4.06.2023. Lex Tusk, Lex Merkel, Lex Schröder, Lex Schwesig, Lex…

Die Hysterie ist groß und man wundert sich sehr. Die geplante Kommission zur Ausleuchtung russischer Einflussnahmen auf die polnische Politik soll ein Anschlag auf die Rechtsstaatlichkeit und die Opposition im Lande, vor allem aber auf Donald Tusks politische Karriere sein.

Dabei haben Tusk, seine engsten politischen Mitarbeiter und deren mediale Unterstützer monatelang immer wieder lautstark gefordert, endlich einen solchen Ausschuss einzusetzen. Er sollte die Regierenden: Jarosław Kaczyński, Mateusz Morawiecki u. v. a. m. bloßstellen, weil sie angeblich gemeinsame Sache mit Putin gemacht haben und weiterhin machen.

Sie hatten, so der Vorwurf, vor dem Ukraine-Krieg Kontakte zu putinfreundlichen konservativen Politikern wie Marine Le Pen oder Viktor Orban unterhalten. Und sie haben nicht schnell genug, weil „erst” Mitte April 2022, knapp zwei Monate nach Kriegsausbruch, die „mit ukrainischem Blut befleckten” Kohleimporte aus Russland gestoppt. Die EU hat dazu zwar ein halbes Jahr gebraucht, aber was solls. Schlimmer noch, sie sollen sogar gemeinsam mit Putin eine polnisch-russische Aufteilung der Ukraine geplant haben, so der Tusk-Intimus und ehemalige Außenminister Sikorski.

Kurzum: Die gegenüber Russland wohl am unversöhnlichsten eingestellte Regierung Europas ist in Wirklichkeit ein perfekt getarnter Ring von Putin-Fans. Donald Tusk selbst und ihm ergebene Medien, wie die „Gazeta Wyborcza” oder der Fernsehsender TVN, um nur zwei von vielen zu nennen, haben diese Behauptung nicht bloß einmal aus voller Kehle kundgetan.

Ein alter chinesischer Fluch lautet: „Sollen deine Wünsche in Erfüllung gehen!”. Die Regierenden haben sich Tusks permanente Aufforderungen zu Herzen genommen. Der vor Kurzem angebahnte Untersuchungsausschuss soll, fairerweise, ihre eigene bisherige Amtszeit (2015 bis 2022) auf russische Einflussnahmen hin, aber auch die von Tusk und seiner ein Jahr lang amtierenden Nachfolgerin Ewa Kopacz (2007-2015) durchleuchten.

Das sorgt im Tusk-Lager für Panik. Und allein schon der krasse Unterschied im Fotobestand in den Archiven der Weltmedien erklärt, warum das so ist. Es gibt nämlich kein einziges Foto von Putin gemeinsam mit Jarosław Kaczyński, Morawiecki oder Staatspräsident Andrzej Duda. Sie haben Putin nie getroffen. Deswegen machte ihnen Tusk seinerzeit immer wieder den Vorwurf der Russophobie.

Die Auswahl der gemeinsamen Fotos Tusks mit Putin, von denen viele einen herzlichen, vertrauensvollen Umgang belegen, ist hingegen groß. Ebenso bemerkenswert ist die Zahl von Putin- und russlandenthusiastischen TV-Mitschnitten aus Tusks Parlamentsreden, Pressekonferenzen, seinem Besuch im Kreml 2008, Putins Polen-Besuch 2009, Tusks Begegnungen mit Putin in Katyn vor (am 7.04.2010) und nach der Smolensk-Flugzeugkatastrophe (am 10.04.2010).

Das macht sich nicht gut. Noch schlechter macht sich Tusks politische Ӧffnung und Annäherung an Russland, die auch nach dem russischen Überfall auf Georgien 2008 und der Krim-Annexion 2014 fortgesetzt wurden. Tusks Devise lautete: „Wir wollen Dialog führen mit einem Russland, so wie es ist”.

Und so nahm das Unheil seinen Lauf. Anstatt die Gas- und Ӧlimporte zu diversifizieren, setzte Tusk auf eine völlige Abhängigkeit von Russland. Es gab eine innige, vertraglich verbriefte Kooperation der Geheimdienste. Russlands Außenminister Lawrow wurde im September 2010 nach Warschau eingeladen, um polnische Botschafter aus der ganzen Welt bei ihrer Jahreskonferenz zu briefen. Sogar der polnische zentrale Wahlausschuss reiste noch im Mai 2013 „zur Schulung” nach Moskau.

Tusk trägt dafür die volle politische Verantwortung. Aber das weiß man bereits ohne den Ausschuss, der angeblich Tusk und die Seinen diskreditieren soll. Dafür hat bereits das eigene Russland-Gebaren ausreichend gesorgt. Allenfalls kann die die Kommission die Hintergründe zutage fördern.

Jetzt schreien Tusk und mit ihm all die Gegner der polnischen Regierenden im In- und Ausland Zeter und Mordio. Es hagelt Vorwürfe und schwere Anklagen. Zu Recht?

  1. Angeblich sind die Entscheidungen der Kommission nicht anfechtbar. Die Kontrolle der Gerichte fehlt.

FALSCH. Die Kommission ist ein Organ der öffentlichen Verwaltung und erlässt Verwaltungsentscheidungen, die die Möglichkeit beinhalten, dagegen Rechtsmittel einzulegen. Gegen die Beschlussfassungen der Kommission (erste Instanz) kann daher beim Woiwodschafts-Verwaltungsgericht (zweite Instanz) und beim Obersten Verwaltungsgericht (dritte Instanz) Berufung eingelegt werden. Beide Gerichte können die Entscheidungen der Kommission aussetzen, aufheben, sie an diese zur erneuten Prüfung zurückverweisen. Sie können nicht nur Verfahrensfehler der Kommission beanstanden, sondern die Zuständigkeit an sich ziehen und selbst in der Sache ein Urteil fällen.

  1. Die Entscheidung der Kommission führt dazu, dass man nicht mehr für den Sejm kandidieren kann.

FALSCH. Nach polnischem Recht dürfen nur Personen, die wegen einer vorsätzlichen Straftat, die von Amts wegen verfolgt wird und rechtskräftig zu einer Freiheitsstrafe verurteilt wurden, nicht für den Sejm kandidieren. Die Kommission kann keine Haftstrafen verhängen. Das eventuelle Verbot, 10 Jahre lang keine öffentlichen Ämter zu bekleiden, bezieht sich nicht auf den Parlamentssitz.

  1. Die Kommission wird ihre Arbeit am 17. September 2023, unmittelbar vor den Parlamentswahlen, abschließen.

FALSCH. Die Kommission wird, wie im Gesetz vorgesehen, am 17. September 2023 den ersten Bericht über ihre Arbeit vorlegen. Dieser wird zukünftig jährlich abgegeben werden.

4. Warum eine Überprüfungskommission und nicht ein parlamentarischer  Untersuchungsausschuss? Das wird die Politisierung fördern.

FALSCH. Im Gegenteil, die Kommission wird weniger politisiert dadurch, dass sie nicht nur Parlamentarier, sondern auch externe Experten einbeziehen kann. Darüber hinaus haben alle parlamentarischen Fraktionen das Recht, ihre Kandidaten für die Kommission vorzuschlagen. Staatspräsident Duda hat gerade eine Novelle vorgelegt, keine Parlamentarier, sondern nur Fachleute in die Kommission zu berufen.

  1. Die Kommission wurde gegen Donald Tusk eingesetzt, daher wird sie in den Medien als „Lex Tusk“ bezeichnet.

FALSCH. Von Donald Tusk ist in dem Gesetz nirgendwo die Rede. Es geht um russische Einflussnahmen während und nach seiner Amtszeit.

Doch was waren die Beweggründe für Tusks Russlandliebe? Vielleicht erfahren wir bald mehr darüber. Der Verdacht liegt jedenfalls nahe, dass Tusk auch in diesem Fall als politischer Ziehsohn und eifriger Willensvollstrecker Angela Merkels agiert hat. Das „pflegeleichte” Polen unter Tusks Führung sollte Deutschland in seiner grenzenlos russlandorientierten Politik durch etwaige Vorbehalte, laut formulierte Ängste oder gar mahnende Warnungen keine Steine in den Weg legen. Tusk sorgte dafür und wurde für seine Treue, auf Betreiben Berlins, mit dem Amt des EU-Ratsvorsitzenden belohnt.

Er war eine Bauernfigur auf dem Schachbrett der deutschen Russlandpolitik. Die Rollen des Königs, der Königin und aller anderen Figuren waren bereits Angela Merkel, Gerhard Schröder, Frank-Walter Steinmeier, Sigmar Gabriel, Manuela Schwesig, Matthias Platzeck, Armin Laschet, Wolfgang Kubicki, Sahra Wagenknecht  u. v. a. m. zugedacht.

Ein Teil von ihnen amtiert weiter, der Rest genießt unbelangt den Ruhestand, wird gar, wie Frau Merkel, mit Orden behängt. Derweil steigt die russlandfreundliche AfD im Ansehen, huldigt Putin auf den Straßen und in den sozialen Netzwerken, gemeinsam mit anderen rechten Milieus, mit der Linken, mit den radikalen Ӧko-, Klima- und Friedensbewegten sowie den sehr vielen ungebundenen deutschen Putin-Sympathisanten.

Ein Untersuchungsausschuss in Deutschland zur Aufarbeitung all dessen? Nichts dergleichen. Dafür, ohne offensichtlich das entsprechende Gesetz überhaupt gelesen zu haben, Unterstellungen und hysterische Attacken auf das polnische Bestreben, die Russland-Verstrickungen auszuleuchten. Treue zu erfahren ist Glück. Deutschland lässt seine polnischen Russlandversteher nicht im Stich.

RdP




22.12.2022. Wintertest. Russland ist entbehrlich geworden

Die Kältewelle, die im Dezember 2022 über Europa hinwegfegte, hatte auch politische Folgen, und zwar von epochaler Bedeutung. Es ist nämlich klar geworden, dass Russland es nicht geschafft hat, Europa mit seinen Energiewaffen in die Knie zu zwingen. Die europäischen Energieversorgungssysteme haben zwar geächzt, aber sie sind nicht zusammengebrochen:

Die Lichter blieben an. Die Fabriken arbeiteten. Die Einkaufszentren waren geöffnet, und die Wohnungen wurden beheizt, auch wenn das alles viel mehr gekostet hat als noch vor einem Jahr.

Es geschah während die beiden Nord Stream-Gasleitungen außer Betrieb sind, die russischen Gaslieferungen durch Sanktionen auf ein winziges Rinnsal gestutzt wurden und die EU-Staaten sich auf einen Höchstpreis für russisches Erdgas festgelegt haben.

Europa wurde durch zusätzliche Flüssiggaslieferungen aus den USA und Katar und durch die ersten Transporte von den neuen Gasfeldern vor der Küste Mosambiks, einer sehr vielversprechenden Versorgungsquelle, gerettet. Zudem schaffte es der Westen, seinen Energieverbrauch zu drosseln.

Jetzt deutet alles darauf hin, dass unser Kontinent durch den Winter kommen wird, ohne in eine katastrophale Energienotlage zu geraten. Wir haben noch den Januar und den Februar vor uns, die beiden kältesten Monate des Jahres, aber es ist bereits klar, dass das neue System funktioniert. Der erste und wichtigste Test ist bestanden.

Für Russland gleicht das einer Katastrophe. Offensichtlich hat Putin den freien Markt unterschätzt. Gewiss, der freie Markt ist nicht perfekt, aber eins muss man ihm lassen: Er ist sehr flexibel. Höhere Preise generieren zusätzliche Lieferungen aus anderen Quellen.

Die Energiekarte in der Hand, wollte Putin den Westen zwingen, seine Unterstützung für die kämpfende Ukraine zurückzuziehen. Doch er konnte diese Karte nur einmal ausspielen. Jetzt kann er den Westen nicht mehr mit der Drohung einschüchtern, die Energielieferungen zu unterbrechen. Die Drohung hat sich als leer erwiesen.

Zudem hat Putin im Zuge dieser Inszenierung seine eigene Wirtschaft zerstört. Warum? Weil Russland, abgesehen von Gas und Öl, nichts produziert, was für die Außenwelt von existenzieller Bedeutung wäre. Und inzwischen gehören die Zeiten, in denen Russland ein großer Energieexporteur war, der Vergangenheit an.

Außer den Atomwaffen hat Russland alles in die Waagschale geworfen, was es besitzt. Vergeblich. Wenn der Westen den ersten Winter übersteht, wird er auch in den darauffolgenden Wintern Herr der Lage sein und umso besser ohne russische Importe auskommen. Er wird auch die Inflation in den Griff bekommen, die Europa und den Vereinigten Staaten so sehr zu schaffen macht.

Diese Gesamtentwicklung zeichnet sich immer deutlicher ab und sie wird sich durchsetzen, freilich unter einer Bedingung: Es werden mit Putin keine faulen Kompromisse geschlossen.

RdP




Durchstich zur Freiheit. Von A bis Z

Der Kanal durch die Frische Nehrung wurde Wirklichkeit.

Polen baggerte am Frischen Haff, dicht an der Grenze zu Russland, einen Zugang zu seinem bis dahin weitgehend abgeschnittenen Hafen in Elbląg und beseitigte mit der Eröffnung des Durchstichs am 17. September 2022 die seit 1945 andauernde russische Blockade.

Auf den ersten Blick – die Frische Nehrung und das Frische Haff

Die Frische Nehrung (polnisch Mierzeja Wiślana, fonetisch Mescheja Wislana – „Weichsel-Nehrung“, russisch Baltijskaja Kossa – „Baltische Nehrung“) ist eine schmale, sandige Landzunge von rund 70 Kilometern Länge und einigen hundert Metern Breite (maximal 1,8 Kilometer). Sie verläuft in nordöstlicher Richtung und trennt das Frische Haff von der offenen Ostsee (Danziger Bucht) ab.

Quer über die Frische Nehrung und das Frische Haff führt die Grenze zwischen Polen und Russland (Kaliningrader Gebiet). Alle Siedlungen auf der polnischen Seite waren einst Fischerdörfer. Heute sind es Erholungsorte.

Mit einer Fläche von 838 Quadratkilometern ist das Frische Haff etwa anderthalbmal so groß wie der Bodensee. Zu Polen gehören 328, zu Russland 510 Quadratkilometer des Haffs. Bei 90 Kilometern Länge ist das Haff 7 bis 15 Kilometer breit und nur 3 bis 6 Meter tief (tiefste Stelle auf polnischem Gebiet: 4,40 Meter).

Pillauer Seetief. Luftaufnahme.

Das Pillauer Seetief, die einzige Verbindung zwischen dem Frischen Haff und der offenen Ostsee, befindet sich auf der russischen Seite der Frischen Nehrung. Das Pillauer Seetief ist 2 Kilometer lang, zwischen 450 und 750 Meter breit und 12 Meter tief. Über den Kaliningrader/ Königsberger Seekanal mit einer Fahrrinnentiefe von ungefähr 9 Metern gelangen die Schiffe nach einer knapp 45 Kilometer langen Fahrt nach Kaliningrad. Die Entfernung nach Elbląg durch die Pillauer Rinne beträgt knapp 85 Kilometer.

Vor allem bei Stürmen über der Ostsee dringt durch das Pillauer Seetief Meerwasser ins Frische Haff ein. Salzwasser macht zwei Drittel der gesamten Wasserzufuhr ins Haff aus. Der Rest wird gespeist durch die ins Haff mündenden Flüsse. Zu den gröβten zählen Szkarpawa/Elbinger Weichsel, Nogat, Elbląg/Elbing, Pasłęka/Passarge in Polen und der Pregel in Russland.

Das Brackwasser im Haff weist bei Baltijsk/Pillau einen Salzgehalt von 5,5 Promille aus. Auf der polnischen Seite, bei Frombork/Frauenburg und Krynica Morska/Kahlberg, sind es nur noch 2,2 Promille. Im Haff leben sowohl Süß- als auch Salzwasserfische: u. a. Aale, Barsche, Brassen, Dorsche, Heringe, Lachse, Meerforellen, Rotaugen, Stichlinge und Zander.

Polnische Fischer im Frischen Haff.

Im Jahr 2017 waren im polnischen Teil 123 Fischerboote zugelassen, mit denen gut 1.850 Tonnen Fisch gefangen wurden. Entsprechende Angaben aus dem russischen Teil des Haffs sind lückenhaft und oft widersprüchlich. Zwar legt jedes Jahr die Gemischte Polnisch-Russische Fischwirtschaftskommission Fangquoten im Haff fest, Russland weigert sich jedoch, gegenseitige Kontrollen zuzulassen.

Im polnischen Teil des Haffs spielt die Fischerei mittlerweile eine dem Fremdenverkehr untergeordnete Rolle. Die Versorgung mit frischem Fisch gehört jedoch zweifelsohne zu den regionalen touristischen Hauptattraktionen. Die gesamte Ausbeute wird direkt am Haff verspeist.

Die Ausschreibung 

Zum Bau eines Kanals reichten 2018 sieben Unternehmen Angebote ein. Dabei sprengten sie jedoch die 2016 kalkulierten Kosten von insgesamt 205 Millionen Euro, denn die Baupreise waren inzwischen deutlich gestiegen. Der Urząd (fonetisch Uschond) Morski w Gdyni (Seeamt in Gdingen) öffnete am 22. Mai 2019 die eingereichten Offerten, von denen er sechs in Betracht zog. Sie bezogen sich auf die erste Bauphase, für die 167 Millionen Euro angesetzt waren.

Seeamt in Gdynia. Sitz und Emblem.

Am kostengünstigsten waren mit je 231 Millionen Euro die Angebote der belgischen Gesellschaft BESIX gemeinsam mit zwei polnischen Firmen aus der NDI-Gruppe und das Angebot des polnischen Bauunternehmens Budimex S.A. gemeinsam mit der spanischen Ferrovial Agroman SA. Die teuerste Offerte stammte mit 267 Millionen Euro von einem Konsortium bestehend aus der polnischen Firma Polbud-Pomorze Sp. z o.o. und zwei chinesischen Gesellschaften. Zu den übrigen Bietern zählten weitere chinesische Akteure und Energopol-Szczecin S.A. aus Szczecin/Stettin.

Den Zuschlag bekam das belgisch-polnische Konsortium. Die Bauarbeiten begannen im Herbst 2019 und wurden im Sommer 2022 planmäßig beendet.

Das Bauvorhaben in toto

Neben dem Kanal mit einer Schleuse beinhaltete die Projektplanung den Bau eines zur Ostseeseite hin durch weit ausholende Wellenbrecher gesicherten Hafens, sowie Ankerplätze für wartende Schiffe an beiden Enden des Kanals und eine künstliche Insel (→ Insel) im Frischen Haff.

Weit ausholende Wellenbrecher schützen den Kanal von der Ostseeseite her.

Die zweite Bauphase sieht Arbeiten an den Ufern des Flusses Elbląg auf dem Gebiet der gleichnamigen Stadt sowie am sechs Kilometer weiter im Landesinneren liegenden Elbinger Hafen vor. Eine entsprechende Ausschreibung fand 2019 statt. Diese Arbeiten sollen bis Ende 2023 verwirklicht sein.

Bisher hat das Hafenbecken von Elbląg eine Tiefe von 2,5 Metern, was Schiffen mit einem Tiefgang von maximal 2 Metern das Anlegen erlaubt. Die fünf Kaianlagen, gut ausgerüstet und gepflegt, haben eine Gesamtlänge von 2,5 Kilometern.

Der dritte und letzte Projektabschnitt beinhaltet die Aushebung einer 10 Kilometer langen, 100 Meter breiten und 5 Meter tiefen Fahrrinne vom Kanal zum Hafen in Elbląg. Die Ausschreibung dafür hat im ersten Halbjahr 2021 stattgefunden. Diese Arbeiten sollen bis Mitte 2024 dauern. Erst dann ist das gesamte Vorhaben voll funktionsfähig.

Das Bauwerk nach Fertigstellung

Der Kanal hat eine Länge von 1,3 Kilometern, eine Breite von 40 Metern am Grund und 80 Metern an der Oberfläche, die Tiefe beträgt 5 Meter. Ihn können Schiffe von und nach Elbląg mit einem Tiefgang von bis zu 4 Metern, einer Länge von 100 Metern und einer Breite von 20 Metern durchqueren . Die Durchfahrt dauert maximal zwanzig Minuten.

Das  verkürzt den Wasserweg von Gdańsk/Danzig und Gdynia/Gdingen nach Elbląg um über 90 Kilometer und die Transportzeit um zwölf Stunden . (→ Chancen für Elbląg)

Bernstein am Bau

Die deutliche Beschleunigung der Vorbereitungsmaβnahmen für den Kanalbau ab 2016 wurde immer wieder von Sensationsmeldungen begleitet. Angeblich sollten riesige Mengen an Bernstein beim Ausheben der Kanaltrasse zum Vorschein gekommen sein. Damit könne man einen erheblichen Teil des Vorhabens finanzieren, hieβ es damals.

Groβe Erwartungen, wenig Bernstein.

Die im Sommer 2019 bekanntgegebenen Untersuchungsergebnisse jedoch waren mehr als ernüchternd. Ausgemacht wurden nur zwei Vorkommen mit jeweils 900 und 500 Kilogramm Bernstein. Ihr Wert insgesamt: umgerechnet etwa 350.000 Euro. Das waren etwa 0,17 Prozent der ursprünglich auf 205 Millionen Euro veranschlagten und zwischenzeitlich um bis zu 50 Prozent nach oben korrigierten Baukosten.

Blockade durch Russland. Die Fakten

Das Schicksal des Hafens in Elbląg war von 1945 bis zur Eröffnung des neuen Kanals auf Gedeih und Verderb von Russland abhängig.

Ob und wie viel Schiffsverkehr es auf dem Haff von Elbląg nach Kaliningrad gab, das entschieden russische Behörden willkürlich . Lang war die Liste polnischer Unternehmen, die sich auf eine regelmäβige Beförderung von Passagieren und Waren zwischen den beiden Häfen eingerichtet hatten und dann über Nacht aus Kaliningrad erfuhren, dass das nicht mehr geht.

Frische Nehrung. Polnische Grenzpolizei.

Noch rigoroser schnitten die Russen Elbląg von der offenen See ab.

Schon am 16. August 1945 unterschrieben die Sowjets und die von ihnen in Warschau eingesetzte kommunistische Vasallenregierung ein Zusatzprotokoll zum Abkommen über den Verlauf der neuen sowjetisch-polnischen Grenze. Das Abkommen sanktionierte die Abtrennung von etwa 45 Prozent des polnischen Vorkriegsterritoriums zugunsten der UdSSR. Es waren weitgehend jene Gebiete, die Moskau infolge des Hitler-Stalin-Paktes beim Überfall auf Polen am 17. September 1939 erobert hatte und nach dem deutschen Angriff auf die UdSSR am 22. Juni 1941 vorläufig räumen musste.

Das Zusatzprotokoll legte in Artikel 1 fest: „In Friedenszeiten bleibt das Pillauer Seetief offen für Handelsschiffe unter polnischer Flagge, von und nach Elbląg.“ Entgegen dieser sowjetischen Verpflichtung blieb das Pillauer Seetief zwischen 1945 und 1990 für polnische Handelsschiffe ausnahmslos gesperrt.

Über das Pillauer Seetief gelangte in diesen 45 Jahren  kein einziges Schiff nach Elbląg. Nach Kaliningrad lieβen die Sowjets in diesem Zeitraum ausschließlich eigene Handelsschiffe, aber kein einziges ausländisches durfte dort einlaufen. Das gesamte Gebiet Kaliningrad war eine für Ausländer unzugängliche Militärzone. Auch Sowjets aus anderen Teilen der UdSSR durften nur in Ausnahmefällen in das Gebiet reisen. In Baltijsk/Pillau errichteten die Sowjets die U-Boot-Basis ihrer Baltischen Kriegsflotte.

Ab 1991 begannen russische Behörden polnische Schiffe durch das Pillauer Seetief durchzulassen. Da sie jedoch zuvor jahrzehntelang die Pillauer Seerinne in Richtung Elbląg hatten versanden lassen, war und bleibt das bis heute ein riskantes Unterfangen. Hinzu kommt, dass es auf der russischen Seite der Haffgrenze keinen Winterdienst gibt, der mit Eisbrechern die Fahrrinne nach Elbląg offen hält.

Frische Nehrung. Russische Grenzpatrouille.

