Polens Justizreform. Der tiefe Fall der Richter

Veränderungen tun Not.

Warum gehen die Polen gegen die Justizreform nicht zu Hundertausenden auf die Straβe? Weil sie den Zustand ihrer Justiz tagtäglich schmerzhaft erfahren. Justizminister Zbigniew Ziobro hat in seiner Rede vor dem Sejm am 18. Juli 2017 den meisten von ihnen aus der Seele gesprochen.

Wir dokumentieren diesen Auftritt hier in Bild und Ton in der polnischen Originalfassung und nachfolgend in einer deutschen Übersetzung. Titel und Zwischentitel von der RdP-Redaktion.

Justizminister Zbigniew Ziobro.

Herr Sejmpräsident, Hohes Haus, verehrte Herrschaften,

(…) ich möchte die Gelegenheit ergreifen und Stellung nehmen zu einigen Sachverhalten, die während dieser Debatte zur Sprache gekommen sind. Vor allem zu den heutigen Äuβerungen der Ersten Vorsitzenden des Obersten Gerichts, Frau Prof. Małgorzata Gersdorf.

Prof. Małgorzata Gersdorf

Frau Prof. Gersdorf hat hier gleich zu Beginn die These aufgestellt, dass eigentlich (…) die Situation im polnischen Justizwesen idyllisch war, alles lief bestens, dann aber kam die böse Regierung von Recht und Gerechtigkeit und plötzlich ist das Ansehen der Gerichte in der Öffentlichkeit geradezu abgestürzt.

Frau Prof. Gersdorf, ich möchte (…) unterstreichen, dass dieselben Medien, die die verschiedensten Pathologien im Justizwesen beschreiben, auch die Vertreter der Regierung kritisieren, ebenso mein Wirken als Justizminister. Es würde mir jedoch niemals in den Sinn kommen deswegen über die Medien herzufallen. (…)

Richter klauen…

Verehre Herrschaften,

nicht Abgeordnete haben Bohrmaschinen, USB-Sticks, Wurstwaren, Hosen gestohlen, Preise für Reiseführer ausgetauscht, wie neulich in Szczecin, oder fünfzig Zloty auf einer Tankstelle mitgehen lassen usw.

Karyatiden am Sitz des Obersten Gerichts in Warschau.

(Es wird immer wieder gemeldet, dass Richter Diebstähle begehen und auf frischer Tat ertappt werden.

Richter Paweł. M. stahl im Juni 2016 in Szczecin/Stettin Teile einer Bohrmaschine im Wert von knapp einhundert Zloty.
Im Juni 2017 wurde die Richterin Wiesława B.-M. in Szczecin ertappt als sie die Preisschilder auf touristischen Reiseführern vertauschte.

Richter Robert W. und seine Frau stahlen in Wrocław/Breslau und Wałbrzych/Waldenburg im Juni 2016 USB-Sticks und andere elektronische Kleinteile im Wert von tausendsiebenhundert Zloty.

Im September 2016 versuchte die Richterin Katarzyna K.-H. in Łódź eine Hose im Wert von einhundertdreißig Zloty zu entwenden.

Im November 2010 stahl der Richter Zbigniew J. Wurst im Wert von fünf Zloty in Tarnobrzeg.

Richter Mirosław T. aus Żyrardów eignete sich im März 2017 auf einer Tankstelle einen Fünfzig-Zloty-Schein an, den eine Kundin auf dem Tresen als Bezahlung für getanktes Benzin gelegt hatte. Der Vorgang wurde durch eine Überwachungskamera dokumentiert – Anm. RdP).

…der Schein der heilen Welt lebt weiter

Ziobro: Die Frau Erste Vorsitzende des Obersten Gerichts ist leider nicht imstande daraus den Schluss zu ziehen, dass es ein Problem gibt, eine Krise in Bezug auf moralische Standards und Prinzipien bei einem Teil der Richterschaft. Frau Prof. Gersdorf neigt dazu das Problem bei den Medien zu sehen und eventuell bei den Politikern, die versuchen aus diesen Affären ihre Schlüsse zu ziehen.

Das idyllische Bild existiert nur im Wunschdenken der Ersten Vorsitzenden des Obersten Gerichts. So etwas gibt es nicht in der realen Welt der Menschen, die fast jeden Tag mit den Pathologien im Justizwesen konfrontiert werden. Ganz zu schweigen von ihren persönlichen Erfahrungen, der Geringschätzung und der Arroganz, die sie tagtäglich in den Gerichten erleben. (…).

Ich darf Ihnen, Frau Prof. Gersdorf auch sagen, dass ich neulich mit einem amerikanischen Journalisten gesprochen habe. Er fragte mich nach der Reform des Justizwesens.

Ich habe mir erlaubt, kurz mit ihm die Rollen zu tauschen. Ich habe ihn gefragt, angenommen in den USA gäbe es eine Affäre mit etwa zweihunderttausend Geschädigten. Das entspräche (proportional zur Bevölkerungszahl – Anm. RdP), der Anzahl der Geschädigten bei uns, die es aufgrund des Amber-Gold-Skandals gab. Angenommen der Sohn des Präsidenten wäre in sie verwickelt (in Polen ist es der Sohn des damaligen Regierungschefs Donald Tusk – Anm. RdP). Angenommen ein Richter, der sich mit diesem Skandal beschäftigt, wäre dem Assistenten des Bürochefs des amerikanischen Präsidenten zu Diensten. (Der Fall des Richters aus Gdańsk Ryszard Milewski, siehe den Beitrag hier – Anm. RdP).

(…) Die Antworten auf diese Fragen sind offensichtlich. Und wissen Sie, wer darüber entschieden hat, dass der Richter Ryszard Milewski weiterhin Recht sprechen, seinen Beruf ausüben darf? (…) Das Oberste Gericht.

Das allein müsste ein ausreichendes Argument für die Notwendigkeit grundlegender Veränderungen in den Disziplinarverfahren sein. Ein Argument dafür, dass dieses Oberste Gericht völlig versagt hat.

Solche Richter wollen wir nicht

Das ist nicht das einzige Beispiel. Man kann an dieser Stelle auch einen etwas weniger bekannten Fall anbringen, obwohl er einen der Richter des Obersten Gerichts direkt betrifft, den Vorsitzenden einer der Zivilspruchkammern dieses Gerichts.

Während einer Antikorruptionsfahndung wurde ein Richter an einem Verwaltungsgericht abgehört. Er bot einem Unternehmer an, gegen Zahlung eines Bestechungsgeldes, ihm zu helfen die Aufhebung eines Gerichtsurteils vor dem Obersten Gericht zu erwirken. Der Kollege des Verwaltungsrichters, jener besagte Zivilrichter am Obersten Gericht, versprach zu helfen. Er erklärte sich sogar bereit die entsprechende Kassationsklage neu zu verfassen, da sie schlecht formuliert sei. Es ging immerhin um zwanzig Millionen Zloty (ca. fünf Millionen Euro – Anm. RdP).

Was hat Frau. Prof. Gersdorf in dieser Angelegenheit unternommen? Nichts. Der Mann leitet weiterhin seine Zivilspruchkammer.

