Rakete im Fahrradsattel
Am 1. Februar 2021 starb Ryszard Szurkowski.
Das Jedermannrennen Rund um Köln war zu Ende und Ryszard Szurkowski war nicht auffindbar. Am 10. Juni 2018 warteten seine Freunde an der Ziellinie vergebens auf ihn. Normalerweise war es der einstige Rad-Champion, der seinen Oldboy-Freunden vom „Team Szurkowski“ seit Jahren regelmäßig davonfuhr, und sie an den Zieleinfahrten in Empfang nahm.
Bald wurde klar, dass er in einen Massenunfall verwickelt sein musste, den es einige Kilometer vor dem Ziel gegeben hatte. Nach langem Herumtelefonieren bestätigte endlich eine der Kliniken, dass bei ihr ein Schwerverletzter eingeliefert worden war. Er hatte keine Papiere bei sich, war gut 60 Jahre alt und trug gelbe Fahrradschuhe.
Jahrelang hat man Ryszard Szurkowski am Gelben Trikot erkannt. Es war das Trikot des Gesamtführenden während der Friedensfahrten von 1970, 1971, 1973 und 1975, die er gewonnen hat. Jetzt, in Köln, fuhr er in gelben Schuhen.
Team Szurkowski
Es war die 102. Auflage des Eintagesrennens Rund um Köln. 4.500 Radfahrer am Start. Profis, die mehr als 200 Kilometer zurücklegen mussten. Amateure hatten 126 Kilometer zu fahren. Die Veteranen, die in verschiedene Altersklassen eingeteilt wurden, nur 60 Kilometer.
Ryszard und seine Freunde starteten in der Gruppe 60+. Sie trugen schwarze, kurze Hosen und gleiche T-Shirts mit der Aufschrift „Team Szurkowski Poland“. Sie präsentierten sich ansehnlich, das Logo machte auf sie aufmerksam und erfüllte sie mit Stolz. Der Mannschaftsführer fuhr mit der Startnummer auf Trikot und Helm.
„Ich erinnere mich an alles, denn überraschenderweise habe ich nicht einen Moment lang das Bewusstsein verloren“, erzählte Szurkowski Monate später einem Journalisten im Rehabilitationszentrum in Konstancin bei Warschau.
„Es passierte ein paar Kilometer vor dem Ziel. Eine breite Straße und ein unglaubliches Tempo. Gut 40 Kilometer pro Stunde. Wir näherten uns einer Insel. Die meisten Fahrer wichen ihr auf der rechten Seite aus, aber die beiden vor mir wollten die Insel wahrscheinlich von links umfahren. Sie kollidierten mit ihren Lenkern und im Bruchteil einer Sekunde lagen sie am Boden. Eigentlich nichts Besonderes, aber ich hatte keine Chance. Ich kippte über den Lenker und schlug mit dem Gesicht auf den Asphalt. Danach prallten zwei Radfahrer auf mich, dann etwa noch ein Dutzend, vielleicht sogar mehrere Dutzend weitere. Ich hörte das Klacken von Fahrrädern, Rufe und das Martinshorn des Krankenwagens“.
Einer der größten Sportler Polens im 20. Jahrhundert
Bis 2018 wurde die Kölner Veranstaltung von dem radsportbegeisterten Artur Tabat organisiert. Szurkowski und Tabat kannten sich seit Anfang der Neunzigerjahre gut.
Als Tabat 1971 die Verantwortung für das heute älteste Radrennen Deutschlands übernahm, gewann Szurkowski jenseits des Eisernen Vorhangs zum zweiten Mal die Friedensfahrt. Die Leser von „Przegląd Sportowy“ („Sport-Rundschau“), der führenden Sportzeitung im kommunistischen Polen, kürten ihn zum besten polnischen Sportler des Jahres, was sich 1973 wiederholen sollte.
