Die Frau war einunddreiβig, als die Ärzte bei ihr einen Gehirntumor feststellten. Operieren lassen wollte sie sich nicht. Die möglichen Folgen des Eingriffs erschienen ihr zu riskant und so lebte sie zehn Jahre lang mit dem Tumor im Kopf weiter. Der Zusammenbruch kam in der 17. Schwangerschaftswoche. Ein Rettungswagen brachte sie ins Krankenhaus, doch die Neurochirurgen konnten der Patientin nicht mehr helfen.
Nachfolgend dokumentieren wir groβe Auszüge eines Berichts des Wochenmagazins „wSieci“ („Im Netzwerk“) vom 02. – 08. Mai 2016.
„Als sie zu uns kam, lag sie bereits im tiefen Koma und wurde künstlich beatmet. Alles deutete auf den Gehirntod hin“, berichtet Prof. Dr. hab. med. Andrzej Kübler, Leiter der Klinik für Anästhesie und Intensivmedizin der Universitätsklinik in Wrocław/Breslau.
Die Frau war tot, doch ihr ungeborenes Kind lebte. „Als Neonatologin wurde ich gefragt, ob das Kind im Schoβ der Mutter eine Überlebenschance habe“, erinnert sich Prof. Barbara Królak-Olejnik, Leiterin der Klinik für Neugeborenenmedizin des Uniklinikums in Wrocław. „Meine Antwort war, dass höchstens fünf Prozent aller Frühchen, die bis zur 23. Woche auf die Welt kommen, eine solche Chance haben. Bei einer Frühgeburt zwischen der 24. und der 26. Woche dagegen überleben schon bis zu siebzig Prozent von ihnen. Deswegen sollte man versuchen die Schwangerschaft bis zur 25. oder, noch besser, bis zur 30. Woche aufrecht zu erhalten.“
Die Ärzte stellten sich dieser Herausforderung.
„Eine Kommission zur offiziellen Feststellung des Hirntodes wurde nicht einberufen, denn einige damit verbundene Untersuchungen (Apnoetest, Angiografie der Hirngefäβe) hätten das ungeborene Kind schädigen können. So blieb die Patientin, juristisch gesehen, eine lebende Person. Um das Kind zu retten hielten wir, mit den Möglichkeiten, die die heutige Intensivmedizin bietet, die Funktionen der inneren Organe der Mutter aufrecht, ohne jedoch die Hoffnung zu haben, die werdende Mutter am Leben erhalten zu können“, schildert Prof. Kübler.
Kampf gegen die Zeit
Dass der Vater sein Kind unbedingt retten wollte, war für die Mediziner zusätzlicher Ansporn, aber wie der Kampf ausgehen würde, stand in den Sternen.
Zwar kennt die Medizin einige Dutzend ähnlicher Fälle, aber die meisten betrafen fortgeschrittenere Schwangerschaften, bei denen die lebenserhaltende Therapie für einen kürzeren Zeitraum durchgeführt werden musste.
„Wir hatten keinerlei Erfahrung mit der langfristigen Aufrechterhaltung von lebensnotwendigen Funktionen bei gehrintoten Patienten. Im Normalfall, d.h. im Rahmen der Transplantationsmedizin, dauert es ein, höchstens zwei Tage, bis die Organe für eine Organverpflanzung entnommen werden. Dann werden die Maβnahmen beendet“, sagt Prof. Kübler.
Die schwangere Frau war an ein Beatmungsgerät angeschlossen, bekam blutdruckstabilisierende Medikamente und wurde durch eine in die Bauchwand gelegte Öffnung über eine Magensonde ernährt. Den Ärzten war klar, dass sich ihr Zustand jeden Augenblick verschlechtern konnte, denn beim Ausfall des Gehirns laufen die Funktionen aller inneren Organe sehr leicht aus dem Ruder.
„Das ungeborene Kind wurde kontinuierlich überwacht. Ein Ärzteteam stand stets „Gewehr bei Fuβ“, um im Notfall einen Kaiserschnitt vornehmen zu können, ebenso wir, die Neugeborenenmediziner, um uns des Frühchens anzunehmen“, berichtet Prof. Królak-Olejnik.
