24.04.2022. Jetzt ist klar, warum Putin Memorial verbieten liess

Völkermord ist auch ein Problem der russischen Gegenwart.

Ende Dezember 2021 ordneten russische Behörden das Verbot von Memorial, der Gesellschaft für historische Aufklärung, an. Doch warum sollte sich das Regime an einer Organisation stören, die Verbrechen aus der fernen kommunistischen Zeit dokumentiert? Warum kann das Sammeln von Beweisen für den stalinistischen Völkermord als „staatsfeindliche“, „extremistische“ oder gar „terroristische Betätigung“ betrachtet werden?

Putin hat wiederholt erklärt, dass es so etwas wie eine eigene ukrainische Nation nicht gibt. Alles, was dagegen spricht, sollte beseitigt werden. Das ist mit der „Entnazifizierung“ der Ukraine gemeint, die, wie der Politologe des Regimes, Timofej Sergejew, wörtlich sagte, einer „Ent-Europäisierung“ und „Ent-Ukrainisierung“ gleichkommt.

Damit die Ukraine aufhört, Ukraine zu sein, und das ukrainische Volk Teil des russischen Volkes wird, ist es notwendig, deren Führung und die intellektuellen Eliten auszulöschen, d.h. diejenigen, die die Bildung des kollektiven Bewusstseins und der nationalen Identität bestimmen. Deshalb bestand der ursprüngliche Plan des Kremls darin, die politische und intellektuelle Elite des ukrainischen Staates zu liquidieren, also, nach internationalem Recht, Völkermord zu begehen.

Da nach dem russischen Angriff der Widerstand viel größer ist als erwartet, wurde beschlossen, die „Entnazifizierung“ viel breiter anzulegen. Deswegen werden in den besetzten Gebieten lokale Regierungsbeamte, Kommunalpolitiker, Nichtregierungsaktivisten, Lehrer, Trainer, Sportler usw. entführt und nicht selten ermordet. Ihre Verbundenheit mit dem ukrainischen Staat ist ihnen zum Verhängnis geworden. Nicht zufällig sprach Putin im Zusammenhang mit dem Krieg in der Ukraine von einer „Endlösung“, die mit allen verfügbaren Mitteln erreicht werden müsse.

Einige der Opfer wurden mit auf dem Rücken gefesselten Händen in Massengräbern gefunden. Nicht wenige von ihnen starben durch Genickschüsse. Nicht anders als bei den stalinistischen Massenverbrechen, die von Memorial untersucht wurden.

Als das Oberste Gericht Russlands am 28. Dezember 2021 die Auflösung der Vereinigung anordnete, hieß es, Memorial „zeichnet ein falsches Bild von der UdSSR als terroristischem Staat, spekuliert über das Thema Repressionen, verzerrt die Geschichte des Großen Vaterländischen Krieges und rehabilitiert Naziverbrecher“.

Jetzt werden diese Argumente vom Kreml gegen alle verwendet, die versuchen, die Wahrheit über die Massaker in der Ukraine auszusprechen. Um es heute mit den Worten des Gerichts zu sagen: Wer behauptet, dass die Morde in Butscha, Borodjanka, Irpin oder Makariw von der russischen Armee begangen wurden, „spekuliert über das Thema Repressionen und erzeugt ein falsches Bild von Russland als terroristischem Staat, verzerrt die Geschichte der »Militärischen Spezialoperation in der Ukraine« und rehabilitiert Neonazi-Verbrecher“.

Moskau verhält sich heute im Fall Butscha genauso, wie einst nach der Ermordung von etwa 25.000 polnischen Kriegsgefangenen im April und Mai 1940 in Katyn und an anderen Orten. Die Sowjets bestritten hartnäckig, irgendetwas mit diesem Verbrechen zu tun gehabt zu haben, sie schoben die Schuld auf die Deutschen. Jetzt sollen die Ukrainer die Schuldigen sein.