Im Jahr 1971 erhielt er auch noch den Fair-Play-Preis der UNESCO für eine nicht alltägliche Geste. Bei den polnischen Meisterschaften 1970 überließ Szurkowski sein Rad Zygmunt Hanusik, dessen Pläne durch einen Defekt der eigenen Rennmaschine vereitelt worden wären, und so gewann Hanusik den Meistertitel. Szurkowski schätzte diese UNESCO-Auszeichnung ebenso sehr wie seine Siege, von denen es unzählige gab.
Ganz oben auf der Liste stand der am 1. September 1973 in Barcelona gewonnene Weltmeistertitel im Einzelrennen. Danach gab es zwei Weltmeistertitel im Teamrennen (1973 und 1975) sowie zwei olympische Silbermedaillen in derselben Disziplin (in München 1972 und 1976 in Montreal). Bei der Wahl zum besten Athleten in den (damals) bisherigen 30 Jahren des Bestehens der Volksrepublik Polen belegte Szurkowski 1974, hinter der Sprinterin Irena Szewińska, den zweiten Platz.
Szurkowski war zudem fünffacher polnischer Meister im Straßenrennen (1969, 1974/1975, 1978/1979) und polnischer Meister im Querfeldeinrennen 1968. Damit zählt er zu den größten Sportlern Polens im 20. Jahrhundert.
An den Rollstuhl gefesselt
Der Unfall in Köln hat all das überschattet. Szurkowski erinnerte sich später: „Computertomografie. Ich spürte, wie sie mein Hemd und meine Shorts zerschnitten. Danach schoben sie mich in den OP. Zuerst kam die Operation an der Wirbelsäule. Am nächsten Tag die zweite, wegen der Schädelverletzung. Nach einer Woche die Gesichtsrekonstruktion. Der Kiefer war an mehreren Stellen gebrochen, die Nase deformiert und die Lippe gequetscht. Die Operation hat über sieben Stunden gedauert. Die Chirurgin scherzte, dass sie ein neues Gesicht für mich machen müsse. Heute kann ich sagen, dass sie meine ursprüngliche Physiognomie mit Bravour wiederhergestellt hat“.
Iwona Szurkowska, seit 2012 die dritte Ehefrau von Ryszard, hat ihre eigenen Erinnerungen an den Unfall. „In Köln wurde die Diagnose gestellt: Geschädigtes Rückenmark, Querschnittslähmung und nach der Gesichtsoperation war ich nicht sicher, ob mein Mann überhaupt überleben würde. Nach drei Wochen wurde er in die Rehaklinik in Herdecke verlegt. Zwei Monate später haben wir beschlossen nach Polen zurückzukehren.“
Ein Sanitätsflugzeug brachte Szurkowski nach Warschau und von dort kam er in Polens beste Rehaklinik in dem nahegelegenen Konstancin. Drei Monate später folgte die Verlegung in eine auf seine Defizite noch besser spezialisierte Einrichtung in Kamień Pomorski/Cammin in Pommern unweit von Szczecin/Stettin.
Szurkowskis eiserner Wille sich bei den Rehaübungen ins Zeug zu legen brachte seine Trainer oft an die Grenzen der Belastbarkeit. Doch die Fortschritte blieben mäßig. Die Querschnittslähmung fesselte den einstigen Rad-Champion mit 72 Jahren dauerhaft an den Rollstuhl.
Schneller Fahrer, stiller Mitläufer
Szurkowski wurde 1946 im Dorf Świebodów/Frankenburg, Kreis Milicz/Militsch in Niederschlesien geboren. Hier lernte er als Teenager Fahrradfahren. Hier erfuhr er aus dem Polnischen Rundfunk zum ersten Mal von den Erfolgen Stanisław Królaks (1931-2009).
Der Radrennfahrer aus Warschau gewann 1956 die Friedensfahrt, ein internationales Großereignis auf der Strecke zwischen Warschau, Prag und Ostberlin, das immer im Mai stattfand und bis in die späten Achtzigerjahre wahrscheinlich die größte Tour für Amateure in der Welt war. Es war, wenn man so will, das osteuropäische Pendant zur Tour de France, organisiert von den drei kommunistischen Parteizeitungen: „Trybuna Ludu“, „Rudé Právo“ und „Neues Deutschland“. Millionen Menschen im ganzen Ostblock fieberten an Rundfunkgeräten, später vor den Fernsehern und auch entlang der Renntrassen den Etappen- und Gesamtsiegen ihrer Nationalmannschaften entgegen.