Sehr schnell tauchten Probleme auf. Die Patientin erkrankte an einer Lungenentzündung, die mit einem für das ungeborene Kind unbedenklichen Antibiotikum ausgeheilt wurde. Immer wieder fiel der Blutdruck ab, es kam zu Störungen im Hormon- und Elektrolytehaushalt, Insulin musste gespritzt werden.
Das Kind entwickelte sich normal, doch die Ärzte können nicht sagen, ob und gegebenenfalls welchen Einfluss, die langfristige Aufrechterhaltung von lebensnotwendigen Funktionen bei der Mutter auf den Jungen haben würde. „Viele schwangere Frauen erkranken an Infektionen und nehmen Medikamente“, erläutert Dr. Agnieszka Jalowska von der Klinik für Neugeborenenmedizin des Uniklinikums in Wrocław. „Diese Mutter jedoch bekam weit mehr Medikamente, und es gab viele bedrohliche Situationen.“
Sehr wichtig war die Arbeit der Krankenschwestern. Sie haben die Patientin gewaschen, eingerieben, ständig die Körperlage verändert, Medikamente verabreicht. Ihr Ehemann war ständig bei ihr, hörte mit ihr gemeinsam Musik, sprach mit ihr, las ihr vor.
Sie waren gut vorbereitet
Fünfundfünfzig lange Tage rangen die Ärzte mit dem Tod. Die Schwangerschaft konnte bis zum Ende der 26. Woche aufrechterhalten werden. Dann kam es zum Kaiserschnitt. Es war höchste Zeit, denn bei dem Eingriff stellte sich heraus, dass der Mutterkuchen nur noch ungenügend durchblutet wurde. Ein Junge mit einem Gewicht von 1.000 Gramm kam auf die Welt.
„Wir waren gut vorbereitet. Der Operationssaal befand sich gleich neben der Intensivstation, in dem die Mutter bis dahin gelegen hatte. Ein Arbeitsplatz für die Neugeborenenmediziner war eingerichtet, ein transportabler Brutkasten mit einem Beatmungsgerät stand bereit. In ihm wurde der Junge auf die Neugeborenen-Intensivstation gebracht. Dort wurde ihm als erstes ein Medikament zur Förderung des Lungenwachstums verabreicht. Das Kind war jedoch so schwach, dass es nicht selbständig atmen konnte. So wurde es vierzig Tage lang künstlich beatmet. In dieser Zeit bekam es schmerzstillende- und die Muskeln entspannende Mittel, um eine schmerzfreie Beatmung und Ernährung zu gewährleisten.
Nach der Geburt trat die Ärztekommission zusammen und stellte den Tod der Mutter fest.
„Dennoch, es ist eine wunderbare Geschichte. Die neuesten Errungenschaften der Medizin wurden angewandt, um ein junges Leben zu retten. Sie sollte immer wieder erzählt werden, da, in demselben Alter, in dem der ungeborene Junge sich beim Hirntod seiner Mutter befand viele Föten, bei denen z. B. das Down-Syndrom diagnostiziert wurde, durch Abtreibung getötet werden“, sagt Dr. Agnieszka Jalowska.
„Dieser Fall zeigt, dass Unmögliches möglich wurde. Ich kann mir nicht vorstellen, dass ein Arzt nicht Leben retten könnte. Das Leben war da, es existierte im Schoβ der Mutter. Wer, und warum sollte jemand entscheiden dürfen, dass es beendet werden soll?“, fügt Prof. Królak-Olejnik hinzu.
Drei Monate nach der Geburt verlieβ der kleine Wojciech das Krankernhaus. Er wog bereits drei Kilogramm, konnte selbständig aus dem Fläschchen trinken und sein Entwicklungsstand entsprach dem von Säuglingen im selben Alter. Es heiβt, Spazierfahrten an der frischen Luft bekommen ihm gut.
RdP
Auswandern ist nicht aller Ärzte Lust
Licht- und Schattenseiten des polnischen Gesundheitswesens.