Erst gut fünfzig Jahre nach den Morden von Katyn hat die Sowjetunion, durch Gorbatschow, diese Taten nur widerwillig gestanden. Der Verein Memorial war anschließend an der Aufdeckung der Einzelheiten der sowjetischen Geschichtsfälschungen beteiligt. Spätestens seit Butscha sind für Moskau, selbst Untersuchungen des einst von Stalin begangenen Völkermordes sehr heikel geworden. Sie könnten unerwünschte Assoziationen hervorrufen oder gar jemanden in Russland dazu ermutigen, Putins Verbrechen zu erforschen. Und das darf nicht sein.

RdP




Der gute Mensch vom KGB

Am 18. April 2017 starb Oleg Sakirow.

Der Gefallen, den die polnische Korrespondentin Krystyna Kurczab-Redlich dem polnischen Generalkonsul in Moskau, Michał Żórawski erwies, sollte weitreichende Folgen haben. Anfang 1990 war eine Nachricht bis zur polnischen Botschaft in Moskau durchgedrungen: ein KGB-Offizier forsche in Smolensk auf eigene Faust nach Spuren und Tätern, die zwischen April und Mai 1940 im nahegelegenen Ort Katyn, einige Tausend gefangene polnische Offiziere umgebracht hätten.

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Polnischer Konsul Michał Żórawski (1939-2012)

Der Konsul bat daraufhin die KGB-Dienststelle in Smolensk um einen Gesprächstermin mit dem Offizier, doch das Ersuchen wurde abgelehnt. Was ein Diplomat nach einer solchen Ablehnung nicht tun sollte, es sei denn, er möchte wegen inoffizieller Kontaktaufnahme mit Sicherheitsbeamten des Gastlandes oder möglicherweise auch wegen Spionage ausgewiesen werden, ist für eine recherchierende Journalistin allemal von Interesse. Und so stand die polnische Korrespondentin gegen Mitternacht, irgendwann im Mai 1990 vor der Wohnungstür in der Stroitelnaja Straße 15. Die Tür öffnete Oleg Sakirow, damals noch KGB-Major.

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Korrespondentin Krystyna Kurczab-Redlich .

Gesucht, gefunden, gefeuert

Zurück in Moskau, konnte Kurczab-Redlich dem Konsul Erstaunliches berichten. Der aufsässige KGB-Major hatte im Smolensker KGB-Archiv, in das er eigentlich abgeschoben worden war, Dokumente aus dem Jahr 1940 gefunden mit den Namen von NKWD-Beamten (Vorläufer des KGB), die an den Erschießungen der Polen in Katyn beteiligt waren. Einige von ihnen lebten noch.

Da war z.B. der Fahrer Iwan Titkow. Er brachte die Leichen, der im Keller des Smolensker NKWD Nacht für Nacht gemordeten Polen wochenlang in den Wald von Katyn. Titkow wurde von Angehörigen ermuntert, sein Gewissen zu erleichtern und all sein Wissen preiszugeben. Er zeigte Sakirow die genaue Lage der Massengräber.

Oder der einstige Gefängniswärter Pjotr Klimow. Er schilderte den Ablauf der Hinrichtungen. Der frühere NKWD-Wachsoldat Kiril Bordenkow wiederum, der allein und verwahrlost in einer völlig heruntergekommenen Hütte lebte, hatte den Dokumenten zufolge zu dem Erschießungskommando gehört, was er indes bei der Befragung bestritt. Nichtsdestotrotz erzählte er ausführlich davon und fertigte auch noch einen schriftlichen Bericht dazu an.

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Erste polnische Katyn-Briefmarke von 1990.

