Polens Frauen. An der Schwelle zur Lohngerechtigkeit

Einkommensgefälle gering. EU-weit die meisten Frauen in Führungspositionen.

Aus den neuesten Daten des Statistischen Amtes der Europäischen Union (Eurostat) geht hervor, dass das polnische Lohngefälle, d. h. der Unterschied zwischen dem Verdienst von Männern und Frauen, mit 4,5 Prozent eines der niedrigsten in Europa ist. Der EU-Durchschnitt liegt bei 13 Prozent.

Von den 27 Mitgliedsstaaten weisen acht geschlechtsspezifische Einkommensunterschiede von weniger als 10 Prozent aus. Dabei stehen nur vier Länder besser da als Polen auf, nämlich: Luxemburg (0,7 Prozent), Rumänien (2,4 Prozent), Slowenien (3,1 Prozent) und Italien (4,2 Prozent). Die größten geschlechtsspezifischen Verdienstunterschiede gibt es in Lettland (22,3 Prozent), Estland (21,1 Prozent), Österreich (18,9 Prozent) und Deutschland (18,3 Prozent). Zwischen 2015 und 2022 verringerte sich dieser Unterschied in Polen von 7,3 auf 4,5 Prozent, während er in der EU insgesamt von 15,5 auf 13 Prozent sank.

Im Jahr 2022 betrug der Wert in Polen nach Altersgruppen:

bis 25 Jahre – 8,2 Prozent,

25 bis 34 Jahre – 7,2 Prozent,

35 bis 44 Jahre – 9,4 Prozent,

45 bis 54 Jahre – 5,5 Prozent.

In der Altersgruppe 55 bis 64 Jahre besteht ein Lohngefälle zugunsten der Frauen. Es beträgt 6,8 Prozent.

Letzteres hängt mit dem niedrigeren gesetzlichen Renteneintrittsalter für Frauen (60 Jahre) zusammen. Das Renteneintrittsalter für Männer beträgt in Polen 65 Jahre. Frauen mit geringerer Qualifikation und Entlohnung, die oft körperlich schwer arbeiten müssen, neigen dazu, schnellstmöglich in Rente zu gehen. Damit tauchen sie in der Eurostat-Statistik nicht mehr auf. Frauen in höheren, gut bezahlten Positionen hingegen verlassen den Arbeitsmarkt deutlich später.

Unterschied zwischen dem Verdienst von Männern und Frauen in den 27 EU-Mitgliedsstaaten 2022. Bitte ggf. vergrößern.

Fortschritt ohne Vorschriften

„In Polen ist das Lohngefälle im Vergleich zu anderen EU-Ländern relativ gering. Ich erinnere mich an die Zeiten, als es im Durchschnitt 7 Prozent betrug. Es ist erwähnenswert, dass wir in Polen keine besonderen Vorschriften in dieser Hinsicht haben, wie es in den meisten EU-Ländern der Fall ist. Wenn es irgendwo ein ernstes Problem gibt, werden Vorschriften eingeführt, um negative Erscheinungen zu verhindern. In Polen werden keine zusätzlichen Vorschriften benötigt“, sagt Piotr Soroczyński, Chefökonom der polnischen Handelskammer. „Die größere Kluft in den westeuropäischen Ländern ist beispielsweise darauf zurückzuführen, dass Frauen häufiger als Männer in Teilzeit arbeiten, wodurch sich das Lohngefälle vergrößert. In Polen ist Teilzeitarbeit viel weniger verbreitet“, fügt der Experte hinzu.

„Die Forderung, die Lohnlücke zu schließen, ist absolut richtig. Unabhängig vom Geschlecht sollte gleicher Lohn für gleiche Arbeit gezahlt werden. Allerdings gibt es nirgendwo eine ideale Situation. Wenn wir uns die EU-Länder ansehen, steht Polen an der Spitze der Länder mit dem geringsten Lohngefälle“, sagt Barbara Socha, stellvertretende Ministerin für Familien- und Sozialpolitik. „In den westeuropäischen Ländern, die wir als weiter entwickelt betrachten, ist dieser Abstand viel größer als in Polen. In diesen Ländern ist auch die Erwerbsquote der Frauen niedriger. In Polen ist dieser Unterschied in einigen Branchen sogar negativ, d. h. Frauen verdienen mehr als Männer“, erklärt Socha.

Das ist zum Beispiel im öffentlichen Sektor (Verwaltung, Justizwesen, Bildung, Gesundheitswesen, Polizei, Armee) der Fall, wo der Gehaltsunterschied zwischen den Geschlechtern im Jahr 2022 zugunsten der Frauen ausfiel und 0,6 Prozent betrug. Anders ist es in der Wirtschaft. Hier liegt das Lohngefälle der Nachteil der Frauen bei 13 Prozent.

„Die Lücke in der Wirtschaft könnte darauf zurückzuführen sein, dass die Frauen dort häufiger in Teilzeit arbeiten, während es im öffentlichen Sektor wesentlich üblicher ist, Vollzeit zu arbeiten. Wenn das der Grund ist, dann sehe ich kein Problem. Wären es andere Gründe, d. h. wäre die Lücke auf eine bewusste Politik der Unternehmen zurückzuführen, dann müsste man eingreifen. Ich beobachte den Arbeitsmarkt jedoch schon seit Langem und kann keine bewusste Negativpolitik der Arbeitgeber erkennen. Im Gegenteil. Als ich in Entscheidungspositionen tätig war und intern gebeten wurde, zu prüfen, ob es ein Lohngefälle gibt, stellte sich heraus, dass es in den Unternehmen, für die ich tätig war, überhaupt keinen Lohnunterschied zwischen Männern und Frauen in denselben Positionen gab. Der Anteil von Frauen und Männern in Führungspositionen war gleich groß. In Polen ist der Anteil der Frauen in Führungspositionen recht hoch“, berichtet Piotr Soroczyński.

Beinahe jeder zweite Chef ist eine Frau

Das wird durch die Daten von Eurostat bestätigt, die zeigen, dass 2022 der Frauenanteil in Führungspositionen (im Alter zwischen 20 und 64 Jahren) in Polen mit 43,7 Prozent den höchsten Wert in der EU erreichte. Der EU-Durchschnitt liegt bei 35,6 Prozent. Nach Polen wurden die besten Ergebnisse in Bulgarien (43,4 Prozent), Lettland (43,1 Prozent) und Schweden (42,6 Prozent) verzeichnet. Am schlechtesten schnitten Kroatien (24,4 Prozent), Zypern (25,3 Prozent) und die Tschechische Republik (27,4 Prozent) ab.