Berichte über das polnische Gesundheitswesen, die deutsche Medienkonsumenten erreichen, sind seit Jahren nur alarmierend und bedrückend zugleich. Schlecht bezahlte Ärzte und Pfleger wandern massenhaft ab, die medizinische Infrastruktur verwahrlost, die Patienten sind stets unterversorgt. Gelogen ist das alles nicht, aber es ist nur die halbe Wahrheit.
Es war jedenfalls kein Zufall, dass sich Brian Johnson, der von dauerhafter Taubheit bedrohte Sänger der australischen Hard-Rock-Band AC/DC, in die Obhut von Prof. Henryk Skarżyński (fonetisch Skarschinski) im Warschauer Vorort Kajetany begab. Dort befindet sich das Institut für Gehörphysiologie- und Pathologie, eine der modernsten und weltweit führenden Kliniken auf diesem Gebiet.
Im Krebs-Zentrum im oberschlesischen Gliwice/Gleiwitz, einer Einrichtung auf Weltniveau, verpflanzten Prof. Adam Maciejewski und sein Team Anfang 2013, als erste in der Welt, während einer lebensrettenden Notoperation einem Patienten ein neues Gesicht.
Seit Ende 2014 kann ein Querschnittsgelähmter wieder laufen, weil ein polnisch-britisches Ärzte-Team in der Uni-Klinik von Wrocław/Breslau eine bahnbrechende Transplantation gewagt hat.
Alle drei Kliniken, aber auch das Zentrum für Herzchirurgie im oberschlesischen Zabrze/Hindenburg, das Krebs-Zentrum in Bydgoszcz/Bromberg und ein weiteres halbes Dutzend führender polnischer Medizineinrichtungen werden aus den Innovations-Fördertöpfen des Warschauer Gesundheitsministeriums kräftig unterstützt. Viel Geld bringen internationale Forschungsaufträge und ausländische Privatpatienten. Moderne Gebäude, modernste Geräte, gut bezahlte Mediziner. So sieht die Beletage der polnischen Medizin aus.
Des Weiteren gibt es offizielle Statistiken, die besagen, dass die Einkommen der polnischen Ärzte zwischen 2011 und 2015 generell um mehr als das Doppelte gestiegen sind und die Mediziner inzwischen sogar die Juristen beim Verdienen überholt haben.
Habenichtse und Krösusse
Die ganz Groβen der Branche, bekannte Kardiologen, Herzchirurgen, Chirurgen oder Gynäkologen verdienen, da sie zusätzlich privat praktizieren, leicht bis zu 60.000 Zloty brutto (14.000 Euro) im Monat. Wer sich einige Male in der privaten Praxis einer Medizin-Koryphäe sehen lässt, kann sicher sein, auf ihrer Station im staatlichen Krankenhaus bevorzugt behandelt zu werden.
Weniger bekannte, aber erfahrene Mediziner, wie z. B. ein leitender Stationsarzt der Chirurgie im niederschlesischen Wałbrzych/Waldenburg erhält 13.500 Zloty (ca. 3.200 Euro) im Monat, ein Gynäkologe am Krankenhaus in Katowice 14.000 Zloty (ca. 3.300 Euro), ein Narkosearzt in Kraków – 21.000 Zloty (ca. 5.000 Euro), hierbei handelt es sich um Nettogehälter, bei denen die Bereitschaftsdienste mit berücksichtigt wurden. Auch von diesen Medizinern haben viele noch eigene Praxen oder arbeiten nachmittags privat bei Kollegen mit.
Kaum jemand aus der ersten oder zweiten Gruppe denkt auch nur im Entferntesten daran ins Ausland zu gehen. Diese Mediziner haben die Vollapprobation und den Facharzttitel erlangt und können in Polen ein gutes Leben führen. In einem Land, wo der am häufigsten gezahlte Lohn, errechnet an Hand des sogenannten Modalwertes, 2015 genau 2.189 Zloty brutto (knapp 530 Euro) betrug, können sich diese Einkommen durchaus sehen lassen.