Solche Richter wollen wir nicht. Sind das etwa Richter, die den ethischen Standards entsprechen? (…)

Ich gestehe meine Schuld ein, zusammen mit dem stellvertretenden

Berufungsgericht in Kraków.

Justizminister Patryk Jaki, die gigantische Korruptionsaffäre am Berufungsgericht in Kraków aufgedeckt zu haben. Sie erstreckte sich über Jahre. Millionen von Zloty des polnischen Steuerzahlers wurden gestohlen, unter Beteiligung eines der ranghöchsten Richter im polnischen Justizwesen, des Präsidenten eines Berufungsgerichts! Er befindet sich heute in Untersuchungshaft.

(Zwischen Januar 2013 und November 2016 soll der Präsident des Berufungsgerichts in Kraków, Krzysztof S., gegen „Beteiligung an den Honoraren“ fiktive Gutachten in Auftrag gegeben und damit knapp vierhunderttausend Zloty (ca. einhunderttausend Euro) für sich „verdient“ haben. Insgesamt befinden sich inzwischen neun Personen, darunter die Buchhalterin des Gerichts, und einige „Gutachter“ in Untersuchungshaft. Der Gesamtschaden beläuft sich auf umgerechnet eine Million Euro – Anm. RdP).

Ziobro: Ja, das ist unsere Schuld. Wir nehmen Teil an der Verfolgung von korrupten Richtern, die sich am organisierten Verbrechen beteiligen. Vielleicht betrachtet das die Frau Erste Vorsitzende des Obersten Gerichts als meine Schuld. Ich schäme mich dieser Schuld nicht, ich bekenne mich zu ihr, genau auf diese Weise will ich, als Justizminister und Generalstaatsanwalt, schuldig sein.

Wo war das Oberste Gericht?

Zu all diesen skandalösen Vorfällen habe ich keine Stellungnahme des Obersten Gerichts vernommen. Dafür gab es etliche Beschlüsse und Erklärungen zu politischen Angelegenheiten dieses angeblich apolitischen Obersten Gerichts und seiner angeblich apolitischen Ersten Vorsitzenden, Frau Prof. Gersdorf, die sich vermeintlich in keine politischen Konflikte einmischt.

Mir ist keine Äuβerung der Besorgnis aufgrund der niedrigen ethischen Standards im Fall der Affäre in Kraków zu Ohren gekommen. Ich habe keine Stellungnahme des Obersten Gerichts vernommen zu Richtern, die in Warschau Treuhänder für reprivatisierte Grundstücke eingesetzt haben, deren „Eigentümer“ angeblich irgendwo weit weg im Ausland wohnten und entsprechend den offensichtlich gefälschten Unterlagen bereits einhundertzwanzig oder gar einhundertvierzig Jahre alt waren. Die zuständigen Richter hat es nicht gestört.

Dank all dem konnten Betrüger reihenweise Einwohner aus ihren Wohnungen vertreiben. Jahrelang wurden alle Untersuchungsverfahren in dieser Angelegenheit abgewehrt, Ganoven konnten straflos ihr Unwesen treiben. All das geschah unter der Beteiligung von Richtern. Erst wir haben dieser Mafia das Handwerk gelegt. Wo war damals das Oberste Gericht?

Wollen sie weiterhin behaupten, dass eine Disziplinarkammer am Obersten Gericht nicht notwendig ist?

(Aus Richtern bestehend, soll die Disziplinarkammer Immunitäten von Richtern aufheben, die straffällig geworden sind, damit sie vor Gericht gestellt werden können. Nach einem rechtskräftigen Urteil soll die Kammer Disziplinarstrafen verhängen, z.B. die Entfernung aus dem Richteramt. Bei Ordnungswidrigkeiten oder kleineren Amtsvergehen könnte sie selbständig Disziplinarstrafen verhängen wie z. B. einen Verweis erteilen, ohne dass diese Fälle vor ein Strafgericht kommen – Anm. RdP).

Die Wahrheit ist traurig. Sehr schade, dass wir heute, wieder einmal, in diesem Plenarsaal Zeugen davon waren, dass solche Vorgänge keine Nachdenklichkeit hervorrufen.

Ich bin bereit über Einzelheiten der Gesetzesvorlage zu diskutieren. Ich bekräftige: wir sind bereit aus diesem Gesetzentwurf die bisher vorgesehene, ausnahmsweise Teilnahme des Justizministers am Vorgang der Umbildung des Obersten Gerichts zu streichen. Warum bringen sie nicht ihre Änderungsanträge ein? Einen Teil von ihnen würden wir vielleicht akzeptieren. Im parlamentarischen Ausschuss können wir daran arbeiten.

Man kann nicht von Gerechtigkeit sprechen, wenn es an Ehrlichkeit mangelt. Wir haben den Polen versprochen zwei Probleme im Justizwesen zu lösen. Erstens die ethischen Standards anzuheben, damit Gerichte den Respekt der Bürger genieβen. Damit die Menschen, wenn sie vor Gericht gehen, wissen, dass sie gerecht behandelt werden und nicht vor einem Gericht stehen, das Urteile auf telefonische Bestellung fällt.

Wir wollen das ändern, und die Disziplinarkammer, die solch groβe Befürchtungen weckt, soll die schwarzen Schafe aus dem Justizwesen entfernen. Bis jetzt werden sie oft genug nicht entfernt und belasten das Erscheinungsbild des gesamten Justizwesens, auch der anständigen Richter, an denen es nicht fehlt. (…)

Ausgebuht und rausgegangen

Ebenfalls kam hier der Vorwurf auf, dass wir uns dem Dialog verweigern, nicht diskutieren wollen. Ich habe noch vor Augen, woran auch Sie sich bestimmt erinnern können, wie, auf meine Bitte hin, mein Stellvertreter im Justizministerium, Herr Marcin Warchał zum Kongress der Polnischen Juristen (am 20.05.2017 – Anm. RdP) nach Katowice fuhr um ein Referat zu halten.

Im Anschluss wollte er in den Arbeitsgruppen mitdiskutieren. In seinen Ausführungen hatte er eine Korrektur unserer Pläne vorgestellt, die den Forderungen der Richterschaft entgegen kam.

Katowice am 20. Mai 2017. Der stellv. Justizminister Marcin Warchał spricht, die Juristen verlassen den Saal.

In seinem Vortrag sprach er über eindeutige Tatsachen. Er hat niemanden beleidigt. Er sagte, dass die Richterschaft die Zeit des Kommunismus in den eigenen Reihen nicht aufgearbeitet hat. Natürlich, man muss dem nicht zustimmen, wenn man meint, dass es richtig gewesen sei, sich diesem Problem nicht zu stellen. Tatsache jedoch ist: es ist nichts geschehen.

Wie reagierte der Saal? Mit Buhrufen, die Mehrheit der Teilnehmer verlieβ kurz darauf den Saal und die Frau Erste Vorsitzende des Obersten Gerichts hat sich davon nicht distanziert. Sie war ja zugegen. (…) Ist das eine Willensbekundung zur Führung eines Dialoges? Alle haben das gesehen.