Die Lohnunterschiede in Polen sind von Branche zu Branche unterschiedlich. Im Baugewerbe z. B. verdienen Frauen im Durchschnitt 9,6 Prozent mehr als Männer. Letztere verrichten auf den Baustellen die geringer bezahlten, schweren körperlichen Arbeiten. Frauen arbeiten im Baugewerbe hingegen fast ausschließlich in höheren Positionen, die spezifische und besser bezahlte Qualifikationen erfordern, z. B. als Ingenieure, Konstrukteure, Architekten, Logistiker, Verwaltungsangestellte.

Auf dem anderen Ende der Skala befindet sich die von Männern beherrschte polnische Informations- und Kommunikationsbranche, wo ein Auseinanderdriften der Gehälter von 27 Prozent zu Ungunsten der Frauen besorgniserregend ist.

„Polnische Frauen sind hochgebildet, fleißig und unternehmerisch denkend. Die Erwerbsbeteiligung der Frauen hat in den letzten Jahren stark zugenommen. Die Kassandrarufe der turboliberalen Ökonomen und Politiker, die Einführung des 500+ Programms (500 Zloty monatlich für jedes Kind bis 18 Jahren) durch die nationalkonservative Regierung werde die Frauen vom Arbeiten abhalten, haben sich nicht bewahrheitet. Das genaue Gegenteil ist eingetreten“, sagt Barbara Socha, die stellvertretende Ministerin für Familie und Soziales.

Werfen wir noch einmal einen Blick auf die Statistiken. Laut der Arbeitskräfteerhebung (AKE) von Eurostat lag in 2022 die Erwerbsquote von Frauen im Alter zwischen 20 und 64 Jahren in Polen bei 72,3 Prozent, während der EU-Durchschnitt 74,1 Prozent betrug. Die Wachstumsrate der weiblichen Erwerbsquote in Polen war in den letzten sieben Jahren viel höher als im EU-Durchschnitt. Im Vergleich zu 2015 (64,7 Prozent) stieg sie in Polen um 7,6 Prozentpunkte. Der EU-Durchschnitt wuchs in dieser Zeit um 4 Prozent.

In den letzten zehn Kalenderjahren erhöhte sich die Beschäftigungsquote von Frauen (20-64 Jahre) in allen Bildungsgruppen. Am stärksten war der Zuwachs bei polnischen Frauen mit Hochschulabschluss: 7,9 Prozent. Im Jahr 2022 waren 87,9 Prozent berufstätig. Im Vergleich dazu, lag die Beschäftigungsquote von Frauen mit Hochschulabschluss in der gesamten EU in der gleichen Zeit bei 83,7 Prozent (am höchsten in Litauen mit 91,3 Prozent, am niedrigsten in Griechenland mit 74,9 Prozent).

© RdP




23.05.2022. Emma, Macron, New York Times & Co. Polen stellt sich quer

Man sollte vorsichtig sein, Staatsbesuche als historisch zu bezeichnen. Solche Bewertungen können schnell von der Zeit überholt werden. Der Aufenthalt des polnischen Staatspräsidenten Andrzej Duda am 22. Mai 2022 in Kiew  wird jedoch ganz bestimmt für länger in den Köpfen der Ukrainer und Polen bleiben. Nicht nur, weil Duda der erste ausländische Staatschef war, der seit Beginn des Krieges am 24. Februar 2022 vor dem ukrainischen Parlament, der Werchowna Rada, sprach.

Wichtig waren die spontanen, herzlichen Gesten, die Wolodymyr Selenskij und Duda austauschten. Einen hohen symbolischen Wert hat dabei die Ankündigung Selenskijs, dass alle Polen in der Ukraine, genauso wie jetzt alle Ukrainer in Polen, mit den Einheimischen, bei Sozialleistungen, Steuern, auf dem Arbeitsmarkt, im Gesundheits- und Bildungswesen gleichgestellt sein sollen. Wichtig waren auch die sich anschlieβenden stehenden Ovationen der ukrainischen Abgeordneten.

Noch wichtiger jedoch waren die Worte, die der polnische Staatspräsident an die Ukrainer richtete: „Nur die Ukraine hat das Recht, über ihre Zukunft zu entscheiden. Nichts über dich (Ukraine) ohne dich“. Duda sprach im Namen fast aller Polen. Eine freie Ukraine ist das wirksamste Bollwerk gegen Russland. Sie zu unterstützen ist oberste polnische Staatsraison.

Dudas Worte fielen im richtigen Moment, denn nach drei Monaten Krieg macht sich in Westeuropa Kriegsmüdigkeit breit. In Deutschland unterschreiben Hunderttausende den „Emma“-Brief an den Bundeskanzler, in dem faktisch die Ukrainer zur Kapitulation aufgerufen werden. Frankreichs Staatspräsident Macron sowie Ex-Premier Berlusconi in Italien warnen vor einer Demütigung Russlands. Sorgen bereitet ihnen und nicht nur ihnen, was sein wird, sollte die Ukraine gewinnen.

Und außerdem, so die Klagen in vielen westeuropäischen Hauptstädten, treffen die Sanktionen alle. Die Preise steigen, die Wirtschaft leidet, und es ist an der Zeit, dem Ganzen ein Ende zu setzen. Die Lösung kann nur Frieden heiβen. Zu welchem Preis? Territoriale Zugeständnisse von Kiew an Moskau, das sind die Andeutungen, die Wolodymyr Selenskij in seinen Telefongesprächen mit westlichen Politikern zu hören bekommt.

Die „New York Times“, die wichtigste Tageszeitung der Vereinigten Staaten und vielleicht der ganzen Welt, die sich vor einem Vierteljahrhundert gegen die Nato-Erweiterung um Polen aussprach und diese in einem Kommentar als einen „fatalen Fehler“ bezeichnete, meinte in diesen Tagen, dass „Putin zu viel persönliches Prestige investiert hat“, als dass man von ihm einen Rückzug aus den besetzten Gebieten erwarten könnte.

Diesen Neigungen, Stimmungen und Bestrebungen gilt es sich entschieden zu widersetzen. Ein Paktieren über die Köpfe der Ukrainer hinweg ist mit Polen nicht zu machen, das war die wichtigste Botschaft des Kiew-Besuches von Andrzej Duda.

Das polnische Engagement und die polnische Effizienz haben einen wesentlichen Beitrag dazu geleistet, dass Russland die Ukraine nicht zerschlagen und den Westen nicht zwingen konnte, Mord und Annexion stillschweigend zu akzeptieren. Die Fähigkeit Polens, die Länder der Region zur Unterstützung der Ukraine zu organisieren, Millionen von Flüchtlingen, darunter auch Ehefrauen und Kindern von Soldaten, einen sicheren Zufluchtsort zu bieten, polnische Waffen- und Hilfsgüterlieferungen, der riesige Strom ausländischer Versorgung, der im Transit durch polnisches Territorium die Ukraine erreicht, spielen eine wichtige, vielleicht entscheidende Rolle. Jetzt galt es ein starkes politisches Signal zu setzten.