Polnische Reeder oder Kapitäne mussten zudem mindestens 15 Tage im Voraus einen Antrag auf Durchfahrt beim Hafenamt Kaliningrad stellen. Die Erlaubnis wurde erst einen Tag vor der Durchfahrt erteilt oder auch nicht: „aus Gründen der nationalen Sicherheit, des Umweltschutzes oder sonstiger.“

Die Einschränkung, dass nur Handelsschiffe unter polnischer Flagge das Pillauer Seetief von und nach Elbląg passieren dürften, traf Polen in doppelter Hinsicht schmerzhaft. Zum einen fuhren seit 1990 die meisten polnischen Handelsschiffe unter den Billigflaggen der Bahamas, Zyperns usw. Zum anderen waren ausländische Handelsschiffe, darunter die anderer EU-Staaten, von der Durchfahrt ausgeschlossen. Es sei denn, sie unterzogen sich noch komplizierteren Einreiseprozeduren als polnische Handelsschiffe.

Schiffe der polnischen Marine und des Grenzschutzes hatten bis zur Eröffnung des Durchstichs im September 2022 keinen Zugang zum polnischen Hafen in Elbląg.

Zudem schlossen die Russen erneut nach Gutdünken die Durchfahrt durch das Pillauer Seetief für polnische Handelsschiffe. In den Jahren 2003 und 2004 wurde der Durchgang von heute auf morgen für mehrere Monate gesperrt. Eine im Mai 2006 verkündete Schlieβung dauerte bis Juli 2009.

Am 1. September 2009 wurde im Beisein von Polens Ministerpräsident Donald Tusk und Wladimir Putin (damals gerade russischer Regierungschef) in Sopot/Zoppot, am Rande der Feierlichkeiten zum 70. Jahrestag des Kriegsausbruchs, ein polnisch-russisches Abkommen über den Seeverkehr auf dem Frischen Haff unterzeichnet. Das Abkommen schrieb im Grunde die existierende Willkür fest, an der Handhabung der russischen Seite änderte sich nichts.

Aus heutiger, polnischer Sicht gibt es keinen Zweifel daran, dass die Russen das Abkommen von 2009 und die mit ihm verbundenen polnischen Hoffnungen nur dazu benutzt haben, den immer wieder in Betracht gezogenen Kanalbau zu verzögern oder ihn am besten zu stoppen. (→ Völkerrecht)

Chancen für Elbląg

Die Stadt Elbląg verspricht sich von der Verwirklichung des Projekts eine Vervierfachung oder sogar Verfünffachung des bisherigen Güterumschlags ihres Hafens. Dieser war, nach Angaben der Hafenverwaltung, zwischen 2014 von 358.300 Tonnen auf nur noch 99.100 Tonnen im Jahr 2017 drastisch gesunken. Zwei Drittel dieses Umschlags machte russische Steinkohle aus, die aus Kaliningrad kam.

Elbląg. Polnische Briefmarke von 1954.

Von den 660 Schiffen, die 2017 in den Hafen von Elbląg eingelaufen sind, gehörten 470 zur Weiβen Flotte (Sommerfahrten nach Krynica Morska/Kahlberg auf der polnischen Seite der Frischen Nehrung und zurück, mit insgesamt ca. 40.000 Passagieren). Nur 190 Schiffe transportierten Güter. Von ihnen gelangten nicht einmal zehn von der Ostsee über das russische Pillauer Seetief nach Elbląg.

Der Hafen von Elbląg führte bis September 2022 ein Schattendasein. Nicht einmal zwanzig Prozent seiner Kapazität wurden genutzt. Vor dem Zweiten Weltkrieg, zur deutschen Zeit, mit uneingeschränktem Zugang, betrug der Warenumschlag im Elbinger Hafen mehr als 500.000 Tonnen (1936). Dabei beschränkte sich damals sein Hinterland, das er sich zudem mit Königsberg teilte, lediglich auf das vom Reich abgetrennte Ostpreuβen.

Elbing. Schichau-Werft und Hafen in den Dreiβigerjahren.

Diese Zahl wurde nach dem Krieg nur einmal, 1997, überboten, als der Hafen von Elbląg einen Rekordumschlag von 641.000 Tonnen bekannt gab, dank des Imports russischer Steinkohle aus Kaliningrad über das Frische Haff. Es war ein einmaliger Ausreiβer. Um die oberschlesische Kohleförderung nicht zu gefährden, wurden diese Einfuhren schon im Jahr darauf mit Zöllen und Kontingenten belegt. Die Russen antworteten mit ähnlichen Maβnahmen für polnische Baustoffe. Der Warenumschlag stürzte im Folgejahr 1998 auf knapp 50.000 Tonnen ab.

Nach der Fertigstellung des Kanals soll der Elbinger Port, nun uneingeschränkt zugänglich, als ein Feederhafen fungieren, der Zulieferdienste für die beiden großen Meereshäfen von Gdansk und Gdynia leistet und diese entlastet. Das erfordert weitere Investitionen, was zum Beispiel auch deutschen Anbietern von Hafentechnik Zulieferchancen eröffnet.

Die Ausbaumaßnahmen werden der gesamten Region Auftrieb geben, zumal viele Firmen wie Speditionen, Verladebetriebe, die Bahn, Tankstellen oder direkt im Hafen von Elbląg angesiedelte Akteure davon profitieren werden.

Nicht viel los. Hafen in Elbląg vor 2022.

Zu den im Hafen bereits vertretenen Firmen, denen der Kanal einen neuen Verkehrsweg direkt vor ihren Toren eröffnet, zählt General Electric. Ihr Werk in Elbląg (die einstigen Schichau-Werke) produziert Groβturbinen und groβe Stahlkonstruktionen, u. a. Brückenpfeiler, die  bis zur Eröffnung des Kanals die Stadt umständlich auf dem Landweg verlassen mussten.

Auch der Tourismus soll durch die Nehrungsdurchfahrt neuen Auftrieb erhalten. Sie soll schwedische Jachtbesitzer locken, ihre Boote preiswert in Polen zu überwintern.

Deutsche Kanalpläne vor 1945

Als Erster hatte Friedrich II. den Kanalbau erwogen. Nach der ersten polnischen Teilung 1772 kam Elbing zu Preuβen, während Gdańsk bei Polen blieb. Der König wollte Elbing zu einem gewichtigen Konkurrenten der Stadt an der Motlau machen. Friedrich II. starb 1786, und 1793, nach der zweiten polnischen Teilung, kam auch Danzig zu Preuβen. Ein Kanalbau wurde überflüssig.

Im Jahre 1874 machte der damals sehr einflussreiche Danziger Stadtarchitekt Julius Albert Licht den Vorschlag, das Frische Haff weitgehend trockenzulegen und als fruchtbares Polderland landwirtschaftlich zu nutzen. Diesen Gedanken griff Ende der zwanziger Jahre der Elbinger Stadtrat auf und stellte 1932 eine „Denkschrift über die Trockenlegung des Frischen Haffs und den Durchstich durch die Frische Nehrung bei Kahlberg“ vor.

Frisches Haff trockenlegen. Denkschrift von 1932.

Etwa 65 Prozent des Haffs sollten trockengelegt werden. Auf rund 540.000 Hektar Neuland könnten anschlieβend  bis zu 13.000 angeworbene Siedlerfamilien wirtschaften, geschützt durch Deiche, Pumpwerke und Meliorationsgräben. Bestehen bleiben sollten nur die Gewässer am Pillauer Seetief mit der Fahrrinne nach Königsberg. Elbing würde ein 6 Meter tiefer Kanal zum Nehrungsdurchstich bei Kahlberg mit der Ostsee verbinden. Ein zweiter Kanal durch die trockengelegte Nehrung war nach Königsberg geplant. Nach Hitlers Machtübernahme 1933 geriet der Plan schnell in Vergessenheit.

                                                          Die Eröffnung

Der Durchstich wurde feierlich am 17. September 2022 freigegeben. Das Datum wurde mit Bedacht gewählt. Genau 83 Jahre zuvor, am 17. September 1939, hatte die Sowjetunion das seit dem 1. September 1939 gegen den deutschen Überfall kämpfende Polen vom Osten her angegriffen.  Die vierte Teilung Polens war vollbracht.

Die ersten Schiffe passieren am 17. September 2022 den Kanal. An der Spitze das Flaggschiff des Seeamtes Gdynia „Zodiak II“.

An dem Festakt nahmen die Spitzen aus Politik, Militär und Wirtschaft teil. Die Ansprachen hielten u. a. Staatspräsident Andrzej Duda, Ministerpräsident Mateusz Morawiecki und der Vorsitzende der Regierungspartei Recht und Gerechtigkeit Jarosław Kaczyński, einer der wichtigsten Befürworter des Kanalbaus (—> Kaczyński, Tusk, der Kanal und die polnische Politik).

Als erstes passierte das Flaggschiff des Seeamtes Gdynia „Zodiak II“ den Kanal. Einige Zehntausend Menschen beobachteten das Eröffnungsgeschehen.

Der Durchstich by night.

Die EU und der Kanal 

Anfang März 2019 meldeten polnische Medien, die EU-Kommission habe Polen aufgefordert, alle Arbeiten am Kanalbau so lange einzustellen, bis man sich in Brüssel eine endgültige Meinung über die Zweckmäβigkeit der Investition gemacht habe, die ja auf einem Natura 2000-Gebiet vorgenommen würde.

Kanaltrasse ohne Bäume.

Ausgelöst wurde die angebliche Brüsseler Unmutsäuβerung seinerzeit dadurch, dass am 15. Februar 2019, kurz vor Beginn der Vogelbrutzeit (am 1. März), die Behörden die Erlaubnis erteilt hatten, den zum Bau vorgesehenen Streifen zu roden. In der 200 Meter breiten Schneise wurden knapp 25 Hektar Wald (0,5 Prozent der Waldfläche auf dem polnischen Teil der Nehrung) gefällt und dabei 6.500 Kubikmeter Holz gewonnen.

Kanalbaustelle im April 2021.

Der mediale Wirbel um den „EU-Baustopp“ rief Anfang April 2019 Marek Gróbarczyk, den polnischen Minister für Seewirtschaft und Binnenschifffahrt, auf den Plan, der in einer längeren Erklärung eine Klarstellung vornahm und die Wogen glätten konnte.

Marek Gróbarczyk, Minister für Seewirtschaft und Binnenschifffahrt.

Gróbarczyks damalige Äuβerungen kann man wie folgt zusammenfassen:

1. Die EU-Kommission erwägt keinen Baustopp, sondern bat um Beantwortung einiger Detailfragen zum Bau im Rahmen eines Dialogs, der seit längerer Zeit zwischen Warschau und der EU-Kommission geführt wird. Anlass war der Vorstoβ des russischen stellvertretenden Landwirtschaftsministers Ilja Schestakow, der in Brüssel um einen Baustopp nachgesucht hatte.

2. Polen finanziert den Kanal ausschlieβlich aus eigenen Mitteln.

3. Polen beruft sich bei dieser Investition auf Art. 4 des Vertrages über die Europäische Union: „Die Union achtet … die grundlegenden Funktionen des Staates, insbesondere die Wahrung der territorialen Unversehrtheit, die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und den Schutz der nationalen Sicherheit. Insbesondere die nationale Sicherheit fällt weiterhin in die alleinige Verantwortung der einzelnen Mitgliedsstaaten.“ Die Schaffung eines ungehinderten Zugangs zu einem Teil seines Staatsgebietes wird eindeutig durch die Bestimmungen des Art. 4. abgedeckt. Die EU-Kommission teilt diese Meinung.

4. Obwohl es dazu in diesem Fall nicht verpflichtet sei, wendet Polen bei der Planung und Vorbereitung des Kanalbaus alle im EU-Recht vorgesehenen restriktiven Bestimmungen an. Das gilt insbesondere für die Umweltverträglichkeitsprüfung. Die EU-Kommission nimmt das anerkennend zur Kenntnis, so Gróbarczyk.

Gdańsk und Gdynia

Der Güterumschlag der polnischen Meereshäfen nimmt rasant zu. Polen, im Zentrum Europas gelegen, wird zu einer zunehmend wichtigen Logistikdrehscheibe. Allein der Tiefwasser Container Terminal (TCT) in Gdańsk hat 2019 erstmals über 2 Millionen Standard-Container TEU (Twenty Foot Equivalent Unit) verladen. Diese Anzahl stieg 2021 auf bis zu 3 Millionen Stück an.

Mittelfristig könnte der TCT seine Kapazität auf 4 Millionen Container pro Jahr erhöhen. Den Terminal übernahmen im Mai 2019 der zu einem Investment Fonds in Singapur gehörende globale Hafenbetreiber PSA, der Polski Fundusz Rozwoju (PFR, Polnischer Entwicklungsfonds) und der australische IFM Global Infrastructure Fund.

Gdynia will einen Außenhafen bauen mit einer jährlichen Verladekapazität von 2 Millionen Containern, die noch um weitere 500 Tausend Stück aufgestockt werden könnte. Ende 2018 wurde ein sogenannter technischer Dialog mit am Bau dieses Außenhafens interessierten Firmen abgeschlossen.

Eine schnelle Verbindung über den geplanten Durchstich nach Elbląg ist beiden Häfen sehr willkommen. Sie wird den Einzeltransport von Containern nach Elbląg und dessen Umland von der Straβe nehmen, bündeln und beschleunigen.

                                                        Die Insel

Eine 2 Kilometer lange und 1,2 Kilometer breite künstliche Insel ist aus dem Schlick und Sand entstanden, die beim Ausheben des Kanals gewonnen wurden. Sie liegt etwa 2 bis 3 Meter über dem Meeresspiegel  und hat eine Fläche von 181 Hektar. Diese Insel dient als Vogelreservat und ist unzugänglich für Touristen. Sie entstand im Frischen Haff, in linker Fahrtrichtung nach Elbląg.

Künstliche Insel auf dem Satellitenfoto des Frischen Haffs als weiβer Kreis eingezeichnet.

Kaczyński, Tusk, der Kanal und die polnische Politik

Als erster polnischer Politiker wollte König Stefan Bathory 1576 den Kanalbau durch die Frische Nehrung in Angriff nehmen. Bathory führte zu jener Zeit Krieg gegen Danzig. Die mächtige und reiche Stadtrepublik, die im polnischen Staatsverband über erhebliche Autonomierechte verfügte, wollte die durch Bathory beabsichtigte Einschränkung nicht hinnehmen. Der Kanal sollte Elbing wirtschaftlich aufwerten und Danzig schwächen. Nach einem Jahr war der Konflikt beigelegt, die Idee des Kanalbaus wurde  verworfen.

König Stefan Bathory. Polnische Briefmarke von 1998.

Nachdem sich Preuβen während der ersten polnischen Teilung 1772 Elbląg genommen hatte, geriet der Kanal bis 1945, bis zum Ende der deutschen Herrschaft, völlig aus dem Blickwinkel der polnischen Politik. Nach 1945 brachten polnische kommunistische Vertreter einige Male den Gedanken zaghaft ins Gespräch, dem setzte jedoch jedes Mal ein schroffes sowjetisches „Njet“ ein Ende.

Nach 1989 wurde Jarosław Kaczyński zum führenden polnischen Verfechter des Kanalbaus. Das begann bereits mit den ersten halbfreien Wahlen im Frühjahr 1989. Der damals vierzigjährige konservative Bürgerrechtler und enge Mitarbeiter Lech Wałęsas, deren Wege sich bald trennen sollten, kandidierte für Solidarność in den Senat, die obere Parlamentskammer. Sein Wahlkreis: Elbląg.

Symbolisch. Jarosław Kaczyński stellt am 16. Oktober 2018 den letzten Markierungsstab zur Vermessung der Kanaltrasse auf.

Der Warschauer Jarosław Kaczyński kam so mit der russischen Blockade Elblągs in Berührung. Der Gedanke, sie mittels eines Kanalbaus zu durchbrechen, lieβ ihn seither nicht mehr los. Als seine Partei, Recht und Gerechtigkeit, im Herbst 2005 zum ersten Mal die Parlamentswahl gewann, leitete er als Ministerpräsident den Bau in die Wege. Der vorzeitige Sturz seiner Koalitionsregierung im Sommer 2007 und die in der Folge vorgezogenen Wahlen im Herbst desselben Jahres, die er verlor, setzten dem Vorhaben für die acht folgenden Jahre ein Ende.

Der kühne Plan wurde damals von den anderen Akteuren der polnischen Politik entweder ignoriert oder abgelehnt. Die bis 2005 einflussreichen Postkommunisten, die Polen 1993 bis 1997 sowie 2001 bis 2005 regiert hatten, wie auch ihr Staatspräsident Aleksander Kwaśniewski (1995 bis 2005) wollten sich mit Moskau  nicht anlegen.

Ebenso wie Ministerpräsident Donald Tusk (2007 bis 2014). Dessen Karriere-Traumziel, mit Hilfe seiner politischen Ziehmutter Angela Merkel, Präsident des Europäischen Rates zu werden, wäre unerreichbar geblieben , wäre ihm der Ruf vorausgeeilt, er sei ein antirussischer Politiker. Daher die zahlreichen Versuche Tusks, sich Wladimir Putin geradezu anzudienen, bis hin zu der Entscheidung. den Russen die Untersuchung der Smolensk-Flugzeugkatastrophe zu überlassen.

Eintracht hat groβe Macht. Donald Tusk zwischen Putin und Merkel, den künftigen EU-Spitzenjob vor Augen.

Lange Zeit versuchte Tusk als Regierungschef dem Thema Kanal so gut es ging aus dem Wege zu gehen, behauptete, man müsse „prüfen“, „untersuchen“, „nachdenken“, „dürfe nichts überstürzen“. Als aber das Finale seiner EU-Karrierebemühungen nahte, bezog Tusk im Juni 2013 bei einem Besuch in Elbląg klar Stellung:

„Wir haben heute in Polen eine riesige Zahl vorrangiger Investitionen zu tätigen. Bei einem solchen sehr teuren Kanalvorhaben von zweifelhaftem ökonomischen Nutzen handelt es sich nur um einen wahltaktischen Trick. Es graust einem geradezu, wenn man überlegt, was alles unsere Opponenten (gemeint sind Kaczyński und seine Partei Recht und Gerechtigkeit – Anm. RdP) noch alles durchgraben werden, welchen Fluss sie in die umgekehrte Richtung fließen lassen werden, welches Meer sie trockenlegen wollen, um Wahlen zu gewinnen. Ich empfehle ihnen, ein Bad im Haff zu nehmen. Das Wasser ist noch recht frisch und könnte vielleicht diese Ideen ein wenig abkühlen.“

Es wäre interessant zu erfahren, ob Donald Tusk diese Worte, beispielsweise in den Niederlanden, offiziell wiederholen würde.

Nach den gewonnen Parlamentswahlen im Herbst 2015 begann die nationalkonservative Regierung das Vorhaben mit Nachdruck umzusetzen. Am 24. Februar 2017 verabschiedete der Sejm mit 401 Stimmen, bei 9 Gegenstimmen und 18 Enthaltungen das Kanalbau-Gesetz. Beinahe die gesamte Opposition war damals dafür. Danach, vor allem im Wahlkampf vor den für den 13. Oktober 2019 angesetzten Parlamentswahlen, wetterten sie wiederum heftig dagegen.

Konsultationen mit Russland nicht erforderlich

Russische Politiker forderten Polen immer wieder auf, über russische Bedenken zum Kanalbau zu diskutieren. Polen sei als Unterzeichnerstaat der „Konvention zur grenzüberschreitenden Umweltverträglichkeitsprüfung“ (UVP), die 1991 im finnischen Espoo ausgehandelt worden war, dazu verpflichtet.

Briefmarke von 2022 zur Eröffnung des Durchstichs.

Die Konvention sieht vor, dass Vorhaben, die voraussichtlich erhebliche grenzüberschreitende Auswirkungen zum Nachteil der Umwelt haben werden, den betroffenen Vertragsparteien angekündigt werden müssen. Es sei zudem eine UVP durchzuführen und eine UVP-Dokumentation zu erstellen. Auch die Öffentlichkeit des möglicherweise betroffenen Gebietes muss über das geplante Projekt informiert werden. Sie soll eine Möglichkeit zur Stellungnahme im selben Umfang haben, wie die Öffentlichkeit des Urheberstaates.

Polen lehnte das ab und verwies darauf, dass Russland als einziger Ostseeanrainer die Espoo-Konvention nicht ratifiziert hat. Das erlaubte den Russen seinerzeit, jegliche ernsthaften Konsultationen über den Bau der Nord Stream 2-Gasleitung von Russland nach Deutschland unter der Ostsee abzulehnen. Genauso verhält es sich mit dem gerade stattfindenden Bau eines Kernkraftwerkes nordöstlich von Kaliningrad.

Des Weiteren lehnt Russland jegliche Gespräche über die ständige Verschmutzung des Frischen Haffs durch schlecht funktionierende Kläranlagen in der Fünfhundertausend-Einwohner-Stadt Kaliningrad ab.

Die Kosten

Als 2016 die ersten Bauvorbereitungen getroffen wurden, hieß es, die Errichtung des Kanals werde umgerechnet 205 Millionen Euro kosten. Anfang 2021 waren die Kosten bei umgerechnet  knapp 450 Millionen Euro angelangt. Schuld daran waren die zwischen 2016 und 2021 um etwa 30 Prozent gestiegenen Arbeits- und Materialkosten. Zudem wurde das Projekt erweitert.

Hinzugekommen ist der Bau einer neuen Brücke über dem Elbing-Fluss in Nowakowo, auf der Zufahrt vom Haff zum Hafen von Elbląg.  Außerdem sind über dem Kanal,  anstelle von zwei Hebebrücken zwei  funktionellere, aber auch teurere Drehbrücken entstanden. Teurer, weil, wie es sich erwies, notgedrungen aufwendiger, wird auch die Befestigung der Ufer des Elbing-Flusses auf der Zufahrt vom Haff in den Elbinger Hafen werden.

Proteste

Der gröβte Widerstand regte sich in Krynica Morska/Kahlberg, einem 1.300 Einwohner zählenden Ort am Ende des polnischen Teils der Frischen Nehrung, direkt an der russischen Grenze. Der schöne Ort lebt vom Tourismus. Immer wieder kam dort die Befürchtung zur Sprache, der Kanal werde den Ort in eine Insellage versetzen, die Zufahrt erschweren, Touristen wegen Staubildung verprellen.

Krynica Morska/Kahlberg (o). Einwohnerprotest.

Ein Film des Seeamtes in Gdynia zeigt jedoch, dass der Autoverkehr durch die Nehrung nach und von Krynica Morska, dank des Drehbrückensystems, zu keiner Zeit unterbrochen sein wird.

Der Link befindet sich am Ende des Beitrags.

Immer wieder wurde auch hervorgehoben, der Durchstich werde eine höhere Versalzung des Haffwassers im polnischen Teil verursachen. Das Gegenargument: Eine Schleuse im Kanal soll dauerhaft das Ökosystem des Haffs vom Ökosystem der offenen Ostsee trennen, so wie es jetzt auch umgesetzt wurde.

Völkerrecht

Im internationalen Seerecht existiert das verbriefte Prinzip der friedlichen Durchfahrt, das insbesondere für Meerengen gilt, wo unter Umständen das weitergehende Recht der Transitdurchfahrt Anwendung findet. Dieses Prinzip greift auch, wenn innerstaatliche Gewässer eines anderen Landes durchquert werden müssen, um eigene Gewässer zu erreichen. Beides trifft auf die polnische Situation im Frischen Haff zu. Im Gegensatz zum gewöhnlichen Küstenmeer darf hier, so die Bestimmungen, das Recht der friedlichen Durchfahrt auch nicht zeitweise eingeschränkt werden.

Das Konzept der freien Nutzung der Meere durch die Schiffe aller Staaten, häufig unter dem Schlagwort „Freiheit der Meere“ zusammengefasst, erwähnte 1609 erstmals Hugo Grotius als anerkanntes Prinzip des internationalen Rechts. 1958 hat man das Recht der friedlichen Durchfahrt im „Übereinkommen über das Küstenmeer und die Anschlusszone“ erstmals kodifiziert und 1982 im Seerechtsübereinkommen der Vereinten Nationen weiter ausgestaltet.

Dieses Prinzip wird zum Beispiel zwischen Belgien und den Niederlanden angewandt. Der Zugang zum belgischen Hafen Antwerpen an der Schelde führt teilweise über holländisches Gebiet, was völlig problemlos abläuft. Doch so verhielt es sich nicht im Frischen Haff.