So sieht die Dialogbereitschaft aus, wenn die Wahrheit gesagt wird. Egal ob es um den Verfall der Richterethik geht, um konkrete Kriminalfälle, von denen ich viele weitere nennen könnte, weil sie mir als Justizminister und Generalstaatsanwalt bekannt sind. Oder ob es um das Zelebrieren der eigenen Macht geht, was wir einschränken wollen im Interesse derer, die vor die Gerichte gelangen.

Die Kaste applaudiert

Frau Prof. Gersdorf, der Bürgerrechtsbeauftragte Herr Dr. Artur Bodnar (der an dieser Sejm-Debatte teilgenommen und die Reformpläne der Regierung scharf kritisiert hat – Anm. RdP) und der Vorsitzende des Landesjustizrates, Richter Waldemar Żurek (fonetisch Schurek – Anm. RdP) haben auch an einer früheren Veranstaltung wie der in Katowice teilgenommen (Es handelt sich hierbei um den Auβerordentlichen Kongress der Polnischen Richter in Warschau am 03.09.2016 – Anm. RdP).

Ziobro: Dort hat eine sehr prominente Vertreterin der Richterschaft (Richterin am Obersten Verwaltungsgericht Irena Kamińska – Anm. RdP) gesagt, die Richter seien „eine ganz und gar auβergewöhnliche Kaste von Menschen“.

Richterin Irena Kamińska.

Und man kann in den Filmberichten sehen, dass sich im Saal keinerlei Ablehnung nach diesen Worten breitgemacht hat. Niemand hatte die Schamesröte im Gesicht. Niemand hat sich distanziert. Dort gab es Ovationen und Beifall. Wieviel Hochmut muss man in sich haben, um dermaβen von der Realität abzuheben. Deswegen sind Veränderungen, ist der Sauerstoff der Demokratie vonnöten.

Deswegen schlagen wir das vor, deswegen setzten wir unser Wahlprogramm um. Wir machen genau das, was sie in unserem Wahlprogramm finden können. Und wir werden dieses Werk unbeirrt fortsetzen.

Kommunismus? War da was?

Was die Nichtaufarbeitung des Kommunismus angeht, an dieser Stelle muss man eingestehen, dass immerhin ein, wörtlich: ein, Richter, der Willkürurteile gegen Oppositionelle gefällt hat, aus dem Amt entfernt wurde. Eigentlich war die Entfernung von fünfhundert bis sechshundert Richtern geplant und notwendig.

In der ehemaligen DDR waren bereits drei Jahre nach der deutschen Wiedervereinigung nur zwanzig Prozent der DDR-Richter in ihrem Amt verblieben. Das zeigt die Unterschiede in der Aufarbeitung.

Sehr auffällig in der Debatte, die bei uns geführt wird, ist die ständige Verneinung der Nichtaufarbeitung des Kommunismus durch die Richterschaft. Die gut gemeinten Worte von Ende 1989 des damaligen, gerade neuernannten Ersten Vorsitzenden des Obersten Gerichts (und Oppositionellen im Kommunismus – Anm. RdP), Prof. Adam Strzembosz (fonetisch Stschembosch – Anm. RdP), die kommunistische Richterschaft „werde sich selbst säubern“ klingen inzwischen wie Hohn.

Heute findet auch in dieser Frage eine „Verteidigung der belagerten Festung“ statt, indem man uns einzureden versucht, wie das z.B. die Vertreter des Landesjustizrates tun, dass es nicht stimmt, dass die Richter keine reine Weste haben. Wie kann man so etwas erzählen, entgegen den Tatsachen!? Da gehört schon viel Dreistigkeit dazu.

Kommunistische Straftäter freigesprochen

Zurück zum Obersten Gericht und seiner Rechtsprechung. Aufgrund seiner Beschlüsse konnten Leute nicht strafrechtlich belangt werden, die in der kommunistischen Zeit Straftaten begangen haben. So z. B. hat das Oberste Gericht in seinem Beschluss vom 25. Mai 2010 festgestellt, dass die Verursacher einiger kommunistischer Verbrechen, wie z.B. das Verprügeln oder Misshandeln von Personen (was vor allem in der stalinistischen Zeit bei Untersuchungen Gang und Gäbe war – Anm. RdP), die einer Strafandrohung von unter fünf Jahren Freiheitsentzug unterliegen, wegen Verjährung nicht strafrechtlich belangt werden können. (…)

In einem anderen Fall nahm dasselbe Oberste Gericht, geleitet von einer falsch verstandenen Berufssolidarität und dem Willen das postkommunistischen Umfeld zu schützen, Richter in Schutz, die während der Verhängung des Kriegsrechts (am 13.12.1981 gegen Solidarność – Anm. RdP) Willkürurteile fällten.

13. Dezember 1981. Am Tag der Verhängung des Kriegsrechts stürmt die kasernierte Miliz die Warschauer Solidarność-Zentrale.

Am 20. Dezember 2007 erließ das Oberste Gericht einen Deutungsbeschluss, in dem es hieβ, Richter, die das Dekret über die Einführung des Kriegsrechts rückwirkend angewendet und hohe Freiheitsstrafen gegen Solidarność-Aktivisten verhängt haben, taten dies rechtmäβig.

Kriegsrecht. Oppositionelle vor einem Militärgericht. Heimliche Aufnahme.

(Das Dekret über die Einführung des Kriegsrechts wurde in der Nacht zum 13. Dezember 1981 verkündet. Es sah hohe Freiheitsstrafen für jedwede oppositionelle Betätigung (Streiks, Demonstrationen, Flugblattaktionen usw.) vor. Die Rechtsgrundlage war ein Beschluss des Staatsrates, gefasst in der Nacht vom 12. auf den 13. Dezember 1981.

Der Staatsrat (als Kollektives Staatoberhaupt im kommunistischen Polen) durfte Dekrete mit Gesetzeskraft verabschieden, allerdings nur in der Zeit zwischen den Plenarsitzungen, des den Kommunisten völlig willfährigen Parlaments. Das sah die damals geltende kommunistische Verfassung vor. Gerade um den 13. Dezember 1981 herum war jedoch eine mehrtägige Plenarsitzung im Gange. Aufgrund der Verhängung des Kriegsrechts setzte das Parlament seine Beratungen dann aber erst am 6. Januar 1982 fort und bestätigte das Kriegsrechtsdekret.

Zwischen dem 13. Dezember 1981 und dem 6. Januar 1982 also war das Dekret, rechtlich gesehen, ungültig, was damals natürlich niemanden gekümmert hat. Dennoch hätten diejenigen Richter, die in dieser Zeit aufgrund des Kriegsrechtsdekrets ihre harten Urteile gegen Oppositionelle fällten, dies wissen müssen und meistens wussten sie es auch. Das Oberste Gericht befreite sie kollektiv von dieser Schuld. – Anm. RdP).