Der polnische Staatspräsident zögerte nicht, die Ukraine mit einer klaren Botschaft zu unterstützen. Dass freie Nationen nicht käuflich sind, und dass die freie Welt heute das Gesicht der Ukraine trägt. Es gibt keine Politik ohne Moral, keine Sicherheit ohne Wertetreue, ohne die Unterscheidung zwischen Gut und Böse. Der Westen ist diesbezüglich gespalten. Polen hat hierzu klar Position bezogen.

RdP




5.05.2022. Putin und die Selbstzerfleischung des Westens

Es ist eine der Binsenwahrheiten unserer Tage: Der russische Überfall auf die Ukraine hat sich faktisch in einen Krieg verwandelt zwischen Russland und der westlichen Welt, wie sie am Ende des Kalten Krieges vor dreißig Jahren entstanden ist. Die bisher akademisch geführten Debatten des Westens über den Zusammenprall der Kulturen oder das globale Ringen zwischen Staaten wie den USA, China und Russland, haben plötzlich die greifbare Form blutiger militärischer Schlachten und  russischer Kriegsgräuel, begangen bei Kiew oder im Donbass, angenommen.


Es sei jedoch daran erinnert, dass seit geraumer Zeit niemand den Westen so sehr bekämpft hat wie der Westen sich selbst. Er hat irgendwann begonnen, sich selbst aufrichtig zu hassen und so seine Daseinsberechtigung grundsätzlich zu verneinen. Diese Selbstaggression zergliedert die westliche Welt, schwächt ihre Position fortwährend und stellt die Aussicht auf ihren Fortbestand infrage.


Die Fähigkeit, sich selbst kritisch zu hinterfragen, war schon immer ein wesentliches Merkmal der westlichen Zivilisation, die sie vor dem Erstarren bewahrt hat. Sie war eine wesentliche Triebkraft für die anhaltende Erneuerung, die dem Westen im Laufe der Zeit einen Vorsprung in der Welt verschafft hat.


Was sich jedoch inzwischen in den westlichen Gesellschaften durch die kulturelle Linke und Rechte entwickelt hat, hat nichts mehr mit gesunder Selbstkritik zu tun, sondern gleicht einem hirnlosen Drang zur vollkommenen Selbstverneinung und Selbstzerstörung. Es stellt sich nämlich heraus, dass der Westen der einzig Schuldige für alles Böse in der Welt war und ist.

Es ist der Westen, der die Sklaverei, den Rassismus, die Ausbeutung und die Kriege erfunden hat, es ist der Westen, der die Welt ausplündert und vernichtet. Niemand sonst in der Geschichte hat so etwas getan. Alle anderen waren Opfer. Wenn sich der Westen also in sein Schneckenhaus zurückziehen (die extrem rechte Sichtweise) oder einfach aufhören würde zu existieren (der Traum der extremen Linken), würde die Welt unvergleichlich besser dastehen.

Das sehen Putin und seinesgleichen genauso. Russische Politik und Propaganda pflichteten jahrelang westlichen Politikern, Intellektuellen und Aktivisten, die das behaupten, eifrig bei. Putin&Co. hofierten sie im Kreml, umgarnen mit Komplimenten, Dialogangeboten, Stipendien und diskreten finanziellen Zuwendungen.

Die Energieabhängigkeit des Westens von Russland war das Eine. Das Andere war ein in schwere Selbstzweifel verstrickter Westen, der nicht an sich glaubt, sich geistig zerfleischt. Beides zusammen schuf die Überzeugung, dass sich die westliche Welt den russischen Kriegsabenteuern nicht oder nur schwach widersetzen wird.

Gewiss, Putin hat sich verrechnet, doch den Toten des Ukraine-Krieges bringt das nichts.

RdP




21.03.2022. Den politisch inkorrekten Ukrainern ins Stammbuch geschrieben

Der Krieg in der Ukraine stellt die politische Korrektheit auf eine harte Probe.

Seitdem er ausgebrochen ist, gibt es, anstatt der oft zitierten Vielfalt, nur noch zwei Geschlechter. Männer kämpfen für ihr Land, Frauen bringen Kinder und Großeltern in Sicherheit. Eine augenfälligere Prachtentfaltung des längst vergessen geglaubten patriarchalischen Rollenmodells kann es wahrlich nicht geben. Wo bleiben die Quoten in diesem Bereich, die gewährleisten, dass die Hälfte der Väter sich um Küche und Kinder kümmert, während die Mütter mit Panzerfäusten im Marschgepäck an die Front ziehen?

Auch überprüft niemand in der ukrainischen Armee den Anteil der Menschen mit unterschiedlichen geschlechtlichen Veranlagungen. Dieser Überprüfung müssten selbstverständlich auch die russischen Streitkräfte unterzogen werden. Da wir Russland jedoch ohnehin verurteilen, mit der Ukraine sympathisieren, sie unterstützen, sollten wir vor allem diejenigen genauer betrachten, denen unsere Gunst zuteil wird.

Schon auf den ersten Blick ist zu erkennen, wie bei den Ukrainern überkommene Männlichkeitsbilder hochgespült werden. Plötzlich steht die „toxische Männlichkeit“ hoch im Kurs: Männer die keine Schwäche zeigen, ihre Gefühle unterdrücken und, man glaubt es nicht, dem Konflikt mit dem Aggressor Putin durch Gewalt beikommen wollen.

Für diesen Männertypus steht exemplarisch der ukrainische Staatspräsident Wolodymyr Selenskyj, der ungerührt im russischen Raketenhagel ausharrt, statt sich in Sicherheit zu bringen. Selenskyjs Spruch: „Ich brauche Munition, keine Mitfahrgelegenheit“, als die Amerikaner anboten ihn gemeinsam mit dem US-Botschaftspersonal aus Kiew herauszubringen, hätte auch von John Wayne oder Clint Eastwood stammen können. Diese erschreckende Diskursverschiebung zu mehr Männlichkeit widerspricht der „feministischen Außenpolitik“ und hat schwerwiegende „psychopolitische“ Folgen.