Der Ostblock zerfiel. Polen hatte seit September 1989 den ersten nichtkommunistischen Regierungschef. Zugleich war es die Zeit, als nach fünf Jahren Glasnost und Perestroika, Gorbatschow ebenso wie dem Partei- und Staatssicherheitsapparat, in der wirtschaftlich schwer angeschlagenen Sowjetunion, die Kontrolle über das Land entglitt. Nur unter solchen Umständen war es überhaupt möglich gewesen, dass der KGB-Beamte Sakirow damals, aufgrund der von oben befohlenen Aufklärung der Verbrechen Stalins, „nebenbei“ seine Nachforschungen anstellen konnte.

Hinter dem Rücken der Vorgesetzten schickte Sakirow 1989 seine Erkenntnisse an die Redaktion des damals führenden Perestroika-Blattes „Moskowskije Nowosti“. Zwei Reporter reisten an. Sakirow führte sie zu den Ziegenbergen, wie der Ort im Wald von Katyn, wo sich die sorgsam getarnten und „gesicherten“ polnischen Massengräber befanden, von den Einheimischen genannt wurde.

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Katyń -Briefmarke der Polnischen Post von 1995.

Das Gelände, auf dem sich heute die Gedenkstätte befindet, war damals noch von einem hohen Bretterzaun umgeben. Ringsherum patrouillierten Streifen mit Schäferhunden. Hinter dem Zaun standen die Sommerresidenzen der Smolensker KGB-Spitzen. Sie durften in ihren Gärten nicht mehr als dreißig Zentimeter tief graben. „Ich bebte innerlich bei dem Gedanken, dass die Sommerhäuser der KGB-Chefs auf den Knochen ermordeter Menschen errichtet wurden. Diese Barbarei war nicht zu ertragen“, so Sakirow.

Auch ein Fernsehteam aus Moskau erschien vor Ort. Doch so viel Macht besaß der Politapparat noch: Der Zeitungsartikel durfte nicht erscheinen. Die TV-Reportage kam nicht zustande, weil Sakirows Kollegen vom Smolensker KGB die Videokassetten beschlagnahmten.

Mit letzter Kraft setzte Gorbatschow noch alles daran, um das sowjetische Massaker von 1940 an insgesamt gut 25.000 polnischen Offizieren und Beamten nicht eingestehen zu müssen. Die Menschenrechtsorganisation „Memorial“ jedoch und die Historikerin Prof. Natalja Lebedewa, die wichtiges Archivmaterial aufspürten, konnte er nicht mehr stoppen.

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Prof. Nataija Lebedewa

Am 25. März 1990 erschien in den „Moskowskije Nowosti“ ein Interview mit Natalja Lebedewa unter dem Titel „Die Tragödie von Katyn“. Es war die erste Veröffentlichung in der Sowjetunion, welche die knapp fünfzig Jahre lang von den Sowjets beharrlich verbreitete Lüge, Katyn sei ein deutsches Verbrechen gewesen, widerlegte.

Der Chefredakteur berichtete später, Gorbatschow habe ihn angerufen und angeschrien: „Die Polen konnten bislang die wahren Schuldigen nicht finden, und jetzt serviert eine kleine Artikelschreiberin sie ihnen auf dem Tablett.“ Am 13. April 1990 veröffentlichte die Presseagentur TASS das offizielle sowjetische Schuldeingeständnis.

Sakirow geriet derweil mächtig unter Druck. Er erhielt Drohanrufe, wurde wegen Eigenmächtigkeiten mehrere Male verwarnt. Die Kollegen schnitten ihn. Schließlich entließ man Sakirow Mitte 1991, ein Jahr vor dem Ruhestand, aus dem KGB mit einer Diagnose im Kündigungsschreiben, die die sowjetische Psychiatrie oft genug Dissidenten gestellt hat: „schleppende, symptomlose Schizophrenie“. Nach dem Motto: es gibt zwar keine Symptome der Krankheit, aber das besagt nichts, denn wer sich gegen das System auflehnt, der muss einfach schizophren sein.

Warum war ein solcher, offensichtlich durch und durch anständiger Mensch ausgerechnet zum KGB gegangen?