Zum Schluss

Der Kanal ist nicht nur ein wichtiges wirtschaftliches Projekt. Es ist auch ein durch und durch politisches Vorhaben. Es soll, so der Ansatz seiner Befürworter, eine Maβnahme sein, die eine viel zu lange andauernde, konfliktträchtige und von Russland gewollte Unwägbarkeit endlich beheben soll.

Sehenswert:

Der Kanalbau in der Animation des Seeamtes in Gdynia

Keine Staus. Der Autoverkehr auf der Frischen Nehrung nach der Fertigstellung des Kanals. Animation des Seeamtes in Gdynia.

Lesenswert: Kaliningrads Probleme mit Kläranlagen. 

© RdP




Warschau 1927. Das Attentat auf den Zarenmörder

Pjotr Woikow war der sowjetische Gesandte in Polen.

Ein junger Russe erschoss auf dem Bahnhof in Warschau den sowjetischen Gesandten in Polen, der das Blut der russischen Zarenfamilie an seinen Händen hatte.

Jekaterinburg am 17. Juli 1918

„Nikolai Alexandrowitsch, das Uraler Exekutivkomitee hat beschlossen, Sie hinzurichten“, verlas der Tschekist Jakow Jurowski hastig das Urteil, das auf einem fettigen, zerknitterten Blatt Papier stand.

Der Zar, der auf einem Stuhl saß und seinen Sohn, den vierzehnjährigen Thronfolger Alexei auf dem Schoß hatte, wurde blass. Er blickte unsicher auf die um ihn versammelte Familie. „Wie bitte, wie bitte?“, fragte er.

Zar Nikolai II. und die Zarenfamilie. Russische Briefmarken von 1998.

Er versuchte aufzustehen, aber in diesem Moment stürmten die Henker, die bis dahin im Korridor gewartet hatten, in den Keller. Der Zar verstand. In einer letzten verzweifelten Geste versuchte er, seine Frau, die neben ihm saß, zu schützen. Jurowski schoss dem wehrlosen Nikolai II. eine Kugel direkt in die Brust. Der Zar sank mit einem Ausdruck des Entsetzens auf den schmutzigen Boden. Dann zielte der Henker ein zweites Mal und schoss dem Zarensohn aus kurzer Entfernung in den Kopf.

Die Ermordung der Zarenfamilie. Zeitgenössische Darstellung.

Im Keller brach die Hölle aus. Betrunkene Tschekisten schossen wie wild auf die kaiserliche Familie und mehrere Diener. Sie stachen mit Bajonetten auf ihre Opfer ein, schlugen sie mit Gewehrkolben, traten und bespuckten sie. Der Lärm der Schüsse in dem kleinen Raum war so ohrenbetäubend, dass den Mördern fast die Trommelfelle platzten. Die vier Zarentöchter, die Prinzessinnen Olga (23 Jahre), Tatjana (21 Jahre), Maria (19 Jahre) und Anastasia (17 Jahre), hatten am meisten zu leiden. Da sie Familienschmuck in ihre Kleidung eingenäht hatten, prallten die Kugeln der Folterknechte an den verängstigten Mädchen ab, die an der Wand standen. Sie bluteten, schrien und versuchten, ihre Köpfe mit den Händen zu bedecken. Die Tschekisten stachen mit Bajonetten auf sie ein.

Auch der erste Schuss, der auf den Zarensohn Alexei abgefeuert wurde, war nicht tödlich. Jurowski stand mit einem schweren Stiefel auf dem Hals des stöhnenden, sich am Boden windenden Jungen. Er hielt die Waffe an sein Ohr und drückte ab. In einem sadistischen Rausch erschlugen die Tschekisten den geliebten Hund des Zaren mit ihren Gewehrkolben.

Nach ein paar Minuten war das Blutbad in dem kleinen Keller vorbei. Auf dem festgestampften Boden lagen die Leichen von sieben Mitgliedern der kaiserlichen Familie, des kaiserlichen Leibarztes Jewgeni Botkin und ihrer drei treuen Diener. Der Raum war erfüllt von beißenden Rauchwolken und dem Gestank von Schießpulver. Der Boden, die Wände und sogar die Decke waren mit Blut bespritzt. In diesem Moment betrat ein kleiner, dunkelhaariger Mann in einer Lederjacke den Raum. Er sah sich gleichgültig im Keller um und fragte: „Fertig?

Der Keller nach der Ermordung der Zarenfamilie.

Jurowski, der von der harten Henkersarbeit erschöpft war und kaum zum Atem kam, nickte.

Jetzt müssen wir sie loswerden“, sagte der Neuankömmling und trat gegen die Leiche, die am nächsten bei ihm lag.

Jakow Jurowski.

Bei dem neu Eingetretenen handelte es sich um Pjotr Lasarewitsch Woikow, einen jungen bolschewistischen Kommissar, der sich im Ural bereits durch seine unglaubliche Grausamkeit gegenüber „Weißgardisten“ und Bauern „einen Namen gemacht hatte“. Bei Letzteren beschlagnahmte er erbarmungslos Nahrungsmittel und Saatgut, und verurteilte sie damit zum Hungertod. Er war ein rücksichtsloser Fanatiker, der der Partei blindlings ergeben war.

Woikow hatte das Haus des pensionierten Hauptmanns der Zarenarmee Nikolaj Ipatiew in Jekaterinburg als Ort für die Inhaftierung der Zarenfamilie ausgewählt. Das Gebäude war in den 1880er Jahren erbaut worden. Es bestand aus zwei Flügeln: der vordere, östliche Flügel war einstöckig und 30 Meter lang. Der Westflügel hingegen bestand aus zwei Stockwerken. Das Gebäude war für russische Verhältnisse sehr modern, verfügte über fließendes Wasser, Kanalisation, einen Strom- und Telefonanschluss.

Das Ipatiew-Haus in Jekaterinburg. Woikow ließ es mit einem hohen Bretterzaun umgeben, um die Zarenfamilie vollends zu isolieren.

Es war auch Woikow, der ein Komplott organisierte, um die Romanows zu diskreditieren. Er gab sich als weißer Offizier aus, schmuggelte Briefe an den inhaftierten Zaren und gab vor, die Flucht der Zarenfamilie organisieren zu wollen. Diese Briefe und die hoffnungsvollen Antworten der ahnungslosen kaiserlichen Familie dienten Lenin als Vorwand und Rechtfertigung für den Mord an Nikolai II. und seinen Angehörigen.

Der Abriss des Ipatiew-Hauses 1978. Die Erinnerung an den Zaren-Mord sollte endgültig getilgt werden.

Woikows Decknamen in der Partei waren „Der Intellektuelle“ und „Chemiker“. Letzteres kam daher, dass er sich nach der Flucht aus Russland 1907, während seines Mathematik- und Physikstudiums an der Genfer Universität, auch einige Kenntnisse in Chemie angeeignet hatte. Aus diesem Grund überließ man ihm auch die Vernichtung der Leichen nach der Hinrichtung.

Woikow beschaffte 400 Pfund Schwefelsäure aus den örtlichen Apotheken, 150 Gallonen Benzin aus den Beständen der Roten Armee und eine große Menge an Kalk.

Einige Tote der kaiserlichen Familie und ihrer Diener ließ Woikow mit Säure übergießen. Andere wurden mit Benzin übergossen und verbrannt. Die Gesichter der Leichen befahl Woikow mit Gewehrkolben zu massakrieren. Die sterblichen Überreste des Zarensohns und einer seiner Schwestern wurden mit Schaufeln gevierteilt. Die beiden Schächte, in die die Leichen hineingeworfen wurden, hat man mit gelöstem Kalk geflutet.

Als die makabre Prozedur beendet war, wischte sich der junge Kommissar mit dem Ärmel den Schweiß von der Stirn und sagte: „Jetzt wird die Welt nie erfahren, was wir mit ihnen gemacht haben.“

Warschau am 7. Juni 1927

Pjotr Woikow hatte nichts mehr an sich von dem ausgemergelten Bolschewiken mit den brennenden Augen aus den blutigen Tagen der Revolution. Statt einer Lederjacke und Militärstiefeln trug er nun teure Anzüge und polierte Schuhe. Er hatte einen Bauch, und seine Stirn war leicht gewölbt.

Der Gesandte Woikow (r. i. B.) begleitet im September 1925 den sowjetischen Außenminister Georgi Tschitscherin bei seinem Besuch in Warschau.

Wojkow war jetzt Diplomat. Er lebte in Warschau, wo er als außerordentlicher und bevollmächtigter Gesandter der Sowjetunion tätig war. Als Vertreter der roten Großmacht glänzte er in den Salons, speiste in den besten Restaurants und verbrachte die Nächte mit schönen Schauspielerinnen. Er wurde in einer Limousine chauffiert und war Mitglied der neuen roten Elite, der Parteinomenklatura.

Arkadi Rosenholz.

Der Tag versprach keine großen Sensationen. Woikow fuhr zum Hauptbahnhof, wo er, in Begleitung eines anderen Beamten der Gesandtschaft, den aus London zurückkehrenden hochrangigen sowjetischen Diplomaten Arkadi Rosenholz begrüßen sollte. Dieser war wegen Spionage aus London ausgewiesen worden.

Rosenholz musste in Warschau umsteigen; der Zug nach Moskau fuhr um 9.55 Uhr ab. Als Woikow und Rosenholz an den Stufen des Schlafwagens standen, kam ein junger Mann auf sie zu. Es kam zu einem kurzen Wortwechsel auf Russisch, woraufhin der Fremde einen Revolver in der Hand hielt.

„Stirb für Russland!“, der Ruf des Attentäters vermischte sich mit dem Knall des Schusses.

Woikow, der ein tierisches Quieken ausstieß, versuchte wegzulaufen. Der junge Mann begann ihm hinterherzuschießen. Als der Diplomat sah, dass er nicht entkommen konnte, blieb er nach ein paar Schritten stehen und drehte sich um. Eine Pistole blitzte nun auch in seiner Hand auf.

Es begann eine Schießerei, die an ein Duell im Wilden Westen erinnerte. Die Männer standen sich gegenüber und schossen aufeinander. Nach einem kurzen Moment taumelte Woikow und fiel direkt in die Arme eines herbeilaufenden polnischen Polizisten.

Der Angreifer, der nicht einmal einen Kratzer abbekommen hatte, hob seinen Revolver über den Kopf und begann sich langsam vom Bahnsteig zu entfernen. Zwei Polizeibeamte stürmten auf ihn zu. Er wehrte sich nicht und ließ sich widerstandslos entwaffnen.

Boris Kowerda nach seiner Verhaftung.

„Mein Name ist Boris Kowerda“, sagte er. „Ich habe es getan, um Russland und die Millionen ermordeter Menschen zu rächen.“

Sofort wurde ein Krankenwagen zum Bahnhof gerufen, der Woikow in das Jesus-Krankenhaus brachte. Es gab jedoch keine Rettung mehr. Der Sowjet-Diplomat starb um 10.40 Uhr.

Eine Obduktion durch den renommierten Gerichtsmediziner Professor Wiktor Grzywo-Dąbrowski ergab, dass der Verstorbene zwei Schusswunden aufwies.

Die erste Kugel hatte die Weichteile seiner rechten Schulter durchschlagen. Diese Wunde war harmlos. Erst die zweite Kugel, die die linke Seite seiner Brust durchschlug, führte zum Tod des Mannes. Sie zerriss beide Lappen des linken Lungenflügels und verursachte eine große Blutung in die Pleurahöhle.

Rache für Millionen

Als Boris Kowerda Woikow tötete, war er 19 Jahre alt. Bereits am 15. Juni 1927 stand er in Warschau vor Gericht. Vier renommierte Warschauer Anwälte hatten sich unentgeltlich seiner Verteidigung angenommen. Um das Verfahren zu beschleunigen, machten die polnischen Behörden von den Bestimmungen über Schnellgerichte bei schweren Straftaten gegen polnische Beamte Gebrauch. Die Urteile dieser Gerichte waren nicht anfechtbar. Die Anhörung begann um 10.45 Uhr. Als erster Zeuge wurde der Polizeimeister Marian Jasiński vernommen.

Der damalige Warschauer Hauptbahnhof (vormals Wiener Bahnhof) im April 1928 vor der Ankunft des afghanischen Königs Amanullah Khan zum Staatsbesuch in Polen. Das Gebäude musste Mitte der 30er Jahre einem modernen Bahnhof weichen.

„Ich habe mehrere Schüsse gehört“, sagte der Polizist aus. „Als ich über die Gleise lief, bemerkte ich, dass die Menschen vom Bahnsteig 8-9 wegliefen. In der Mitte des Bahnsteigs waren zwei Personen, die mit Revolvern aufeinander schossen. Einer lief auf das Bahnhofsgebäude zu, der andere schoss auf ihn. Der Flüchtende gab zwei Schüsse in Richtung des Angreifers ab. Ich lief auf ihn zu und packte ihn am Arm. Er schwankte und fiel hin. Ich fragte den Verwundeten, wer er sei, aber er antwortete nur mit einem unverständlichen Wort, und sofort wurden seine Lippen blau und er wurde leichenblass.“

Der Warschauer Hauptbahnhof Mitte der 20er Jahre. Der Bahnsteig 8-9, auf dem Woikow erschossen wurde, ist der fünfte von links, ganz in der Ferne.

Danach trat Wachtmeister Konstanty Dąbrowski in den Zeugenstand. Er sagte aus: „Ich sah eine Person mit einem Revolver in der Hand, die auf den Bahnsteig fiel. Reisende in den Waggonfenstern riefen, dass sich auf dem Bahnsteig ein weiterer Schütze befinden würde. Ich bemerkte noch einen Mann auf dem Bahnsteig, der einen Revolver in der Hand hielt. Wir liefen ihm hinterher. Er blieb stehen, das Gesicht zu uns gewandt, und hielt einen Revolver in der Hand. Auf Anruf legte er ihn auf den Boden. Bei der Durchsuchung fand ich vier Revolverpatronen in seiner Hosentasche. Kowerda war völlig ruhig, als wir ihn festnahmen.“

Zu diesem Zeitpunkt wurde dem Gericht die bei Kowerda sichergestellte Tatwaffe gezeigt. Es handelte sich um einen Mauser-Revolver mit sieben Schuss und einer unleserlichen Seriennummer. An diesem unseligen Tag des Attentats hatte der Mörder sechs Schüsse abgegeben. Woikow hingegen hatte mit einer Browning-Pistole mit der Seriennummer 80481 geschossen. In seiner Tasche wurden außerdem zwei volle Magazine gefunden.

Das Gericht befragte auch Kowerdas Verwandte und Freunde. Aus ihren Aussagen ging hervor, dass Woikows Mörder das Gymnasium der Russischen Gesellschaft in dem damals polnischen Wilno besucht hatte. Er war ein glühender russischer Patriot und ein angehender Journalist. Er arbeitete als Expedient in der Redaktion der Wilnaer Zeitung „Białoruskie Słowo“ („Weißrussisches Wort“) und verdiente sich nachts mit Korrekturlesen und Schriftsetzen etwas dazu. Er verdiente 170 Zloty im Monat.

Sein mageres Gehalt gab er seiner arbeitslosen, kranken Mutter. Vier Personen mussten davon leben. Er, seine Mutter und zwei minderjährige Schwestern. Die ganze Familie war von dem jungen Kowerda abhängig. Der Vater hatte sich von ihnen getrennt. Als der junge Kowerda an Scharlach und Diphtherie erkrankte und sechs Wochen lang im Krankenhaus lag, hungerte die Familie. Und ein weiteres wichtiges Merkmal des jungen Mannes: Kowerda war sehr religiös und ging regelmäßig in die orthodoxe Kirche, wo er die Kommunion empfing.

„Boris war sehr sensibel, ruhig und bescheiden“, sagte seine Mutter aus. „Er unterstützte die Familie, weil ich krank war und keine Arbeit hatte. Boris war mein Helfer und Beschützer. Er war fürsorglich gegenüber seinen Schwestern. Er war ein sehr guter Sohn. Er wollte alles in seiner Macht Stehende tun, damit seine Mutter nicht leidet. Er sorgte dafür, dass mir kein Leid zugefügt wurde.“

Der Vater des Mörders, Sofronius Kowerda, äußerte sich ebenfalls in diesem Sinne. „Er war von Kindesbeinen an sensibel“, sagte der Vater aus. „Und ich verstehe jetzt die Tragödie seiner Seele. Seine ganze Abneigung brach hervor. Als Kind war Boris Augenzeuge der bolschewistischen Barbarei geworden, die für immer ihre Spuren hinterlassen hat.“

Als die Revolution ausbrach, hielt sich die Familie Kowerda in Samara auf. Der Junge sah mit eigenen Augen die bolschewistischen Massenmorde, Plünderungen, die Schändung orthodoxer Kirchen. Die Leichen der Ermordeten wurden unter das Eis des Flusses geworfen. Die Geheimpolizei Tscheka ermordete seine Verwandten und viele seiner Freunde. Er selbst wurde als „bürgerliches Kind“ Opfer von Schikanen und Verfolgung.

Alle Bekannten Kowerdas, die vor Gericht aussagten, schilderten ihn als einen Mann mit guten Eigenschaften: bescheiden, edel, rechtschaffen. Und ein überzeugter Anti-Bolschewik. Kowerda konnte nicht hinnehmen, dass die Bolschewiki in dem von ihnen kontrollierten Gebiet Millionen von Menschen ermordeten und verfolgten, während die ganze Welt gleichgültig zusah.

„Ich kenne den Angeklagten seit 1921“, sagte Szymon Zachoronak. „Ich halte ihn für einen sehr ehrlichen und zuverlässigen Mann. Ich hielt Kowerda für einen Gegner des Kommunismus. Kowerda wies auf die Lebensumstände in Sowjetrussland hin, zeigte auf, was dort geschah, und sagte, es sei eine Abscheulichkeit. Das russische Justizsystem, die Strafen haben ihn sehr berührt.“

Der Direktor des Russischen Gymnasiums in Wilno, Leonid Bielewski, sagte: „Ich wusste, dass Kowerda in sehr schwierigen materiellen Verhältnissen lebte, dass er arbeiten musste, um seine Familie zu unterstützen. Das gesamte Lehrpersonal war gegenüber Kowerda sehr freundlich eingestellt. Er war ruhig, gehorsam, sanftmütig, konzentriert und selbstbewusst. Es gab nie Auseinandersetzungen mit Lehrern oder Kollegen. Als Direktor einer Mittelschule kann ich sagen, dass Kowerda einen sehr angenehmen Eindruck hinterlassen hat.“

Schließlich ergriff Kowerda selbst das Wort: „In Samara sah ich demoralisierte Soldaten. Ich wurde Zeuge, wie an einem Bahnhof bolschewistischer Mob den Bahnhofsvorsteher verprügelte und der Lokführer angeblich in einen Ofen geworfen wurde. Häuser wurden geplündert und Eigentum wurde geraubt. Menschen wurden verhaftet und misshandelt.

Auf dem Weg nach Polen wurde ich mehrmals von den Roten aus dem Zug geworfen. In Russland herrschte Chaos. Ich war zwar klein, aber ich erinnere mich, dass vorher Ordnung geherrscht hatte, und als es mir gelang, aus diesem „Paradies“ auszubrechen, holte ich tief Luft. Eine innere Stimme sagte mir, dass ich kämpfen müsste. Dass hier niemand etwas unternehmen wird, während sich in Russland eine Partei von blutigen Schlägern breit gemacht hat. In mir kam der Wille auf, sie zu bekämpfen. Ich begann zu überlegen, was ich tun könnte, um meinem Heimatland zu dienen.

Ich beschloss, Woikow als den Vertreter der Bande bolschewistischer Kommissare zu töten. Es tut mir sehr leid, dass ich dies auf polnischem Boden getan habe, der für mich eine zweite Heimat ist. Doch die Bolschewiki setzen auf den Terror, nicht nur in Russland, sondern auch in Polen. Indem ich Woikow tötete, wollte ich Millionen rächen.“

Kowerda sagte, dass er allein gehandelt habe, „ohne dass ihn jemand überredet hat oder mitschuldig wurde“. Er kam zwei Wochen vor dem Attentat in Warschau an und wohnte in einem gemieteten Zimmer im Haus einer alten Jüdin, Sura Fenigsztajn, der er sagte, er wolle in der Hauptstadt „Prüfungen ablegen“. Er kannte Woikows Gesicht aus der Zeitung. Aus den Zeitungen erfuhr er auch, dass der Gesandte am 7. Juni am Bahnhof sein würde.

Bei den Ermittlungen der polnischen Polizei ging es vor allem darum, herauszufinden, ob Kowerda die Wahrheit gesagt hatte. Denn es wurde vermutet, dass das Attentat das Werk einer Organisation russischer Monarchisten war. Die Polizei führte in Wilno eine Durchsuchung in Kowerdas Wohnung durch. Die Suche führte jedoch zu keinem Ergebnis. Es wurde lediglich ein verdächtiges Dokument gefunden: eine Quittung des Komitees von Großfürst Nikolai Nikolajewitsch. Kowerda hatte einen Dollar gespendet.

Die Besänftigung der Sowjets

Die Anhörung vor Gericht dauerte nur einen Tag. Obwohl alles für eine milde Bestrafung sprach, verhängte das Gericht am 15. Juni 1927 ein drakonisches Urteil. Boris Kowerda wurde zu lebenslanger Zwangsarbeit verurteilt, die später in 15 Jahre Gefängnis umgewandelt wurde. Als das Urteil am späten Abend verlesen wurde, soll Kowerda traurig und melancholisch gelächelt haben.

„Der Mord auf polnischem Territorium“, so die Urteilsbegründung, „wurde von einem Emigranten unter Verletzung der Dankbarkeit für das Asylrecht begangen und darüber hinaus an der Person des Vertreters eines fremden Staates, d.h. unter erheblicher Schädigung des moralischen Ansehens der Republik Polen und ihrer politischen Interessen. Das erfordert eine härtere strafrechtliche Verfolgung.“ Das Urteil sollte zudem die wütenden Bolschewiken besänftigen.

Sowohl Polen als auch die Sowjets hatten ein großes Interesse daran, die Sache so schnell wie möglich zu beenden. Die Polen wollten die Beziehungen zu ihrem großen Nachbarn, mit dem sie erst vor wenigen Jahren einen heftigen Krieg beendet hatten, nicht verschlechtern.

Andererseits drohte ein längerer Prozess, unbequeme Tatsachen über die Sowjetunion sowohl in Bezug auf die Ermordung der Zarenfamilie als auch über andere bolschewistische Verbrechen ans Licht zu bringen. Die Sowjets befürchteten die Wiederholung einer Situation aus dem Prozess gegen einen anderen russischen Emigranten, Moritz Konradi, der 1923 den Sekretär der sowjetischen Delegation, Wazlaw Worowski, in Lausanne erschossen hatte. Aufgrund von Zeugenaussagen und des Vorgehens der Verteidiger verwandelte sich das Gerichtsverfahren in einen Prozess über den Bolschewismus und die Folgen der Oktoberrevolution von 1917 für Russland und Europa.

Nach Woikows Tod sandte der sowjetische Außenminister Maxim Litwinow eine äußerst harsche Note an die polnische Regierung, in der er Warschau die Verantwortung für den Mord an dem Gesandten zuschrieb. Er warf ihr vor, ihre Pflicht zum Schutz eines ausländischen Diplomaten vernachlässigt zu haben und „weiße“ russische Emigranten auf ihrem Hoheitsgebiet zu dulden. Litwinow zufolge waren die polnischen Geheimdienste an dem Attentat beteiligt.

Wütende, „spontane“ Kundgebungen mit Fäusten drohender „arbeitender Massen“ wurden von der kommunistischen Partei in den Straßen der sowjetischen Städte organisiert. Die Zeitungen waren voll mit wütenden Angriffen auf Polen, Briefen von Arbeitern und Kolchosbauern, die über den Mord schockiert waren, und in „Protest-Zusammenkünften“ gefassten Entschließungen, die eine harte Bestrafung des Täters forderten. Im Moskauer Lubjanka-Gefängnis ermordete die Geheimpolizei GPU Berichten zufolge zwanzig Geiseln aus der Elite des vorrevolutionären Russlands als Teil der Repression.

Der aufgebahrte Leichnam Woikows in der sowjetischen Gesandtschaft in Warschau.

Nach dem Tod Woikows schickte Józef Piłsudski seine Visitenkarte an die sowjetische Gesandtschaft, um seine Anteilnahme auszudrücken. Und Staatspräsident Ignacy Mościcki übermittelte Stalin und anderen Mitgliedern des sowjetischen Politbüros sein Beileid. Die Polen erklärten sich gegenüber den Bolschewiki und versicherten ihnen, dass sie mit der Tat Kowerdas nichts zu tun hätten.