Deutlich weniger im Durchschnitt als ihre Facharztkollegen, verdienen hingegen die sogenannten Familienärzte – 5.600 Zloty (gut 1.300 Euro). In der ambulanten medizinischen Versorgung sind sie die wichtigste Anlaufstelle für Patienten. Versicherte können den Familienarzt aus einem Netz von Vertragsärzten auswählen und zweimal im Jahr kostenlos wechseln.
Ein Familienarzt soll maximal 2.750 Patienten betreuen, doch wird diese Zahl immer häufiger überschritten. Er stellt Überweisungen an Fachärzte aus und steuert auf diese Weise die Versorgung. Für Besuche bei einigen Spezialisten, darunter Frauen- und Zahnärzten, Onkologen und Psychiatern, ist keine Überweisung nötig. Auch Tuberkulosekranke, HIV-Infizierte und Drogenabhängige brauchen keine Überweisung. In Polen gibt es dreimal mehr Fachärzte als Familienärzte. Das hat zur Folge, dass viele Spezialisten die Aufgabe eines Primärarztes übernehmen. Die meisten polnischen Ärzte arbeiten als Angestellte in staatlichen oder kommunalen Ambulanzen; etwa zwei Drittel von ihnen praktizieren zusätzlich privat, um das monatliche Gehalt aufzubessern.
Krankenschwestern verdienen durchschnittlich 2.600 Zloty (gut 600 Euro) brutto. Es gibt in Polen ca. 280.000 zugelassene Schwestern, von denen im Augenblick 213.000 ihren Beruf ausüben. Ihr Durchschnittsalter steigt stetig und ist inzwischen bei 49 Jahren angelangt. Nachwuchs ist rar.
Ganz unten
Ganz unten auf der Gehaltsskala rangieren die Ärzte im Praktikum mit einem Bruttoeinkommen von knapp 2.300 Zloty (etwa 550 Euro). Das Medizinstudium dauert in Polen sechs Jahre lang. Es folgen ein praktisches Jahr, das Staatsexamen sowie die Approbation. Anschlieβend gilt es den Facharzttitel zu erlangen, und das gestaltet sich schwierig.
Drei Wege führen zu diesem Ziel. Die sogenannte Residentur, das Volontariat oder eine feste Stelle am Krankenhaus. Feste Stellen gibt es für Anfänger auf dem Gebiet der Medizin grundsätzlich nicht. Volontariat bedeutet umsonst zu arbeiten bis man Facharzt ist, was sich kaum einer der Jungmediziner leisten kann. Bleibt die Residentur, bei der das Gesundheitsministerium in Warschau dem Berufsanfänger das Gehalt zahlt. Das Krankenhaus bekommt somit einen Mitarbeiter umsonst zur Verfügung gestellt.
Residenturen werden zweimal im Jahr (im Frühjahr und Herbst) vergeben und dauern, abhängig von der Fachrichtung, zwischen vier und zehn Jahre lang. Am Ende steht eine staatliche Facharztprüfung.
Es ist ein starres System, das nicht den jungen Ärzten sondern der Bürokratie das Leben leicht macht. Die Krankenhäuser geben ihre freien Residentenstellen meistens erst drei Wochen vor Abgabeschluss der Anträge bekannt. Pro Kandidat darf nur eine Bewerbung auf eine konkrete Stelle abgegeben werden. Geht er leer aus, muss er bis zur nächsten Vergaberunde warten. Wer sich einmal für eine Fachrichtung entschieden und eine Residentur bekommen hat darf die Fachrichtung nicht mehr wechseln, auch wenn es sich z. B. herausstellt, dass die manuellen Fähigkeiten für die erträumte Chirurgenlaufbahn leider nicht ausreichen. Die einzige Lösung: Residentur abbrechen um sich neu zu bewerben.