Oleg Sakirow wurde 1952 in der Stadt Andischan, ganz im Osten von Usbekistan, im fruchtbaren Ferghantal, unweit der Grenze zu Kirgistan geboren. Er war ein halber Usbeke. Sakirows Vater, Sakir Chalhodschajew (1926 – 1981) heiratete die Russin Lidia Wiergulewa (1924 – 2005). Sehr spät, erst mit dreißig, erfuhr Sakirow, dass die Sowjets seinen Großvater väterlicherseits, den im ganzen Ferghantal damals hoch geschätzten, weisen Kaufmann Chalhodscha Madaminhodschajew bereits 1931 als einen „Volksfeind“ erschossen hatten. 1991 wurde er rehabilitiert.

Der blauäugige Weltverbesserer

Oleg war ein typisches „Produkt“ des Sowjetsystems. Wie Millionen andere durchlief er von klein auf ein lückenloses Erziehungs-, Bildungs- und Propagandagefüge, in dem nicht die geringsten Zweifel an der Herrlichkeit und Unübertroffenheit des Sowjetkommunismus aufkommen konnten.

Besonders hervorgehoben in Kunst und Propaganda, wurde die heroische Legende von den tadel- und selbstlosen Beamten der Staatssicherheitsorgane, die seit der Oktoberrevolution an der Heimatfront unermüdlich den „bürgerlichen Unrat“ ausmerzten: imperialistische Spione und Saboteure, samt ihren sowjetischen Helfern, den vom Aussterben geweihten „Überbleibseln“ des Kapitalismus: Banditen, Dieben, Spekulanten, korrupten Beamten.

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Dserschinski-Kult auf dem Roten Platz in Moskau. Ende der 20er Jahre.

Die Ikone, um die sich diese Legende rankte, war der zum Säulenheiligen des Kommunismus stilisierte, polnischstämmige Begründer der sowjetischen politischen Polizei Felix Dserschinski (1877 – 1926). In Wirklichkeit ein gnadenloser, zehntausenfacher Massenmörder und Erfinder des sowjetischen Lagersystems, nach dem geschätzt gut sechstausend Städte, Dörfer, Straßen, Plätze, Industriebetriebe, LPGs, Schulen, Armeeeinheiten und Handelsschiffe in der Sowjetunion und später im ganzen Ostblock benannt wurden.

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Katyń-Briefmarke der Polnischen Post von 1999.

Von einem solchen Weltbild geleitet, meldete sich Sakirow 1975, gleich nach seinem Jurastudium in Taschkent, zum KGB, und wurde genommen. „Sowjet-Usbekistan war in meiner Jugend ein Königreich grenzenloser Korruption. Etwa die Hälfte der Baumwolle, für die Moskau Jahr für Jahr das Geld überwies, hat man nie gepflanzt und geerntet. Statistiken wurden in großem Stil gefälscht, riesige Prämien für die „Planübererfüllung“ kassiert. Der gesamte usbekische Partei- und Staatsapparat war daran beteiligt. Polizei, Staatsanwaltschaft und Gerichte standen Schmiere. Wer sich dagegen sträubte, verschwand für Jahre in Kerkern und Lagern oder wurde gleich kaltgemacht. Nur das KGB war unbestechlich, konnte aber nicht viel ausrichten. Das wollte ich ändern helfen.“, schilderte Sakirow seine Blauäugigkeit Jahrzehnte später.