Selenskyj, einem offensichtlich aus der Rolle gefallenen drolligen Komiker, dem bei seinem Amtsantritt niemand so viel Medienwirksamkeit bei der Darstellung maskuliner Charakterstärke zugetraut hätte, steht, mit seinem ärgerlichen Machogehabe, der einstige Boxer, jetzt Kiews Bürgermeister, Vitali Klitschko zur Seite. Zwischen Wohnhäuserruinen verkündete er: „Wenn ich sterben muss, dann sterbe ich. Es ist eine Ehre, für sein Land zu sterben.“

Wäre es nicht an der Zeit den Ukrainern deutlich zu sagen, wie irrational sie sich verhalten, wenn sie ausgerechnet den aus der reaktionären Mottenkiste herausgeholten Begriff des „Vaterlandes“ in den Vordergrund ihrer „toxischen Männlichkeit“ rücken? Wie dumm verhalten sie sich zudem, wenn sie darauf bestehen, dass ihr Land das Recht habe in den, seinerzeit von allen Seiten anerkannten, rechtmäßigen Grenzen zu existieren, wo doch jeder weiß, dass Grenzen eigentlich längst abgeschafft gehören. Wird da nicht im Grunde viel Lärm um nichts gemacht?

Und die „Nation“, von der Selenskyj, Klitschko & Co. unentwegt schwadronieren? Sie ist doch nur eine erfundene, abgenutzte und zudem brandgefährliche Zwangsgemeinschaft. Es mutet geradezu absurd an, für sie sterben zu wollen.

Und warum bringt niemand die Ukrainer davon ab, sich ständig auf ihre Tradition und Geschichte zu berufen, was sie nur mit ihrer Vergangenheit verstrickt und ihre Entscheidungsfreiheit einschränkt? Ist es nicht an der Zeit zu verurteilen, dass den in der Ukraine lebenden Menschen eine kollektive nationale Identität übergestülpt wird, die ihre Selbstverwirklichung verhindert? Dabei weiß doch jeder, dass die Loyalität eines Menschen einzig und allein ihm selbst und niemals irgendeinem abstrakten Ganzen gehört.

Wen kümmert es, dass diese Art von Emanzipation Menschen wehrlos macht gegenüber skrupellosen Gangstern wie Putin? Wichtig ist, statt Waffen zu liefern, den Ukrainern bei der Dekonstruktion und Entmystifizierung solch muffiger Begriffe wie Heimat, Volk und Heldentum beizustehen, was einer Anleitung zum selbstbestimmten, politisch korrekten Sterben gleichkommt.

RdP




Das Wichtigste aus Polen 25.Oktober bis 21.November 2020

Aleksandra Rybińska und Janusz Tycner diskutieren die wichtigsten Ereignisse der letzten Zeit in Polen ♦ Radikal. Brutal. Vulgär.  Massenproteste gegen das Verfassungsgerichtsurteil zum besseren Schutz des ungeborenen Lebens scheiterten an ihren Maßlosigkeiten und verkamen zu machtlosen Wutausbrüchen  immer kleinerer Aktivisitengruppen. ♦  Wie der Unabhängigkeitsmarsch am Nationalfeiertag, dem 11. November, außer Kontrolle geriet. ♦  Polens Veto gegen den sog. EU-Rechtsstaatsmechanismus.  Vorgeschlagene Androhung des Geldentzugs erlaubt uneingeschränkte Fremdeinmischung in alle Bereiche der Innenpolitik.




Istanbul-Konvention. Warum Polen austreten sollte

Argumente die unterschlagen werden.

Warum plant die polnische Regierung den Austritt aus der Istanbul-Konvention zur Bekämpfung der Gewalt gegen Frauen? Die Antwort in der Berichterstattung über Polen fällt eindeutig aus: Frauenrechte sollen beschnitten, Gewalt gegen Frauen womöglich legalisiert werden.

Die Sichtweise der Befürworter des Austritts kommt in den deutschsprachigen medialen Darlegungen überhaupt nicht oder hochgradig entstellt zur Geltung. Böser Wille und niedrige Beweggründe, die ihren Ursprung im „katholischen Aberglauben“ haben, so der hartnäckig von den Autoren vermittelte Eindruck, seien die Motive.

Initiative „Nein für die Gender-Konvention“.

Dabei handelt es sich um eine Debatte, in der die Gegner der Konvention gewichtige Argumente, nicht gegen den Schutz von Frauen vor Gewalt, sondern die Art wie ihn die Konvention durchsetzen will, ins Gespräch bringen. Einen Appell, aus der Istanbul-Konvention auszutreten, haben in Polen bis Anfang August 2020 knapp zweihunderttausend Bürger unterschrieben.

Initiative „Frauen gegen die Antifamilien-Konvention“.

Deswegen, dem Grundsatz audiatur et altera pars („Man höre auch die andere Seite“) verpflichtet, sehen wir die Notwendigkeit, die Argumente der Befürworter des polnischen Austritts aus dem „Übereinkommen des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt“ darzulegen, und die Umstände, auf die sie verweisen.

1. Gewalt gegen Frauen. Die rechtliche Lage in Polen

Die regierenden Nationalkonservativen sagen, sie nehmen das Problem sehr ernst. Als Beleg dafür, verweisen sie darauf, dass ihre Regierung und ihre parlamentarische Mehrheit, die den Austritt aus der Istanbul-Konvention betreiben, ein Gesetz ausgearbeitet und am 30. April 2020 verabschiedet haben, das sehr radikal gegen häusliche Gewalt, die sich überwiegend gegen Frauen richtet, vorgeht.

Weder die postkommunistische Linke, die Polen zweimal regierte (1993 bis 1997 und 2001 bis 2005), noch die linksliberale Bürgerplattform von Donald Tusk (2007 bis 2015) haben sich zu einem solchen Schritt durchringen können.

Auf der Stelle Hausverbot

Aufgrund des neuen Gesetzes kann die herbeigerufene Polizei den Täter mit sofortiger Wirkung der Wohnung verweisen und ein Rückkehrverbot von bis zu vierzehn Tagen aussprechen. Die verwiesene Person darf die notwendigsten Sachen mitnehmen, muss die Wohnung verlassen und die Wohnungsschlüssel abgeben. Hat der Täter keine andere Unterkunftsmöglichkeit, wird er an das nächstgelegene Obdachlosenheim verwiesen.

Das Betreten der Wohnung, um weitere notwendige Gegenstände zu holen, ist nur in Polizeibegleitung möglich. Innerhalb von 14 Tagen muss ein Gericht entscheiden, ob der Wohnungsverweis aufgehoben oder verlängert wird.

Polizeieinsatz. Gewaltopfer.

Hält sich der Täter nicht an den Verweis, kann eine Geld- oder Haftstrafe gegen ihn verhängt werden. Er kann bei Gericht Beschwerde gegen die polizeiliche Maßnahme einlegen, die dann innerhalb von drei Tagen entschieden werden muss.