Woikows Leichnam wird zum Bahnhof in Warschau gebracht.

Woikows Leichnam wurde in einem großen Trauerzug zum Bahnhof gebracht, an dem auch Regierungsmitglieder, Innenminister Felicjan Sławoj-Składkowski sowie Wirtschafts- und Handelsminister Eugeniusz Kwiatkowski teilnahmen. Ein Spalier von Soldaten säumte den Weg vom Gesandtschaftsgebäude zum Bahnhof. Der Sonderzug mit der Leiche des Zarenmörders wurde mit einem Ehrensalut und von Offizieren mit blanken Säbeln verabschiedet. Der Sarg versank in Blumen, die von polnischen Behörden geschickt worden waren.

Kowerda wurde 1937, nach Verbüßung von zehn Jahren Haft, aus dem Gefängnis entlassen. Er ging nach Jugoslawien und ließ sich nach dem Krieg in New York nieder. Dort arbeitete er für russische Emigrantenzeitungen. Er starb 1987. Jahre später stellte sich heraus, dass er nicht allein gehandelt hatte.

Das Attentat auf Woikow war von Esaul Michail Jakowlew geplant worden, einem tapferen Kosakenoffizier, der während des Krieges 1920 an der Seite der polnischen Armee gegen die Bolschewiki gekämpft hatte.

Sowjetische Briefmarke von 1988 zum 100. Geburtstag von Pjotr Woikow.

Währenddessen wurde Woikow in Moskau als Märtyrer für den Bolschewismus „heiliggesprochen“. An seiner Beerdigung an der Kremlmauer nahm eine große Menschenmenge teil. Nach Woikow wurden mehrere Straßen, ein Kohlebergwerk in der Ukraine, ein Stadtteil Moskaus und eine Metrostation, die Woikowskaia, benannt.

Letztere trägt diesen Namen bis heute. Und das, obwohl die orthodoxe Kirche, die die Mitglieder der kaiserlichen Familie als Heilige anerkennt, die Regierung seit Jahren auffordert, den Namen zu ändern. Der vor kurzem aufgelöste Verein Memorial und demokratische Oppositionskreise nehmen eine ähnliche Haltung ein. Die Moskauer Behörden gaben dem Druck nach und führten 2015 eine Online-Umfrage durch. 300.000 Moskauer nahmen daran teil. 53 Prozent der Befragten sprachen sich gegen die Umbenennung aus. Nur 35 Prozent waren dafür, sodass der Name beibehalten wurde. Denn bekanntlich hören die Behörden in Russland ja auf die Öffentlichkeit.

RdP




10.05.2022. Vom polnischen Traum Russland loszuwerden

Es kann sein, dass wir in Polen, und mit uns die Bewohner der ganzen Region zwischen Russland und Deutschland, bald den Moment erleben werden, von dem wir noch bis vor Kurzem nur träumen konnten. Den Augenblick, in dem wir sagen können: Die Sicherheit unsrerer Staaten und Nationen ist für eine oder vielleicht sogar mehrere Generationen nachhaltig gewährleistet. Voraussetzung dafür ist eine dauerhafte, tiefgreifende militärische, wirtschaftliche und politische Schwächung Russlands.

Alles nur Wunschträume? Eine gesunde Portion Skepsis ist bei solchen Gedankenspielen ist stets angebracht, doch spricht vieles dafür, dass die erhoffte Entwicklung eintreten könnte.

Als US-Präsident Joe Biden sich am 26. März 2022 in Warschau, vom Redemanuskript abweichend, auf Putin bezogen zu dem Ausruf hinreißen ließ:Um Gottes willen, dieser Mann darf nicht an der Macht bleiben“, da sah sich das Weiße Haus genötigt diese Aussage abzumildern. „Man strebe keinen Regimewechsel in Russland an“, hieß es im Nachhinein.

Nur einen Monat später eröffnete sich uns ein Epochenwechsel in der amerikanischen Politik, als Außenminister Antony Blinken und Verteidigungsminister Lloyd Austin, nach ihrem Besuch in Kiew, freimütig die „Kriegsziele“ Amerikas umschrieben, und niemand in Washington machte Anstalten etwas daran zu korrigieren.

„Wir wollen, dass Russland so weit geschwächt wird, dass es nicht mehr das tun kann, was es jetzt in der Ukraine tut.“ „Wir wollen nicht, dass sie ihre Fähigkeiten schnell wieder aufbauen können.“ (Austin). „Eine unabhängige Ukraine wird viel länger bestehen, als Wladimir Putin auf der politischen Bühne. Unsere Unterstützung für die Ukraine wird weitergehen (…) bis wir den endgültigen Erfolg sehen.“ (Blinken). Europäsche Polkitiker zogen nach. EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen sprach Klartext: „Die Ukraine muss den Krieg gewinnen. Auch Bundeskanzler Olaf Scholz übte sich in Eindeutigkeit: „Es wird keinen russischen Diktatfrieden geben. Putin wird den Krieg nicht gewinnen.“

Von der Leyen, Scholz, Macron & Co. möchten, dass die Ukraine den Krieg nicht verliert, würden danach aber am liebsten wieder politisch und wirtschaftlich mit Russland ins Gespräch und ins Geschäft kommen. Ganz nach dem altbekannten Motto und Vorwand: Russland kann und darf nicht isoliert werden.

Biden und seine Leute wollen viel mehr. Amerika soll den Ukraine-Krieg gewinnen. Die Amerikaner sprechen heute so, wie sie während des Zweiten Weltkrieges über Deutschland und Japan gesprochen haben. Sie wollen den geopolitischen Rahmen umbauen, in dem seit Ende des Zweiten Weltkrieges die Unabhängigkeit der Polen, Balten, Ukrainer und anderer Völker des sogenannten Zwischeneuropas stets zur Disposition stand, wenn es um gute Beziehungen und Geschäfte mit der Sowjetunion, bzw. Russland ging. Russland, wie es jetzt ist, ob mit oder ohne Putin, soll geschwächt und isoliert werden, so Washington.

Das entspricht voll und ganz den polnischen Wahrnehmungen, Erwartungen und Erfahrungen. Sie besagen, dass jegliche engeren, vielschichtigen, auf Vertauen in den Partner beruhenden Beziehungen mit dem heutigen Russland sehr gefährlich sind. Alles, was Gegenstand der Beziehungen ist, kann zu einem Zeitpunkt, der den Russen passt, und zu einem von ihnen festgelegten Zweck gegen uns verwendet werden. Alles. Vom Handel mit Äpfeln und Fleisch, über die Anwesenheit russischen Kapitals in Polen bis hin zum kleinen Grenzverkehr und den Feierlichkeiten zu wichtigen Jahrestagen.

Polens nationalkonservative Regierung hielt sich seit 2015 konsequent an diese Sichtweise. Es gab und gibt für sie keine bessere Option, als die erwähnten Risiken zu minimieren. Je weniger Handel wir treiben, je weniger wir kooperieren, umso besser für uns. Wenn ein Partner nur böse Absichten im Schilde führt, sollten wir uns so weit wie möglich von ihm fernhalten. Fazit: Man muss Politik gegenüber Russland betreiben, aber man sollte keine Politik mit Russland machen.

Das Jahr 2022 könnte, neben Daten wie 1918 (Wiedererlangung der Unabhängigkeit), 1920 (das Aufhalten des bolschewistischen Vormarsches auf Europa vor den Toren Warschaus), 1945 (die Sowjets zwingen Polen den Kommunismus auf) oder 1989 (Ende der Sowjetherrschaft in Polen) in die Geschichtsbücher eingehen und den Beginn einer neuen Ära markieren. Das Jahr 2022, ein Jahr ab dem Europa nicht mehr in ewiger Angst vor Russland, dessen Einfluss, seinen Manipulationen und Intrigen, und schließlich den von Moskau angezettelten verbrecherischen Kriegen leben muss.

Es gilt, nach dem für den Kreml verlorenen Ukraine-Krieg Russland in seine Grenzen weit im Osten zu drängen, sowohl geografisch, wie auch politisch. Die Amerikaner sehen das richtig und hoffentlich bleiben sie dabei. Eine Chance von historischer Bedeutung tut sich auf und eine einmalige Gelegenheit, die nicht verpasst werden sollten.

RdP




1.05.2022. Es gibt ein Leben ohne russisches Gas in Polen

Das bis vor Kurzem Unvorstellbare hat sich ereignet und nichts ist passiert. Weder die polnische Industrie, noch die Haushalte merken etwas davon, dass Russland Polen am 27. April 2022 den Gashahn zugedreht hat. Das Land ist gut gewappnet. Wie war das möglich?

Lange hieß es, die russophoben Polen haben geradezu einen Narren an der Energieunabhängigkeit ihres Landes vom großen Nachbarn gefressen. Und man weiß ja nicht erst seit heute, dass jedem Narren seine Kappe gefällt. Also ernteten die Polen jahrelang das selbstgefällig-süffisante Lächeln deutscher Politiker, das man gemeinhin nur keck auftretenden Kleinkindern zuteilwerden lässt.

Das Mitleid galt ausdrücklich Polens „hinterwäldlerischen“ Nationalkonservativen, die sich der Energieunabhängigkeit von Russland restlos verschrieben haben. Der 2010 tödlich verunglückte Staatspräsident Lech Kaczyński hatte diesbezüglich bereits versucht, gemeinsame Projekte mit Litauen, Aserbaidschan, der Türkei und der Ukraine einzufädeln.

Doch Frau Merkels politischer Ziehsohn und Günstling Donald Tusk, zwischen 2007 und 2014 polnischer Ministerpräsident, und seine Mannschaft fielen dem polnischen Staatsoberhaupt immer wieder in den Arm. Sie steuerten, wie ihre geistige Heimat Deutschland, kräftig dagegen, in Richtung Abhängigkeit von Russland.

Der 2006 von der Regierung Jarosław Kaczyński begonnene Bau des Flüssiggas-Terminals in Świnoujście/Swinemünde wurde nach dem Machtwechsel 2007 zu Tusk als nicht vorrangig betrachtet und bis 2015 verschleppt. Im Jahr 2010 unterschrieb die Tusk-Regierung zudem einen preislich äußerst ungünstigen Gasvertrag mit Russland, der ursprünglich bis 2037 gelten sollte. Nach heftigen Protesten im Land und dem Einspruch der EU-Kommission wurde er vonTusk, notgedrungen, auf Ende 2022 verkürzt.

In seiner unverbrüchlichen Treue zu Frau Merkel handelte Tusk, nicht nur in diesem Fall, gegen lebenswichtige Interessen Polens. Brav sein war oberstes Gebot. Als „antirussischer Störenfried“ hätte Tusk 2014 keine Chance gehabt, von Frau Merkel für seinen langersehnten Traumjob als EU-Ratspräsident protegiert zu werden. Hätte Putin Polen damals den Gashahn zugedreht, wäre die Panik in Polen riesengroß gewesen. Das Land war auf russische Gaslieferungen angewiesen.

Das zu ändern war, wie wir heute sehen, für Polen überlebenswichtig. Deswegen drückten die regierenden Nationalkonservativen 2015, nach ihren Siegen in den Staatspräsidenten- und Parlamentswahlen, in Sachen Energieunabhängigkeit aufs Gaspedal.

Endlich wurde das Flüssiggas-Terminal in Świnoujście in Betrieb genommen. Es deckt heute, durch Tankerlieferungen aus Katar, den USA, Norwegen und Nigeria, ein Drittel des polnischen Gasbedarfs, der sich auf 20 Milliarden Kubikmeter jährlich beläuft. Die Lieferungen aus Norwegen kommen von Gasfeldern vor der Küste des Landes, die Polen gekauft hat und die der staatliche polnische Mineralölkonzern Orlen betreibt.

Das wichtigste Projekt jedoch ist die Baltic Pipe, eine Erdgasleitung, die von Norwegen über Dänemark durch die Ostsee bis nach Polen reicht. Im Oktober 2022, genau zu Beginn der Wintersaison, soll die Baltische Röhre in Betrieb genommen werden. Durch sie sollen bis zu 10 Milliarden Kubikmeter Erdgas nach Polen gepumpt werden, was der Hälfte des polnischen Bedarfs entspricht.

Zudem achten die Behörden seit einigen Jahren penibel darauf, dass die Gaslager stets gut gefüllt sind. Während die Gasspeicher in der EU im Durchschnitt nur zu 30 Prozent voll sind, beträgt der entsprechende Wert in Polen 78 Prozent – Tendenz steigend. Mit den 4 Milliarden Kubikmetern jährlicher Eigenförderung reicht das aus, um den laufenden Verbrauch zu decken.

Zudem entstehen jetzt zusätzliche Gasleitungen nach Deutschland, Litauen und in die Slowakei, um im Ernstfall auch von dort Gas zu beziehen oder umgekehrt von Polen aus in diese Länder zu liefern. Wenn demnächst ein weiteres Flüssiggas-Terminal in Danzig betriebsbereit sein wird, soll Polen zu einem der größten Erdgas-Exporteure innerhalb der EU aufsteigen.

Haben ist allemal besser als brauchen.

Lesenswert auch: „Und Tschüss… Polens Abschied von Gasprom“

RdP




29.03.2022. Putins Krieg und die Schuld der Russen

Wer eigentlich führt den Krieg gegen die Ukraine? Die Russen oder nur Wladimir Putin?

Der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz wird nicht müde zu betonen, dass nicht das Volk, sondern den Präsidenten die Schuld trifft. „Dieser Krieg ist Putins Krieg“ legte sich Scholz bereits in seiner TV-Ansprache am 24. Februar 2022, dem Tag des russischen Einmarsches fest, und bleibt seither dabei. Er ist nicht der Einzige.

Frage an den Bundeskanzler: Wurde Polen 1939 von Deutschland und den Deutschen oder von Hitler überfallen? Natürlich gab der „Führer“ den Befehl dazu. Es gibt jedoch Menschen, die darauf hinweisen, dass Hitler dreimal hintereinander (Juli und November 1932, März 1933) Wahlen gewann, und legal an die Macht kam. Erst danach konnte er, das schon Anfang 1933 begonnene Werk der „Gleichschaltung“ Deutschlands in seiner Gänze anpacken und vollenden.

Die allermeisten Deutschen bejubelten ihn und folgten ihm auf seinen Eroberungszügen bis zum Nordkap, nach Nordafrika, bis vor die Tore Moskaus, hissten die Hakenkreuzfahne auf dem Elbrus, billigten oder nahmen seine verbrecherische Besatzungspolitik hin. Also sagen wir, dass es die Deutschen waren, die Polen überfallen haben, obwohl sich niemand empört, wenn gesagt wird, dass es Hitler war. Wer jedoch behauptet, es war nur Hitlers Krieg, dem wird heute heftig widersprochen.

Ist das bei Putin anders? Im Jahr 2004 erhielt er 53 Prozent der Stimmen (die Wahlergebnisse wurden im Allgemeinen nicht in Frage gestellt). Danach schaffte er schrittweise demokratische Strukturen und Verfahren ab, zerstörte die Opposition, befriedete auf bestialische Weise Tschetschenien, nahm sich Teile von Georgien, die Krim, den Donbass, bombte Syrien fast in die Steinzeit zurück. Und die meisten Russen? Sie bejubelten ihn. Bis zu 80 Prozent von ihnen unterstützen heute Putins Ukraine-Krieg beziehungsweise nehmen ihn billigend oder resignierend in Kauf.

So gesehen sind Sanktionen, die in erster Linie die Gesellschaft treffen, gerechtfertigt. Auch die Auflösung von Verträgen mit putinfreundlichen russischen Künstlern, die Verbannung des russischen Sports, einer der tragenden Säulen in Putins Propaganda, von internationalen Wettkämpfen, und die Weigerung westlicher Verleiher ihre Filme in russischen Kinos zeigen zu lassen. Millionen russischer Befürworter des Krieges bekommen all das schmerzhaft zu spüren.

Das Ziel ist, das russische Volk gegen den Krieg aufzubringen. Den Menschen das Leben dermaßen schwer zu machen, sie so tief zu frustrieren und zu ermüden, bis es sich für ihren Präsidenten nicht mehr lohnt, die Ukraine zu vernichten.

Um die Deutschen gegen Hitler aufzubringen, legten die Alliierten mit ihren Flächenbombardements eine deutsche Stadt nach der anderen in Schutt und Asche. Da kommt das russische Volk dieses Mal eher glimpflich davon.

RdP




18.03.2022. Russen-Boykott. Vernunft tut Not!

Auch in Polen nehmen Kultureinrichtungen und Veranstalter russische Musik und Theaterstücke aus ihrem Programm, und sagen Auftritte russischer Künstler ab. Die antirussische Aufregung sorgt für Diskussionsstoff.

Drei Argumente sprechen für den Boykott.

Erstens: Der von Putin ausgelöste blutige Krieg ist ein unpassender Zeitpunkt, um Russlands Größe zu bewundern, auch wenn diese Größe im kulturellen Bereich unbestreitbar ist.

Zweitens: Auch Kultureinrichtungen wollen ihre Haltung zum Ausdruck bringen, und es ist ganz natürlich, dass sie auf diese Weise protestieren.

Drittens: Wir mögen Schostakowitsch weiterhin und halten Tschaikowsky keineswegs für Putin-freundlich, aber dass, was Putin tut, schließt Russland und die Russen aus der internationalen kulturellen Gemeinschaft aus.

So weit, so gut.

Man kann verstehen, dass Filmfestspiele keine von der russischen Regierung finanzierten Produktionen zeigen wollen, aber was soll man mit Kirill Serebrennikows Film machen? Ein herausragender, vom Putin-Regime verfolgter Regisseur, dessen „Petrov’s Flu“ vorerst nicht in die Kinos kommt. Was tun mit Produktionen, deren Urheber gegen die Behörden und das System vorgehen? Einige polnische Festivalveranstalter (New Horizons und Millennium Docs Against Gravity) behielten ihren gesunden Menschenverstand, andere (z. B. das Warschauer Filmfestival oder Cinema on the Border) fackelten nicht lange und bedankten sich bei den Russen.

Man kann verstehen, dass das Alte Theater in Kraków die Zusammenarbeit mit Konstantin Bogomolow, der mehr oder weniger offen Putin unterstützt, aufgegeben hat, aber warum wurde das mit seiner Nationalität begründet? Und woher kam die Idee, die Premiere von „Boris Godunow“ in der Warschauer Oper abzusagen? Und welchen Sinn macht es, die Werke aller russischen Komponisten im Kulturprogramm des Polnischen Rundfunks zu streichen?

Sollten nicht, wennschon, dennschon, Buchhändler alle russischen Schriftsteller aus den Regalen nehmen und Bibliotheken ebendiese mit einer Ausleihsperre belegen? Die Romane von Dostojewski und Bulgakow oder die Theaterstücke von Gogol und Tschechow stehen Russland und den Russen kritisch gegenüber, wie der Regisseur Iwan Wyrypajew kürzlich bei einer Aufführung von „Onkel Wanja“ im Warschauer Teatr Polski zu Recht betonte. Der Theaterdirektor sah sich jedoch offensichtlich gezwungen, seine Entscheidung, Tschechow zu spielen, nach der Aufführung zu erklären.

Dabei würde es wahrlich genügen den Saal der Warschauer Oper bei der „Boris Godunow“-Premiere dezent mit einigen ukrainischen Akzenten zu schmücken, anstatt sie abzusagen.

Und noch eins. Wer einen Boykott beginnt, muss auch eine Vorstellung davon haben, wann er ihn beenden will. Wenn der letzte russische Soldat die Ukraine verlassen hat? Mit oder ohne Krim? Mit oder ohne Donbass? Und wenn das noch in ein paar Jahrzehnten nicht passiert ist? Sollen wir uns, um Putin zu ärgern, so lange die Ohren zuhalten, Rachmaninow und Rimski-Korsakow verschmähen, die an diesem Krieg ebenso wenig schuld sind wie Dschingis Khan?




Mit Putin telefonieren

Machen wir uns keine Illusionen: Viele in Europa wären über eine rasche Niederlage der Ukraine erleichtert. Anstatt zu helfen, telefonieren sie mit dem Aggressor

Der Elysée-Palast teilte am Samstag, dem 12. März mit, dass der französische Präsident Emmanuel Macron und Bundeskanzler Olaf Scholz erneut mit dem russischen Präsidenten Wladimir Putin in Sachen Krieg in der Ukraine telefoniert haben. „Die drei Staatschefs haben ein Telefongespräch geführt, in dem Frankreich und Deutschland von Russland die sofortige Einstellung des Krieges forderten“, so das Kommuniqué.

Nach Angaben des Elysée-Palastes hat Macron seit seinem letzten Treffen im Kreml am 7. Februar 2022 bereits neun Telefongespräche mit Putin geführt, darunter am Donnerstag, dem 3. März. Damals hieß es, dass „Macron und Scholz darauf bestanden, dass jede Lösung der Krise durch Verhandlungen zwischen der Ukraine und Russland erfolgen solle“. Macron, Scholz und Putin vereinbarten auch, in den kommenden Tagen weiterhin engen Kontakt zu halten.

Auf der einen Seite haben wir das Ausbremsen wirklich harter Sanktionen (Energieträgerembargo), die Russland in kürzester Zeit in die Knie zwingen könnten (auch wenn sie mit wirtschaftlichen Kosten für Europa verbunden sind), auf der anderen Seite den zwanghaften Hang zum Telefonieren mit dem Aggressor. Alle zwei oder drei Tage ein Anruf – immer mit dem gleichen Ergebnis. Der Nutzen dieser Telefonate für das Opfer, die Ukraine ist gleich Null, während gleichzeitig der Eindruck entsteht, dass Berlin und Paris psychologisch gar nicht in der Lage sind, einen harten, lang anhaltenden Konflikt mit Russland zu ertragen.

Man fragt sich wo wäre Polen, wenn es die Vereinigten Staaten nicht gäbe? Inwieweit könnte die Europäische Union, die ja von den beiden Telefon-Gesprächspartnern Putins dominiert wird, den Staaten im Osten, einschließlich Polen, eine robuste Sicherheit garantieren? Man wird den Eindruck nicht los, dass sehr viele in Westeuropa nach einer raschen Niederlage der Ukraine und dem Triumph Moskaus erleichtert aufatmen würden. Liebend gern würden sie danach erneut so etwas wie die Minsker Gespräche organisieren, bei denen die russischen Eroberungen besiegelt und die Ukraine politisch und militärisch mundtot gemacht würde, um sich reinen Gewissens wieder auf Putin einzulassen.

Aber man muss sich auch fragen: Wo stünden wir, wenn Macron und Scholz zumindest einen Teil der Energie, die sie für das antichambrieren im Kreml aufwenden, darauf verwendet hätten, wirksame Wege zur Bestrafung Russlands zu finden? Oder die Ukraine mit der den Waffen zu versorgen, die es ihr ermöglichen würden, der russischen Armee noch größere Verluste zuzufügen?

Sanktionen, Waffen, Hilfe für Flüchtlinge, Unterstützung für Staaten, die Ukrainer aufnehmen. So sollte die solidarische Antwort der freien Welt auf die russische Aggression aussehen. Alles andere ist in diesem Stadium des Krieges ein beschämendes Ausweichen.

RdP




Warum tust du das, Russland!? Polen fragen, Putins Mann antwortet

Nicht nur die Ukraine spaltet Russland und Polen. Niederschrift eines  denkwürdigen Gespräches.

Das ausführliche Interview mit dem russischen Botschafter in Warschau fand zwei Tage vor dem russischen Großangriff auf die Ukraine statt. Die Niederschrift dieses Gesprächs ist ein denkwürdiges Dokument. Es vermittelt tiefe Einblicke in die oft sehr brutale russische Denk- und Vorgehensweise, die auch in der Wortwahl russischer Beamter und Politiker ihren Ausdruck findet.

Sehr vieles von dem, was Botschafter Sergej Andrejew gesagt hat, wurde durch die nachfolgenden Ereignisse als unwahr widerlegt oder weitgehend relativiert. Es zeigt, wie naiv und gefährlich es sein kann, das was Wladimir Putins Russland von sich gibt, für bare Münze zu nehmen.

Sergej Andrejew.

Sergej Wadimowitsch Andrejew, geb. 1958 ist seit August 2014 russischer Botschafter in Polen. Vorher bekleidete er die Ämter des Botschaftsrates in Portugal, sowie des russischen Botschafters in Angola und Norwegen.

Frage: Herr Botschafter, es fällt uns schwer zu verstehen, warum Russland dem angeblich brüderlichen ukrainischen Volk so etwas antut: Armeeaufmarsch an den Grenzen, Einschüchterung, Terrorisierung. Warum das alles?