Da er sich von seinem Vorsatz nicht abbringen ließ, schaffte er es auch nie für längere Zeit in einer KGB-Dienststelle sesshaft zu werden. Aus Urgentsch im Süden Usbekistans, dem Herzen einer Baumwollregion, schob man ihn schnell nach Frunse (heute Bischkek), die Hauptstadt Sowjet-Kirgisiens, heute Kirgistans ab. „In Kirgisien war ich Mitglied der Ermittlungskommission, die den Mord am Regierungschef der Unionsrepublik aufklären sollte. Bei der Gelegenheit gelang es uns einen Wust an korrupten Machenschaften aufzudecken.“

Lob von Andropow, Heroin in Särgen

Lob kam aus Moskau, von Juri Andropow persönlich (1914 – 1984, Nachfolger Breschnews, Parteichef von November 1982 bis zu seinem Tod im Februar 1984, vorher fünfzehn Jahre lang KGB-Chef). „Andropow hat die Korruption wirklich bekämpft! Aber was das KGB anging, hatte ich damals schon jegliche Illusionen aufgegeben“, erinnerte sich Sakirow spàter.

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Katyń-Briefmarken der Polnischen Post von 2000.

Zakirow znaczek Katyń 2000

Von Frunse ging es weiter zum KGB in Alma-Ata, der Hauptstadt Sowjet-Kasachstans und 1983, im achten KGB-Dienstjahr, in die russische Provinz, nach Smolensk, in eine Stadt, wie man sie sich auch heute trostloser nicht vorstellen kann. Der Ruf eines Strebers, Weltverbesserers und Tugendwächters eilte ihm voraus. „Zu uns kam aus Taschkent der ewig unzufriedene Usbeke Sakirow“, schrieb 2005 der damalige Smolensker KGB-Chef, General Anatoli Schiwerskich in seinen Erinnerungen.

Folglich ging es bereits 1984 weiter, dieses Mal nach Afghanistan, in das die Sowjets im Dezember 1979 einmarschiert waren. Die riesige KGB-Dienststelle in Kabul hatte alle Hände voll zu tun, aber ihre Ermittlungsergebnisse gelangten meistens unter Verschluss. An den riesigen Heroinmengen, die überall versteckt, sogar in Särgen mit toten Soldaten, aus Afghanistan in die Sowjetunion flossen und an den auf dem afghanischen Schwarzmarkt unter der Hand verkauften Tausenden von Tonnen Treibstoff, Konserven, Medikamenten, ja sogar Waffen aus Armeebeständen, verdienten nicht selten die höchsten sowjetischen Kommandeure mit. Auch hier war der starrsinnige Sakirow ein zu großes Risiko.

Knapp eineinhalb Jahre später, im Frühjahr 1986, fand er sich also in Smolensk wieder. „In Smolensk traf ich eines Tages den pensionierten NKWD- und KGB-Beamten Tabatschkow. Leicht angetrunken plauderte er aus, dass in den Ziegenbergen polnische Offiziere vergraben sind, die „unsere“ im Frühjahr 1940 erschossen haben. Bei dem Gespräch war mein Abteilungsleiter, Oberstleutnant Klatschin zugegen. Er protestierte: »Die Deutschen haben die polnischen Offiziere erschossen!« Doch Tabatschkow blieb stur: »Was für Deutsche!? Das ist unser Verbrechen,« Das war der Auslöser“, berichtete Sakirow Jahre später.

Nur ein kleines Stück vom Horror

In die Archivkeller der Smolensker KGB-Dienststelle verbannt, wo 1940 Nacht für Nacht bis zu einhundert polnische Offiziere mit einem Genickschuss niedergestreckt wurden, suchte er sich mühsam die oft äußerst unvollständigen Akten zusammen. Ein Bild des Grauens eröffnete sich Sakirow, von dem er nicht wissen konnte, dass die ganze Wahrheit noch viel grausamer war.

Bei ihrem Überfall auf Polen am 17. September 1939 (kurz zuvor, am 1. September 1939 hatte der deutsche Angriff auf Polen und damit der Zweite Weltkrieg begonnen) nahmen die Sowjets etwa 25.000 polnische Offiziere und Unteroffiziere der Armee, der Polizei, des Grenzschutzes, des Zolls und des Strafvollzugs gefangen. Sie wurden in drei, einige hundert Kilometer voneinander entfernten, Kriegsgefangenenlagern untergebracht: Koselsk, Ostaschkow, Starobelsk.