Die Kleinen hängt man, die Großen lässt man laufen

Ziobro: (…) Es gibt keine Gerechtigkeit ohne Ehrlichkeit und ohne Ethik. Deswegen ist es so wichtig, diese Ethik auf ein hohes Niveau zu hieven. Dem dient die geplante Disziplinarkammer am Obersten Gericht, die solche Widerstände weckt.

Ich kann ihnen viele sehr umstrittene Urteile des Obersten Gerichts in Erinnerung rufen. So legte das Gericht eine groβe Prinzipientreue an den Tag als eine zuckerkranke Frau im Supermarkt einen Schokoriegel zum Preis von 73 Grosze (entspricht der Einheit Cents beim Euro – Anm. RdP) aβ, ohne ihn zu bezahlen. Das Gericht bestätigte die verhängte Haftstrafe. Gleichzeitig erwies sich das Gericht aber als sehr milde gegenüber den Verursachern groβer Finanzskandale.

Beata Sawicka auf der Anklagebank.

Ein Beispiel ist der Fall Beata Sawicka. (Abgeordnete der Bürgerplattform in den Jahren 2005 bis 2007. Sie wurde gemeinsam mit dem Bürgermeister der Gemeinde Hel/Hela im Oktober 2007 bei der Entgegennahme der zweiten Tranche eines hohen Bestechungsgeldes festgenommen. Die Aktion war eine Provokation der Antikorruptionsbehörde. Sawicka wurde in erster Instanz zu drei Jahren Gefängnis verurteilt. In zweiter Instanz wurde sie freigesprochen, weil das Beweismaterial illegal, durch eine Polizeiprovokation, zustande gekommen ist. – Anm. RdP).

Ziobro: Das Oberste Gericht stellte in einem Deutungsbeschluss fest, dass „die Regel der Früchte des vergifteten Baums“ gelte (ein Verbot der Verwertung illegal gewonnener Beweise – Anm. RdP), obwohl diese Regel in den meisten europäischen Ländern nicht gilt.

Ein anderes Beispiel vom Januar 2017. Das Oberste Gericht sprach die Schuldigen der groβen Korruptionsaffären im Autobahn- uns Straβenbau aus dem Jahr 2011 frei. Die Antikorruptionsbehörde hatte damals ganze Arbeit geleistet und die Telefongespräche der Täter aufgezeichnet. Sie haben Millionen verdient an getürkten Ausschreibungen. Es handelte sich um gigantische Beträge. Die Beweise seien überzeugend, nicht anfechtbar, doch sie wurden wieder einmal wider „die Regel des vergifteten Baums“ gewonnen. Eine Regel, die in Polen nirgendwo verbrieft ist.

Wir können das nicht hinnehmen. Hier Härte gegen die Frau mit dem Schokoriegel, dort Milde für Täter, die gigantische Finanzaffären auf dem Kerbholz haben. (…) Mehr noch, das Oberste Gericht hat seine Rechtsprechung so konstruiert, dass bei den gigantischen, bandenmäβigen Mehrwertsteuerbetrügereien die Täter meistens freikamen. Es hieβ, sie unterlägen nur dem Steuerstrafrecht, das lange Zeit eine kurze Verjährungsfrist vorsah. Das war der Freibrief für die Straffreiheit.

Diese Probleme muss man sehen. Wir wollen diese Zustände ändern. Über Details können wir reden.

Das Prinzip der Gewaltenteilung wird nicht verletzt

Immer wieder war hier die Rede von der Verletzung des Prinzips der Gewaltenteilung (in Polen spricht man von der Dreiteilung der Gewalten – Anm. RdP). Der Urheber dieses Prinzips war Montesquieu. Welche Verfassung wurde geradezu vorbildlich auf diesem Prinzip aufgebaut? Die der Vereinigten Staaten.

Wie regelt diese Verfassung die Berufung der Richter des Obersten Gerichts der USA? Berufen sich die Richter selbst, durch die Zuwahl, wie in Polen? Nein. In den USA, mit ihrer vorbildlichen Verfassung, werden die Richter des Obersten Gerichts vom Präsidenten berufen. Warum? Weil er eine starke demokratische Legitimation hat.

Montesquieu würde sich im Grabe umdrehen, würde er hören, dass man aus seinen Schriften ableitet, er sei dafür, dass sich die Richter selbst berufen, selbst beurteilen, selbst kontrollieren, selbst suspendieren usw. (…)

Das Prinzip des Gleichgewichts zwischen der dritten Gewalt, dem Justizwesen, der Legislative und der Exekutive findet ihren Ausdruck in den Verfassungen vieler europäischer Staaten. So werden in Deutschland, dem gröβten europäischen demokratischen Staat, die Richter der obersten Gerichte ausschlieβlich vom Bundesjustizminister, gemeinsam mit den Landesjustizministern und den Vertretern des Bundestages berufen. Richter haben in diesem Entscheidungsprozess im Grunde nichts zu sagen. (…)

Deswegen bitte ich darum, uns nicht einzureden zu wollen wir würden irgendwelche europäischen Konventionen verletzen. Schauen Sie sich an, wie es in den Niederlanden gemacht wird und in vielen anderen europäischen Staaten. (…).

Die Verfassung wird nicht gebrochen

Sie sagen, wir würden die polnische Verfassung verletzen. Bitte sehr. Der Artikel 180 Absatz 5 sagt ganz klar: „Werden der Aufbau der Gerichte oder die Gerichtsbezirke verändert, kann ein Richter unter Beibehaltung der vollen Bezüge an ein anderes Gericht oder in den Ruhestand versetzt werden“.

Meine Herrschaften, der Justizminister darf das also im Fall der Veränderung des Aufbaus des Obersten Gerichts tun. Aber wir wollen das nicht tun. Wir ziehen diesen Vorschlag zurück. Wir wollen dass der Landesjustizrat das regelt.

Ich habe in diesem Plenarsaal vor Kurzem (siehe den Beitrag „Polnische Justizreform. Mythen und Fakten“ – Anm. RdP) ihre (gemeint ist die Opposition – Anm. RdP) groβen Autoritäten zitiert, die beiden ehemaligen Verfassungsgerichtspräsidenten: Prof. Andrzej Rzeplinski und Jerzy Stępień.

Rzepliński schrieb seiner Zeit ganz klar: „Der Landesjustizrat in seiner jetzigen Form ist nur eine staatliche Gewerkschaft der Richter, die dem polnischen Justizwesen schadet“.

Sie (gemeint ist die Donald-Tusk-Partei Bürgerplattform und ihr Koalitionspartner, die Bauernpartei – Anm. RdP) haben so lange regiert, acht Jahre lang. Sie hatten so viel Zeit zum Handeln. Sie haben doch wahrgenommen, dass die polnische Gesellschaft sich vom Justizwesen abwendet. Sie konnten das ändern. Sie haben es nicht getan. Dann stören sie uns wenigstens nicht dabei, wenn wir das Notwendige tun.