Sergej Andrejew: Die Ukrainer sind für uns nicht nur ein Brudervolk. Präsident Putin hat schon oft gesagt: wir sind in der Tat ein und dasselbe Volk.

Außerdem geht es uns nicht um das Volk, sondern um die Behörden, um das Regime, mit dem wir tatsächlich Probleme haben. Diese Leute verwandeln die Ukraine in einen Anti-Russland-Staat. Sie haben eine antirussische Haltung eingenommen. Antirussische Aktivitäten sind zum Sinn der Existenz dieses Regimes geworden. Ausländische Mächte nutzen das aus. Die Ukraine verwandelt sich zu einem Stützpunkt für ihre Aktionen gegen mein Land. Wir können das nicht ignorieren. Wir müssen daraus unsere Schlussfolgerungen ziehen.

Sie sprechen von einem „Regime“. Aber nach dem Maidan 2014 gab es eine Präsidentschaftswahl, die Präsident Poroschenko gewann, dann eine weitere, die er verlor, und Selenskyj wurde Präsident. Außerdem fanden demokratische Parlamentswahlen statt. Es gibt eine pluralistische Medienlandschaft und die Menschenrechte werden geachtet. Der in diesem Zusammenhang von Ihnen verwendete Begriff „Regime“ ist eine Umkehrung seiner Bedeutung. Vielmehr ist Russland ein stark zentralisierter Staat mit einer, wenn Sie den Ausdruck gestatten, weitgehend fiktiven politischen Szene.

Der 1954-1955 auf einer künstlichen Anhöhe, in einer der schönsten Gegenden im Zentrum von Warschau erbaute Komplex der sowjetischen (heute russischen) Botschaft ist ein kolossaler Prunkbau im Stil des stalinistischen Neoklassizismus. Er sollte den kolonialen Herrschaftsanspruch der Sowjets für alle sichtbar zum Ausdruck bringen. Ein vier Hektar großer Park umgibt die Gebäude.

Formal erkennen wir an, dass die ukrainische Verwaltung verfassungskonform bestimmt wurde und durch Wahlen legitimiert ist. Das Problem besteht darin, dass diese Verwaltung, unserer Meinung nach, nicht die wahren Interessen und den Willen des ukrainischen Volkes vertritt. Sowohl Poroschenko als auch Selenskyj sind mit den Losungen „Frieden“, „Beilegung der Krise im Osten des Landes“ und „Verbesserung der Beziehungen zu Russland“ in den Wahlkampf gezogen, und nachdem sie an die Macht gekommen sind, taten sie und tun weiterhin das Gegenteil.

Was das politische System Russlands betrifft, so gestalten wir es entsprechend den Bedingungen und Bedürfnissen unseres Landes, und legen dabei großen Wert auf die Gewährleistung von Stabilität, Entwicklung und Sicherheit. Dies entspricht den Interessen der überwältigenden Mehrheit der russischen Bürger. Das spiegelt sich in regelmäßigen, durchaus demokratischen und keineswegs fiktiven Wahlen wider. In Anbetracht des Bildes von einem politischen Bordell, das das politische Geschehen in der Ukraine seit vielen Jahre abgibt, erscheint die Wirksamkeit unseres politischen Systems umso offensichtlicher.

Selbst wenn es in der Ukraine so wäre, wie Sie sagen, ist es ein Merkmal der Demokratie, ein internes Recht der einzelnen Staaten, ihre eigenen Interessen festzulegen und sogar ihre politische Linie zu ändern. Wäre das eine Anschuldigung, die militärisches Vorgehen rechtfertigt, bliebe in der Welt kein Stein mehr auf dem anderen.

Nun, ich habe Ihnen nur zu erklären versucht, warum wir glauben, dass diese Regierung nicht das ukrainische Volk vertritt, nicht seinen wirklichen Interessen entspricht.

Proteste und Kämpfe auf dem Platz (Maidan) der Unabhängigkeit in Kiew zwischen November 2013 und Februar 2014 endeten mit der Flucht des prorussischen Staatspräsidenten Wiktor Janukowytsch und einem demokratischen Neuanfang in der Ukraine, dem sich Russland bis heute widersetzt.

Präsident Putin geht noch weiter. Kürzlich sagte er in einer seiner Reden, dass die Ukrainer nie eine echte Nation gewesen seien, dass die Ukraine ein untrennbarer Teil Russlands sei. Das, Herr Botschafter, ist demütigend für die Ukrainer und unwahr. Die nationale Identität wird durch den Volkswillen, die Sprache und die Geschichte bestimmt.

In diesem Fall jedoch, wird die nationale Identität durch die Verleugnung der wahren Geschichte der Ukraine, durch eine künstlich geschaffene Oppositionshaltung zu Russland und die Errichtung eines widernatürlichen Anti-Russlands geprägt. Das ist das Fundament der Daseinsberechtigung des Kiewer Regimes. In Wirklichkeit entbehrt diese Haltung jeder rationalen Grundlage. So etwas können wir nicht hinnehmen.

Welche Ukraine wäre nach Russlands Geschmack? Welche würde Russland in Ruhe lassen?

Wir möchten, dass die Ukraine ein friedlicher Staat ist, der wirtschaftlich und kulturell floriert und gute Beziehungen zu Russland unterhält.

Nach den Ereignissen des letzten Jahrzehnts erscheint die letzte Forderung unerfüllbar. Ein tiefer Graben ist entstanden, und es wurde Blut vergossen.

Wir sind der Meinung, dass eine Einigung zwischen unseren Völkern durchaus möglich ist, und wir wissen, dass die Mehrheit des ukrainischen Volkes das will. Den Ukrainern ist klar, dass die falsche Politik ihrer Behörden die Schuld daran trägt, was heute in den ukrainisch-russischen Beziehungen geschieht. So sollte es nicht sein.

Umfragen zeigen, dass in der Ukraine die Unterstützung für die Nato- und eine EU-Mitgliedschaft wächst. Es gibt auch keine Anzeichen für innere Spannungen. Im Gegenteil, die Ukraine ist geeint und solidarisch in Anbetracht eines womöglich bevorstehenden Überfalls.

Meine Herren, in der gegenwärtigen politischen und medialen Situation in der Ukraine, angesichts einer Welle kriegerischer Emotionen, ist es nicht möglich echte Meinungsumfragen durchzuführen. Doch selbst unter diesen Umständen zeigen die Umfragen, dass fast 20 Prozent der ukrainischen Öffentlichkeit die Politik ihrer Behörden gegenüber Russland ablehnt. Wie viele wären es, wenn es diese antirussische, banderistische, kriegsbefürwortende Kampagne nicht gäbe? Auf jeden Fall mehr.

Ist das wirklich eine Kampagne? Die ganze Welt sieht eine Truppenkonzentration, die darauf hindeutet, dass ein Angriff möglich ist. Diese Kriegsvorbereitungen werden nicht von der Ukraine, sondern von Russland getroffen. Das beschäftigt die führenden Politiker der Welt, und deshalb genehmigen sie die Lieferung von Verteidigungswaffen in die Ukraine.

Diese angeblichen Defensivwaffen werden in der sogenannten Anti-Terror-Operation im Osten des Landes eingesetzt. Gegen Menschen, die nicht vom Kiewer Regime regiert werden wollen. Das sind keine Verteidigungswaffen. Natürlich können wir groß angelegte Kriegsoperationen der Kiewer Behörden im Osten des Landes nicht ausschließen. Wir haben immer klar gesagt, dass wir in einem solchen Fall nicht gleichgültig bleiben können. Die Ukrainer haben es dennoch getan, und zwar kurz nachdem bekannt wurde, dass sich einige russische Truppen aus dem Übungsgebiet in ihre Stützpunkte zurückziehen. Zu diesem Zeitpunkt nahmen die Provokationen und der Beschuss in der Ostukraine drastisch zu.

Westliche Geheimdienste bestätigten weder den Rückzug der Truppen aus dem Übungsgebiet noch sahen sie eine Deeskalation.

Heute las ich in den polnischen Medien den Bericht eines Journalisten aus der Ukraine, der die Qualität der Arbeit westlicher Geheimdienste, einschließlich des amerikanischen, stark kritisierte. Und das ist wahr. Einmal ist von 100.000 Soldaten an den Grenzen die Rede, dann von 150.000 und schließlich von 170.000. Eine einfache Zählung, so der Autor, ergibt eine Zahl von höchstens 65.000, was für eine größere Offensivoperation nicht ausreicht.

Worum geht es also? Gibt es wirklich eine so große Konzentration von Armeen, dass man von einer Bedrohung sprechen kann? Es ist nicht der Fall, und bei der Kampagne, die seit Oktober und November läuft, handelt es sich einfach um eine riesige Desinformationsaktion. Ständig wird von der Gefahr einer großen russischen Operation gesprochen, und es werden Szenarien für die Besetzung Kiews und die Besetzung des ganzen Landes entworfen.

Vielleicht würde es genügen, sie überzeugend zu widerlegen?

Wir haben das von Anfang an getan. Wir legen die Fakten dar, aber niemand will auf uns hören, denn es geht nicht darum, dass die Menschen die Wahrheit kennen, sondern es geht um diese Kriegsstimmung. Man möchte, wenn letztendlich keine Invasion stattfindet, verkünden können, dass Politiker von Weltrang den Weltfrieden gerettet haben.

Die tatsächliche, groß angelegte Verlegung russischer Truppen, auch nach Weißrussland, ist die Hauptursache und Quelle der Spannung, der Angst um die Nato-Ostflanke sowie der Ursprung der Unterstützung des Westens, einschließlich Polens, für die Ukraine.

Sie lesen ja ukrainische Medien und wissen auch, dass selbst diese von Anfang an gesagt haben, dass die Bedrohung nicht so groß sei, wie sie von den Amerikanern dargestellt wird. Sie wussten, dass diese Panik die ukrainische Wirtschaft schädigen wird. Und genau das ist geschehen.

V. l. n. r.: Wladimir Putin (Russland), François Hollande (Frankreich), Angela Merkel (Deutschland) und Petro Poroschenko (Ukraine) verhandeln die Minsker Vereinbarungen im Februar 2015.

Jetzt haben wir die Entscheidung Russlands, die sogenannten Lugansker und Donezker Volksrepubliken anzuerkennen. Das ist ein Verstoß gegen das Völkerrecht, ein Versuch Grenzen in Europa zu verändern, was zu vielen Kriegen führen kann. Diskussionen darüber, ob Grenzen gerechtfertigt oder nicht gerechtfertigt sind, können den Beginn einer europäischen Katastrophe markieren.

Lassen Sie uns die Fakten ordnen. Es gab die Minsker Abkommen von 2014 und 2015. Das Problem war, dass die ukrainischen Behörden von Anfang an nicht umsetzen wollten, was sie selbst vereinbart hatten. Alles, was getan werden muss damit Frieden herrscht, ist dort verankert und in der Resolution des UN-Sicherheitsrates bestätigt.

Die Kiewer Behörden haben das alles zwar unterschrieben aber nicht geliefert. In letzter Zeit sagen Präsident Selenskyj und sein Gefolge ganz offen, dass sie die Minsker Vereinbarungen nicht mögen und nicht die Absicht haben, sie umzusetzen. Es wird behauptet, dass Präsident Poroschenko gezwungen wurde, diese Abkommen zu unterzeichnen, und dass ihre Umsetzung zum Auseinanderbrechen des Landes führen wird. Nun, man kann Verschiedenes sagen, aber die Dokumente sind da. Die Ukraine sollte sich daran halten.

Der russische Präsident Boris Jelzin, der amerikanische Präsident Bill Clinton, der ukrainische Präsident Leonid Kutchma und der britische Premierminister John Major (v.l.n.r.) am 5. Dezember 1994 bei der Unterzeichnung des Budapester Memorandums.

Davor gab es das Budapester Memorandum vom Dezember 1994, in dem sich die USA, Großbritannien und Russland verpflichteten, die Souveränität und territoriale Integrität der Ukraine zu achten, wenn diese im Gegenzug ihre Atomwaffen aufgibt. Dieses hat Russland durch die Besetzung der Krim gebrochen.

Niemand garantierte der Ukraine die Anerkennung der Ergebnisse eines Staatsstreichs. Niemand hat den illegalen Behörden, die nach dem Maidan-Putsch von 2014 und vor den darauf folgenden Präsidentschaftswahlen entstanden sind, das Recht gegeben, den russischsprachigen Teil der Bevölkerung im Osten des Landes zu unterdrücken. Niemand hat garantiert, dass er das Vorgehen der illegalen Behörden gegen die Bevölkerung unterstützen wird, die diesen Staatsstreich abgelehnt hat.

Herr Botschafter, Sie wissen doch sehr gut, dass es im Leben jeder Nation dramatische Momente und schmerzhafte Veränderungen geben kann. Es ist wichtig, dass anschließend die Legitimität durch freie Wahlen wiederhergestellt wird. Auch Verfassungen sind nicht ewig gültig.

Wahlen nach einem Staatsstreich sind immer Wahlen, die nicht ganz glaubwürdig sind. In diesem Zusammenhang ist der Verweis auf das Budapester Memorandum nicht gerechtfertigt, da die Änderungen der ukrainischen Grenzen durch interne Ereignisse verursacht wurden. Auch die Minsker Vereinbarungen beruhen auf dieser Sichtweise. Sie sollten den Ausstieg der Ukraine aus dieser Situation erleichtern. Die Kiewer Behörden unterzeichneten sie, taten dann aber nichts, um sie umzusetzen. Anschließend erklärten sie, dass diese nicht umgesetzten Vereinbarungen nicht funktionierten. Wir jedoch glaubten, dass das die einzig mögliche Grundlage für die Lösung dieses Problems war.

Aber Sie haben die Abspaltung der Republiken Lugansk und Donezk anerkannt. Das ist das Ende der Minsker Vereinbarungen.

Ja, es gibt sie nicht mehr, aber die Schuld dafür liegt allein bei den Kiewer Behörden.

Können diese Republiken, aus der Sicht Russlands, in die Ukraine zurückkehren?

Wir haben ihre Unabhängigkeit anerkannt.

Russland hat gefordert, dass die Ukraine die Minsker Vereinbarungen umsetzt. Aber sie waren nicht umsetzbar. Die dort empfohlene Föderalisierung wäre gleichbedeutend mit der Übernahme der Kontrolle über die Ukraine durch Russland gewesen, und das Land selbst hätte aufgehört als einheitliches Gebilde zu existieren.

Sie können sagen, was Sie wollen. Es gab das Abkommen und das, was darin stand: Verfassungsreform, Sonderstatus für die Regionen Donezk und Lugansk, Amnestie, Austausch von Gefangenen, Wahlen, Anerkennung der Behörden in den beiden abtrünnigen Regionen und schließlich Wiederherstellung der ukrainischen Kontrolle über die Grenze.

Es ist schwer vorstellbar, dass in Donezk und Lugansk freie Wahlen stattfinden können, auch wegen der Vertreibung eines Teils der dortigen Bevölkerung und des Fehlens freier Medien.

Auch in der Ukraine waren nach dem Putsch Wahlen nur schwer vorstellbar.

Wird Russland versuchen, das von den Donezker und Lugansker Volksrepubliken kontrollierte Gebiet auf den gesamten Bereich ihrer Verwaltungsgrenzen auszudehnen? Der westliche Teil dieser Republiken befindet sich weiterhin in ukrainischer Hand.

Russland hat die Volksrepubliken Donezk und Lugansk innerhalb der in ihren Verfassungen verankerten Grenzen anerkannt. Wir gehen davon aus, dass die territorialen Fragen bei Gesprächen zwischen den Volksrepubliken und den Behörden in Kiew geklärt werden, sobald das möglich ist.

Der Preis für die jüngsten Ereignisse ist die Aussetzung des Starts von Nord Stream 2.

Diese Gaspipeline wird sich noch als notwendig erweisen. Die Nachfrage nach russischem Gas ist sehr groß. Das Fernleitungsnetz auf ukrainischem Gebiet ist in einem schlechten Zustand, und es ist nicht klar, wie lange es noch funktionieren wird.

Dazu eine allgemeine Bemerkung: Es ist heute klar, dass es ohne langfristige Verträge keine stabile Gasversorgung geben kann. So teure Anlagen wie die Pipelines kann man nicht ohne eine Abnahmegarantie rentabel verlegen und betreiben. Russland hält sich an alle seine Vereinbarungen. Es stimmt nicht, dass wir Energie für politische Erpressung benutzen, denn wir sind von diesen Geschäften genauso abhängig wie die Gasabnehmer.

Russischer Nationalstolz auf der besetzten Krim.

Russland hat die Krim besetzt, was international nicht anerkannt wird. Hätte Kiew die Minsker Vereinbarungen umgesetzt, hätte Russland dann die Krim an die Ukraine zurückgegeben, zu der die Halbinsel völkerrechtlich immer noch gehört?

Die Krim ist zu Russland zurückgekehrt, und zwar für immer. Die Krim wurde zufällig ein Teil der Ukraine. Hätte Boris Jelzin Ende 1991 bei dem Treffen zur Auflösung der Sowjetunion im Belowescha-Wald die Krim erwähnt, hätte der damalige ukrainische Präsident Leonid Krawtschuk sie ihm ohne Probleme zurückgegeben. Jeder wusste, dass die Halbinsel in Wirklichkeit ein Teil Russlands war, den Chruschtschow 1954 willkürlich der Ukrainischen Sozialistischen Sowjetrepublik zugeschlagen hatte.

Die dortige Bevölkerung ist zu fast 70 Prozent russisch und zu 90 Prozent russischsprachig. Nach dem Maidan-Staatsstreich in Kiew von 2014 sahen diese Menschen, was geschah und was sie erwartete. Sie wollten nicht in einer Welt leben, in der sie nicht einmal frei Russisch sprechen dürfen. Ich weiß, dass das Referendum, das dort stattgefunden hat, vom Westen nicht anerkannt wird. Aber jeder, der die Situation auf der Krim kennt, weiß, dass eine Wiederholung jederzeit zu demselben Ergebnis führen würde.

Sie wissen, Herr Botschafter, wie heftig Russland gegen die tschetschenischen Unabhängigkeitsbestrebungen gekämpft hat und mit welcher Empörung es auf die Abspaltung des Kosovo von Serbien reagiert hat. Ihr Land sah damals ein, dass die territoriale Integrität von Staaten sehr wichtig ist für den Frieden und für die Grundsätze des Völkerrechts. Und heute reißen sie die Ukraine auseinander.

Auf der Krim haben alle Einwohner gewählt, niemand ist gegangen, niemand ist dazugekommen. In Tschetschenien musste die Hälfte der Einwohner vor Extremisten und Terroristen fliehen. Im Kosovo gab es kein Referendum, auch nachdem die serbische Bevölkerung geflohen war. Diese Situationen sind daher nicht miteinander vergleichbar.

Sie sagen, dass die heutigen ukrainischen Behörden nicht repräsentativ seien. Repräsentativ für Russland waren nur die Zustände vor dem Maidan 2013 bis 2014.

Aber liegt das Problem nicht woanders? Ist es nicht so, dass das was Russland anderen Nationen anzubieten hat, schlicht und einfach nicht attraktiv und interessant genug ist? Sogar die Weißrussen haben rebelliert. Beide Gesellschaften, die weißrussische und die ukrainische, die die Transformation langsam hinter sich lassen, schauen sich um und nehmen den Weg in den Westen. Sie vergleichen und sehen, dass sich die Länder des Westens schneller entwickeln und die Menschen dort viel besser leben. Das lässt sich nicht leugnen, auch wenn es für Ihr Land sehr unangenehm ist.

Die Situation ist nicht so eindeutig. Bis 2013 entwickelte sich die Ukraine ohne Konflikte und Kriege, aber sie hatte ernsthafte Probleme. Was Weißrussland angeht, so war nur ein kleiner Teil der Gesellschaft unzufrieden.

Es kam jedoch zu großen Demonstrationen, Protesten und schließlich zu einer Massenauswanderung.

Das ändert nichts an der Tatsache, dass es kein bedeutender Teil der weißrussischen Gesellschaft war. Und die Attraktivität der Annäherung an Russland lässt sich nicht daran messen, was die westlichen Eliten dazu sagen.

Außer Kriege zu führen gibt es eine Menge anderes für Russland zu tun.

Sollte Russland seine Energie nicht auf die Ansammlung von Kapital, auf die wirtschaftliche Entwicklung, die Verbesserung der Lebensqualität und Verlängerung von Lebensdauer, den Ausbau des Straßennetzes, die Bekämpfung der demografischen Krise und der Entvölkerung des Fernen Ostens richten? Träumt Russland nicht etwa einen imperialen Traum und verschließt dabei die Augen vor der Wirklichkeit?

All das tun wir bereits, trotz der Pandemie, mit großem Erfolg. Die letzten Jahre waren nicht einfach, aber die Lebenserwartung ist gestiegen. Die Einkommen der Bevölkerung sind, trotz Sanktionen und der Notwendigkeit, die Wirtschaft daran anzupassen, stabil geblieben. Wir bauen Straßen, wir haben viele Sozialprogramme aufgelegt, wir entwickeln den Fernen Osten.

Das darf jedoch nicht auf Kosten der Sicherheit gehen. Auch all die Erzählungen über die angeblich außergewöhnliche Bewaffnung Russlands sind nicht wahr. Der russische Verteidigungshaushalt bleibt auf dem gleichen Niveau wie der Großbritanniens und Frankreichs, und ist um ein Vielfaches geringer als der der Vereinigten Staaten.

Das, Herr Botschafter, ist keine vollständige Beschreibung der Situation. Die Kaufkraft des Geldes ist bei ihnen eine andere, sie besitzen zudem ihre eigene Rüstungsindustrie.

Ja, diese Faktoren spielen eine Rolle, aber selbst wenn man sie berücksichtigt, ist die mediale Beschreibung der angeblich großen Aufrüstung Russlands unzutreffend. Unter allen Gesichtspunkten: Militärausgaben, Anzahl der Streitkräfte, Waffentypen, liegt Russland weit hinter der Nato zurück. Es ist schon sehr erstaunlich, dass Russland als eine große militärische Bedrohung angesehen wird.

Das liegt daran, dass niemand sonst an den Grenzen seiner Nachbarn einschüchternde Manöver veranstaltet.

Warum einschüchternd? Das sind normale Übungen. Auch die Nato hält Übungen ab, zum Beispiel im Baltikum, in Polen, und sie sind für uns keineswegs weniger einschüchternd, als die russischen Übungen für die Nato.

Es gibt eine Häufung von Erfahrungen, dass das heutige Russland nicht davor zurückschreckt, Gewalt anzuwenden.

Auch wir haben Erfahrungen mit dem Verhalten der Nato gesammelt, die sich hartnäckig auf Russland zubewegt, ohne ihre früheren Versprechen einzuhalten. Und wir haben eine Anhäufung von historischen Erfahrungen, die zeigen, dass wir immer wieder angegriffen wurden.

Einmarsch und die verheerenden sowjetischen Verluste in Finnland 1939-1940.

Nur um zwei erst beste Beispiele zu nennen: Von Polen im September und von Finnland im November 1939 wurden sie nicht angegriffen.

Was Finnland betrifft, so kann man darüber diskutieren. Tatsache jedoch ist, dass vor dem Krieg 1941-1945, als Finnland zu einem Verbündeten Deutschlands wurde, die Grenze weg von Leningrad verlegt werden musste und das geschah im Frühjahr 1940. Ohne das, hätten wir die Stadt vor den Deutschen nicht verteidigen können. Was die Ereignisse in Polen, im September 1939 betrifft, so nehmen wir diese, wie Sie wissen, anders wahr, als es in Polen allgemein der Fall ist.

Viele Beobachter glauben, dass die russischen Behörden Angst vor dem ansteckenden Beispiel der Ukraine haben. Vor einem demokratischen Land, das sich zudem wirtschaftlich erfolgreich entwickeln könnte.

Wo sehen Sie die besonderen wirtschaftlichen Erfolge der Ukraine? Hunderttausende von Ukrainern gehen auf der Suche nach Arbeit nach Russland oder nach Polen.

Das Wirtschaftswachstum war anständig, die Armee wurde gestärkt und der Staat brach nicht zusammen.

Das Wirtschaftswachstum war nach der Pandemie überall anständig. Es fällt mir sehr schwer, Erfolge in der Ukraine zu sehen. Im Gegenteil, selbst in der Mannschaft, die die letzten Wahlen gewonnen hat, entbrannten interne Konflikte. Oppositionelle, darunter der ehemalige Präsident Poroschenko, wurden verfolgt.