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Der Ablauf des Mordens. Letzte Feststellung der Personalien.

Am 5. März 1940 unterzeichneten die sowjetischen Politbüromitglieder: Josef Stalin, Kliment Woroschilow, Wjatscheslaw Molotow, Lasar Kaganowitsch und Michail Kalinin, per Umlauf, den Beschluss des Politbüros über die Hinrichtung der „eingeschworenen Feinde der Sowjetmacht, erfüllt vom Hass auf das Sowjetsystem“, und zwar „ohne Vorladung der Inhaftierten und Darlegung der Beschuldigungen, ohne Beschluss über das Ergebnis der Voruntersuchungen und ohne Anklageerhebung“.

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Das ahnungslose Opfer wird in den NKWD-Keller gebracht. Der Mörder wartet schon.

Kurz darauf begann die „Leerung“ der drei Lager. Im April und Mai 1940 wurden jeden Tag, aus jedem Lager, Gruppen von bis zu einhundert Polen in Eisenbahnwaggons für Gefangene abtransportiert, ohne zu wissen wohin und weswegen man sie wegbrachte.

Die Transporte aus dem Lager Starobelsk gingen ins ca. 450 Kilometer entfernte Charkow. Dort brachte man die Gefangenen für kurze Zeit im NKWD-Gefängnis unter. In derselben Nacht wurden sie, gefesselt, einzeln in den Keller gebracht, wo hinter einer Tür der NKWD-Mörder dem Ahnungslosen in den Kopf schoss. Die Leiche hat man schnell in einen Nebenraum gezogen, das Blut mit einem Eimer Wasser weggespült, der Nächste… Die Toten wurden am nächsten Morgen in geschlossenen LKWs zu den Massengräbern im nahegelegenen Wald von Piatichatki gebracht. Insgesamt 3.896 Ermordete.

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Am nächsten Morgen wird das „Nachtpensum“ an Leichen zu den Massengräbern gebracht.

Transporte aus dem Lager Ostaschkow fuhren ca. 200 Kilometer weit nach Kalinin (jetzt Twer). Gemordet wurde im NKWD-Keller, die Prozedur war dieselbe. Die Leichen hat man in der Nähe des Dorfes Mednoje verscharrt. Insgesamt 6.311 Ermordete.

Die Transporte aus dem ca. 350 Kilometer entfernten Lager Koselsk gelangten nach Smolensk. Ein Teil der Opfer wurde im Smolensker NKWD-Keller ermordet, ein Teil von der Eisenbahnhaltestelle Gnjosdowo mit einem Gefangenenbus bis an die Todesgruben, einige Kilometer weit gefahren und dort erschossen. Insgesamt 4.421 Ermordete.

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In Katyn fand ein Teil der NKWD-Morde direkt an den Massengruben statt.

Im Waldgelände Kuropaty, unweit von Minsk, wurden etwa 4.500 weitere polnische Offiziere und Beamte verscharrt, herbeigeschafft aus diversen Gefängnissen und Lagern der Weißrussischen Sowjetrepublik und im Minsker NKWD-Keller ermordet.

Im Wald von Bykownja fanden etwa 3.400 Polen ihre letzte Ruhestätte, herbeitransportiert aus Lagern und Gefängnissen in der Ukrainischen Sowjetrepublik und im NKWD-Sitz von Kiew erschossen.

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Unter dem Sammelbegriff „Katyn“ verbirgt sich also eine landesweite Mordaktion der Sowjets, durchgeführt gleichzeitig, an fünf verschiedenen Orten.

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Deutsche an den geöffneten Massengräbern in Katyn 1943.