Wir wollen diese Änderungen durchführen. Wir wollen den Polen die Gerichte zurückgeben. Wir wollen die ethischen Standards im polnischen Justizwesen anheben. (…)

Ein leistungsfähiges, professionelles und gerechtes Justizwesen liegt in unser aller Interesse. Ein Justizwesen frei von politischem Druck, aber auch frei von berufsbedingtem Egoismus. Im Augenblick ist die Schieflage hinsichtlich dieses Egoismus, der korporativen Interessen, eines Interessensumpfes geradezu gewaltig. Das wollen wir ändern.

Ein Missetäter auf dem Weg ins Oberste Gericht

Zum Schluss noch eines. Wenn die Erste Vorsitzende des Obersten Gerichts, Frau Prof. Gersdorf, wenn der Bürgerbeauftragte des Parlaments, Herr Dr. Bodnar, wenn der Vorsitzende des Landesjustizrates so viel Gutes über den jetzigen Zustand des Justizwesens sagen, möchte ich mich darauf berufen, was ihr Justizminister (November 2007 bis Januar 2009 – Anm. RdP) Zbigniew Ćwiąkalski (fonetisch Tswionkalski – Anm. RdP) gemacht hat. (…).

Nicht einmal er konnte es ertragen, dass der Richter und Oberst Piotr Raczkowski den Posten des Präsidenten des Warschauer Militärgerichtes bekleidete. Ein Mann vieler Skandale.

Richter Piotr Raczkowski (r.) mit seinem Chef, dem Vorsitzenden des Landesjustizrates Richter Waldemar Żurek.

(Das Wochenmagazin „Do Rzeczy“ („Zur Sache“) schrieb im April 2017, Raczkowski habe Dienstautos zu privaten Zwecken genutzt, habe einen Richterkollegen verprügelt, habe Untergebene permanent beleidigt und erniedrigt. Als stellvertretender Vorsitzender des Landesjustizrates habe Raczkowski an der Abstimmung teilgenommen, dank der seine Frau den Richterposten am Amtsgericht des Stadtteils Warschau-Mokotów bekam, für den es 93 Kandidaten gab. – Anm. RdP).

Ziobro: Justizminister Ćwiąkalski stellte den Antrag ihm die Immunität zu entziehen, damit er sich vor einem Gericht wegen der Erschleichung von etwa fünfzigtausend Zloty (ca. zwölftausend Euro) zu verantworten habe. Das Oberste Gericht lehnte den Antrag ab.

Heute ist Richter Raczkowski nicht nur stellvertretender Vorsitzendender des Landesjustizrates, sondern auch Kandidat für ein Richteramt am Obersten Gericht. Frau Prof. Gersdorf haben alle diese Informationen nicht gestört. Sie hat viel unternommen, auch versucht mich dafür zu gewinnen, um Richter Raczkowski an ihr Gericht zu bekommen.

Meine Damen und Herren, die Zeit der Worte ist zu Ende. Es müssen Taten folgen. Wir werden das polnische Justizwesen verändern. Vielen Dank.

RdP 




EU: der Feind und Helfer. Zum Hören

 

Kommentator Prof. Marek Cichocki und Janusz Tycner diskutieren über das angespannte Verhältnis zwischen der EU und Polen. ♦ Wie sollen die Polen darauf reagieren, dass sie EU-Geld bekommen und deshalb gefälligst zu gehorchen haben oder aus der EU austreten sollen? ♦ Haben Wahlen und Parlamentsmehrheiten noch einen Sinn, wenn EU-Kommissare sowieso alles besser wissen und bestimmen wollen (Emigrantenansiedlung, Renteneintrittsalter, Umgang mit dem Borkenkäfer, Justizaufbau, Kohleverfeuerung usw.)? ♦ „Kapitulation“, „Krieg“, „Sanktionen“, „Atomschlag nach Art. 7“, die Wortwahl mancher EU-Institutionen und Medien sagt viel aus über dehren emotionalen Zustand. ♦ Deutschlands Rolle im Vorgehen der EU gegen Polen. ♦ Wie geht es weiter?




Polens Justizreform. Mythen und Fakten.

Der Justizminister hat das Wort.

Am 12. Juli 2017 fand im polnischen Parlament eine hitzige Debatte über die bevorstehende Justizreform statt. Wie die gesamte Politik der jetzigen polnischen Regierung, hat auch dieses Vorhaben im deutschsprachigen Raum, aufgrund der Berichterstattung der Medien, einen denkbar schlechten Ruf. Die Argumente der Ideengeber und Befürworter der Umgestaltung kommen dabei kaum, wenn überhaupt zur Geltung.

RdP möchte diese Lücke schließen. Wir dokumentieren hier in Bild, Ton (auf Polnisch) und Schrift (in deutscher Übersetzung) die Rede von Justizminister Zbigniew Ziobro, der seine Argumente, vor allem für die Reform des Landesjustizrates, des zentralen Gremiums der polnischen Richterschaft und ihrer Autonomie, darlegt.

Vorab sei kurz erwähnt, dass die Neuordnung des Justizwesens drei Gesetzte umfasst: das Gerichtsverfassungsgesetz, das Gesetz über  den Landesjustizrat und das Gesetz über das Oberste Gericht. Über die beiden letzten wird noch diskutiert.  Das reformierte Gerichtsverfassungsgesetz (GVG) sieht u. a. vor, dass:

● die polnischen Richter in Zukunft, wie bereits schon jetzt die höheren Staatsbeamten, alle Staatsanwälte und Abgeordnete, jedes Jahr eine im Internet allgemein zugängliche Vermögenserklärung abgeben müssen;

● die Fälle den Richtern nicht mehr von den Gerichtspräsidenten, sondern durch ein computergesteuertes Auslosungssystem zugeteilt werden;

● die Verwaltungsdirektoren der Gerichte vom Justizminister ernannt werden, und die Gerichtspräsidenten sich von nun an allein auf die Rechtsprechung konzentrieren sollen;

● der Richter muss alle seine Verfahren zum Urteil bringen, auch wenn er befördert oder versetzt wird. Dadurch soll die zeitaufwändige und kostspielige Neuafunahme von Verfahren vermieden werden;

● jetzt allgemein vorgeschriebene regelmäβige Aufsichtskontrollen (Visitationen) bei den Gerichten sollen zukünftig entfallen und Richter-Visitatoren, die diese durchführten zur Rechtsprechung in die Gerichtssäle zurückkehren.

Justizminister Zbigniew Ziobro im Sejm.

Nachfolgend die Sejmrede von Justizminister Zbigniew Ziobro zu den Veränderungen im Landesjustizrat:

Herr Sejmpräsident, Frau Ministerpräsidentin, verehrte Damen und Herren,

angesichts der Ausführungen des Berichterstatters (die Einzelheiten des Gesetzentwurfs wurden zuvor durch einen an der Ausarbeitung beteiligten Abgeordneten der Regierungspartei vorgetragen – Anm. RdP), die er inzwischen teilweise mehrere Male wiederholt hat, beschränkt sich meine Rolle darauf seinen Antworten auf Fragen, die in dieser Debatte gestellt wurden einige Ergänzungen hinzuzufügen.