Auch Länder, die derzeit Nato- und EU-Mitglieder sind, wie Estland, Lettland und Litauen, machen sich Sorgen um ihre Zukunft.

Als Nato-Mitglieder haben sie doch die von ihnen gewünschten Sicherheitsgarantien bekommen. Was sollen sie noch befürchten? Unsere westlichen Partner erzählten uns seinerzeit, die baltischen Staaten hätten Angst vor uns, aber wenn sie der Nato beiträten, würden sie sich beruhigen und unsere Beziehungen würden sich verbessern. Doch es geschah ganz anders. Sie kommen nicht zur Ruhe und jagen ihren Nato- und EU-Verbündeten immer wieder Angst und Schrecken vor dem „gefährlichen Russland“ ein.

Diese Ängste beziehen sich auf Ereignisse, die auch wir aus der eigenen Geschichte kennen. Ja, die Möglichkeit der Auslöschung der biologischen Existenz der Polen und aller anderen Slawen, im Falle eines deutschen Sieges im Zweiten Weltkrieg, war akut gegeben. Der Einmarsch der Sowjets hat sie abgewendet.

September 2019. Eine der vielen Beerdigungen einst anonym verscharrter, jetzt wiedergefundener, exhumierter und identifizierter Opfer des kommunistischen Terrors in Polen.

Doch anders als in Russland behauptet wird, konnte der sowjetische Soldat Polen nicht die Freiheit bringen, weil er sie selbst nicht hatte. Die Folterkeller der sowjetischen politischen Polizei NKWD und der von ihr angeleiteten polnischen Stasi UB. Die Massendeportationen von Polen nach Sibirien. Der Versuch ganze gesellschaftliche Schichten auszulöschen. Die Hölle der Folterungen und politischen Prozesse, durch die die gegen die Deutschen kämpfenden Helden des polnischen Widerstandes nach dem Krieg gehen mussten. Die Unterdrückung der Kirche. Das Aufzwingen des heuchlerischen und ineffizienten kommunistischen Systems. All das sieht das heutige Russland, das von der „Befreiung Europas vom Hitlerismus“ schwärmt, nicht.

Doch, es sieht das, weil wir selbst eine zwiespältige Haltung zu unserer eigenen Geschichte nach 1917 haben. Niemand in unserem Land sagt, dass die Roten nur gut und die Weißen nur schlecht waren. Wir versuchen, unsere Geschichte ausgewogen zu betrachten, um zu verstehen, warum bestimmte Prozesse stattgefunden haben, was sie verursacht hat. In jeder Periode, sowohl in der Zeit vor 1917 als auch in der Sowjetzeit, gab es Gutes und Schlechtes. Man kann nicht sagen, dass alles nur ein Albtraum war, ein „schwarzes Loch“. Dies gilt selbst für die Zeit des Stalinismus.

Warschau im April 1992. Tausende Polen kamen zu den Veranstaltungen der zum ersten Mal aus Moskau angereisten Mitarbeiter der russischen Gedenkvereinigung Memorial, auf der Suche nach Informationen über ihre in die sowjetischen Lager in Sibirien und Kasachstan zwischen 1939 und etwa 1947 verschleppten und verschollenen Angehörigen.

Die ausgehungerten, gemarterten Millionen Opfer des Kommunismus lassen eine solche Sichtweise nicht zu. Das hieße, sie erneut zum Tode zu verurteilen. Derweil wird in Russland heute sogar die Gedenkvereinigung Memorial aufgelöst, die, neben vielem anderen, Erhebliches bei der Aufdeckung der Schicksale und der Förderung des Gedenkens an die polnischen Opfer des Kommunismus und des Gulag geleistet hat.

Die Gründe für die Auflösung von Memorial waren ausschließlich auf die Gesetzesverstöße des Vereins zurückzuführen. Die siebzig Jahre dauernde Sowjetzeit war eine Zeit enormer Fortschritte in der Entwicklung unseres Landes, seiner Wirtschaft, Wissenschaft, Kultur, im sozialen Bereich und bei der Beseitigung der Klassenunterschiede. Es ist die Zeit des Sieges über den Hitlerismus. Wir erinnern uns an die Opfer der Unterdrückung besser als jeder andere, denn sie waren unsere Vorfahren.

Wir sehen aber auch, wie ausländische Pseudo-Verteidiger der Menschenrechte dieses schmerzhafte Thema nutzen, um unsere Geschichte zu besudeln. Ich betone: In jeder Epoche der Geschichte muss man das Positive und das Negative sehen. Niemals darf ausnahmslos alles auf der Müllkippe der Geschichte abgeladen werden: all die Anstrengungen von Generationen und ihre Errungenschaften.

Hätte jemand das Dritte Reich dafür gelobt, dass es Autobahnen gebaut und die Sozialfürsorge entwickelt hat, wären Sie, Herr Botschafter, der Erste gewesen, der sich empört hätte.

Das Dritte Reich ist eine absolute Ausnahme. Es gab keinen anderen Staat, der sich die physische Vernichtung ganzer Völker, die Ausrottung von Kindern, Frauen und Männern zum Ziel gesetzt hat. Das Naziregime wurde von unserem Land, einer „versklavten“, wie Sie sagen, Nation, beseitigt, als nur wenige in Europa bereit waren, es zu bekämpfen und ihre Freiheit in einem Kampf auf Leben und Tod zu verteidigen.

In den Äußerungen von Präsident Putin schwingt immer wieder die Sehnsucht nach der Sowjetunion mit. Sind auch Sie der Meinung, dass das eine Art Vorschlag für die Länder und Völker sein könnte, die einst im sogenannten Ostblock gefangen waren?

Auch ich verspüre eine Sehnsucht nach der Sowjetunion. Denn ich habe in diesem Land gelebt, bis ich 33 Jahre alt war. Es war die Zeit meiner Kindheit, Jugend und meines Studiums. Es gab viele gute Dinge in der Sowjetunion, an die wir uns heute noch gerne erinnern. Natürlich gab es auch schlimme Dinge, und wir verschließen nicht die Augen vor ihnen, denn wir wissen, dass sie zum Zusammenbruch der UdSSR geführt haben. Aber hier kommen wir wieder auf denselben Punkt zurück: Können ganze Generationen, viele Jahrzehnte menschlicher Arbeit als ein historisch nicht existierendes schwarzes Loch betrachtet werden? Selbst wenn man es versucht, wird es nicht funktionieren.

Aus den Worten, aber auch aus den Taten von Präsident Putin kann man schließen, dass das Ziel darin besteht, die Sowjetunion wieder zu errichten.

Das hat er nie gesagt.

Aber diese Signale der Sehnsucht deuten darauf hin.

Die Sehnsucht haben die meisten, die in der UdSSR gelebt haben. Ich glaube, es war Oleksandr Moros, einst Vorsitzender des ukrainischen Obersten Sowjets, der sagte, dass derjenige, der sich nicht nach der Sowjetunion sehnt, kein Herz, aber derjenige, der sie unter den gegenwärtigen Umständen wiedererrichten möchte, keinen Verstand hat. Diese Aussage hat Präsident Putin mehr als einmal erwähnt.

Diese Vision, diese Sehnsucht, erschreckt die Völker, die während der Sowjetära versklavt waren.

Versklavt? Von welchen Nationen sprechen Sie?

Von den Balten, Georgiern, Moldawiern, Rumänen, Ungarn, den Polen und vielen anderen.

Sie waren nicht versklavt!

Sie waren es, und wir waren es auch.

So denken wir nicht. Wir haben versucht, eine Gemeinschaft befreundeter Nationen aufzubauen, und es wurden große Anstrengungen unternommen, auch mit Polen gute Beziehungen aufzubauen. Das ist uns nicht gelungen.

Heute sind alle Beziehungen eingefroren, auch die kulturellen. Es gab Versuche, wenigstens die kulturelle Zusammenarbeit zu intensivieren, aber Russland lehnt das ab. Woher kommt diese Einstellung?

Dies ist auf die Haltung der polnischen Seite zurückzuführen, die 2014 beschlossen hat, die politischen Beziehungen einzufrieren.

Nach der Besetzung der Krim.

Man sagte uns rundheraus, dass es keine Kontakte auf ministerieller und höherer Ebene geben wird, keine parlamentarischen Kontakte, und dass Polen westliche Sanktionen gegen Russland anstreben würde. Das „Polnische Jahr“ in Russland und das „Russische Jahr“ in Polen, die für 2015 geplant waren, wurden abgesagt. Heute beschränkt sich der kulturelle Austausch, der ohne staatliche Unterstützung stattfindet, auf kommerziell organisierte, private Veranstaltungen. Eigentlich gibt es in diesem Bereich nur noch zwei Ausnahmen: das russische Filmfestival „Sputnik“ in Polen und das polnische Filmfestival „Weichsel“ in Russland.

Auf die Initiative Polens hin, wurde der kleine Grenzverkehr mit Kaliningrad ausgesetzt. Das geschah bereits unter der jetzigen Regierung von Recht und Gerechtigkeit. Noch unter der vorangehenden Regierung der Bürgerplattform wurde der Abriss von Ruhmesdenkmälern für die Sowjetarmee, die Armee der Befreier, die nicht mehr als Befreier anerkannt werden, angekündigt. Und das passiert jetzt. All das lässt in der russischen Öffentlichkeit ein Bild von Polen entstehen, als einem Land, das sich nicht um eine Normalisierung der Beziehungen zu Russland bemüht. In allen Fragen steht Polen immer gegen Russland.

Dabei gibt es keine wirklichen Hindernisse für eine Verbesserung der russisch-polnischen Beziehungen. Es ist jederzeit möglich, die politischen Kontakte wieder aufzunehmen, die wirtschaftliche Zusammenarbeit mit Unterstützung der zuständigen zwischenstaatlichen Kommission zu aktivieren, die kulturellen, wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Beziehungen zu beleben und die „Megafon-Diplomatie“ einzustellen. Die polnische Seite verspürt jedoch keinen solchen Willen, folglich brauchen wir das ebenso wenig wie unsere polnischen Partner. Es bleibt also vorerst alles beim Alten.

Staatspräsident Lech Kaczyński am 12. August 2008 auf der Kundgebung in Tbilisi, während des russisch-georgischen Krieges. Neben ihm die Staatspräsidenten der Ukraine Juschtschenko, Litauens Adamkus, Estlands Ilves und der lettische Ministerpräsident Godmanis, die Kaczyński gebeten hatte mit ihm nach Tbilisi zu fliegen.

Wir können dazu nur sagen, dass die polnische Überzeugung, Russland wolle sein Imperium auf Kosten seiner Nachbarn wieder aufbauen, richtig war. Solche Stimmen häufen sich auch in der westlichen Presse, die zugibt, dass der verstorbene Staatspräsident Lech Kaczyński Recht hatte, als er im August 2008, auf der berühmten Kundgebung in Tiflis sagte: „Heute Georgien, morgen die Ukraine, übermorgen die baltischen Staaten, und später könnte die Zeit für mein Land, Polen, kommen“. Russische Truppen standen damals wenige Kilometer entfernt von der georgischen Hauptstadt.

Ich möchte Sie daran erinnern, dass Staatspräsident Lech Kaczyński das nach dem Nato-Gipfel von Bukarest im April 2008 sagte, auf dem bekannt gegeben wurde, dass Georgien und die Ukraine, nicht sofort, aber in der Zukunft, der Nato beitreten werden. Dieses Versprechen ermutigte den georgischen Präsidenten Saakaschwili zu einem wahnwitzigen Angriff auf Südossetien und die russischen Friedenstruppen dort. Schon damals konnte der polnische Staatspräsident ernsthafte Probleme wegen der Nato-Beitrittspläne der Ukraine vorhersehen. Er hat jedoch in diesem Kontext Polen und die baltischen Staaten unnötigerweise erwähnt. Als Nato-Mitglieder wurden sie, damals wie heute, ganz sicher von niemandem mehr bedroht.

In Bezug auf Georgien und die Ukraine wurde in Bukarest 2008 eine allgemeine Ankündigung der Politikrichtung vorgenommen. Auf den folgenden Nato-Gipfeln rückte diese Aussicht in sehr weite Ferne.

Ja, aber es war dennoch ein klar umrissener politischer Plan. Es war zu erwarten, dass es Probleme geben würde, wenn jemand versuchte, ihn umzusetzen. Wir haben das immer offen gesagt.

Aber die Nato greift niemanden an! In der Geschichte hat es keinen solchen Fall gegeben. Es ist ein Verteidigungsbündnis.

Ja? Und Jugoslawien?

Dort beendeten die Nato und die Amerikaner ein blutiges Gemetzel, das Europa nicht beenden konnte.

Was ist mit dem Irak? Was ist mit Libyen? Was ist mit Syrien? Was ist mit den Farbrevolutionen oder hybriden Kriegen, die von der Nato angezettelt wurden, lange bevor man anfing, Russland solcher Kriege zu beschuldigen?

Soziale Explosionen in nicht-demokratischen Regimen allein auf westliche Inspiration zurückzuführen, das hält der Kritik nicht stand. Die Farbrevolutionen, wie die Orange Revolution in der Ukraine 2004 oder die Jasminrevolution in Tunesien 2010 bis 2011 brachen aus, weil die Menschen der oligarchischen Systeme müde wurden, weil sie ihre Kritik, ihren Unmut nicht anders äußern konnten. Könnten westliche Geheimdienste wirklich ganz Weißrussland aufgebracht haben, das ein Vierteljahrhundert lang von einer Person regiert wurde, oder hatten die Weißrussen davon einfach die Nase voll?

Ganz gewiss haben ausländische Geheimdienste zu diesen Ereignissen beigetragen. In Weißrussland gewann Alexander Lukaschenko die Wahl im Jahr 2020. Daran gibt es keinen Zweifel.

Er hat angeblich mit 80 Prozent gewonnen!

Etwas weniger, etwas mehr, ich weiß es nicht. Es besteht jedoch kein Zweifel daran, dass er die Wahlen gewonnen hat und nicht Frau Tichanowskaja. Die anschließenden Demonstrationen und Proteste waren ein Versuch, die Rechtsordnung von Weißrussland zu untergraben.

In Warschau, unter anderem in der Nähe der Botschaft, in der wir gerade sprechen, finden ebenfalls verschiedene Demonstrationen statt, von denen die meisten sehr regierungsfeindlich sind. Darum geht es ja bei der Meinungsfreiheit, aber wahrscheinlich nicht in Russland oder Weißrussland.

Man darf demonstrieren, aber ohne Gewalt und ohne gegen die Gesetze zu verstoßen.

Demontiertes Ruhmesdenkmal in Dąbrowa Górnicza/Dombrowa, Oberschlesien.

Demontiertes Ruhmesdenkmal in Inowrocław/Hohensalza.

Herr Botschafter, Sie haben die Entfernung von Ruhmesdenkmälern für die Sowjetarmee, die nicht entstanden sind, weil die polnische Gesellschaft sie errichten wollte, erwähnt. Die Öffentlichkeit in Russland lebt jedoch in dem Irrglauben, dass es sich bei den Entfernungen um Friedhöfe handelt. Diese Friedhöfe werden jedoch gut gepflegt und geschützt, wovon man sich in Masowien, z. B. in Warschau oder in der Nähe von Pułtusk, schnell überzeugen kann.

Es war unterschiedlich. Manchmal ging die Initiative vom Kommando der vor Ort stationierten sowjetischen Truppen aus, das der gefallenen Kameraden gedenken wollte. Oft jedoch entstanden die Ruhmesdenkmäler auf polnische Initiative.

Ruhmesdenkmal in Warschau. Demontage 2011. In ganz Polen gab es 306 Ruhmesdenkmäler der Roten Armee.

Selbst wenn das so war, dann geschah das unter den Bedingungen der Unfreiheit. Die Initiative ergriffen offizielle, kommunistische Stellen. Wer sich widersetzte, dem drohten Verhöre, Inhaftierung, Folter, manchmal der Tod.

Sie selbst haben die biologische Bedrohung für die Existenz der polnischen Nation im Falle eines deutschen Sieges erwähnt. Einigen wir uns also darauf, dass durch diese Ruhmesdenkmäler nicht der Befreiung, sondern der Rettung der polnischen Nation gedacht werden sollten. Ein Verdienst, für das es sich lohnt, ein Denkmal zu setzen, nehme ich an? In jenen Tagen teilten die meisten Polen diese Dankbarkeit für die Befreiung vom schrecklichen Faschismus, sie erinnerten sich daran, was ihnen gedroht hätte, wenn die Sowjetarmee nicht gekommen wäre.

Die massenhafte Beseitigung der Ruhmesdenkmäler, die Leugnung der Tatsache, dass Polen von der Roten Armee befreit wurde, und der Vorwurf der Okkupation werden von uns als Beleidigung des Gedenkens an 600.000 sowjetische Soldaten und Offiziere empfunden, die im Kampf gegen die Nazis auf polnischem Gebiet gefallen und hier begraben sind. Damit werden wir uns nie abfinden.

Wir entfernen auch Denkmäler, die polnischen Persönlichkeiten gewidmet sind, deren Gedenken nicht dem Willen des Volkes entsprach. Aber die Friedhöfe sind heilig.

Was die Denkmäler für Polen betrifft, so geht uns das nichts an. Was die Gräber betrifft, so erhalten wir jeden Monat Informationen über Vandalismus.

Das geschieht auch auf polnischen Friedhöfen und Denkmälern. Das können auch Provokationen sein.

Ich sage, wie es ist. Polnische Behörden vertreten in Bezug auf die Friedhöfe der sowjetischen Soldaten den Standpunkt, dass diese, ebenso wie die Friedhöfe der deutschen Soldaten und anderer, geschützt sind. Für sie ist es nicht wichtig, wer gestorben ist und wofür.

Sowjetischer Soldatenfriedhof in Warschau.

Wir haben kürzlich eine Bestandsaufnahme der sowjetischen Soldatenfriedhöfe durchgeführt. Ein Drittel ist stark renovierungsbedürftig, die Hälfte ist sanierungsbedürftig. Gemäß den Vereinbarungen zwischen unseren Ländern, ist Polen für die Pflege der Friedhöfe zuständig, doch kann dies mit Genehmigung der Provinzbehörden auch von russischer Seite geschehen. Da die von den polnischen Behörden bereitgestellten Mittel für größere Renovierungsarbeiten nicht ausreichen, renovieren wir jedes Jahr drei bis vier Friedhöfe. In den Jahren 2020 und 2021 wurde uns die Genehmigung dazu mehrfach verweigert. Wir werden sehen, ob es sich um einen Zufall oder um eine dauerhafte Erscheinung handelt.

1940 nach Kasachstan zur Zwangsarbeit deportierte polnische Kinder.

Nach der Öffnung der von den Deutschen 1942 in Katyń bei Smolensk entdeckten Massengräber mit den, von den Sowjets 1940 ermordeten, polnischen Offiziere.

Russland vereinfacht die Geschichte stark in seinem Interesse. Den Polen fällt es schwer, den Molotow-Ribbentrop-Pakt, auch bekannt als Hitler-Stalin-Pakt, zu vergessen. Er öffnete der deutschen Maschinerie den Weg zur Eroberung Europas und spaltete die Nationen. Dann war da noch 1940 die Ermordung Tausender polnischer Offiziere in Katyń. Und in russischen Filmen beginnt alles immer im Juni 1941. 

Denn für uns begann damals der Krieg. Hier liegt keine Falschdarstellung vor. Der Weg zum Krieg wurde nicht durch den sowjetisch-deutschen Pakt geebnet, sondern durch das Münchner Abkommen von 1938, nach dem das deutsch-sowjetische Abkommen unvermeidlich wurde.

Und wir erinnern uns daran, dass es schon 1939 und 1940 lange Eisenbahntransporte aus den besetzten Gebieten der Republik Polen in die sowjetischen Lager in Sibirien und Kasachstan gab, dass es massenweise Verfolgungen, Hinrichtungen und die Morde von Katyń gegeben hat. Gleichzeitig lieferte die UdSSR in riesigem Ausmaß Getreide und Rohstoffe nach Hitlerdeutschland.

Einmarsch der Sowjets in Polen am 17. September 1939.

Deutsche und sowjetische Kommandeure nehmen am 29. September 1939 die gemeinsame Siegesparade der Wehrmacht und der Roten Armee im Polnischen Brześć/Brest ab.

Erstens: 1939 gewann die Sowjetunion von Polen die zur Ukraine und zu Weißrussland gehörenden Gebiete zurück. Zweitens: waren zu diesem Zeitpunkt weder Polen noch Großbritannien oder Frankreich bereit, eine große Koalition zur Abwehr der deutschen Aggression einzugehen. Stalin musste angesichts des Scheiterns der Gespräche mit den späteren Verbündeten eine Entscheidung treffen und beschloss, einen Nichtangriffspakt mit Deutschland zu schließen. Er wollte Zeit gewinnen, um sich auf den unvermeidlichen Krieg mit dem Dritten Reich vorbereiten zu können. Ich weiß, dass Polen und die Polen eine andere Sichtweise haben, aber unsere ist die, die ich dargestellt habe.

Eine Einigung ist hier in der Tat schwierig. Gleiches gilt für die Ursachen und den Verlauf der Tragödie des Flugzeugabsturzes von Smolensk am 10. April 2010. Es ist jedoch unbestreitbar, dass die Russische Föderation das Wrack des polnischen Flugzeugs, das Eigentum der Republik Polen ist, zurückhält. Es ist das wichtigste Beweismittel, das es ermöglichen würde, die Verfahren zur Untersuchung der Katastrophe abzuschließen.

Wir haben bereits mehrfach darüber gesprochen. Auf der Website unserer Botschaft gibt es einen ganzen Abschnitt mit den Erklärungen des Präsidenten und anderer hoher Beamter zu diesem Thema. Die Situation hat sich seit Jahren nicht geändert. Wir sind der Meinung, dass die Angelegenheit längst geklärt ist und die Ermittlungen eingestellt werden können.

Die polnische Seite ist dazu nicht bereit. Die polnische Staatsanwaltschaft setzt ihre Arbeit fort, ebenso wie die Kommission unter Leitung von Minister Antoni Macierewicz. Ihr Bericht sollte eigentlich veröffentlicht werden, aber wir warten immer noch darauf. In dieser Situation können auch unsere staatlichen Organe ihre Arbeit nicht abschließen. Unser Untersuchungsteam arbeitet, denn seine Aufgabe ist es, auf alle von der polnischen Seite vorgebrachten Behauptungen und Beweise zu reagieren, ihre Fragen zu beantworten und Besuche zur Inspektion des Unglücksortes und der Wrackteile zu organisieren. Und nach unserem Gesetz müssen die materiellen Beweismittel, in diesem Fall das Wrack, den Ermittlungsbehörden zur Verfügung stehen, solange die Ermittlungen andauern.

Das ist eine Art Erpressung: „Ihr müsst unseren Thesen zustimmen, eure Untersuchungen abschließen. Erst dann werden wir euch die materiellen Beweise liefern, die eure Schlussfolgerungen ändern könnten“.

Das Wrack wurde mehrfach von polnischen Experten untersucht.

Das Wrack des am 10. April 2010 abgestürzten polnischen Präsidentenflugzeuges verrottete einige Jahre lang unter freiem Himmel , bis es in einer Stahlbaracke auf dem Militärflugplatz von Smolensk eingelagert wurde.

Sie durften nur für kurze Zeit, unter strenger Kontrolle, ohne irgendwelche eingehenden Untersuchungen das Wrack in Augenschein nehmen, fotografieren, aber nicht einmal anfassen.

Das Wrack wurde von allen Seiten gründlich untersucht. Ich habe schon oft gehört, dass dieses Wrack eine emotionale, symbolische Dimension hat.

Auch.

Das kann ich nicht verstehen. Die Leichen der Opfer wurden sehr schnell, bereits drei Tage nach der Katastrophe, an die polnische Seite übergeben, da dies ihr Wunsch war. Die Eile, mit der dieses Verfahren durchgeführt wurde, führte später zu Beschwerden über den Zustand der Leichen und ihre Identifizierung, aber das ist keine Frage an uns. Innerhalb von zwei oder drei Tagen hat die russische Seite alles getan, was sie konnte. Aber ich habe noch nie gehört, dass ein Wrack irgendwo auf der Welt zu einem Gedenkobjekt wird.

Dieses Flugzeug war ein Stück der Republik Polen, ein Ort, an dem der amtierende Präsident und viele Mitglieder der Staatselite starben.

Für uns ist es nur ein wesentliches Beweismittel im Rahmen einer Untersuchung.