Am 27. Juli 1941 eroberte die deutsche Heeresgruppe Mitte Smolensk. Am 13. April 1943 meldete das Deutsche Nachrichtenbüro im Rundfunk: „Ein grauenvoller Fund“ im Wald von Katyn „gibt einen ebenso erschütternden wie einwandfreien Aufschluss über den Massenmord an mehr als 10.000 Offizieren aller Grade, darunter zahlreiche Generäle der ehemaligen polnischen Armee durch Untermenschen der GPU (Vorgänger des NKWD) in den Monaten März bis Mai 1940.“ Die Zahl 10.000 wurde später korrigiert.

Den Vertuschern das Handwerk gelegt

Seit dieser Zeit unternahmen die Sowjetbehörden fast ein halbes Jahrhundert lang alles was in ihrer Macht stand, um das Verbrechen totzuschweigen, und wenn das nicht ging, es den Deutschen zuzuschreiben, zum Teil mit Erfolg. Auch im kommunistischen Polen war das Thema ein absolutes Tabu.

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Katyń-Block der Polnischen Post von 2010.

Während die Namen der Ermordeten von Katyn bekannt waren, weil bei den deutschen Ausgrabungen die meisten Toten, anhand von Ausweispapieren, Notizbüchern, Erkennungsmarken usw. identifiziert werden konnten, lebten die Familien der restlichen ca. 21.000 Ermordeten weitere Jahrzehnte lang im Ungewissen. Die Massenmorde an den vier weiteren Orten wurden erst Anfang der 90er Jahre bekannt. Gerüchte machten bis dahin die Runde, wie z. B., die Sowjets hätten die gut sechstausend Insassen des Lagers Ostaschkow auf alte Kähne verladen und im Eismeer ertränkt.

Sakirow war einer von vielen, die den Vertuschern das Handwerk gelegt haben. Dass er die letzten noch lebenden Täter ausfindig gemacht hat, war damals eine riesige Sensation.

Der Preis den er für seinen Mut bezahlen musste war hoch. Nach dem Rauswurf aus dem KGB folgten sehr magere Jahre. Er hielt sich und die Familie mit Gelegenheitsarbeiten über Wasser, überlebte zwei mysteriöse Unfälle, die er als Attentatsversuche auslegte, bekam immer wieder Drohanrufe.

Der polnische Undank…

Polnische Diplomaten in Moskau verhalfen seiner Tochter Larissa zu einem Stipendium und einem Studienplatz im polnischen Łódź. Sakirow konnte sie einige Male besuchen. Schlieβlich verkauften die Sakirows  ihre Wohnung in Smolensk, verbreiteten, sie wollten nach Moskau ziehen. In Wahrheit flohen sie 1998 nach Polen, nach Łódź.

Ihre Ankunft jedoch schien niemanden zu interessieren. In Warschau musste Sakirow einen Antrag auf Anerkennung als Flüchtling stellen. Der Beamte ließ ihn gar nicht erst zu Wort kommen. Briefe an Außenminister Władysław Bartoszewski (1922 – 2015), an Staatspräsident Aleksander Kwaśniewski, an die Kanzlei des Ministerpräsidenten Jerzy Buzek und viele Behörden blieben zumeist unbeantwortet.

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Katyń-Briefmarke der Polnischen Post von 2015.

Das mitgebrachte Geld floss nach und nach vor allem in die Wohnungsmiete in Łódź. Sakirow arbeitete auf dem Bau, die Tochter als Lagerhilfe in einer Supermarktkette, Ehefrau Galina war schwer krank. Die Tochter verlor irgendwann ihren Job, weil sie die schweren Lasten nicht mehr heben konnte. Sakirow erkrankte Ende 2000 durch das Zementmischen an einer Staublunge und landete als Bettler auf der Straße.