Królaks überbordende Popularität war nur mit der von Täve Schur in der DDR vergleichbar. Schur gewann die Friedensfahrt 1955 und 1959. Als Stanislaw Królak in dem für Polen denkwürdigen Jahr 1956 triumphierte (der Arbeiteraufstand in Poznań/Posen im Juni, der politische Durchbruch, weg vom Stalinismus, im Oktober und die Machtübernahme durch Wladyslaw Gomułka), wollten Hunderttausende polnische Jungs Radrennfahrer werden.
Królak, der Warschauer Junge aus der Unterschicht, pfiffig und clever, ein geborener Überlebenskünstler und Schlingel, der im Krieg auf dem Schwarzen Markt bestens zurecht kam und etlichen deutschen Polizeirazzien im besetzten Warschau zu entkommen wusste, blieb auch als Rennrad-Idol ein auf sich bezogener Querkopf, der vor allem Geld machen wollte. Die kommunistische Staatsmacht hatte mit ihm deswegen so manches Hühnchen zu rupfen, gönnte ihm aber am Ende ein in einem Land der staatlichen Planwirtschaft seltenes Privileg, nämlich in Warschau ein eigenes, privates Fahrradgeschäft zu betreiben.
Schur und Szurkowski verbindet, dass sie sich vom kommunistischen System haben politisch vereinnahmen lassen. Schur war 32 Jahre lang FDJ- und SED-Abgeordneter im DDR-Scheinparlament, der Volkskammer, und vertrat vier Jahre lang die PDS im Bundestag. So manche Verherrlichung der DDR brachte ihm den öffentlichen Vorwurf der DDR-Dopingopfer ein, er sei eine „zentrale Propagandafigur des kriminellen DDR-Sports gewesen“, ein „notorischer Geschichtsleugner, der das missbräuchliche Tun im DDR-Sport banalisiert und die Opfer kalt diskreditiert habe.“
Szurkowski ging nie so weit. Vor der Mitgliedschaft in der kommunistischen Partei konnte er sich immerhin erfolgreich drücken, ließ sich aber vom Jaruzelski-Regime, für eine Legislaturperiode (1985-1989), im damaligen polnischen Pseudoparlament, dem Sejm, als „parteiloser Abgeordneter“ installieren und hob bei allen Abstimmungen „für die Sache des Sozialismus“ brav die Hand. Im Jahr 2005 stellten ihn die Postkommunisten als Kandidaten bei den Sejm-Wahlen auf, aber er fiel durch. Zehn Jahre später ließ sich der stille Mitläufer überreden und wurde Mitglied im Unterstützungskomitee des für eine zweite Amtsperiode kandidierenden postkommunistenfreundlichen Staatspräsidenten Bronisław Komorowski. Es half nichts, Komorowski verlor die Wahl.
Szurkowski hat sich seine Zeit nicht ausgesucht, aber er hatte auch keinen Grund den Kommunismus zu hassen. Sein Talent wurde entdeckt, gefördert und gefeiert. Er meinte, sich dafür mit der einen oder anderen politischen Gefälligkeit bedanken zu müssen.
Doch der für seine tollkühne und äußerst offensive Fahrweise bekannte Radrennfahrer gab sich bei offiziellen Anlässen auffallend schüchtern, passiv, zurückgezogen, überfordert. Ein Statist, der die Politik über sich ergehen ließ und zusah, wie er schnellstmöglich wieder auf die Piste kam. Anders als der kommunistische Polit-Aktivist Täve Schur, war der gradlinige, politisch unerfahrene Szurkowski weder willens noch fähig für den Kommunismus öffentlichkeitswirksam eine Lanze zu brechen.