Jahrelang war das Angebot an Residenturen sehr knapp (2014 waren es z. B. nicht ganz 2.500 Stellen). Es wurde gespart mit der Folge, dass die abgewiesenen Jungärzte, deren bisherige Ausbildung viel staatliches Geld verschlungen hatte, ihr Heil im Ausland suchten. Noch im Frühjahr 2015 wurden nur knapp 600 Residenturen vergeben. Der Durchbruch kam im Herbst 2015 als das scheidende Kabinett von Frau Kopacz, nach acht Jahren des Regierens der Bürgerplattform, endlich die Dramatik der Situation erkennen musste und knapp 5.700 Residenturen im ganzen Land freigab, davon ungefähr eintausend im Bereich der inneren Medizin (Kindermedizin 400, Psychiatrie 320, Chirurgie 280, Neurologie 220, Zahnmedizin 80 usw.).
Die neue Regierung von Frau Szydło hat die Zahl der Residenturen für das Frühjahr 2016 auf 1.900 erhöht, für Herbst 2016 sind etwa 5.500 angekündigt. Damit dürfte der Ausbildungsstau, der bisher bei jährlich ca. 2.600 Medizinabsolventen lag, für das Erste abgebaut sein. Nur für die Zahnmediziner (ca. 850 Absolventen pro Jahr) bleibt die Lage nach wie vor unerfreulich.
Ist das erste Etappenziel, eine Residentenstelle zu erhalten, erreicht, schieben die Neulinge einen Bereitschaftsdienst nach dem anderen, um zu den anfänglich noch mageren 2.300 Zloty etwas hinzu zu verdienen. Viele jobben hierfür zusätzlich in Privatpraxen erfolgreicher älterer Kollegen. Haben sie schließlich den ersehnten Facharzttitel in der Tasche, beginnt erneut die Suche nach einer freien Stelle. Diese sind jedoch rar, da „kostenlose“ (den Lohn zahlt, wie bereits beschrieben, das Gesundheitsministerium) Residenten die Stellen in den Kliniken blockieren.
Es sind daher fast ausschlieβlich Familienärzte, Krankenschwestern und junge Mediziner, die sich zum Facharzt qualifizieren wollen, oder gerade Facharzt geworden sind, die auf Arbeitssuche ins Ausland wechseln.
Alle zahlen wenig, Kranke zahlen viel mehr
Seit 2003 gibt es in Polen nur noch eine einzige Krankenkasse, den Nationalen Gesundheitsfonds (NFZ), dem alle Einwohner angeschlossen sind. Der NFZ ist dem polnischen Gesundheitsministerium unterstellt. Das Ministerium entscheidet sowohl über die Finanzen als auch über das Leistungsangebot, so z. B. darüber, welche Medikamente erstattet werden.
Zwei Sozialversicherungsanstalten (KRUS: zuständig für Landwirte und ihre Familien sowie ZUS: für alle anderen Versicherten) ziehen die Versichertenbeiträge ein und leiten die Gelder an den NFZ weiter. Der NFZ schließt Verträge mit Leistungserbringern und gewährleistet so die Versorgung der Versicherten in allen 16 Provinzen (Woiwodschaften). Ein einheitlicher Leistungskatalog existiert nicht, lediglich eine Negativliste, die bestimmte Leistungen ausschließt.
Der Beitragssatz zur Krankenversicherung, der von Arbeitnehmern und Selbstständigen aufgebracht werden muss, liegt momentan bei neun Prozent. Einen Arbeitgeberanteil gibt es nicht. Die Beiträge für Rentner und Arbeitslose werden vom Staat aufgebracht.
Bei Landwirten richtet sich der Beitragssatz nach Ertrag und Größe des Grundbesitzes, deckt aber generell nur bis zu 5 Prozent aller Renten- und Gesundheitsausgaben für die Landbevölkerung. Die Differenz zahlt wiederum der Staat.