Damit ist eine wesentliche Lücke in der Bekämpfung häuslicher Gewalt in Polen von den Nationalkonservativen geschlossen worden. Die Opfer müssen nicht länger die Anwesenheit des Täters ertragen, während sie tagelang auf den Gerichtsbeschluss über ein Hausverbot warten.

Ein Argument gegen die Entfernung aus der Wohnung war oft, dass der Täter keine andere Bleibe habe. Gerichte beließen daraufhin die Täter in den Wohnungen und verhängten Auflagen, an die sich die Betroffenen, vor allem in betrunkenem Zustand, nicht hielten.

Das Verfahren der Blauen Karte

Zur Bekämpfung häuslicher Gewalt sind in Polen gesetzlich die Polizei, die Staatsanwaltschaften, Gerichte, Gemeinden, Sozialhilfestellen, die Schulen, das Gesundheitswesen und Nichtregierungsorganisationen verpflichtet.

Um ihre Zusammenarbeit zu koordinieren, hat man 1998 das sogenannte Verfahren der Blauen Karte eingeführt. Auch das geschah in einer Zeit, als Polen zwischen 1997 und 2001 von einem Bündnis aus der Gewerkschaft Solidarność und etlichen kleineren christlichen und nationalkonservativen Parteien regiert wurde.

Die Bezeichnung rührt daher, dass ursprünglich die zur Dokumentation verwendeten Formulare eine blaue Farbe hatten. Das Verfahren wurde 2005 auf seinen heutigen Stand gebracht.

Blaue-Karte-Koordinierungsteam Gemeinde Zbąszynek/Neu Bentschen, Woiwodschaft Lebus.

Wenn eine der erwähnten Behörden oder Einrichtungen von häuslicher Gewalt erfährt, ist sie verpflichtet, Anzeige bei der Polizei zu erstatten, die wiederum sofort tätig werden muss. Beamte, die so, oder bei einem Einsatz, häusliche Gewalt feststellen, legen eine Blaue Karte an, in der sie die Vorgänge in Anwesenheit des Täters dokumentieren. Die geschädigten Personen können später ihre am Tatort gemachten Aussagen nicht mehr zurückziehen, wozu die Täter sie oftmals im Nachhinein bewegen wollen.

Blaue-Karte-Koordinierungsteam Gemeinde Wińsko/Winzig, Woiwodschaft Niederschlesien. Oberes Schild.

Die beim Prozess der Blauen Karte vernetzten Behörden und Einrichtungen werden alle über jeden der Fälle in Kenntnis gesetzt und können tätig werden. Ihre Arbeit wird in jeder polnischen Gemeinde durch ein vom Bürgermeister berufenes Team (zespół interdyscyplinarny) koordiniert. Es sind zumeist Familien von Suchtabhängigen, mit denen das Team sich beschäftigen muss.

Blaue-Karte-Koordinierungsteam Gemeinde Dzwola, Woiwodschaft Lublin.

Das Verfahren der Blauen Karte garantiert vor allem, dass häusliche Gewalt in Polen schnell ausfindig gemacht und unterbunden werden kann. Hauptursache sind Alkoholprobleme der Täter, die es unter Kontrolle zu bekommen gilt, was sich oft als äußerst schwierig erweist.

Dass sich die Vorgehensweise der Blauen Karte bewährt, zeigt der stete Rückgang der häuslichen Gewalt.

Hilfsstellen für Verbrechensopfer

Die Nationalkonservativen verweisen auch darauf, dass in ihrer Regierungszeit, im September 2017, das Justizministerium den Gerechtigkeitsfonds (Fundusz Sprawiedliwości) ins Leben rief.

Gespeist aus Bußgeldern und Geldstrafen, finanziert der Fonds die Errichtung und die Arbeit von Hilfsstellen für Verbrechensopfer, unter anderem Frauen, denen Gewalt widerfahren ist. Im Jahr 2019 standen dafür 50 Millionen Zloty (aktuell ca. 11,5 Millionen Euro) zur Verfügung.

Landesweiter Notruf für Opfer häuslicher Gewalt.

Mittlerweile gibt es sechzig solche Hilfsstellen im ganzen Land. Sie unterhalten knapp einhundert Filialen in kleineren Gemeinden. Alle werden von Nichtregierungsorganisationen (Stiftungen, Vereinen) im Auftrag des Gerechtigkeitsfonds betrieben.

Opfer und Zeugen aller Verbrechen, sowie entlassene Strafgefangene finden hier kostenlose juristische, medizinische, psychologische und materielle Unterstützung. Es muss ein Termin vereinbart werden. Dann gilt der Grundsatz, dass das erste Gespräch zur Bestandsaufnahme innerhalb von vierzehn Tagen nach der Anmeldung stattfinden muss. Im Jahr 2019 waren etwa fünfzehn Prozent der bearbeiteten Fälle Gewaltverbrechen gegen Frauen.

Strafandrohung

Die Befürworter des Austritts aus der Istanbul-Konvention weisen darauf hin, dass die juristischen Voraussetzungen für die Verfolgung von Gewalt gegen Frauen in Polen nicht im Geringsten von den Standards abweichen, die in Deutschland, Schweden oder Dänemark gelten.

● Art. 207 des polnischen Strafgesetzbuches sieht für die Misshandlung nahestehender Personen Freiheitsstrafen zwischen drei Monaten und zwölf Jahren vor.

● Im Mai 2019 wurde auf Antrag der nationalkonservativen Regierung der Art. 197 des polnischen Strafgesetzbuches umformuliert. Auf Vergewaltigung stehen jetzt maximal 15 statt 8 Jahre, auf einen mit besonderer Grausamkeit begangenen Missbrauch maximal 20 statt 15 Jahre.

● Opfer von Vergewaltigungen müssen keine Anzeige mehr erstatten. Diese Straftaten werden ab Mai 2019 von Amts wegen verfolgt.

● Opfer häuslicher Gewalt sind in Polen grundsätzlich von allen Prozesskosten befreit.

● Die Prozessschriftsätze werden dem Täter, wenn er die Annahme der Post verweigert, von der Polizei zugestellt.

2. Gewalt gegen Frauen in Polen konkret. Statistik

Die Zahl der Opfer häuslicher Gewalt ist in Polen, laut Polizeiangaben,

von 105.332 (davon 72.786 Frauen) im Jahr 2014
auf
88.133 Fälle (davon 65.057 Frauen) im Jahr 2018 zurückgegangen.

Gewalt gegen Frauen. Wie steht Polen im EU-Vergleich da?