Dafür hat er es in seiner aktiven Zeit geschafft, die Akademie für Leibeserziehung in Wrocław zu absolvieren. Sein Diplom wies ihn als Sportlehrer und Radsporttrainer aus.
Couch statt Preisgeld
„Ich wollte wie Królak sein: ein Fahrrad haben, Rennen gewinnen“, erinnerte sich Jahrzehnte später Szurkowski. Hartnäckig, wie er war, sparte der kleine Ryszard eisern, bis er sich mit 15 Jahren endlich das tschechische „Favorit“-Rennrad, den Traum aller jungen Królak-Nachahmer, leisten konnte.
Radrennen in der Provinz, in der er lebte, wurden damals von den Dorfsportclubs (poln. Abkürzung: LZS) aus Anlass des 1. Mai, des kommunistischen Nationalfeiertages am 22. Juli oder zum Erntedankfest im Frühherbst veranstaltet. Die Teilnehmer mussten sich selbst um alles kümmern: Fahrräder, Schläuche, Ersatzteile, Verpflegung. Szurkowskis erste Siegesprämie war eine 1,5 Kilogramm schwere Schinkenkonserve.
Meistens waren es volkseigene Betriebe aus der Umgebung, die Preise für Etappensiege bei Radrennen beisteuerten. Das konnte ein Zelt, ein Feldbett, ein Bügeleisen, ein Stoffballen, ein Rundfunkgerät, eine Uhr sein. Manchmal waren es ein Paddelboot, eine Couch, ein Schrank oder sogar ein Ferkel, die der Sieger, notgedrungen, auf die Schnelle und meistens für billiges Geld veräußern musste, bevor er am nächsten Tag wieder aufs Rad stieg.
Große Preise winkten nur bei den ganz großen Veranstaltungen, wie der Friedensfahrt. Ihr vierfacher Sieger Szurkowski erstrampelte sich jedes Mal einen Pkw: Einen Polski Fiat oder einen Skoda.
Ein Rohdiamant wird geschliffen
Der junge, gesunde, kräftige Szurkowski war ein geborenes Radrenntalent. Mit zwei Kumpels aus dem Dorf, die er überredet hatte diesen Sport zu betreiben, radelten sie endlos durch die Umgebung und träumten von den ganz großen Rennen. Wie ein Rohdiamant, dessen Qualität und Reinheit erst nach dem Schleifen und Polieren erkennbar wird, harrte Szurkowski am Anfang seiner Karriere eines Trainers, der seine Stärken fachmännisch fördert und formt, seine Schwächen ausbügelt.
Diese Zeit kam erst, als er zur Armee eingezogen wurde. Seine Einheit hatte man im Sommer 1966 auf einen Truppenübungsplatz in der Nähe von Radom verlegt. Der Kompanieführer erlaubte dem radbegeisterten Quälgeist Szurkowski aus einem Kurzurlaub sein Rennrad in die Einheit mitzubringen, erlaubte ihm auch, nach dem Dienst in der Umgebung zu fahren.
So traf der einsame Radler eines Tages auf eine Gruppe trainierender Rennfahrer. Man kam ins Gespräch. Es waren Athleten des Sportklubs Radomiak aus der unweit gelegenen Stadt Radom mit ihrem Trainer Ryszard Swat. Szurkowski schloss sich dem Tross an. Eine Stunde später wusste Swat bereits, dass ihm das Schicksal ein ausgesuchtes Rennfahrertalent zugespielt hatte.
Jetzt galt es nur noch, sich mit dem Vorgesetzten des Kompanieführers, wie man in Polen sagt, „diesbezüglich an die Schanktheke zu lehnen“. Kurz darauf durfte Szurkowski nicht nur trainieren, sondern auch an Wochenenden Rennen fahren.
Seine Motivation, seine Entschlossenheit, Sturheit und Hartnäckigkeit waren enorm. Als er die Armee nach dem zweijährigen Pflichtwehrdienst verließ, hatte er bereits einige wichtige sportliche Erfolge vorzuweisen. Von Radomiak wechselte er nun zum Sportverein Dolmel in Wrocław/Breslau.