Es gibt keinen Zweifel daran, dass das polnische System für die Berufung von Richtern äuβerst undemokratisch ist. Und da stellt sich die Frage, ob dieses System vereinbar ist, nicht nur mit dem Geist, sondern auch mit den Prinzipien der polnischen Verfassung, auf die ihr (die Opposition – Anm. RdP) euch so gerne und so oft beruft. Ob es vereinbar ist mit den Grundsätzen des demokratischen Rechtsstaates, wenn der Mechanismus (der Richterberufung – Anm. RdP) nicht demokratisch ist. Er fuβt nämlich auf dem Grundsatz der Kooptation.

(Kooptation – Zuwahl, Aufnahme oder Wahl von neuen Mitgliedern durch die Mitglieder einer Gemeinschaft, eines Gremiums. „Für die Wahl von Regierungen, Parlamenten oder anderen Vertretungsorganen ist das Verfahren der Kooptation nicht mit einem demokratischen und rechtsstaatlichen Verständnis vereinbar. Hier hat die Zuwahl einen gänzlich undemokratischen, oligarchischen Charakter“. Siehe dazu Karl Loewenstein: Kooptation und Zuwahl. Über die autonome Bildung privilegierter Gruppen. Frankfurt a. M. 1973 – Anm. RdP).

Ziobro: Diese undemokratische Zuwahl stammt noch aus dem Jahr 1989 (Ende des Kommunismus in Polen – Anm. RdP). Aus dem Kompromiss (der Solidarność – Anm. RdP) mit den Kommunisten (gemeint sind die Vereinbarungen, getroffen bei den Gesprächen am Runden Tisch vom 06.02. bis 05.04.1989 – Anm. RdP).

Ziobro: Damals (am 29.12.1989 – Anm. RdP) wurde der Landesjustizrat (LJR) berufen und seither beruft er, nach dem Zuwahl-Prinzip, bis heute neue Richter. Wer ist das (der LJR – Anm. RdP) konkret? Das sind immer noch Menschen, die durch den kommunistischen Staatsrat zu Richtern gemacht worden sind.

(Seit 1952 hatte das kommunistische Polen keinen Staatspräsidenten sondern einen fünfzehn bis knapp dreißigköpfigen Staatsrat – die Zahl schwankte bis 1989 – der kollektiv die Aufgaben des Staatsoberhauptes wahrnahm. U. a. ernannte der Staatsrat Richter, die alle zuvor gründlich hinsichtlich ihrer Loyalität zur kommunistischen Partei und dem Staat durchleuchtet worden waren.

Nach 1989 fand in Polen keine Überprüfung der bis dahin ernannten Richter statt. Bis auf ganz wenige Ausnahmen verblieben alle, darunter viele ehemalige aktive Mitglieder der kommunistischen Partei, auf ihren Posten. Viele sind inzwischen aus Altersgründen ausgeschieden, viele sind aber auch aufgestiegen und haben noch heute leitende Positionen im Justizwesen inne. Durch den Landesjustizrat und andere hohe Ämter formen und bestimmen sie den Richternachwuchs. – Anm. RdP).

Ziobro: Auf diese Weise kamen sie damals in den LJR und hatten danach, aufgrund des Prinzips der Zuwahl, die Möglichkeit neue Kolleginnen und Kollegen (sowohl in den LJR, wie auch in den Richterberuf – Anm. RdP) zu berufen.

(Der Landesjustizrat besteht aus 25 Mitgliedern.

1. Dies sind von Amtswegen: die Präsidenten des Obersten Gerichtes und des Obersten Verwaltungsgerichtes sowie der Justizminister. Alle bleiben im LJR so lange sie ihre Ämter innehaben.

2. Ein Vertreter, ernannt und abberufen durch den Staatspräsidenten.

3. Vier Abgeordnete, gewählt vom Sejm (untere Kammer des Parlaments), zwei Senatoren, gewählt vom Senat (obere Parlamentskammer).

4. Fünfzehn Richter (zwei vom Obersten Gericht, zwei von den Appellationsgerichten, zwei von den Verwaltungsgerichten, acht von Kreisgerichten und einer aus der Militärgerichtsbarkeit. Das richterliche „Fuβvolk“ von den Amtsgerichten ist nicht vertreten).

Die Amtsperiode der gewählten Mitglieder des LJR dauert vier Jahre. Frei werdende Plätze werden fortlaufend für vier Jahre besetzt. Es findet also ein kontinuierlicher Wechsel statt – Anm. RdP).

Ziobro: Der einzige demokratische Bestandteil dieses Berufungssystems von Richtern ist der Staatspräsident. Seine Rolle jedoch versucht der LJR, so gut es geht, auf die eines Notars zu beschränken. Er sagt ganz offen: der Staatspräsident darf unsere Vorschläge (für die Berufung der Kandidaten ins Richteramt – Anm. RdP) nur beglaubigen.

Staatspräsident Andrzej Duda.

Zum Glück stellt Staatspräsident Andrzej Duda seine aktive Rolle unter Beweis und zeigt, dass er ein Mann ist, der eigene Entscheidungen treffen kann. Und das ist der einzige Lichtblick bei der derzeitigen Praxis zur Berufung zum Richteramt.
(2016 hat Duda die Beförderung von zehn der insgesamt vierhundertfünfzehn vom LJR zur Berufung ins Richteramt oder zur Beförderung vorgeschlagenen Kandidaten abgelehnt – Anm. RdP).

Ziobro: Ihr habt euch in dieser Diskussion gerne auf die Venedig-Kommission und auf die Meinung der OSZE berufen. Ihr tut dies jedoch ziemlich selektiv. Vor allem denke ich dabei an den Abgeordneten Jacek Protasiewicz (von der Union der Europäischen Demokraten. Insgesamt vier Abgeordnete, die im Juli 2016 aus der Bürgerplattform wegen parteischädigenden Verhaltens ausgeschlossen wurden – Anm. RdP).

Ziobro: Darum erlaube ich mir, unter Berufung auf einige andere Feststellungen eben dieser beiden Organisationen, die für euch (die Opposition – Anm. RdP) so wichtig und bedeutsam sind, noch etwas zu ergänzen.

Und zwar hat die erwähnte Venedig-Kommission 2014 in einem ihrer Berichte bemerkt, ich zitiere: „In Körperschaften wie den Landesjustizräten darf es keine eindeutige Vorherrschaft der Richter geben, ansonsten könnten dort Kungeleien, Berufsdünkel und Cliquenbildung die Oberhand gewinnen“.

So sah es die Venedig-Kommission. Diese Beschreibung passt hervorragend in Bezug auf den polnischen LJR. Von den fünfundzwanzig Mitgliedern des LJR sind siebzehn Richter. Die übrigen Mitglieder haben eine rein dekorative Funktion, sind ein unbedeutender Bestandteil, der keinen Einfluss auf die dort gefällten Entscheidungen hat. Jedes Mitglied dieses Gremiums – und ich gehöre übrigens zum zweiten Mal dazu – weiβ bestens Bescheid, dass dies ausschlieβlich eine „berufliche Standesvertretung“ ist, die alles selbst entscheidet.