Die Befürworter des Austritts verweisen auf Antworten, die man in den Ergebnissen der EU-weiten Erhebung „Gewalt gegen Frauen“ finden kann. Sie wurde durchgeführt von der Agentur der Europäischen Union für Grundrechte (FRA).

Die Autoren schreiben: „In jedem EU-Mitgliedsstaat nahmen mindestens 1.500 Frauen an der Erhebung teil. Zielgruppe war die Gesamtbevölkerung der Frauen zwischen 18 und 74 Jahren, die in der EU leben und mindestens eine der Amtssprachen ihres Wohnsitzlandes sprechen. Alle Befragten wurden nach dem Zufallsprinzip ausgewählt und die Ergebnisse der Erhebung sind sowohl auf EU- als auch auf nationaler Ebene repräsentativ.“

Die umfangreiche Studie kann man in deutscher Sprache hier nachlesen.

Wir bringen als Beispiel drei Fragen und die Antworten darauf in ausgewählten Ländern. Sie sind repräsentativ für die Gesamtergebnisse.

1.  Frauen, die seit dem 15. Lebensjahr körperliche und/ oder sexuelle Gewalt in der Partnerschaft oder durch eine andere Person erfahren haben: EU-33 Prozent

Schweden – 46, Niederlande – 45, Frankreich – 44,  Großbritannien – 44, Deutschland – 35, Slowakei – 34, Ungarn – 28, Spanien – 22, Polen – 19.

2. Erfahrung von Gewalt in der Kindheit (vor dem 15. Lebensjahr) durch erwachsene TäterInnen: EU – 35 Prozent

Frankreich – 47, Schweden – 44, Deutschland – 44, Großbritannien – 40, Slowakei – 36, Niederlande – 35, Spanien – 30, Ungarn – 27, Polen – 18.

3.  Häufigkeit von Gewalt gegen Frauen in der Wahrnehmung von Frauen, „Die Gewalt gegen Frauen ist in meinem Land sehr verbreitet“: EU- 27 Prozent

Großbritannien – 35, Frankreich – 31, Spanien – 31, Niederlande – 25, Schweden – 24, Deutschland – 19, Ungarn – 18, Polen – 16, Slowakei – 15.

Obwohl es eine repräsentative EU-Umfrage ist, die von externen Wissenschaftlern, in strenger Anonymität durchgeführt wurde, wird sie von linken Aktivisten in Polen, auf die sich deutsche Medien berufen, in Frage gestellt.

Die ansonsten sehr resoluten und selbstbewussten Polinnen, so die Behauptung linker und feministischer Gruppen, haben ausgerechnet in diesem Fall massenhaft Angst, anonym die Wahrheit zu sagen. Handfeste Beweise für diese angeblich flächendeckende Furcht bleiben die EU-Umfrage-Anfechter jedoch seit Jahren schuldig.

3. Istanbul-Konvention. Polens Beitritt,…

Die Regierung Donald Tusk unterzeichnete die Konvention im Dezember 2012. Im Februar 2015 verabschiedete die Regierungsmehrheit im Sejm, bestehend aus Tusks Bürgerplattform und der Bauernpartei, das Ratifizierungsgesetz. Der damalige Staatspräsident Bronisław Komorowski unterzeichnete es im April 2015.

Staatspräsident Bronisław Komorowski nach der Unterzeichnung der Istanbul-Konvention am 13. April 2015.

Sechs Wochen später verlor Komorowski die zweite Runde der Präsidentschaftswahlen gegen den nationalkonservativen Herausforderer Andrzej Duda. Im Oktober 2015 erlangten die Nationalkonservativen bei den Parlamentswahlen die absolute Mehrheit im Sejm. Die Wende war vollzogen.

Unterzeichnete Istanbul-Konvention. Kameraleute, Pressefotografen.

Sie sollte auch den Austritt aus der Istanbul-Konvention mit sich bringen.

…Polens Austritt und die Politik

So lautete jedenfalls schon damals ein Wahlversprechen der Nationalkonservativen. Vorher hatte Recht und Gerechtigkeit im Parlament gegen die Konvention gestimmt und sich an die Spitze der großen gesellschaftlichen Ablehnungsfront gestellt, die das Abkommen von Istanbul als gefährlich und schädlich betrachtet.

Nach der Wahl jedoch konzentrierte sich die siegreiche Partei Jarosław Kaczyńskis, mit großem Erfolg, auf die Wirtschafts- und Sozialpolitik, nahm ebenfalls die Justizreform in Angriff. Dabei „vergaß“ sie sehr schnell ihre weltanschaulichen Zusagen.

Dass ein ungeborenes Kind als krank diagnostiziert wurde, sollte demnach in Polen kein Grund mehr dafür sein, es dem Tod durch Abtreibung preiszugeben. Recht und Gerechtigkeit hatte das zwar in diversen Wahlkämpfen immer wieder feierlich versprochen, brachte jedoch in all den Jahren seit 2015, keinen eigenen diesbezüglichen Gesetzentwurf ein. Mehr noch, Jarosław Kaczyńskis Partei torpedierte nacheinander drei entsprechende Gesetzentwürfe, die, mit Hunderttausenden von Unterschriften versehen, Pro-Life-Bürgerinitiativen im Parlament einbrachten.

Die heiße Kartoffel Abtreibungsrecht fasst Jarosław Kaczyński nur in Wahlkämpfen an. Dort macht er der sehr vielfältigen, rechnet man die Sympathisanten mit, in die Hunderttausende gehenden, öffentlichkeitswirksam auftretenden polnischen Pro-Life-Bewegung immer wieder Hoffnungen, die er dann anschließend enttäuscht. Die politischen Kosten im In- und Ausland erweisen sich, für den stets scharf kalkulierenden Machtmenschen Jarosław Kaczyński, jedes Mal als zu hoch.

Und so bleibt alles beim Alten. Doch wenigstens gibt es in Polen keine Tötung ungeborener Kinder auf Wunsch, und das ist in den Augen der Pro-Life-Bewegung schon sehr viel. Kaczyńskis Gegner würden sie sofort einführen. Also bekommt Kaczyński am Ende jedes Mal die Pro-Life-Stimmen, versehen mit der Hoffnung, dass es dieses Mal mit der Ausweitung des Lebensschutzes Ungeborener vielleicht doch klappen wird.

Nicht anders ist es mit der Istanbul-Konvention. Jarosław Kaczyński will sie nicht aufkündigen. Das wirbelt viel zu viel politischen Staub auf. Für ihn ist das ein unwichtiger Nebenkriegsschauplatz, auf dem er sich politisch keinesfalls verausgaben will.

