13.06.2023. Steinmeier als Theologe, Jesus als Zauberer

Auf dem jüngsten Deutschen Evangelischen Kirchentag in Nürnberg (7. bis 11. Juni 2023) war Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier als der wichtigste Ehrengast zugegen. Er hielt dort nicht nur eine Rede bei der Eröffnung, sondern ließ sich während einer Veranstaltung innerhalb der Reihe Bibelarbeit zur Auslegung einer Passage aus dem Johannesevangelium verleiten, in der von dem Wunder Jesu bei der Hochzeit zu Kana berichtet wird.

Im Gottesglauben des deutschen Staatsoberhauptes scheint es demnach wenig Platz für die Wunder Jesu zu geben. Es habe „schon plausiblere Bibeltexte für eine Bibelarbeit auf dem Kirchentag“ gegeben, sagte Steinmeier. Diese Erzählung mache ihn „jedes Mal ratlos“. Er stellte die Grundsatzfrage, warum so eine Wundergeschichte es überhaupt in die Bibel geschafft habe, und schilderte den Anwesenden seinen quälenden Zweifel, indem er wörtlich fragte: „Jesus als Zauberer: Ist das nicht etwas dick aufgetragen?“

Steinmeier war sich jedenfalls sicher, dass diese Übertreibung nicht in sein persönliches Jesus-Bild passe, ja, ihn sogar aktiv störe. Er rechnete die Menge des verwandelten Wassers um und erläuterte, dass Jesus ungefähr 1.000 der heute gebräuchlichen Flaschen Wasser zu Wein umgewandelt habe. Dies sei eine unglaubliche Menge, die Darstellung klinge fast obszön und nach Lebensmittelverschwendung. Ihm komme „das schiere Übermaß an Wein“ „merkwürdig“ vor.

Dazu bot der deutsche Bundespräsident seine eigene Interpretation an. Positiv las er aus der Bibelstelle heraus, dass, weil der Wein für Lebensfreude und Kraft stehe, Gott uns Freude im Übermaß schenke und „uns zur Feier“ ermuntere.

Zudem sei Jesus auf einer Hochzeit in einem kleinen Dorf am Rande des Römischen Reiches erschienen, um zu zeigen, dass die Landbevölkerung nicht vernachlässigt werden dürfe, da die Demokratie ihre Legitimität verliere, wenn größere Teile der Gesellschaft nicht in die öffentlichen Debatten einbezogen würden. Die Geschichte, die der Evangelist erzählt, zeigt uns, seiner Meinung nach, dass sich die Dinge zum Besseren wenden können.

Als der Bundespräsident anschließend die Versammelten zu mehr Engagement für die Demokratie und zu rebellischem Mut angesichts der Krisen in der Welt aufrief und mit dem Ausruf „Gemeinsam werden wir die Demokratie in diesem Land verteidigen“ schloss, brach, laut Medienberichten, Begeisterung in dem voll besetzten Saal aus. So vollzog sich auf dem evangelischen Kirchentag in Nürnberg die wundersame Verwandlung des „Zauberers” Jesus in einen Altvorderen der deutschen Demokratie.

Frank-Walter Steinmeiers simple Bibelauslegung in Nürnberg regt zu vielen Überlegungen an. Wir wollen uns auf vier beschränken.

Erstens: Die Bibelexegese des Bundespräsidenten und der Beifall, mit dem sie bedacht wurde, sagen viel über den Zustand einer Glaubensgemeinschaft aus, die sich von einer religiösen Institution in eine gesellschaftspolitische Einrichtung verwandelt. Die senkrechte Dimension, die den Menschen mit Gott verbindet, verschwindet. Was bleibt, ist die waagerechte Dimension, die sich auf den Aufbau von zwischenmenschlichen Beziehungen beschränkt.

Zweitens: Die Ausrichter des Kirchentages haben zum ersten Mal den drei christlichen Organisationen, die sich der Tötung ungeborener Kinder widersetzten (Aktion Lebensrecht für Alle e. V./Fulda, Kooperative Arbeit Leben Ehrfürchtig Bewahren e. V./Chemnitz und Hilfe zum Leben e. V./Pforzheim) die Teilnahme an der Veranstaltung verwehrt. Das obwohl sie in ihrem Aufruf zur Online-Teilnahme am Kirchentag beteuerten, dass dieser eine Gelegenheit zum „offenen Dialog“, zum „Brückenbauen“ und zum „Entdecken von Gemeinsamkeiten“ bieten werde. Danach beklatschten sie, als wäre nichts gewesen, Steinmeiers Bibel-Auslegung, dass die Demokratie ihre Legitimität verliere, wenn größere Teile der Bevölkerung nicht in die öffentlichen Debatten einbezogen würden.

Drittens: Deutsche Medien haben die Teilnahme des Bundespräsidenten an einer religiösen Veranstaltung nicht kritisiert. Dieselben Medien rümpfen oft genug die Nase, wenn polnische Politiker an katholischen Veranstaltungen, z. B. an Debatten in der Journalisten-Hochschule von Radio Maria, teilnehmen oder dem Sender selbst Rede und Antwort stehen. Anders als in Bezug auf Polen kam es niemandem an Rhein und Spree in den Sinn zu behaupten, dass das Verhalten des Bundespräsidenten gegen den Grundsatz der Trennung von Kirche und Staat verstößt. Niemand warf ihm vor, er vermische zwei Aufträge, den politischen und den religiösen, oder biedere sich aus politischem Kalkül der Kirche an.

Viertens: Niemand behelligte Steinmeier, von Christ zu Christ, mit der Frage, wie viel Verwässerung verträgt der christliche Glaube eigentlich, bis er seine Substanz verliert?

RdP