In einem seiner zahlreichen Ersuchen schrieb er zusammenfassend: „Als ich meine eigene Katyn-Untersuchung begann, da waren mir die Folgen nicht ganz klar. Ich wollte den Polen helfen, nicht um des Ruhmes oder des Geldes Willen. Ich wollte ihre Abneigung gegenüber Russland und den Russen verkleinern. Ich dachte nicht, dass ich meine Arbeit und meine Freunde verlieren, dass ich zum Verräter für die eigenen Leute und ein lästiger Eindringling unter Fremden sein werde.“

Sein ehemaliger Smolensker Chef Anatoli Schiwerskich schrieb derweil in seinen Erinnerungen „Zerfall des großen Imperiums. Aufzeichnungen eines KGB-Generals“: „Der Usbeke Sakirow hat das Archiv der Opfer von Repressalien durchgesehen. Material zu Katyn hat er dort nicht gefunden, aber er half sensationssüchtigen Journalisten falsche Zeugen jener Ereignisse zu finden. Sie haben dazu beigetragen das falsche Bild dieses faschistischen Verbrechens zu verfestigen. Die Polen haben ihn dafür mit Belohnungen überhäuft. Sakirow lebt in Polen in Saus und Braus.“

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Sakirow mit seinen Erinnerungen „Fremdes Element“.

Fast zehn Jahre waren zu jener Zeit seit seinen guten Taten in Smolensk vergangen, zudem war Sakirow damals nur wenigen polnischen Insidern bekannt. Diejenigen, die seinerzeit den Stein mit ins Rollen gebracht hatten, waren nicht da um ihn zu unterstützen: Konsul Michał Żórawski (fonetisch: Schurawski) hatte inzwischen einen anderen diplomatischen Posten weit weg von Polen angetreten. Die Journalistin Krystyna Kurczab-Redlich durchquerte als Reisekorrespondentin die Weiten Russlands.

…wird gutgemacht

Doch der Skandal sprach sich herum, und ab 2002 ging es den Sakirows etwas besser. Die Tochter bekam eine Stelle in ihrem Fach als klinische Psychologin. Staatspräsident Kwaśniewski verlieh der Familie die polnische Staatsbürgerschaft. Sakirow bekam eine Sozialrente von 1.500 Zloty (damals etwa 450 Euro). Im April 2003 verlieh ihm, in Anerkennung seiner Verdienste, Staatspräsident Kwaśniewski das Ritterskreuz des Ordens der Wiedergeburt Polens (5. Klasse). Im Oktober 2010 zog Staatspräsident Bronisław Komorowski mit dem Offizierskreuz desselben Ordens (4. Klasse) nach.

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Sakirow-Beerdigung in Łódź…

Als wollte Polen die Scham der unfreundlichen Aufnahme von sich wischen, hagelte es nun Auszeichnungen und Ehrentitel für Oleg Sakirow. Im Jahr 2010 erschienen seine Erinnerungen „Obcy element“ („Fremdes Element“). Das Buch verkaufte sich gut, bekam auch das Prädikat „Bestes historisches Buch“ des Jahres 2010. In den Jahren 2007 und 2009 drehten und zeigten der private TV-Kanal Discovery und das Polnische Fernsehen Dokumentarfilme über ihn.

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…mit mlitärischen Ehren.

Doch das alles waren kurze Glanzlichter. Sakirow fühlte sich abgeschoben, auf ein Thema reduziert, nicht wirklich gebraucht. Trotz aller Anerkennung war er zunehmend verbittert und resigniert. Einladungen zu Vorträgen und Diskussionen schlug er meistens aus, wurde immer unzugänglicher, driftete ins Mystische ab, vereinsamte, weil zuerst die Tochter und dann die Ehefrau ins Ausland zogen. Er tat das Richtige aber den richtigen Platz in seinem Leben scheint er nie gefunden zu haben.

Oleg Sakirow starb an Ostern 2017 im Alter von 65 Jahren und wurde mit militärischen Ehren im orthodoxen Teil des evangelischen Friedhofs in Łódź bestattet.

© RdP