Justizminister Zbigniew Ziobro. Antrag auf Austritt aus der Istanbul-Konvention.

Dort muss es genügen, den Gegner, sprich: die Konvention, durch Nichtbeachtung auszuschalten. Die polnische Regierung verfasst keine Jahresberichte, die die Konvention fordert. Sie setzt auch keine Maßnahmen um, die der Vertrag vorsieht. Die Losung heißt: „Unser nationales Recht schützt die Frauen vor Gewalt gut genug. Auch ohne Gender“. Wozu noch austreten?

Dieses Mal jedoch hat es Jarosław Kaczyński nicht nur mit starken Anti-Istanbul-Pro-Life-Bürgerinitiativen, sondern auch mit gewichtigen Anti-Istanbul Kräften im eigenen politischen Lager zu tun. Sie sind es leid, die treuesten der treuen Wähler an der Nase herumzuführen und wollen endlich zur Tat schreiten. Ihr Anführer ist Justizminister Zbigniew Ziobro. Er hat den Austritts-Antrag verfasst und ist damit am 27. Juli 2020 an die Öffentlichkeit getreten.

Um die Wogen zu glätten, verwies Ministerpräsident Mateusz Morawiecki, ganz bestimmt nicht ohne zuvor Rücksprache mit Jarosław Kaczyński zu halten, die Istanbul-Konvention am 30. Juli 2020 an das Verfassungsgericht. Dort wird sie lange verweilen, ehe ein Spruch zustande kommt.

So war es auch mit der Anfrage von gut einhundert Sejm-Abgeordneten, ob die Tötung ungeborener, kranker Kinder mittels Abtreibung verfassungskonform sei. Die Anfrage wartete zwei Jahre lang auf eine Entscheidung. Dann ging die Legislaturperiode des Sejm zu Ende und damit verfiel der Antrag.

Warum Polen austreten sollte

Die Kritiker der Istanbul-Konvention beanstanden vor allem den Grundtenor dieses Regelwerkes, in dem sie vorrangig ein ideologisches Manifest sehen.

Sie beanstanden, dass die ganz konkreten Ursachen häuslicher Gewalt, wie Alkohol- oder Drogenmissbrauch, Arbeits-oder Spielsucht, Verwahrlosung durch Arbeitslosigkeit und Armut, Persönlichkeitsstörungen, ein verkommenes, kriminelles Umfeld, in der Istanbul-Konvention keine Erwähnung finden.

Wo wirksame polizeiliche, juristische und Therapiemaßnahmen notwendig sind, sagen die Kritiker, holt die Istanbul-Konvention zu einem linksradikalen weltanschaulichen Rundumschlag aus. Quellen der Gewalt gegen Frauen sind dort: „Kultur“, „Vorurteile“, „Bräuche“, „Religion“, „Traditionen“, „Rollenzuweisungen“, die es zu beseitigen gilt.

Das hehre Ziel und Vorhaben, häusliche Gewalt zu verhindern, gerät in diesem Dokument zum Fahrplan eines ideologischen Umerziehungs-Feldzugs, an dessen Ende ein radikaler Umbau der Gesellschaft stehen soll.

Gerade eine Gesellschaft wie die polnische, die den Kommunismus mit seinem Vorsatz einen „neuen Menschen zu schaffen“ schmerzhaft erfahren hat, ist da ein gebranntes Kind. Die damaligen Versuche, angeblich um der Gleichheit Willen, mit aller Gewalt „Bräuche“, „Religion“, „Traditionen“, „Rollenzuweisungen“ auszumerzen, haben tiefe Narben hinterlassen. Jetzt tauchen diese Begriffe wieder auf.

Zugleich wird schon wieder ein ganzheitlicher Anspruch erhoben, die Gesellschaft neu zu formen. Und so verpflichten sich „die Vertragsparteien die erforderlichen Maßnahmen zu treffen, um Veränderungen von sozialen und kulturellen Verhaltensmustern von Frauen und Männern (…) zu bewirken.“

● Sie sollen „regelmäßig Kampagnen oder Programme zur Bewusstseinsbildung auf allen Ebenen“ fördern.

● Sie sollen „gegebenenfalls die erforderlichen Maßnahmen (…) auf allen Ebenen des Bildungssystems“ treffen.

● Sie sollen „die erforderlichen Maßnahmen (…) in informellen Bildungsstätten sowie in Sport-, Kultur- und Freizeiteinrichtungen und in den Medien“ veranlassen.

Unter dem ehrwürdigen Vorsatz Gewalt bekämpfen zu wollen, greifen alle diese Maßnahmen sehr tief und von oben herab in die Privatsphäre ein. Die betroffenen Rechte der Eltern werden nicht einmal erwähnt. Dabei garantiert Art. 48 der polnischen Verfassung:

„Die Eltern haben das Recht, ihre Kinder gemäß den eigenen Anschauungen zu erziehen. Die Erziehung soll die Reife des Kindes, seine Gewissens- und Bekenntnisfreiheit sowie seine Anschauungen berücksichtigen“.

Allein um dem im Art. 12 der Konvention erhobenen Anspruch „(…) Bräuche und Traditionen, (…) die auf Rollenzuweisungen (…) für Frauen und Männer beruhen, zu beseitigen“ gerecht zu werden, müsste man große Teile der polnischen Literatur, Malerei, des Opernschaffens, vor allem des 19. Jahrhunderts, „auslöschen“. Man kann zwar aus den dort geschilderten „Rollenzuweisungen“ keine Ursachen der Gewalt gegen Frauen ableiten, aber in den heutigen Zeiten, wo sogar schon die Mathematik als rassistisch befunden wird, ist alles möglich.

In ihrer Auslegung der Istanbul-Konvention zielen die Befürworter des Austritts darauf ab, zu beweisen, dass das Abkommen äußerst dehnbare Begriffe verwendet, mit denen sich notfalls alles belegen und rechtfertigen lässt.

Es gilt • „Frauen vor allen Formen von Gewalt zu schützen“, •  „einen Beitrag zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau zu leisten“, • „einen umfassenden Rahmen sowie umfassende politische und sonstige Maßnahmen zum Schutz und zur Unterstützung aller Opfer von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt zu entwerfen“.

„Alle Formen“, „jede Form“, „umfassender Rahmen“, „umfassende politische und sonstige Maßnahmen“. Wer soll diese „Formen“, „Rahmen“, „Maßnahmen“ festlegen? Wie weit reicht die in der Präambel festgeschriebene „tatsächliche Gleichstellung von Frauen und Männern“?

Anti-Istanbul-Konvention-Initiative. Logo.