Die nachfolgenden Ereignisse, die Morde in Großbritannien, das Schicksal des vergifteten Nawalny und schließlich, und dabei bleiben wir, die Aggressionsabsichten gegen die Ukraine, haben bestätigt, dass der russische Staat zu den weitreichendsten und brutalsten Aktionen fähig ist.

Die „Aggression gegen die Ukraine“ lassen wir mal beiseite. Die Ereignisse auf der Krim und im Donbass heißen anders, das haben wir schon diskutiert. Was die Fälle Litwinenko, Skripal und Nawalny betrifft, so hat in keinem dieser Fälle jemand einen Beweis für die Schuld Russlands vorgelegt. In Großbritannien gab es einen gerichtlichen Prozess im Fall Litwinenko. Und was ist passiert? Nichts.

Es gibt Tonaufnahmen, die Nawalny vor seiner Rückkehr nach Russland vorgelegt hat. Dort bestätigen russische Beamte die Vergiftungsaktion und beschreiben sie im Detail.

Die Aufnahmen können bearbeitet und verfälscht sein. Wir haben von Anfang an bei den Behörden in Deutschland und anderen Ländern nachgefragt, wo angeblich Substanzen aus dem Körper von Nawalny auf Beweise untersucht wurden. Um welche Substanz handelt es sich?

Nowitschok.

Wir bitten um Beweise, nicht um eine Meinung. Alles, was wir immer wieder hören, ist: Ihr wisst, worum es geht, ihr müsst eure Schuld zugeben. So kann man nicht miteinander reden.

Russland erkennt keine Beweise an.

Wir sind bereit für eine ernsthafte, substanzielle Diskussion unter Beteiligung von Experten. Unsere westlichen Partner vermeiden diese Diskussion. Es geht nur um Anschuldigungen und „Megafon-Diplomatie“.

Haben Sie nicht den Eindruck, dass das Vorgehen Russlands den Westen in einem Ausmaß geeint hat, der noch vor wenigen Jahren kaum vorstellbar gewesen wäre? Selbst Deutschland schämt sich mittlerweile für seine Russland-Politik. Auch die Ukraine wurde nicht gebrochen oder eingeschüchtert. Russland ist dabei, das Spiel zu verlieren.

Wir spielen keine Spielchen. Es geht nicht darum, den Westen zu spalten oder die Ukraine einzuschüchtern. Unser Ziel ist es, die Sicherheit Russlands jetzt und in Zukunft zu gewährleisten. Seine Interessen sollen respektiert werden und es soll eine solide Grundlage für beiderseitig vorteilhafte Beziehungen mit unseren Partnern im Westen geschaffen werden. Leider hat es, als wir uns sanft, höflich und freundlich verhielten, nicht funktioniert.

Inwiefern hat es nicht funktioniert? Europa, einschließlich Osteuropa und Russland, erlebten drei Jahrzehnte des Friedens und der Entwicklung.

Ich möchte Sie daran erinnern, dass uns die westlichen Staats- und Regierungschefs am Ende des Bestehens der UdSSR versprochen haben, dass es keine Nato-Osterweiterung geben würde. Diese Zusicherungen erwiesen sich als inhaltsleer.

Es handelte sich lediglich um Fernseherklärungen des deutschen Außenministers Hans-Dietrich Genscher und des amerikanischen Außenministers James Baker im Jahr 1989, die kaum als völkerrechtliche Verpflichtung angesehen werden können. Nationen haben das Recht zu wählen, in welchen Bündnissen sie sein wollen.

Dies ist ein gutes Beispiel dafür, wie der Westen verfährt. Es handelte sich dabei um Erklärungen höchster Beamter so seriöser Länder wie der Vereinigten Staaten, Großbritanniens und Frankreichs. Sollen wir sie als unseriös betrachten? Ich verstehe, dass einige Länder in der Nato sein wollten, aber die Länder, die dieses Bündnis geschaffen haben, hatten auch das Recht zu entscheiden, ob sie es akzeptieren. Ob sie ihr Wort gegenüber Russland halten wollen. Ob es gut für ihre nationale Sicherheit ist. Es wäre besser, nach einem anderen System der internationalen Sicherheit zu suchen, nach gemeinsamen Garantien.

Sollte Polen nach dieser russischen Auffassung auch nicht in der Nato sein?

Außenminister Bronisław Geremek unterzeichnet am 12. März 1999 Polens Beitritt zur Nato.

Was geschehen ist, ist geschehen. Heute stellt sich die Situation wie folgt dar: Die Nato kann sich nicht weiter nach Osten ausdehnen, und es dürfen keine neuen Trennlinien in Europa geschaffen werden. Wir sollten uns dafür entscheiden, ein gemeinsames, geeintes Europa aufzubauen.

Unter der Mitaufsicht Russlands?

Nein, in gegenseitiger Harmonie, mit russischer Beteiligung.

Es fällt uns immer noch schwer zu verstehen, dass Russland, ein mächtiges Land mit 144 Millionen Einwohnern und einer Armee von fast einer Million Soldaten, Angst vor der Ukraine hat, deren Potenzial um ein Vielfaches kleiner ist. Sie hat auch Angst vor den baltischen Staaten, vor Polen.

Wir haben vor niemandem Angst.

Die russischen Staatsmedien behaupten allen Ernstes, die Ukraine bereite einen Angriff auf Donezk und Lugansk vor.

Wir lesen und hören Aussagen ukrainischer Nationalisten, dass der Kuban auch ihnen gehöre, Woronesch, ja sogar Sibirien. Wir nehmen das nicht ernst, wir haben vor niemandem Angst. Russland will nur ein nationales Sicherheitssystem aufbauen, in dem wir gemeinsam mit unseren westlichen Partnern die Grundsätze und Formen der Zusammenarbeit festlegen. Es kann nicht mehr so sein wie bisher: Die Nato entscheidet, die Europäische Union entscheidet, und Russland wird vor vollendete Tatsachen gestellt und kann sie entweder akzeptieren oder nicht, aber das interessiert niemanden mehr. So wird es nicht weitergehen.

In Russland singt man sogar, dass Alaska ihnen gehört.

Es handelt sich um ein Lied der Band „Lube“ mit dem Titel „Spiele nicht verrückt, Amerika“. Es ist nur ein Scherz.

RdP

Das Interview erschien im Wochenmagazin „Sieci“ („Netzwerk“) vom 28. Februar 2022.




Polens russische Von-der-Kunst-Befreiung

Über Rückgabe will man in Moskau nichts hören.

Tausende geraubter polnischer Kunstgegenstände, laufende Kilometer polnischer Akten und Bücher lagern in russischen Museen, Bibliotheken, Archiven und Depots. Für Russland ist vieles davon bedeutungslos, für Polen von unschätzbarem ideellem Wert. Dennoch, oder vielleicht gerade deswegen, will es Russland nicht freigeben.

„Es gibt und es kann auch keine günstigen Umstände geben, unter denen sich Russland auf irgendwelche Gespräche über »die Rückgabe von Kulturgütern« einlassen wird. Dieses Problem gibt es für uns schlicht und einfach nicht“, verkündete im Januar 2020 der russische Kulturminister Wladimir Medinski in Richtung Warschau.

Diese Worte fielen im Rahmen einer breitangelegten historischen Offensive Moskaus, die im Spätherbst 2019 begonnen hat. Wladimir Putin schimpfte einige Male öffentlich grob und heftig über Polen. Es galt den guten Namen Russlands zu verteidigen, als habe es die enge Allianz der Sowjets mit Hitler-Deutschland zwischen 1939 und 1941 nicht gegeben. Polen sei schuld am Ausbruch des Krieges gewesen, so Putin.

Russlands Kulturminister Wladimir Medinski.

Wladimir Medinski, den die deutsche Zeitung „Die Welt“ den „obersten Geschichtsverdreher des Kreml“ nannte, stand seinem Präsidenten bei. Medinski deute, so das Blatt, „wie von seinem Chef gewünscht, die Geschichte seines Landes zu einer Kette verkannter Erfolge um. Der Molotow-Ribbentrop-Pakt, der 1939 zur Aufteilung Polens führte, war, laut Medinski, »ein kolossaler Erfolg Stalins«, die sowjetische Besatzung des Baltikums 1940 sei nichts weiter als eine »Eingliederung« gewesen“, so „Die Welt“ über Medinski.

Putin berief sich bei seinen verbalen Attacken gegen Polen auf „Dokumente aus Osteuropa und Deutschland, die nach dem Zweiten Weltkrieg in unsere Archive eingegangen sind“.

Polens Kulturminister Prof. Piotr Gliński.

Die verhüllende Āußerung von den „eingegangenen Dokumenten“ veranlasste Polens Kulturminister Prof. Piotr Gliński der Öffentlichkeit das Ausmaß des russischen und sowjetischen Kulturgutraubes in Polen wieder einmal in Erinnerung zu rufen.

 

Kostbare, verstaubte Papiermasse

Die Dokumente, auf die sich Putin in seiner Propaganda berief wurden wahrscheinlich dem Russischen Staatlichen Militärarchiv in Moskau entnommen, wo geraubte polnische Archivbestände als geheim eingestuft sind. Eine weitere Sammlung befindet sich im Russischen Staatlichen Literatur- und Kunsthistorischen Archiv in der Moskauer Wiborska-Strasse 3, obwohl diese Sammlung eigentlich nichts mit Kultur zu tun hat.

Die Wiborska-Archivalien sind seit 1991 nicht mehr geheim, aber im Katalog nur fragmentarisch erfasst. Und was nicht im Katalog steht, bleibt für Außenstehende unzugänglich. Man weiß ja nicht, dass es existiert, somit kann man es auch nicht anfordern.

Einen Teil der Unterlagen hatten die Deutschen 1939 erbeutet und ins Reich verbracht. Die Sowjets nahmen sie dann, nach 1945, von dort aus in die Sowjetunion mit. Das meiste jedoch war Anfang September 1939 aus Warschau, dem sich die Deutschen auf ihrem „Polen-Feldzug“ näherten, in den Osten des Landes evakuiert worden. Hier fiel es den Sowjets in die Hände, als sie unerwartet am 17. September 1939 von Osten her Polen überfielen.

Insgesamt handelt es sich wahrscheinlich um bis zu zwanzigtausend Archiveinheiten (jede Einheit umfasst eine bis einige Dutzend, mal dünne, mal sehr prall gefüllte Mappen). Genaues ist nicht bekannt, einige Bestände schlummern immer noch im Verborgenen, weil die Russen sie verheimlichen oder bis heute, mangels Interesse oder Personal, selbst noch nicht gesichtet haben.

Was lagert in Moskau? Auf jeden Fall Akten von vor 1939: ● der polnischen Regierung (des Amtes des Ministerpräsidenten und einzelner Ministerien) ● des Generalstabes der polnischen Armee ● der beiden Kammern des Parlaments, des Sejm und des Senats ● des polnischen Auslandsgeheimdienstes ● der Hauptkommandantur der Polizei ● der polnischen Gesandtschaften und Konsulate auf der ganzen Welt ● der politischen Parteien.

Zudem: ● Akten polnischer Unabhängigkeitsorganisationen aus der Zeit des Ersten Weltkrieges. Besonders wertvoll ist das ● Archiv der Polnischen Legionen unter Józef Piłsudski, die seit 1914 für Polens Freiheit gekämpft haben. Noch wertvoller die ● Sammlung von Briefen des polnischen Staatsgründers Piłsudski aus jener Zeit.

Es sind wichtige Quellen und Zeugnisse polnischer Staatlichkeit und Geschichte. Ungeordnet, weitgehend nicht erfasst, versteckt vor dem polnischen Staat, ihrem rechtmäßigen Eigentümer und vor den Historikern, schlummert diese verstaubte Papiermasse vor sich hin, seit Jahrzehnten eingepfercht in die hintersten Ecken russischer Archivkeller.

Anträge auf Rückgabe bleiben seit Jahren unbeantwortet. Das offizielle Russland meint offensichtlich damit ein Faustpfand in der Hand zu haben. Wofür eigentlich? Jedenfalls, würde Moskau eines Tages die Aktenberge freigeben, müsste Polen Hunderttausende, wenn nicht Millionen von Dollar bezahlen für die Ausgaben, die „der russische Staat für die Aufbewahrung“ des Raubgutes ausgegeben hat. So lauten die Bestimmungen.

Auschwitz-Archive. In der Gefangenschaft der Befreier

Ein besonders trauriges Kapitel stellt die sowjetische Beschlagnahme der Archive des, von den deutschen Besatzern auf polnischem Territorium errichteten, Vernichtungslagers Auschwitz-Birkenau dar. Die Befreier transportierten im Frühjahr 1945 große Aktenbestände ab. Zudem die gesamte Ausstattung der Lagerkanzlei, vor allem Blankoformulare und Stempel, die bei den Sowjets stets besonders begehrt waren. Auf diese Weise ließen sich Dokumente leichter manipulieren oder man konnte, bei Bedarf, falsches Belastungs- oder Entlastungsmaterial herstellen.

Im Jahr 1992, nach vielem Bitten und Mahnen, gaben die Russen sechsundvierzig Bände mit Todeslisten von etwa siebzigtausend Häftlingen zurück. Weitere Bände harren der Auslieferung. Zwischen 1993 und 1995 übergab Moskau dem Auschwitz-Museum, nachdem Polen die Kosten für die Erstellung bezahlt hatte, Kopien der Beschäftigungskartei der Häftlinge und Mikrofilme mit einem Teil des Archivs der deutschen zentralen Bauleitung von Auschwitz-Birkenau.

Große Auschwitz-Bestände lagern bis heute, soweit bekannt, im Moskauer Staatlichen Archiv der Russischen Föderation und im Zentralen Archiv des Verteidigungsministeriums in Podolsk bei Moskau. Sie bleiben unzugänglich. Einem polnischen Rückgabeantrag von 2014 hat Moskau nicht stattgegeben.

Zufallstreffer

Was genau die Russen in ihren Archiven und Bibliotheken an polnischem Schrifttum haben, wissen sie teilweise selbst nicht so genau. Nicht selten jedoch geben sie die Unwissenheit nur vor.

Nach 1945 lagerte die „Papierbeute“ in „Sonder- bzw. Geheimdepots“ verschiedener Archive und Bibliotheken, und befand sich, vor den meisten Bibliothekaren und Archivaren in den Einrichtungen streng abgeschottet, in der Verfügungsgewalt des Geheimpolizei NKWD, später KGB.

Nach dem Ende der Sowjetunion 1991 begann die Kulturverwaltung sehr zaghaft diese Depots in die normalen Bestände miteinzubeziehen. Das Vorhaben wird wahrscheinlich noch Jahrzehnte in Anspruch nehmen. Es fehlt an Personal, manches soll weiterhin unter Verschluss bleiben, anderes taucht wieder auf.

Juliusz Słowacki.

So geschehen 2011. Der polnische Historiker Prof. Marek Głębocki (fonetisch Guembotzki) traute seinen Augen nicht, als er plötzlich in den Katalogen der Russischen Staatsbibliothek in Moskau (einst Lenin-Bibliothek) auf die Handschrift des „Tagebuches einer Reise in den Osten“ von Juliusz Słowacki (fonetisch Suowatzki) stieß, versehen mit Stempeln der Warschauer Nationalbibliothek.

Der große polnische Romantiker Juliusz Słowacki (1809-1849) wird manchmal der „polnische Friedrich Schiller“ oder der „polnische Lord Byron“ genannt, um so seine Bedeutung für die polnische Literatur zu verdeutlichen. Zwischen 1836 und 1837 begab sich der Dichter auf eine lyrische Reise nach Griechenland, Ägypten, Syrien, Palästina und in den Libanon.

Sein Tagebuch gleicht eher einem Schmierheft. Auf die Schnelle festgehaltene Reisebeobachtungen wechseln sich ab mit metaphysischen Gedankengängen, unterwegs entstandenen Gedichten oder Gedichtsskizzen, farbenfrohen Aquarell-Miniaturen und Schwarz-Weiß-Zeichnungen von Sehenswürdigkeiten und Straßenszenen, Übersetzungen aufgeschnappter arabischer Wörter, Ausgaben- und Einkaufslisten.

„Landschaft am Nil“, Aquarell von Juliusz Słowacki aus seinem „Tagebuch einer Reise in den Osten“.

Diese „Reliquie der polnischen Romantik“, wie sie von Literaturhistorikern bezeichnet wird, hatte das Warschauer Nationalmuseum im Mai 1939 für eine Ausstellung in Krzemieniec, dem Geburtsort Słowackis in Ostpolen (heute Ukraine), ausgeliehen. Vier Monate später war das Tagebuch bereits eine sowjetische „Trophäe“.

Erst zweiundsechzig Jahre später, 2001, tauchte es, mir nichts, dir nichts, in den Moskauer Katalogen auf. Es dauerte noch weitere zehn Jahre, bis es der polnische Historiker zufällig ausfindig machte. An eine Benachrichtigung des Eigentümers in Warschau dachte in Moskau niemand. Ein offizieller polnischer Rückgabeantrag wurde dort inzwischen abgelehnt.

Sie kamen, sie nahmen

Wie so oft in der polnischen Geschichte, gaben sich auch beim Kunstraub der deutsche und der russische Nachbar die Hand. In das von den Nazis ausgeplünderte und zerstörte Polen marschierten zwischen 1944 und 1945 die Sowjets ein und benahmen sich genauso wie ihre deutschen Vorgänger. Unermesslich waren Raub, Brandschatzungen und mutwillige Zerstörung durch die entfesselte, vom Alkohol benommene rote Soldateska.

Spätestens seit dem Gipfeltreffen der „Großen Drei“: Churchill, Roosevelt und Stalin Anfang Februar 1945 in Jalta war klar, dass Polen die Hälfte seines Staatsgebietes im Osten (175.000 Quadratkilometer) an die Sowjetunion würde abgeben müssen. Dafür sollte es die deutschen Ostgebiete (103.000 Quadratkilometer) übernehmen. Obwohl diese Region jetzt polnisches Staatsgebiet werden sollte, wüteten die Sowjets dort hemmungslos.

Lucas Cranach der Ältere, „Madonna mit dem Jesuskind“.

Nur ausnahmsweise lässt sich der dort begangene Kunstraub so einwandfrei belegen, wie im Falle des Bildes „Madonna mit dem Jesuskind“ von Lucas Cranach dem Älteren. Das aus der zerstörten St.-Nicolaus-Kirche in Głogów/Glogau gerettete Werk wurde im Juni 1945 von Sowjet-Major Mosseew beschlagnahmt. Er stellte immerhin eine Quittung aus. Sie blieb erhalten.

Das Schicksal des Bildes blieb fast sechzig Jahre lang ungeklärt, bis das Moskauer Puschkin-Museum 2003 begann Bestandslisten seiner Magazine zu veröffentlichen. Das Cranach Bild war mit der Bemerkung „Herkunft unbekannt“ versehen. Polnische Museumsfachleute spürten es im Internet auf. Den Antrag auf Rückgabe hat Russland abgelehnt.

Ohne zu quittieren nahmen die Sowjets im Sommer 1945 aus Malbork/Marienburg die etwa fünfzehntausend Exemplare zählende Sammlung mittelalterlicher Münzen aus Polen, Schlesien und dem Ordensstaat mit.

„Madonna mit dem Jesuskind und dem Papagei im Hintergrund“.

Bis 1939 hing im Kunsthistorischen Museum in Łódź, das die Deutschen damals in Litzmannstadt umbenannt hatten, das wertvolle anonyme Bild „Madonna mit dem Jesuskind und dem Papagei im Hintergrund“ aus dem 16. Jahrhundert. Die Deutschen brachten es gegen Kriegsende in eine ihrer Raubkunstsammelstellen nach Bad Schandau. Die Sowjets räumten das Lager 1945 leer und brachten das Bild in die Sowjetunion.

Jan Brueghel der Ältere, „Eine Dorfstraße in Holland“.

Im Puschkin-Museum befinden sich auch Jan Brueghels des Älteren „Eine Dorfstraße in Holland“ und „Eine Waldlandschaft“, Daniel Schultzes „Innenhof mit Geflügel“, Cornelis van Poelenburghs „Flucht nach Ägypten“, Hans Holbeins des Jüngeren „Johann Schwarzwaldts Portrait“, Anton Möllers „Jüngstes Gericht“ und das mittelalterliche „Diptychon der Winterfelds“.

Ein Teil der Gemälde gehört nach Gdańsk/Danzig, wo sie jahrhundertelang Kirchen oder öffentliche Gebäude schmückten. Nach Gdańsk gehören auch die umfangreichen

Daniel Schultz, „Innenhof mit Geflügel“.

Archivbestände der Freien Stadt Danzig, die die Sowjets mitgenommen haben. So will es das im Völkerrecht verankerte Prinzip der territorialen Bindung von Kulturgütern.

Cornelis van Poelenburgh, „Flucht nach Ägypten“.

Auch deswegen fordert Polen von Russland die Rückgabe vieler Archive einst deutscher Städte in Schlesien, Pommern und Ostpreußen. Im Gegenzug will es den Russen ehemals deutsche Archivalien übergeben, die aus Königsberg und Umgebung kurz vor Kriegsende in den jetzt polnischen Teil Ostpreußens gelangten.

Ausreden sind keine Argumente

In ihrer Polemik mit den polnischen Standpunkten greifen russische Behörden und Politiker zu verschiedenen, manchmal auch widersprüchlichen Argumenten.

Hans Holbein der Jüngere, „Johann Schwarzwaldts Portrait“.

Mal spricht Kulturminister Medinski von Trophäen, die „mit dem heiligen Blut der Rotarmisten erkämpft wurden“ und deswegen „niemals herausgegeben werden dürfen“. Daraus könnte man ableiten, dass die Sowjets Polen gar nicht, wie sie behaupten, befreit, sondern als ein feindliches Land erobert und Beute gemacht haben.

Mal berufen sich russische Stellen auf das Gesetz vom 15. April 1998 mit dem etwas sperrigen Titel „Föderales Gesetz über die infolge des Zweiten Weltkrieges in die UdSSR verbrachten und sich auf dem Gebiet der Russischen Föderation befindlichen Kulturgüter“.

Anton Möller, „Jüngstes Gericht“.

Die Kernaussage dieses Gesetzes lautet: alle Kulturgüter, die aus Deutschland oder mit ihm verbündeten Staaten in die UdSSR gelangten und sich heute in Russland befinden, sind russisches Eigentum. So verwirklicht Russland sein Recht auf kompensatorische oder äquivalente Restitution. Soll heißen: die Beutekunst ist die Entschädigung für die im Krieg vernichteten oder verschollenen russischen Kulturgüter.

So gesehen, sollen Słowackis Tagebuch und Piłsudskis Briefe, nur als Beispiel, Russland für Verluste entschädigen, die Polen dem Land niemals zugefügt hat. Bekanntlich hat Polen die UdSSR weder allein noch gemeinsam mit Hitler überfallen, und es war auch nie mit dem Dritten Reich verbündet.

Ein weiteres russisches Argument lautet, die „in die UdSSR verbrachten“ Kulturgüter, deren Rückgabe Polen einfordert, sind meistens auf deutschem Gebiet erbeutet worden. Es handelt sich also um deutsche Kulturgüter.

Polen setzt dem das schon erwähnte völkerrechtliche Prinzip der territorialen Bindung von Kulturgütern entgegen, das auch die Sowjetunion seiner Zeit in beträchtlichem Umfang respektiert hat.

So erhielt Polen im Jahr 1952 das Kopernikus-Archiv aus dem bis 1945 in Deutschland gelegenen Frombork/Frauenburg von Russland zurück.

Im Jahr 1956, im Rahmen der größten und bis heute, abgesehen von den Auschwitz-Unterlagen, praktisch letzten Rückführung, kehrten das Altarbild „Das Jüngste Gericht“ von Hans Memling und weitere Kunstschätze aus dem Danziger Stadtmuseum nach Gdańsk zurück. Gleichzeitig gingen nach Szczecin/Stettin sechsunddreißig Skizzen der berühmten Venezianischen Maler Giambattista und Giandomenico Tiepolo (Vater und Sohn) und etliche weitere Exponate aus dem einstigen Museum der Stadt Stettin.

Das Völkerrecht und die eigene Praxis von einst widerlegen das heutige russische Argument von den deutschen Kulturgütern, was die Rückgabe an Polen angeblich unmöglich macht.

Das Tröpfeln der Trophäen

Die sowjetischen Trophäenbrigaden hatten in Deutschland sehr viele polnische Kunstgegenstände ausfindig gemacht. Ob polnisch oder deutsch, alles landete erst einmal in der Sowjetunion.