Vier Prozent des Bruttosozialproduktes sind vorgesehen, um das Funktionieren des polnischen Gesundheitswesens sicherzustellen. Dieser Wert ist zu niedrig angesetzt, um eine ausreichende medizinische Versorgung zu gewährleisten. Andererseits gilt die Belastung der arbeitenden Bevölkerung mit Kranken- und Sozialversicherungsbeiträgen (insgesamt 19,25%) bereits als hoch, angesichts der im Allgemeinen niedrigen polnischen Löhne. Eine Erhöhung der Krankenversicherungsbeiträge wäre politisch daher nicht durchsetzbar. Zumal eine solche Maßnahme auch eine Erhöhung der Zuschüsse des Staates (u.a. für die Bauern) nach sich ziehen würde. Daher gilt das Prinzip: alle zahlen wenig, Kranke zahlen viel mehr.
Der Nationale Gesundheitsfond (NFZ) vereinbart mit jeder einzelnen medizinischen Einrichtung einen Jahresvertrag und legt für die Zahl der Leistungen, die er finanziert Jahres-Obergrenzen fest. Das Limit ist meistens bereits nach einigen Monaten ausgeschöpft. In diesem Fall werden dann in den Ambulanzen Anmeldungen zu den Fachärzten erst für das nachfolgende Jahr angenommen. Wer kein Geld hat, muss auf einen Termin viele Monate lang warten. Wer zahlt, kommt fast umgehend an die Reihe.
Und wer auch noch ein wenig mehr zahlen kann, geht direkt zu einer der Privatpraxen, die sich vor allem in der zweiten Jahreshälfte, wenn die Budgets in den staatlichen Einrichtungen ausgeschöpft sind, eines regen Zuspruchs erfreuen.
Auch für Krankenhäuser werden Obergrenzen für deren Ausgaben festgelegt, doch sind sie andererseits gesetzlich verpflichtet, sobald es sich um lebensrettende Eingriffe handelt, niemanden abzuweisen. Am Anfang eines jeden Jahres beginnt dann das Feilschen zwischen dem NFZ und den Krankenhäusern, wer für die Eingriffe „oberhalb des Limits“ zahlen soll. Am Ende bleiben die Kliniken auf einem Teil der zusätzlich entstandenen Kosten sitzen und müssen zusehen, wie diese abgedeckt werden können.
Polnische Patienten müssen für Medikamente, Hilfsmittel, bestimmte Diagnosemethoden, Unterbringungskosten bei einer Kur und vor allem zahnärztliche Leistungen kräftig zuzahlen. Nach WHO-Schätzungen tragen sie knapp 50% aller Leistungskosten selbst. Das ab dem 1. September 2016 in Kraft tretende Vorhaben der Regierung Beata Szydło, einen Teil der Medikamente an über 75-Jährige kostenfrei abzugeben, dürfte dazu beitragen diese Tendenz ein wenig abzuschwächen.
Rosinenpicken ist Trumpf
Wie hoch einzelne Leistungen vom NFZ honoriert werden oder werden sollten ist Gegenstand ständiger Debatten, Verhandlungen, lobbyistischer Bemühungen, medialer Erörterungen und verdeckter Interventionen. Hier ist Rosinenpicken Trumpf.
Gut honoriert werden z. B. Dialyseverfahren, was zu einer schnellen Privatisierung der Dialysestationen und einem Rückgang von Nierentransplantationen geführt hat, weil letztere das Dialysegeschäft beeinträchtigen.
Vom NFZ schlecht honoriert werden hingegen Laboranalysen. Krankenhäuser haben daraufhin ihre Diagnoselabors schnell abgestoβen, zumeist an Mitarbeiter-GmbHs, die mit der Zeit im ganzen Land von zwei ausländischen Firmen (der Diagnostyka Kraków – getragen vom Investmentfond Mid Europa und der deutschen Firma Alab) übernommen wurden. Diese Beiden teilen sich den Markt und gleichen die niedrigen NFZ-Sätze mit sehr hohen Preisen für Privatpatienten aus. Unter diesen Privatpatienten befinden sich allerdings viele arme Leute, die angesichts der Leistungs-Beschränkungen des NFZ und mangels Konkurrenz notgedrungen zu Zehntausenden in Privatpraxen landen.