Auch die erwähnte OSZE stellt in einem ihrer Berichte fest: „Auf internationaler Ebene ist man allgemein der Meinung, dass die Landesjustizräte nicht ausschlieβlich oder mehrheitlich aus Vertretern der Justiz bestehen sollten. Es geht darum Eigennutz, gegenseitiges Decken, Kungeleien, Berufsdünkel zu vermeiden“.

Was kann man dem noch hinzufügen? Genau das wollen wir erreichen! Wir wollen die Empfehlungen der OSZE und der Venedig-Kommission umsetzten. Wir wollen mit dem Berufsdünkel brechen und dem LJR den Sauerstoff der Demokratie zuführen. Ja, Sauerstoff, erzeugt von demokratischen Mechanismen, denn Polen ist nicht nur ein Rechtsstaat, sondern ein demokratischer Rechtsstaat. Polen ist keine „Gerichtekratie“, sondern eine Demokratie.

Ich möchte hier noch eine Aussage anbringen, die bei euch, (der Opposition – Anm. RdP) wie ich glaube, auf Resonanz stoβen dürfte. Ich zitiere: „Der Landesjustizrat ist eine staatliche Gewerkschaft, die Interessen pflegt und dem polnischen Justizwesen schlecht bekommt“. Wer hat das gesagt? Ich zitiere noch einmal: „Eine staatliche Gewerkschaft, die Interessen pflegt und dem polnischen Justizwesen schlecht bekommt“.

Es war eine eurer Autoritäten, euer Guru, euer Mann der Vorsehung, Professor Rzepliński.

Prof. Andrzej Rzepliński.

(Andrzej Rzepliński, fonetisch Scheplinski, geb. 1948, war von 2010 bis 2016 Verfassungsgerichtspräsident. Er ist bis heute einer der prominentesten Gegner aller Justizreformen der Nationalkonservativen und eine wichtige Persönlichkeit der Ablehnungsfront gegen Recht und Gerechtigkeit – Anm. RdP).

Ziobro: Teilt ihr nicht seine Meinung? Nein? Man soll in die Annalen dieses Parlaments eintragen, dass ihr nicht einer Meinung seid mit Professor Rzepliński!

Er hat aber noch mehr gesagt: „Die Medien berichten über viele Korruptionsfälle, über betrunkene Richter in Gerichtsgebäuden, betrunkene Richter am Steuer, Richter die gewöhnliche Straftaten begehen. In einem Teil dieser Fälle waren die bisherigen Ahndungsversuche vergeblich. Sie scheiterten an der Stärke der Seilschaften und der Mentalität einer „belagerten Festung“, die die wichtigsten Strukturen unseres Justizwesens auszeichnet“.

Wie sehr ist es an der Zeit für solche Worte, auch wenn sie in der „Gazeta Wyborcza“ (das führende Kampfblatt der Ablehnungsfront gegen Recht und Gerechtigkeit – Anm. RdP) gefallen sind! (…)

Und noch ein Zitat: „Erfüllt der Landesjustizrat seine Funktion, wacht er über die Unabhängigkeit von Richtern und Gerichten? Der LJR tut das nicht. In der Tat, handelt es sich hierbei um einen Ort, an dem man sich die Kandidatur für das Richteramt sichert. Jeder geht dorthin mit seinen Kandidaten und sorgt dafür, dass ausgerechnet sie durchgeboxt werden. Das tun auch Politiker, zu denen sich die Schutzpatronen einzelner Kandidaten oder auch die Kandidaten selbst vorzudrängen verstehen.

Der LJR ist nicht der richtige Ort, um darüber zu entscheiden wer Richter wird. Der LJR kümmert sich nur um die Interessen der Richtergilde. Er ist aber kein Organ, das sich um wahre Unabhängigkeit kümmert“.

Wer sagte das? Der Vorsitzende Stępień, eine weitere eurer Autoritäten. Seid ihr mit ihm einverstanden?

Magister Jerzy Stępień

(Jerzy Stępień, fonetisch Stempieen. Von 1999 bis 2008 Richter beim Verfassungsgericht, 2006 bis 2008 sein Vorsitztender, obwohl er nur den Magistertitel besitzt. Auch eine wichtige Persönlichkeit der Ablehnungsfront gegen Recht und Gerechtigkeit – Anm. RdP).

Ziobro: Ihr sagt, wir verletzen internationale Standards mit unseren Vorschlägen. Doch in Wirklichkeit teilen wir die Untersuchungsergebnisse, die ich hier zitiert habe. (…) Wir gehen aber noch weiter.

Wir stellen nicht nur Diagnosen, die zutreffend sind, sondern wir suchen auch nach Lösungen. Sie sind nicht immer vollkommen, das stimmt, aber auch die Demokratie ist nicht perfekt. (…) Die demokratischen Mechanismen sind nicht ideal, aber niemand hat bisher bessere erfunden, und deswegen greifen wir zur Demokratie, um sozusagen den Augiasstall auszumisten. Nur demokratische Mechanismen können das bewirken. Die Antwort auf Berufsdünkel, auf Cliquen, auf „berufliche Standesvertretungen“, auf Pathologien ist Demokratie.

Gewiss, auch die Demokratie hat Mängel und stöβt an Grenzen. (…) Doch es gibt keine schlechtere Lösung, als den jetzigen Zustand mit seinen Seilschaften und pathologischen Zuständen beizubehalten. Darum schlagen wir vor, dass die Abgeordneten die Mitglieder der Richterschaft in den Landesjustizrat wählen sollen, weil sie eine demokratische Legitimation haben, während die hinzuwählenden Richter vom LJR über keinerlei demokratische Legitimation verfügen.

Ihr habt diese demokratische Legitimation und ihr könnt euch vor der Öffentlichkeit, vor den Wählern verantworten, und das müssen wir auch. Und genau darin liegt die Garantie, dass wir in den Landesjustizrat keine Richter wählen werden, für die wir uns später schämen müssen. (…) Die politischen Kosten wären zu hoch.

Die demokratischen Mechanismen haben bereits in der Vergangenheit gewirkt und deswegen habt ihr euren Abgeordneten Zbigniew Chlebowski ausgeschlossen.

Bürgerplattform-Fraktionsvorsitzender Zbigniew Chlebowski im Oktober 2009 bei einer Pressekonferenz nachdem seine Machenschaften mit einem Glücksspielunternehmer bekannt geworden sind.

(Zbigniew Chlebowski, von 2007 bis 2009 Sejm-Fraktionsvorsitzender der damals regierenden Donald-Tusk-Partei Bürgerplattform. Er geriet ins politische Abseits, als Telefonprotokolle seiner Gespräche publik wurden, in denen er einem befreundeten Glücksspielbetreiber Hilfe und Protektion bei dessen krummen Geschäften versprach – Anm. RdP).

Ziobro: Und warum ist Ryszard Milewski immer noch Richter, obwohl er am Telefon bereit war über die Besetzung einer Spruchkammer zu verhandeln und davon sprach, dass die Kammer mit ihm vertrauten Richtern besetzt sein würde. Wieso ist er immer noch Richter? Weil es im Richterstand solche demokratischen Mechanismen nicht gibt.

Richter Ryszard Milewski.