Eigentlich gilt die Istanbul-Konvention der Abwendung von Gewalt gegen Frauen. Doch in ihrem Text ist die Rede, nicht nur vom biologischen, sondern auch vom „sozialen Geschlecht“, von „sexueller Ausrichtung“ und von der „Geschlechtsidentität“. Wer ist letztendlich, fragen die Kritiker, der Schutzbefohlene der Istanbul-Konvention?

Zudem vermittelt sie ein Bild der europäischen Frau, als lebte sie in den hintersten Winkeln Anatoliens, in den Bergdörfern Afghanistans, Pakistans oder in China. Es ist die Rede von Zwangsabtreibungen, Zwangssterilisierungen, Zwangsehen, von der Verstümmelung weiblicher Genitalien und von „Ehrenmorden“.

Diese makabren „Traditionen“ werden in einen Topf geworfen mit einem angeblich überkommenen Verständnis von Ehe als einer Verbindung zwischen Mann und Frau, wie sie die polnische Verfassung beschreibt. Von Familie, Vaterschaft und Mutterschaft, wie sie Millionen von Polinnen und Polen seit Generationen leben und als natürlich betrachten, ohne sich etwas Böses dabei zu denken.

Die Gender-Ideologie, so die Kritiker, die auch der Istanbul-Konvention zugrunde liegt, stellt das alles unter einen Generalverdacht.

Polen ist nicht allein

Die Ausstiegs-Befürworter in Polen fühlen sich bestärkt durch die Bedenken und den Widerstand in anderen Ländern. Das ungarische und das slowakische Parlament haben es abgelehnt die Konvention zu ratifizieren. Das bulgarische Verfassungsgericht hat sie für nicht verfassungskonform befunden. Selbst Staaten, die an ihr mitgearbeitet haben: die USA, Kanada, Japan, Mexico, der Vatikan haben sie nicht einmal unterschrieben.

Auch dort werden dieselben Bedenken und Argumente erhoben. Man muss diese nicht teilen, aber man sollte sie, der Redlichkeit halber, wenigstens erwähnen. Das gilt natürlich nicht für die stets „gut gemeinte“, „engagierte“ deutschsprachige Berichterstattung aus Polen.

© RdP




Vier Frauen, ein Kühlschrank

Feminismus in Polen.

Vier Damen hatten beschlossen einen Kühlschrank in die vierte Etage zu tragen. Es bleibt natürlich jeder Frau unbenommen Kühlschränke zu schleppen, so oft und so hoch hinauf wie sie will, doch gerade diese konkrete Plackerei, stattgefunden vor nicht allzu langer Zeit, ist es wert sich nicht unbemerkt in der Finsternis der verflossenen Zeit aufzulösen.

Es handelte sich dabei nämlich um kein normales Schleppen. Dieses Schleppen verkündete eine Botschaft. Es war ein feministisches Schleppen und offenbarte beiläufig die ganze Kuriosität dieser Ideologie.

Die Damen stellten sich dieser Herausforderung, weil ein Sejm-Abgeordneter im Rundfunk gesagt hatte „der Feminismus endet dort, wo es einen Kühlschrank in die vierte Etage ohne Fahrstuhl zu bringen gilt“.

Dem ist nicht immer so. Manchmal beginnt der Feminismus genau dort, wo der Abgeordnete sein Ende sah. Das passiert dann, wenn Frauen einem Mannsbild etwas beweisen oder sich an ihm rächen wollen, und sich dadurch selbst schaden.

Die Sinnlosigkeit des ganzen Unterfangens ist mehr als offensichtlich. Für das Herauftragen eines Kühlschranks in die vierte Etage zahlt man etwa vierzig Zloty (knapp zehn Euro – Anm. RdP). Üblicherweise machen das zwei Männer, die Tragegurte und eine Transportkarre mitbringen. Sie benötigen dafür etwa eine halbe Stunde. Die vier Damen brauchten dafür viel mehr Zeit und haben sich dabei auch noch, wie es heiβt, etliche blaue Flecke und Schürfwunden zugezogen.

Wozu das alles? Die Feministinnen sagen, dass sie es nicht hinnehmen können und wollen wenn Frauen wegen ihres Geschlechts herabgesetzt werden. Die Behauptung des Abgeordneten, sagen sie, erfülle diesen Tatbestand, woraus man schlieβen kann, sie seien der Meinung, Frauen sind körperlich genauso gebaut wie Männer.

Jetzt muss nur noch ein feministisches Gremium vor Empörung erbeben, da Frauen für das Treppenhinauftragen von Kühlschränken halb so viel Lohn erhalten wie Männer. Schlussendlich müssen sie ja die vierzig Zloty durch vier teilen.

Ich weiβ, es klingt absurd, aber viele andere feministische Einfälle sind es auch, nur wir merken es nicht mehr. Der Feminismus ist inzwischen überall, und man bekommt es sogar beim Kühlschranköffnen mit der Angst zu tun, er könnte uns auch dort begegnen.

Gewiss, wir Frauen haben viele Probleme. Doch der Feminismus hilft uns nicht mit diesen Problemen fertig zu werden. Viel eher vergröβert er sie und schafft neue, indem er so tut als seien wir Männer und uns zu all dem auch noch  Kühlschränke schleppen lässt.

Die Glosse von Joanna Operacz (Foto) erschien im Wochenmagazin „Niedziela“ („Der Sonntag“) vom 8. Oktober 2017.

RdP




Das Wichtigste aus Polen 26. Februar – 11. März 2017

Kommentatorin Aleksandra Rybińska und Janusz Tycner diskutieren die  wichtigsten Ereignisse der letzten Zeit in Polen.

♦  Tusk in seinem EU-Amt bestätigt.  Die Warschauer Regierung und ihre Gründe, sich gegen Tusk auszusprechen. Wer ist Jacek Sariusz-Wolski?  Polen allein auf weiter Flur.

Dazu empfehlen wir auch:  http://www.radiodienst.pl/donald-der-gehorsame/

♦  Der Gedenktag zu Ehren der „Verstoβenen Soldaten“. Späte Anerkennung für die gefallenen und ermordeten Kämpfer des antikommunistischen Widerstandes nach 1945.

Dazu empfehlen wir auch:  http://www.radiodienst.pl/archaeologie-des-terrors/

♦ Der Frauentag 8. März und warum der radikale Feminismus in Polen so wenig Anklang findet.

♦ Auf vielfachen Wunsch unserer Zuhörer und Leser werfen wir einen Blick aus unserer Warschauer Warte auf den Bundestagswahlkampf.

Dazu empfehlen wir auch:   http://www.radiodienst.pl/martinek-der-polenschreck/