15.10.2022. Polen aushungern, Deutschland erlösen

Am 16. Oktober 2022 jährt sich die Ermordung der Enthüllungsjournalistin Daphne Caruana Galizia auf Malta zum fünften Mal. Das Europäische Parlament widmete diesem Mord bisher nur eine Debatte. Eine zweite soll in diesen Tagen, am Jahrestag des Todes von Galizia, stattfinden. In einem anderen EU-Land, der Slowakei, wurden im Februar 2018 der Enthüllungsjournalist Jan Kuciak und seine Verlobte ermordet. Auch diese Tat war dem Europaparlament nur eine einzige Debatte wert.

Derweil widmete sich dieselbe Institution zwischen Januar 2016 und Dezember 2021 in 27 Debatten Polen. Hinzu kommen unzählige Ausschusssitzungen. Im Durchschnitt also wurde Polen in dieser Zeit alle zwölf Wochen von der linken Mehrheit im EP-Plenum durch Resolutionen an den Pranger gestellt. Länder, in denen politische Morde begangen werden, wurden dagegen mit Einzeldebatten „bestraft“.

Und da ist da noch Bulgarien, das seit seinem EU-Beitritt vor 15 Jahren die Liste der Länder mit der höchsten Korruption und einer gigantischen Verschwendung von EU-Geldern anführt. Zudem handelt es sich um ein Land, das so instabil ist, dass es dort innerhalb von eineinhalb Jahren bereits vier Parlamentswahlen gab. Und das alles ist lediglich einmal im Jahr, jeweils im Herbst, Thema einer EP-Debatte, die völlig folgenlos bleibt. Von Sanktionen gegen Bulgarien redet niemand.

Für Brüssel ist Polen das Problem schlechthin, und die Folgen sind gravierend. Was auf den ersten Blick wie ein groteskes Paradoxon aussieht, ist in Wirklichkeit die brutale Realität der europäischen Politik.

Und die sieht so aus, dass Russland, das in sein Nachbarland einmarschiert ist und dessen Bevölkerung tötet, und Polen, das riesige Anstrengungen zugunsten der Ukraine unternimmt, von Brüssel mit vergleichbar großen Sanktionen belegt werden. Polen wird die Auszahlung von knapp 36 Milliarden Euro aus dem sogenannten Wiederaufbaufonds verweigert, der im Februar 2021 aufgelegt wurde, um die wirtschaftlichen und sozialen Auswirkungen der COVID-19-Pandemie in den Mitgliedsstaaten einzudämmen und zu mildern. Der Wert der bisher von der EU geschnürten russischen Sanktionspakete beläuft sich in etwa auf dieselbe Summe.

Auch der Mechanismus, mit dem die EU Druck auf Moskau und Warschau ausübt, ist recht ähnlich. Ihre Institutionen wiederholen: Erfüllt unsere Forderungen und wir werden die Sanktionen aufheben. Nur dass es im Falle Russlands darum geht, Aggression und Mord zu stoppen, während es sich im Falle Polens, im Kern, längst nicht mehr um die Justizreform, sondern um die Erzwingung eines Machtwechsels an der Weichsel handelt.

Zudem gibt Brüssel der Opposition bewusst das Wahlargument in die Hand: „Wählt uns, dann kommt das EU-Geld!“

Im Herbst 2023 finden in Polen Parlamentswahlen statt. Die Nichtauszahlung der riesigen Summen aus dem Wiederaufbaufonds kann Ratingagenturen leicht dazu veranlassen, die Kreditwürdigkeit des Landes herabzustufen. Heute befindet sie sich auf dem erfreulichen Niveau „A-“ (stabil). In Zeiten der Hochinflation und Energiekrise könnte eine Herabstufung an den Grundfesten der Wirtschaft rütteln, die Unzufriedenheit schüren und der EU-ergebenen Opposition, angeführt von Brüssels Liebling, dem deutschlandhörigen Donald Tusk, zum Wahlsieg verhelfen.

Das weite Entgegenkommen Warschaus in Sachen Justizreform im Frühjahr 2022, zuerst akzeptiert und gelobt, wurde jedenfalls sehr schnell als „unzureichend“ abgelehnt. Neue Forderungen kamen hinzu, deren Erfüllung das polnische Justizwesen vollends ins Chaos stürzen würde. So sollten die vor der Reform ernannten Richter in zweiter Instanz Urteile von Richtern, die nach der Reform berufen wurden (und derer gibt es inzwischen etwa eintausend), nur aufgrund ihres Ernennungsdatums aufheben dürfen. Letztere seien „keine Richter“. Das wäre ein Zustand, in dem sich niemand in Polen mehr eines Gerichtsurteils sicher sein kann.

Die Forderung ist so gefährlich und zugleich absurd, dass sich Brüssel und Berlin gewiss sein können, dass die jetzige polnische Regierung sie auf keinen Fall akzeptieren kann. Und darum geht es auch. Das verspricht eine langwierige Pattsituation und die provokative Verhängung immer höherer Geldstrafen gegen Polen, deren Summe jetzt bereits 250 Millionen Euro übersteigt und sich immer weiter erhöht. Der Sanktionsdruck soll bis zu den polnischen Wahlen im nächsten Herbst wachsen. Nicht von ungefähr sprach die SPD-EU-Politikerin Katharina Barley vom „Aushungern“ Polens, während „Der Spiegel“ zum „Daumenschrauben anlegen“ riet.