Dolmel war die Abkürzung für Dolnośląskie Zakłady Wytwórcze Maszyn Elektrycznych – Niederschlesische Elektromaschinen-Produktionswerke. Der Großbetrieb entstand auf den Ruinen der während der erbitterten Kämpfe um die Festung Breslau zwischen Januar und Mai 1945 zerstörten deutschen Linke-Hofmann-Werke. Wie fast alle staatlichen Großfirmen im kommunistischen Polen hatte auch Dolmel einen Sportverein, und in diesem war besonders der Radsport sehr gut aufgestellt.
Szurkowski, der nicht die leiseste Ahnung von Elektromaschinen hatte, bekam einen gutdotierten Arbeitsvertrag als Ingenieur und eine Wohnung zugeteilt, ein Gut, auf das der Normalbürger bis zu einem Vierteljahrhundert warten musste. Das war die Grundversorgung. Die Extras musste Szurkowski sich erstrampeln. Den Betrieb hat er von innen nie gesehen. So funktionierte das Prinzip Leistungssport im Kommunismus.
Der beste polnische Radrennfahrer aller Zeiten…
Seine Turbinenbau-Brotherren hat Szurkowski jedoch nie blamiert. Schon zwei Monate nach der Arbeitsaufnahme gewann der 22-jährige „Ingenieur“ im März 1968 die polnische Meisterschaft im Querfeldein-Radfahren. Das wiederum erregte die Aufmerksamkeit Henryk Łasaks (1932-1973), des Nationaltrainers und Begründers der größten Erfolge des polnischen Radsports, der Szurkowski von da an unter seine Fittiche nahm.
Seitdem hagelte es Medaillen und Rekorde, von denen eingangs schon die Rede war. Szurkowski galt als der polnische Eddy Merckx. Er konnte sich allerdings nur einmal, 1974 beim Rennen Paris-Nizza, bei dem eine polnische Mannschaft mit einer Ausnahmegenehmigung zugelassen worden war, unmittelbar mit ihm messen. Normalerweise durften die „Berufsamateure“ aus dem Ostblock bei Profirennen im Westen nicht antreten. Im Warschauer Stadtteil Wola, in der Ciołka-Straße 35, wo der Weltmeister aus Barcelona seinen Fahrradladen hatte, nahm das Foto, auf dem Szurkowski gemeinsam mit Merckx zu sehen ist den Ehrenplatz ein.
Sein Umzug von Wrocław nach Warschau, wo er beim Sportverein KS Polonia angeheuert hatte, fand bereits Mitte der Siebzigerjahre statt.
Der beste polnische Radrennfahrer aller Zeiten widmete zwanzig Jahre seines Lebens, von 1964 bis 1984, dem Radsport. Zusammengezählt fuhr er zwei Jahre lang ununterbrochen Rennen. In dieser Zeit hat er etwa eine halbe Million Kilometer auf dem Fahrrad zurückgelegt. Er stand siebenhundert Mal auf dem Podest, davon 350 Mal als Sieger.
Szurkowski war 38 Jahre alt, als er seine professionelle Karriere endgültig an den Nagel hängte. Vier Jahre lang trainierte er die polnische Rennrad-Nationalmannschaft. Er legte sein Amt nieder, als ihm das ständige Kämpfen um bessere Ausrüstung, um Trainingsmöglichkeiten in warmen Ländern, während Polen in nasskalten Wintern versank, zu viel wurde. Das wirtschaftlich schwer angeschlagene kommunistische Land hatte keine harten Devisen dafür.
2010 nahm er noch für ein Jahr das Präsidentenamt im Polnischen Radsportverband an. Er war fit, fuhr aus Spaß an der Freude bei verschiedenen Amateurrennen mit, das Radsportgeschäft lief gut, ab und zu flatterte ein gut bezahlter Werbeauftrag ins Haus.
In all dem ging fast völlig unter, dass ihn, bevor er Mitte 2018 an den Rollstuhl gefesselt wurde, ein anderer persönlicher Schicksalsschlag ereilt hatte.