(Ryszard Milewski war Präsident des Kreisgerichtes in Gdańsk. Er fiel im September 2012 einer journalistischen Provokation zum Opfer. Ein angeblicher Assistent des Chefs der Kanzlei des Ministerpräsidenten Donald Tusk rief an, und Milewski ging diensteifrig auf alle Wünsche seines Gesprächspartners bezüglich Verhandlungstermin, Auswahl der Richter für die Verhandlung usw. ein. Daraufhin wurde Milewski von einem richterlichen Disziplinargericht lediglich nach Białystok versetzt, wo er weiterhin Recht spricht – Anm. RdP).

Ziobro: Es hat sich für euch (die Bürgerplattform – Anm. RdP) nicht gelohnt an so jemandem, wie Chlebowski festzuhalten, aber im Fall von Milewski hat sich die Korporation, deren Interessen, die Mentalität dieser „belagerten Festung“ als wirksam erwiesen. Eine Krähe hackt der anderen kein Auge aus. Das, was Milewski gesagt und getan hat war eine Schande für das polnische Justizwesen. Das war zu euren Zeiten. Was habt ihr gemacht, um solche Leute loszuwerden?

Wir schlagen heute Lösungen vor, die vielleicht nicht perfekt, aber die einzig möglichen in dieser Lage sind, weil wir die pathologische Situation, die entstanden ist beseitigen müssen.

Man sagt, Bilder sagen mehr als tausend Worte und deswegen möchte ich euch einige Bilder vor Augen führen.

(Ziobro zeigt mittels eines Präsentationsprogramms Diagramme – Anm. RdP).

Auf dem ersten Bild ist das zu sehen, was ihr kritisiert. Ihr sagt, wir nehmen den Richtern den Einfluss darauf, wer in der Zukunft Richter werden kann. Das stimmt nicht. Vielleicht glauben viele von euch daran, weil ihr euch nicht die Mühe gegeben habt euch in das Thema einzuarbeiten. Abgeordnete sind vielbeschäftigte Leute und schenken jenen glauben, die hier herumlaufen und demagogisches Zeug verbreiten. Doch hier kann man die Fakten sehen.

Wie soll die Berufungsprozedur aussehen?

1. Der Justizminister gibt, so wie heute auch schon, freie Stellen bekannt.

2. Kandidaten melden sich. Bei wem? Nicht beim Justizminister, sondern beim zuständigen Gerichtspräsidenten. So unser Vorschlag.

3. Nicht der Justizminister, sondern der Gerichtspräsident verfügt die Überprüfung der Eignung der Kandidaten.

4. Die Richtervollversammlung des Gerichtes gibt eine Beurteilung der Kandidaten ab.

5. Der Gerichtspräsident stellt dem Landesjustizrat die Kandidaten sowie deren Beurteilung vor. Wo also sind hier der Justizminister oder seine Beamten?

5. Erst der LJR, der weiterhin mehrheitlich von Richtern beherrscht sein wird, trifft die Wahl. Mehr noch, der Kandidat kann gegen die Entscheidung des LJR vor einem Gericht klagen.

6. So vorbereitete Kandidaturen landen schließlich auf dem Schreibtisch des Staatspräsidenten, der die Entscheidung über Berufung oder Nichtberufung eines Kandidaten auf Lebenszeit zum Richteramt trifft.

Wer kann hier reinen Gewissens sagen, dass wir die Richter ihres Einflusses auf die Zulassung zum Richterstand berauben?

Und nun das zweite Schaubild.

Hier haben wir Deutschland. Ein Land, auf das sich die Bürgerplattform und die Nowoczesna (Die Moderne, eine kleine Oppositionspartei derselben radikalliberalen Ausrichtung wie die Bürgerplattform – Anm. RdP) so gerne berufen.

1. Der dortige Justizminister gibt, ebenso wie in Polen, eine freie Richterstelle bekannt.

2. Die deutschen Kandidaten melden sich. Wo? Beim Gerichtspräsidenten? Nein, beim Justizminister.

3. Die Beamten des Justizministers überprüfen die Eignung der Kandidaten, sortieren die Kandidaten aus und stellen sie dem Justizminister vor.

4. Wer nicht genommen wird kann vor einem Gericht dagegen klagen.

5. Der Justizminister beruft die Richter auf Lebenszeit.
Seht ihr den Unterschied?

Am komischsten ist, dass uns deutsche Politiker, mit Herrn Schulz an der Spitze, belehren, wie wir unsere Gesetzte schreiben sollen, damit diese eine Beteiligung der Richter bei der Berufung künftiger Richter berücksichtigen. Da kann man sich nur an den Bauch fassen und lachen. Aber das zeigt auch die deutsche Überheblichkeit, die wir kennen und die wir in keiner guten Erinnerung aus der Geschichte haben.

Diese Regierung wird sich davon nicht beeindrucken lassen. Wir werden Entscheidungen treffen, die gut sind für das polnische Justizwesen und die polnischen Bürger.

Nils Muižnieks, Menschenrechtskommissar des Europarates kritisiert Polen und verschlieβt die Augen vor den Zuständen in seiner lettischen Heimat.

Die absurdeste Gestalt in diesem internationalen Chor, der Polen kritisiert, ist Herr Nils Muižnieks, der Menschenrechtskommissar des Europarates. Dieser Herr wirft uns mit unglaublicher Konsequenz vor, dass wir den Richtern den Einfluss auf die Berufung künftiger Richter verwehren. Das ist umso komischer, als in seiner eigenen Heimat, Lettland, die Richter direkt vom Parlament berufen werden und einen Landesjustizrat gibt es dort gar nicht. So ist es in Lettland. So sehen die Tatsachen aus. (…)

Oft höre ich in diesem Zusammenhang das Wort „Freiheit“ fallen, doch es gibt keine Freiheit ohne Gerechtigkeit. Es gibt auch dann keine Freiheit, wenn die Polen vor und in den Gerichten mit Arroganz und Hochmut behandelt werden. Wenn sie aus dem Munde einer prominenten Vertreterin der Richterschaft, anstatt von Dienst am Bürger und Hilfe, hören, dass die Richter eine „ganz besondere Kaste“ sind, dass Richter über dem Recht und den Bürgern stehen, anstatt den Geschädigten und Schwächeren zu helfen.

Wir wollen das ändern und wir haben die Entschlossenheit, das zu tun. (…) Vielen Dank.

RdP




Das Wichtigste aus Polen 14. Mai – 27. Mai 2017

Kommentator Andrzej Godlewski und Janusz Tycner diskutieren die wichtigsten Ereignisse der letzten Zeit in  Polen.  ♦ Neuauflage des Streits um die EU-Umverteilung von Emigranten, Hilfe vor Ort und Terrorgefahr. Die Positionen bleiben dieselben. ♦ Pläne der Justizreform. Die Öffentlichkeit zumeist dafür. Juristen verteidigen den Rechtsstaat oder ihre Standesprivilegien? ♦ Zum ersten Mal seit zwei Jahren erwägen deutlich weniger Polen auf Arbeistssuche ins Ausland zu gehen.