Sehr gut honoriert wird die gesamte Fachrichtung der Kardiologie, mit dem Ergebnis, dass schnell ein Netzwerk mit polnisch-amerikanischen Herzkliniken den Markt erobert hat, gegründet von einem US-Investmentfond. Er ist gerade auf der Suche nach einem Käufer für dieses Netzwerk. Preis: 1,6 Mrd. Zloty (ca. 380 Mio. Euro). Ebenso gut bezahlt werden Leistungen der Augenmedizin.
Kein Wunder also, dass alle Krankenhäuser Abteilungen für Herz- und Augenerkrankungen haben oder haben wollen. Kindermedizin und geriatrische Bereiche hingegen werden geschlossen bzw. verkleinert, sie leiden unter Personalmangel und schlechten Arbeitsbedingungen. Ihr Behandlungsangebot wird vom NFZ, das ja irgendwo sparen muss, schlecht honoriert.
Weshalb ist das so? Alles hängt von der Durchsetzungskraft der jeweiligen Fachärztelobby und der Privatinvestoren ab, für die, die vom Staat gutbezahlten medizinischen Leistungen Gold wert sind. Das sind die unsichtbaren Hände des Marktes, die das polnische Gesundheitswesen ganz von alleine heilen sollten. Die vorgegebene Richtung hieβ jahrelang, vor allem in der Regierungszeit der Tusk-Kopacz-Partei Bürgerplattform (2007-2015): Entstaatlichung, Kommerzialisierung, Privatisierung, um somit die Verantwortung für den undankbaren Bereich des Gesundheitswesens möglichst weit von sich zu weisen.
Bei den Präsidentschafts- und Parlamentswahlen im Mai und Oktober 2015 wurde diese Vogel-Strauβ-Politik der Bürgerplattform von den Wählern schmerzlich bestraft. Die Regierung Beata Szydło plant, gemäβ dem Wahlprogramm der jetzigen Regierungspartei Recht und Gerechtigkeit, die Abschaffung des NFZ, eine teilweise Abkehr vom freien Markt im Gesundheitswesen, hin zu mehr staatlicher Aufsicht und Steuerung zu Gunsten der Patienten. Man darf gespannt sein.
Ungewissheit zermürbt
Im Teich des polnischen Gesundheitswesens tummeln sich Piranhas, Hechte und Millionen kleiner Futterfische, zu denen, neben den Patienten, auch die Familienärzte, angehende Fachärzte und solche mit frisch erworbenem Titel zählen. Der Eindruck, letztere hätten bereits oder beabsichtigten das Land kollektiv zu verlassen, täuscht jedoch.
Alle nicht, aber viele. Wie viele? Genaue Statistiken gibt es nicht. Die einzige gesicherte Quelle ist die Zahl der vom Gesundheitsministerium in Warschau ausgestellten Unbedenklichkeitsbescheinigungen, ohne die die Arbeitssuche für einen polnischen Medizinabsolventen ohne Approbation im EU-Ausland nicht möglich ist. Zwischen 2005 und 2015 waren es 11.439, wovon 820 allein auf das Jahr 2014 entfielen.
Praktizierende Ärzte erhalten, bei einer geplanten Auswanderung, Bescheinigungen über Qualifikation und beruflichen Werdegang von ihrer zuständigen Ärztekammer. Wie viele Nachweise insgesamt seit Polens EU-Beitritt ausgestellt wurden, wurde bis heute nicht erfasst. In Kreisen der Ärztekammern heiβt es, etwa 30.000 polnische Ärzte arbeiteten bereits im Ausland.
Geld spielt bei der Auswanderungsentscheidung eine wichtige Rolle, aber andere Beweggründe fallen mindestens genauso sehr ins Gewicht. Familienärzte klagen über die hohe Arbeitsbelastung, die ihnen über den Kopf wächst. Junge Ärzte wollen sich nicht mit dem autoritären Verwaltungsstil in vielen polnischen Kliniken abfinden. Sie klagen, die Allmacht der Chefärzte erinnere an deutsche Krankenhäuser in der Bismarckzeit. Die Facharztausbildung dauert ihnen zu lange und die Ungewissheit darüber, ob sie anschlieβend auch eine Stelle bekommen werden zermürbt viele.