Am 11. September 2001 kam sein Sohn aus zweiter Ehe, der 31-jährige Norbert Szurkowski, im 104. Stock eines der Türme des New Yorker World Trade Center, infolge des Terror-Anschlags ums Leben. Norberts Leiche wurde nie gefunden. Es gab keine Beerdigung, er hat kein Grab. Zäh wie er war, ließ sich der große Radrennfahrer nichts anmerken, er behielt diese Tragödie für sich.
… und die größte Persönlichkeit des polnischen Radsports
Szurkowski blieb bis zuletzt die größte Persönlichkeit des polnischen Radsports. Jedes Gespräch mit ihm war interessant, brachte neue Einsichten zutage im Hinblick auf den Sport als solchen und den Radsport im Besonderen. Er mochte Journalisten und sie respektieren ihn. Sein Wissen um die Probleme des Radsports, über die Trainingsmethoden, Ernährungsregeln, die Dopingbekämpfung war bewundernswert.
Mit dem westlichen Profi-Radrennsport kam er während seiner „Berufsamateur“-Zeit in Polen nur einmal in Berührung. 1974 wollten sich die westeuropäischen Profis unbedingt mit dem polnischen „Wunderteam“ messen. Ryszard Szurkowski, der damals amtierende Weltmeister im Einzelrennen, und seine Kollegen bekamen ausnahmsweise die Erlaubnis, an dem Straßenradrennen Paris-Nizza teilzunehmen.
Am Ziel der ersten Etappe in Paris am 10. März 1974 war Szurkowski Zweiter hinter Eddy Merckx. Danach stand er noch zweimal auf dem Podium der Etappensieger und belegte am Ende den 28. Platz. Merckx wurde Dritter. Auf Anhieb unter den weltbesten dreißig des Profi-Radrennsports zu landen, war für einen in diesem sehr spezifischen Metier unerfahrenen Ostblock-Berufsamateur ein Erfolg der sich sehen ließ.
Die großen Rennen der Welt: Tour de France, Giro d’Italia, Vuelta a Espana verfolgte Szurkowski auf seine alten Tage aufmerksam, aber ohne Freude. Zu wenig Radsportfantasie, Spontaneität, Bravour zeichnete sie nach seinem Geschmack aus, dafür viel Langeweile. Heute, sagte er oft, entscheidet im Rennsport nur das Geld. Es gibt spektakuläre Siege, bei denen manche Straßenmeister zum Doping greifen.
Den heutigen Profi-Radsport beobachtete er sehr kritisch. Wenn ein Sponsor dutzendweise die besten Fahrer kauft, pflegte Szurkowski auf seine alten Tage zu sagen, hat er nichts zu verlieren. Die einen kauft er, damit sie auf der Zielgeraden gewinnen. Andere heuert er an, um in den Bergen zu triumphieren. Der Rest ist dazu da, um zu helfen. Alles ist arrangiert, geplant, nicht so wie zu seiner Zeit, als Kühnheit, Freude am Fahren, Mut und Unberechenbarkeit der Radfahrer auf der Strecke und im Ziel Millionen von Fans begeisterten.
Ryszrad Szurkowski, ein zäher, fast könnte man glauben, ein unverwüstlicher Kämpfer auf den Rennstrecken Europas und Meister der Sprintankunft, der die schönste Epoche in der Geschichte des Radsports entscheidend mitgeprägt hat, ist mit 75 Jahren seinem Krebsleiden erlegen.
Staaspräsident Andrzej Duda zeichnete ihn postum mit dem Großkreuz des Ordens Polonia Restituta (Orden der Wiedergeburt Polens) aus. Es ist, nach dem Orden des Weißen Adlers, die zweithöchste zivile Auszeichnung der Republik Polen.
Ryszard Szurkowski fand seine letzte Ruhestätte im Familiengrab auf dem Friedhof von Wierzchowice/Wirschkowitz in Niederschlesien, drei Kilometer entfernt von seinem Geburtsort Świebodów.
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