwingen gebracht. Heyden ließ im Jahre 1610 die Beschreibung seines Geigenwerkes unter dem Titel „Musicale instrumentum reformatum” drucken. Darin beschreibt er seine Vorteile, wie einen lange anhaltenden Ton, das Vibrato und die Möglichkeit Nuancen hervorzubringen. Von dem Originalinstrument gibt es heute lediglich noch die Beschreibungen des Erbauers und die von Michael Praetorius, in seinem Werk „Syntagma musicum“ aus dem Jahr 1618.

Im Brüsseler Instrumentenmuseum befindet sich ein, 1625 von Raymundo Truchado in Spanien erbautes, Geigenwerk. Eine Eigenerfindung, die nicht mehr spielbar ist. In letzter Zeit wurde in Japan ein Rekonstruktionsversuch unternommen, doch das Ergebnis war enttäuschend.

„Nach dem ich das alles erfahren habe, stand mein Entschluss fest“, erzählt Zubrzycki.

Das erste große Problem bestand darin, dass da Vinci nicht die eine Viola Organista skizziert hat, sondern acht verschiedene Varianten von ihr, weil er seine Erfindung ständig verfeinert hat. „Meine Idee war, die Skizzen da Vincis und den Entwicklungsstand der Musik am Ende des 15. Jahrhunderts gegeneinander abzuwägen. Das Instrument war ja für diese Musik gedacht. Ich hatte auch beschlossen alle vorhergehenden Rekonstruktionsversuche vӧllig außer Acht zu lassen. Es sollte nach Mӧglichkeit ein da-Vinci-Instrument in Reinkultur werden“, sagt Zubrzycki.

Während der Arbeit an diesem Instrument (Aufnahmen hier– Anm. RdP) musste er seine musikalischen Fähigkeiten mit seinen Kenntnissen über Tischlerei- und den Bau von Streichinstrumenten zusammenfügen. „Ständig galt es zu erwägen, wie sich das verwendete Holz verhalten wird, wie es den Klang beeinflussen würde. Ein gewӧhnlicher Instrumentenbauer, der Klaviere oder Klavichorde fertigt, arbeitet nach gewissen Standards und Schemata. Ich dagegen musste ständig experimentieren, vӧllig neue Wege beschreiten“, erinnert sich Zubrzycki.

Drei Jahre und mehr als 5000 Stunden hat Slawomir Zubrzycki für den Bau des Instruments benötigt. Das Ergebnis übertraf alle Erwartungen. Der Nachbau erinnert an ein Piano, doch die 61 Saiten werden nicht mit Hämmern zum Klingen gebracht, sondern von einem mit Pferdehaaren bezogenen Räderwerk wie ein Streichinstrument gespielt. Klavichordähnlich klingt Zubrzyckis Konstruktion, mal wie ein Streichorchester, mal wie eine Orgel.

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Viola Organista. Das Innenleben.

Nach der Fertigstellung 2013 präsentierte Zubrzycki sein Werk weltweit erfolgreich auf vielen Festivals. „Vor mir steht die große Aufgabe meine Spieltechnik zu vervollkommnen und ein neues Repertoire einzustudieren.“

Die mit Eleganz und Raffinesse gefertigte Viola Orgnista ist geradezu eine Augenweide, ein Kunstwerk aus Holz in weiβ, blau und rot gehalten. Auf der Innenseite des Deckels prangen in Latein die Worte Hildegard von Bingens: „Den heiligen Propheten gleich, haben eifrige und weise Männer durch menschliche Kunstfertigkeit vielerlei Musikinstrumente erfunden, um in Herzensfreude spielen zu können.“

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Hildegard-von-Bingen-Zitat auf der Innenseite des Deckels.

Als ich nach dem ersten ӧffentlichen Konzert 2013 gesagt bekam, dass die Klänge dieses Instruments den Menschen sehr nahe gingen, sogar etwas Mystisches in sich trugen, da wusste ich, dass dieses Zitat treffend sei“, sagt Zubrzycki.

Zubrzyckis technische Leistung fand allgemeine Anerkennung. Es gab jedoch auch kritische Stimmen aus der Musikfachwelt. Die Viola Organista klingt zwar originell, aber ist der Klang wirklich durchgehend so schӧn? Vielleicht hat man, gerade wegen dieses gewӧhnungsbedürftigen Klangs, das von Heyden 1575 rekonstruierte Geigenwerk auch so schnell wieder vergessen, spekulierten die Kritiker.

Der Karriere des wiederbelebten Instruments und seines polnischen Erbauers tat das keinen Abbruch. Allein der Name da Vinci beflügelt dabei die Phantasie. Kein Wunder, dass sich die Kunde von der „Wiederauferstehung der da-Vinci-Tochter“ wie ein Lauffeuer den Weg durch die Musikwelt bahnte. Die Aufnahmen der ersten Vorführung der Viola Organista, beim Musikfestival der Stadt Kraków 2013, haben auf YouTube inzwischen gut drei Millionen Neugierige aufgerufen.

Es hagelte Einladungen in die ganze Welt. Aus Spenden wurde die erste CD finanziert: „Viola organista – The da Vinci Sound“. Sie enthält acht Werke aus der Barockzeit, darunter das einzige, das in der Musikgeschichte für ein Streichklavier komponiert wurde: die „Sonate für ein Bogenklavier“ von Carl Philipp Emmanuel Bach.
Eine Komposition auf der CD stammt hӧchstwahrscheinlich von da Vinci selbst. Es handelt sich dabei um die Rekonstruktion einer Komposition, deren Fragment sich auf einem Notenblatt befindet, das auf dem da-Vinci-Gemälde „Bildnis eines Musikers“ zu sehen ist. Die fehlenden Noten hat der bereits erwähnte Zubrzycki-Freund Kazimierz Pyzik, Komponist, Musiktheoretiker und Kenner der Epoche, ergänzt.

Pinacoteca Amboroasiana Mailand fot
Leonardo da Vinci, „Bildnis eines Musikers“. Pinacoteca Ambrosiana, Mailand.

Zubrzyckis CD fiel der isländischen Musikerin Bjӧrk in die Hände, als sie gerade die instrumentale Streichversion ihres Albums „Vulnicura“ aufnahm. Die Klänge der Viola Organista zogen sie dermaßen in ihren Bann, dass sie ihre gesamte Aufnahme umkrempelte, um dieses Instrument mit auf ihre CD zu bekommen.

„Das alles wurde mir „von Oben“ gegӧnnt. So etwas kann man nicht planen“, sagt Zubrzycki mit voller Überzeugung. „Es ist unbeschreiblich, was meine Rekonstruktion der Viola Organista in Bewegung gesetzt hat“, berichtet er weiter. „Ich muss dafür sorgen, dass das alles nicht vergeudet wird. Seit gut sechs Jahren tue ich nichts anderes als die Viola Organista in die Musikwelt einzubringen. Es ist inzwischen zu meinem wichtigsten Lebensinhalt geworden. So etwas widerfährt einem Menschen nur einmal im Leben“.
RdP