Ab 1946 begannen die Sowjets tröpfchenweise das eine oder andere zurückzugeben. Im Februar 1946 überstellten sie zwei Güterwaggons mit Kunstgegenständen aus der Stadt und dem Umland von Poznań, die sie in Sachsen beschlagnahmt hatten. Es waren 80 Kisten mit etwa 15.000 Objekten, u.a. 426 Bildern, etwa 3.000 Grafiken und 11.000 Münzen.

Im Juni 1947 bekamen die Polen etwa eintausend Briefe polnischer Könige wieder. Dazu Sejm-Dokumente aus dem 15. und 16. Jahrhundert, Handschriften polnischer Dichter und Nationalhelden, wie Tadeusz Kościuszko. Die Deutschen hatten sie aus der Warschauer Nationalbibliothek entwendet. Außerdem etwa 20.000 wertvolle Bücher aus der Bibliothek der Warschauer Universität.

Im Januar 1948 kam aus Moskau das Archiv des polnischen Wetteramtes zurück, das die Russen in Berlin gefunden hatten.

Im Mai 1949 – eine weitere kleine Sammlung (ca. 100 Stück) von Handschriften polnischer Dichter und Schriftsteller. Im April 1952 – das Kopernikus-Archiv aus Frombork, von dem schon die Rede war.

Stalins Tod 1953 ermöglichte nicht nur ein politisches „Tauwetter“ im Innern, sondern brachte auch neue Töne in die Außenbeziehungen der UdSSR. Um „die sowjetisch-polnische Freundschaft zu festigen“, erklärte sich Moskau 1955 zu größeren Rückgaben bereit. Von „Trophäen“ oder „Beute“ war fortan nicht mehr die Rede, stattdessen von „geretteten“ und „vorübergehend“ in der Sowjetunion „aufbewahrten“, beziehungsweise „sichergestellten Schätzen“.

Im September und Oktober 1956 kamen in Warschau zwei große Transporte an. Es war ein, bis dahin in seinem Volumen nicht vorstellbarer Restitutionsakt. Insgesamt gut zwölftausend, überwiegend herausragende Kunstwerke der polnischen und westlichen Malerei, einige Zeichnungen von Rembrandt und Dürer, eine wertvolle Sammlung antiker Vasen. Die Ausstellung der Werke in der Eremitage in Leningrad im Juli 1956 vor deren Heimkehr war ein Publikumsrenner.

Nur einmal nach 1956 öffneten die Russen ihre Depots einen Spaltbreit. Im Jahr 1994, zu Zeiten Boris Jelzins, kamen von der Roten Armee aus dem Dom von Poznań mitgenommene Grabplatten zurück. Dazu zwei Bilder des italienischen Malers Pompeo Batoni aus der Sammlung der königlichen Sommerresidenz Wilanów in Warschau.

Wo kein Wille ist, ist auch kein Weg. Die polnischen Kulturgüter in Russland sind keine Trophäen, weil Polen kein Feindesland war. Sie sind auch kein Ersatz für russische Verluste, weil Polen Russland keine Verluste zugefügt hat. Eher umgekehrt. Es ist schlicht und einfach geraubte Kunst.

© RdP




Und Tschüss… Polens Abschied von Gasprom

Epochaler Wandel in der polnischen Energiepolitik.

Polen will ab Januar 2023 kein russisches Erdgas mehr kaufen. Die kurze Erdgasleine, an der die Sowjetunion und später Russland das Land geführt haben, wird gekappt.

Mitte November 2019 hat das staatliche polnische Energieunternehmen PGNiG SA (Polnische Erdölbergbau und Gaswesen AG) termingerecht den bis Ende 2022 laufenden, über ein Vierteljahrhundert abgeschlossenen, Vertrag mit Gasprom gekündigt. Eine automatische Verlängerung um weitere fünf Jahre soll es nicht geben. In knapp zwei Jahren verliert Gasprom somit seinen sechstgrößten europäischen Kunden nach Deutschland, der Türkei, Italien, Großbritannien und Frankreich.

Polen und Deutschland – zwei Unterschiede

Sichtbar werden bei dieser Gelegenheit wieder einmal zwei gravierende Unterschiede zwischen der polnischen und der deutschen Energiepolitik.

Zum einen wird die Energiepolitik in Polen vor allem als ein Teil der Sicherheitspolitik aufgefasst und gehandhabt. In Deutschland hingegen fällt Energiepolitik in die Sparten Handel, Umwelt, Klima.

Der zweite Unterschied ergibt sich aus dem ersten. Polen setzt alles daran, die Energieabhängigkeit von Russland zu beenden. Deutschland findet nichts dabei, mit dem Bau der Nord Stream 2-Gasleitung unter der Ostsee eine noch engere Bindung an Russland einzugehen.

Die deutsche Bundesregierung spricht sich zwar für Sanktionen gegen Russland wegen der Eroberung der Krim und des Krieges im Donbass aus, andererseits hält sie aber an einem Vorhaben fest, durch das weitere Milliarden von Euro nach Russland fließen und Putins brachiale Politik mitfinanzieren.

Seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion 1991 sind Erdgas und Erdöl für den angeschlagenen russischen Nachfolgestaat die wichtigsten Finanzierungsquellen und zugleich die wichtigsten Instrumente, wenn es um seine internationale Geltung geht.

Sehr viel mehr steht Russland nicht zur Verfügung, um seiner Machtpolitik Nachdruck zu verleihen. Lieferstopps, Vorzugspreise für Nachgiebige politische Partner wie Weißrussland, Höchstpreise für Widerspenstige wie Polen, das lange Zeit keine Ausweichmöglichkeiten auf andere Gaslieferanten hatte.

Das Abnabeln von den russischen Erdgaslieferungen gehört zu den wichtigsten Vorhaben der regierenden polnischen Nationalkonservativen. Sie haben es im Parlamentswahlkampf 2015 angekündigt und setzen das Vorhaben seit ihrer Regierungsübernahme mit Nachdruck um.

Mit Erdöl ist die Sache leichter

Die Erdöllieferverträge haben eine Laufzeit von zwei bis drei Jahren. Es gelten weitgehend die aktuellen Weltmarktpreise. Zudem verfügt Polen seit den 1970er Jahren über einen laufend modernisierten Erdölhafen in Gdańsk, wo seit Neuestem bis zu vierhundert Tanker pro Jahr ihre Fracht löschen. Diese wird in der angrenzenden zweitgrößten Raffinerie Polens verarbeitet. Zudem haben die Erdöltanks im Danziger Erdölhafen ein Fassungsvermögen von gut vier Millionen Kubikmetern.

Wie existentiell wichtig für das kommunistische Polen sowjetische Erdöllieferungen waren, kann man auch anhand der Briefmarken sehen. Gleich drei wurden (von oben) 1964,1965 und 1969 (s. unten) der Erdölraffinerie in Płock an der Druschba-Erdölleitung gewidmet.

Das schafft gute Ausweichmöglichkeiten, wenn russische Erdöllieferungen ausbleiben, wie im April und Mai 2019 geschehen. Über die Druschba/Freundschaft-Pipeline floss damals aus Russland stark verunreinigtes Rohöl.

Durch diese Pipeline, die eine Kapazität von 1,4 Millionen Fass Erdöl pro Tag hat, pumpt Russland über eine Entfernung von knapp sechstausend Kilometern mehr als ein Viertel all seiner Rohölexporte.

Die in den 1960er Jahren zu Sowjetzeiten gebaute Pipeline beginnt in der Nähe von Samara, geht weiter nach Weißrussland (Raffinerie Mosyr) und gabelt sich dort in eine nördliche Linie, die nach Polen (Raffinerie Płock) und Deutschland (Raffinerie Schwedt) führt, und in einen südlichen Zweig in die Ukraine, nach Ungarn, in die Slowakei und nach Tschechien. Ein weiterer Ableger führt zum russischen Hafen Ust-Luga an der Ostsee.

Fast zwei Monate lang ruhte der Betrieb der Druschba 2019 bis die Leitungen gereinigt waren und die Russen sich verpflichtet haben die Kunden angemessen zu entschädigen. Derweil funktionierte der Kraftstoffmarkt in Polen völlig normal. Vorräte und Zukäufe auf dem Weltmarkt, die über den Erdölhafen in Gdańsk ins Land gelangten, machten es möglich.

Druschba/Freundschaft-Erdölpipeline.

Mittlerweile bezieht Polen noch 65 Prozent seines Erdöls aus Russland (1996 waren es 100 Prozent). Der Rest kommt aus Saudi-Arabien, Nigeria, Kasachstan, Großbritannien, Norwegen. Drei Prozent des Bedarfs deckt die Eigenförderung. Alternative Bezugsquellen, vielfältige Lager- und Transportmöglichkeiten machen Russland, das zudem ja dringend auf die Einnahmen angewiesen ist, als Erdöllieferanten nach Polen weitgehend ersetzbar.

Erdölhafen in Gdańsk. Briefmarke von 1976.

Erdgas. Russland lockt,…

Auf dem Erdgasmarkt ist die Lage für Polen erst seit Kurzem ähnlich komfortabel. Damit sie entstehen konnte, musste in den letzten Jahren ein gewaltiger Aufwand betrieben werden.

Die Ausgangssituation nach dem Ende des Kommunismus 1990 war für Polen fatal. Erdgasverbindungen nach Westeuropa gab es nicht. Weder Pipelines, noch einen Flüssiggashafen. Das Land, von den Missständen der kommunistischen Planwirtschaft und einer radikalen ökonomischen Transformation (Balcerowicz-Plan) schwer geprüft, hatte damals, kurz nach 1990, nicht den politischen Mut aufgebracht diese Isolation, zum Beispiel in Richtung norwegische Gasvorkommen, zu durchbrechen. Das geschah erst, mit der Machtübernahme der Nationalkonservativen im Jahre 2015 und läuft seither als Projekt unter dem Namen Baltic Pipe.

Ein Vierteljahrhundert früher lockten die Russen Polen mit einem neuen gigantischen Vorhaben: der Jamal-Leitung. Stabile Lieferungen und Transitgebühren für das durch Polen nach Deutschland fließende Erdgas, das klang vielversprechend.

Russland erschloss damals die schier unermesslichen Gasvorkommen auf der sibirischen Halbinsel Jamal am Nordpolarmeer, mit 115.000 Quadratkilometern Fläche etwas größer als die einstige DDR.

Seit dem Bauende 1999 transportiert die gut viertausend Kilometer lange Jamal-Leitung Erdgas durch Weißrussland und Polen bis nach Ostdeutschland. Ein Ableger führt über die Ukraine und die Slowakei nach Österreich.

…Polen zahlt viel und hat das Nachsehen

Der 1996 geschlossene polnisch-russische Jamal-Gasvertrag, später einige Male überarbeitet und erneuert, wird nach seiner Beendigung im Dezember 2022 als einer der ungünstigsten Handelsverträge in die jüngste polnische Geschichte eingehen.

Der Erdgasversorgung durch Russland ganz und gar ausgeliefert, zahlte Polen Spitzenpreise. Westeuropäische Staaten, die Erdgas aus verschiedenen Quellen beziehen konnten, bekamen den russischen blauen Brennsoff erheblich billiger.

Im Jahr 2010 stand eine weitere Erneuerung des Jamal-Vertrages an. Die damalige Regierung Donald Tusk führte bereits seit einiger Zeit eine Charmeoffensive in Richtung Moskau. Anlässlich des Tusk-Besuchs in der russischen Hauptstadt im Februar 2008, bei den Feierlichkeiten zum 70. Jahrestag des Kriegsausbruchs im polnischen Sopot im September 2009 und bei der Begegnung Donald Tusks mit Wladimir Putin in Katyn, an den Gräbern der 1940 von den Sowjets ermordeten polnischen Offiziere im April 2010, legten beide Politiker einen demonstrativ herzlichen Umgang miteinander an den Tag.

Tusk verfolgte damals zwei Ziele. Zum einen wollte er, vor allem, seiner politischen Ziehmutter Angela Merkel einen Gefallen tun. Polen sollte kein „Störfaktor“ mehr sein in den guten Beziehungen und bei den Geschäften Deutschlands und der EU mit Russland.

Zum anderen wollte er als „Mann des Dialogs“ seinen Erzrivalen, den angeblich „ewig rückwärtsgewandten“ Staatspräsidenten Lech Kaczyński, den Putin nicht ausstehen konnte, in Polen und in Europa bloßstellen.

Nach Lech Kaczyńskis tragischem Tod beim Flugzeugunglück bei Smolensk am 10. April 2010 verstärkte Tusk seine Charmeoffensive abermals deutlich. Zum einen überließ er alleinig Russland die Untersuchung der Unglückursachen vor Ort. Die Russen weigern sich bis heute das Flugzeugwrack zurückzugeben.

Zum anderen hatte Tusk 2010 vor, im Erdgasgeschäft Polen auf Jahrzehnte fest an Russland zu binden. Auf diese Weise wollte er die „strategische Partnerschaft“ mit Moskau, an die er blauäugig glaubte, dauerhaft festigen.

Der Jamal-Vertrag sollte gleich auf 27 Jahre, also bis 2037, verlängert werden, und das zu für Polen denkbar ungünstigen Konditionen. Hätte sich die EU-Kommission damals nicht eingemischt und Tusk, unter Hinweis auf die EU-Energierichtlinien, gezwungen den Vertrag nur bis Ende 2022 abzuschließen, wäre der Schaden noch gigantischer ausgefallen.

Die damals ausgehandelten Preise, gekoppelt an den aktuellen Erdöl-Weltmarktpreis, waren in Tusk-Polen eines der bestgehüteten Geheimnisse, bis die russische Presseagentur Interfax sie 2015 plötzlich preisgab.

Von 2011 bis 2012, so konnte man nachlesen, kosteten Polen 1.000 Kubikmeter russisches Erdgas im Schnitt gut 500 US-Dollar. Der Preisdurchschnitt für Westeuropa betrug 440 US-Dollar.

Die Differenz blieb, laut Interfax, weiterhin groß, obwohl Polen den Russen ab 2013 einen Rabatt von zehn Prozent abtrotzen konnte. So zahlte Polen im Jahr 2013 für 1.000 Kubikmeter russisches Erdgas im Schnitt 429 US-Dollar. Deutschland: 366, Italien: 399, Österreich: 402, Frankreich: 404 US-Dollar.

Im Jahr 2014 betrugen die Preise pro 1.000 Kubikmeter: für Polen 379 US-Dollar, Deutschland: 323, Österreich: 329, Frankreich: 338, Italien: 341 US-Dollar.

Solche Unterschiede gelten bis heute. Ende 2015, sofort nach ihrem Antritt, reichte die neue nationalkonservative Regierung unter Frau Szydło bei dem Schiedsgericht in Stockholm Klage gegen Gasprom ein, mit der Begründung, der Gaspreis im Jamal-Vertrag sei zu hoch und entspreche nicht der Situation auf dem europäischen Markt. Das Urteil wird bis Mitte 2020 erwartet. Sollte es positiv für Polen ausfallen, verspricht PGNiG SA die erhoffte russische Teilrückzahlung an seine Kunden, Haushalte sowie Firmen, weiterzugeben.

Nach PGNiG-Berechnungen hat Polen seit 2014 jährlich etwa 250 Millionen Euro mehr für das russische Gas bezahlt als es auf dem Weltmarkt gekostet hätte.

Hahn auf, Hahn zu

In Deutschland wird oft und gerne auf die Zuverlässigkeit, einst der Sowjetunion und jetzt Russlands, im Gasgeschäft hingewiesen. Die polnischen Erfahrungen auf diesem Gebiet sind nicht so gut.

Aus PGNiG-Angaben geht hervor, dass Gasprom seit 2004 Polen das Gas sieben Mal ohne Vorwarnung abgedreht und wiederholt die vereinbarten täglichen Liefermengen plötzlich gesenkt hat.

Zudem kam 2017 das Gas eine Zeit lang mit Wasser versetzt in Polen an und war unbrauchbar. Daraufhin sah sich PGNiG genötigt im Eilverfahren eine Erdgas Trocknungsanlage am Abnahmepunkt der Jamal-Pipeline zu bauen, um künftig Schäden am Leitungssystem zu verhindern.

Piotr Woźniak, der PGNiG-Chef: „Die Russen haben aus irgendwelchen Gründen immer wieder Mal die Lieferungen eingestellt. Wir konnten uns durch unsere Vorräte über Wasser halten. Das Problem war, dass es bei jedem Vorkommnis keinen Kontakt mit den Russen gab. Wir bekamen keine Antworten auf unsere Anfragen oder die Antworten entsprachen nicht der Wahrheit, was das Ergreifen von Gegenmaßnahmen unmöglich machte. Wir tappten jedes Mal im Dunkeln. “

Der Jamal-Vertrag von 2010 beinhaltet zudem die so genannte „Take-or-pay-Klausel“, die Polen verpflichtet mindestens 85 Prozent (8,7 Mrd. Kubikmeter) der vereinbarten Gasmenge zu bezahlen, auch wenn es momentan gar nicht so viel Gas benötigt. Das kommt in den letzten Jahren zunehmend vor, seitdem immer mehr Gas aus anderen Quellen ins Land gelangt.

LNG-Terminal in Świnoujście: Polens Gastor zur Welt

Im Januar 2006 fasste die damalige erste nationalkonservative Regierung (2005-2007) unter Kazimierz Marcinkiewicz, den im Juli 2006 Jarosław Kaczyński ablöste, den Beschluss, Polen durch den Bau eines Flüssiggashafens vom russischen Erdgasmonopol zu befreien. Als Standort wurde Świnoujście/Swinemünde ausgewählt.

Im Sommer 2007 zerbrach Jarosław Kaczyńskis Drei-Parteien-Koalitionsregierung. Die vorgezogenen Neuwahlen im Oktober 2007 gewann die Tusk-Partei Bürgerplattform. Das Vorhaben in Świnoujście passte nicht zu Tusks vertrauensvollem Schmusekurs mit Moskau. Er hätte auf die Investition am liebsten verzichtet, doch das Vorhaben zu widerrufen wäre ein allzu offensichtlicher Schritt gewesen. So legte er erst 2011 den Grundstein für die Anlage, und auch sonst wurde auf verdeckte Verzögerung gesetzt.

Gut zwei Jahre lang sahen Behörden weg, als die italienische Baufirma die den Zuschlag bekommen hatte, pfuschte, Termine nicht einhielt, immer neue Nachzahlungen einforderte. Einmal zog sie sich komplett von der riesigen Baustelle zurück, die immer mehr im Chaos versank, um dann nach einigen Wochen wiederzukehren. Schlecht ausgehandelte Bauverträge erlaubten ein solches Gebaren. Tusk schien es nicht zu kümmern.

Erst die Krim-Annexion durch Russland im Frühjahr 2014, die Tusks Freundschaft mit Moskau den Todesstoß versetzte, markierte die Wende. Plötzlich hatte er es eilig. Zwei Jahre später als ursprünglich festgelegt, konnte Tusks Nachfolgerin Ewa Kopacz die Anlage am 11. Oktober 2015 einweihen. Zwei Wochen später verlor Frau Kopacz die Wahlen. Die Nationalkonservativen gewannen die absolute Mehrheit. Deren Leute standen am 20. November 2015 dann am Kai, um den ersten Tanker mit Erdgas aus Katar offiziell zu begrüßen.

Flüssiggasterminal in Świnoujście.

Seither ist das LNG-Terminal „Lech Kaczyński“ Polens Gastor zur Welt. 2018 legten dort 29 Gastanker an mit 13,5 Mrd. Kubikmetern Gas (nach der Rückvergasung). 2019 brachten 31 Gastanker 14.8 Mrd. Kubikmeter Gas (nach Rückvergasung). Die heutige Jahreskapazität des Terminals von 5 Mrd. Kubikmetern Flüssiggas soll nach dem laufenden Ausbau auf 7,5 Mrd. Kubikmeter steigen.

Gleichzeitig sanken die Gaseinfuhren aus Russland. 2018 waren es 9 Mrd. Kubikmeter, 2019 – 8,95 Mrd. Kubikmeter. Der Anteil des russischen Erdgases am polnischen Gesamtimport verminderte sich von 89 Prozent im Jahr 2016 auf 67 Prozent im Jahr 2018 und 61 Prozent im Jahr 2019. Ab 2023 sollen es null Prozent sein.

Es sei denn, die Russen bieten ihren Rohstoff günstig auf dem internationalen Spotmarkt an, wo, wie zum Beispiel in Rotterdam, nicht vertraglich gebundene Mengen von Erdgas gehandelt werden. Solchen „Schnäppchenkäufen“ von Gasprom will sich PGNiG künftig keineswegs verschließen.

Amerikanisches Erdgas ist billiger

Am 8. Juni 2017 legte der „Clean Ocean“, nach sechzehntägiger Fahrt von Port Sabine in Louisiana, in Świnoujście an. Zur Begrüßung erschien Beata Szydło. „Solche Tage gehen in die Geschichte ein“, sagte die Ministerpräsidentin, denn es war wahrlich ein geschichtsträchtiges Ereignis. Zum ersten Mal gelangten 90 Millionen Kubikmeter amerikanisches Flüssiggas auf diesem Weg nach Polen.

Der „Clean Ocean“-US-Gastanker im Flüssiggasterminal von Świnoujście.

Damals war das ein Gelegenheitskauf. Inzwischen hat PGNiG im November 2018 einen Gas-Liefervertrag mit der amerikanischen Firma Cheniere abgeschlossen. Laufzeit: 24 Jahre. Der Abnahmepreis orientiert sich an den im amerikanischen Henry Hub, einem Drehkreuz des US-Erdgashandels im Bundesstaat Louisiana, laufend ermittelten Kursen. Alles ist übersichtlich, dafür sorgen die US-Behörden.

Oft erachten deutsche Medien die von den Russen immer wieder verbreitete Behauptung, amerikanisches Erdgas sei deutlich teurer als das russische, als selbstverständlich. In Wirklichkeit ist es für Polen deutlich billiger. Mitte 2019 zahlte Polen für 1.000 Kubikmeter US-Erdgas zwischen 140 und 160 US-Dollar. Darin enthaltene Kosten: Rohstoff (90 bis 110 USD), Transport und Regasifizierung (40 bis 50 USD).

Im Unterschied zum Jamal-Vertrag, kann der Käufer des US-Flüssiggases bestimmen wohin die Ladung gebracht werden soll: nach Polen, in ein anderes Land Ostmitteleuropas oder in eine andere Gegend der Welt. Es gibt kein Weiterverkaufsverbot, wie bei den Russen.

Russisches Gas kostete in Europa Mitte 2019 durchschnittlich um die 180 US-Dollar für 1.000 Kubikmeter und so viel zahlte der russische Vorzugskunde Deutschland. Der Jamal-Vertrag von 2010 sieht für Polen eine Anlehnung des Erdgaspreises an den Rohölpreis vor, der Mitte 2019 bei etwa 75 US-Dollar pro Barrel lag. Daraus ergab sich der russische Gaspreis für Polen: von etwa 200 US-Dollar pro 1.000 Kubikmeter.

Aus Norwegen kommt die Gasfreiheit

Zwar soll das LNG-Terminal in Świnoujście erweitert werden und bald ein schwimmendes LNG-Terminal an der polnischen mittleren Ostseeküste bei Gdańsk entstehen. Doch um Gasprom ganz und gar abzulösen, bedarf es eines Pipeline-Anschlusses an Westeuropa, und zwar nicht, so wie Deutschland es sich vorstellt. Deutschland würde am liebsten bei den Russen gekauftes Erdgas von Westen her nach Polen pumpen.

Es bedarf eines Anschlusses an die norwegischen Erdgasvorkommen in der Nordsee. PGNiG hat dort inzwischen 29 Gasförderkonzessionen gekauft. Der eigene Rohstoff ist am billigsten. Er soll nach Polen durch die Baltic Pipe gelangen. Einen Teil davon, den zwischen Norwegen und Dänemark, gibt es seit langem. Nun wird mit Nachdruck die Verbindung von Dänemark nach Polen verlegt.

PGNIG-Chef Woźniak sagt: „Die Leitung hat ein jährliches Durchleitungsvermögen von gut 10 Milliarden Kubikmetern. Wenn unser Gas sie künftig zu 25 Prozent und fremdes zu 75 Prozent füllt, dann werden unsere Kalkulationen aufgehen“. Polen will nämlich das Erdgaskreuz für Ost- und Südostmitteleuropa werden.

Am 1. Oktober 2022 soll erstes norwegisches Erdgas nach Polen fließen. Es muss fließen, denn am 1. Januar 2023 laufen die russischen Lieferungen aus.

@ RdP