Vor allem für Berlin, das hinter den Kulissen diese Vorhaben anregt und steuert, steht viel auf dem Spiel. Endlich, nach acht Jahren, eine ungehorsame und undankbare osteuropäische Regierung loszuwerden, die sich vehement der von Olaf Scholz geforderten „Führungsrolle“ Deutschlands in der EU widersetzt. Die kein zentralisiertes Europa, sondern ein Europa der Nationalstaaten will. Die Reparationen von Deutschland fordert. Die durch die Zusammenarbeit der ostmitteleuropäischen Staaten ein Gegengewicht zu Deutschland aufbauen möchte. Die, die, die…

Während im Falle der russischen Sanktionen Krieg, Tod und Zerstörung auf dem Spiel stehen, geht es bei den polnischen Sanktionen um nackte Macht.

RdP




8.10.2022. L’Europe au menu allemand. Berlin diniert à la carte

Seit einiger Zeit genehmigt die Europäische Kommission am laufenden Band nationale Hilfsprogramme, die Unternehmen und Bürgern bei der Bewältigung der Auswirkungen der Corona-Pandemie und der Energiekrise helfen sollen. Diese für Brüssel unüblich unbürokratische Vorgehensweise ist erfreulich, wäre da nicht das gigantische Ungleichgwicht zugunsten Deutschlands, das den Europäischen Binnenmarkt zu sprengen droht.

Nach Artikel 107 des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union, darf die Europäische Kommission staatliche Beihilfen genehmigen. Sie sind mit dem gemeinsamen Binnenmarkt vereinbar, wenn sie zur Beseitigung von Schäden dienen, die durch Naturkatastrophen oder sonstige außergewöhnliche Ereignisse in den Mitgliedsstaaten entstanden sind. Es handelt sich um Lohnkostenzuschüsse, die Aussetzung von Steuern bzw. Sozialversicherungsbeiträgen oder direkte Beihilfen für Firmen und Verbraucher.

So erreichte Warschau in diesen Tagen die freudige Nachricht, dass Brüssel einen großen Teil des Finanzschirms in Höhe von umgerechnet gut 15 Milliarden Euro bewilligt hat, mit denen die polnischen Behörden Kleinst-, Klein- und mittleren Unternehmen in der Pandemie unter die Arme gegriffen haben. Auf die Freigabe aus Brüssel wartet noch der Teil für Großunternehmen mit mehr als 249 Beschäftigten.

Alles in allem hat Polen in Brüssel drei große nationale Hilfsprogramme zur Akzeptanz vorgelegt. Sie belaufen sich insgesamt auf umgerechnet gut 67 Milliarden Euro. Das macht in etwa 12 Prozent des polnischen Bruttoinlandproduktes (BIP) aus.

Das ist für polnische Verhältnisse sehr viel, aber geradezu ein Klacks im Vergleich zu dem was Deutschland auffährt. Die bisher genehmigten staatlichen deutschen Corona- und Energiebeihilfen belaufen sich auf 990 Milliarden Euro (28 Prozent des BIP). Jetzt soll noch ein weiterer deutscher 200-Milliarden-Schutzschirm für Verbraucher und Firmen, „Doppel-Wumms“ genannt, hinzukommen.

Zum Vergleich: In Frankreich belaufen sich die von der EU genehmigten staatlichen Beihilfen auf 319 Milliarden Euro (13 Prozent des BIP), in Italien auf 204 MIliarden Euro (11,5 Prozent des BIP), in Belgien auf 53 Milliarden Euro (10,5 Prozent des BIP,) in Österreich auf 24 Milliarden Euro (6 Prozent des BIP) und in Spanien ebenfalls auf 24 Milliarden Euro (2 Prozent des BIP).

Das zeigt, was sich die einzelnen Mitgliedstaaten, je nach ihrer finanziellen Leistungsfähigkeit und dem Spielraum für eine Erhöhung der Staatsverschuldung im Verhältnis zum Bruttoinlandsprodukt, leisten können und wollen.

Schon jetzt macht das deutsche Paket 50 Prozent aller von der Kommission genehmigten EU-Beihilfen aus, das französische Paket 19 Prozent, das italienische Paket 12 Prozent, das polnische 4 Prozent, das belgische 3 Prozent und die übrigen Pakete belaufen sich jeweils auf nicht mehr als 1,5 Prozent.

Wenn die Kommission bereits jetzt so große Unterschiede in der Höhe der von den einzelnen Mitgliedsstaaten gewährten staatlichen Beihilfen zulässt, stellt sich die Frage, wie es dann mit dem Europäischen Binnenmarkt weitergeht, auf dem die so großzügig geförderten deutschen Unternehmen mit denjenigen konkurrieren werden, die sehr viel weniger oder überhaupt keine staatliche Unterstützung erhalten haben.

Das reiche Deutschland versucht seine Haushalte und Firmen vor den steigenden Energiepreisen zu schützen, offensichtlich ohne sich darum zu scheren, dass staatliche Beihilfen in solch riesigem Umfang gegen die Wettbewerbsbedingungen im gemeinsamen Markt der EU verstoßen. Wie ist das möglich?

Ganz einfach. Ebenso diskret wie wirksam macht Deutschland seinen gewaltigen Einfluss in Brüssel geltend, um sich die eigene Vorgehensweise als „europäisch“ absegnen zu lassen. Derweil geben sich die deutsche Politik und die deutschen Medien nach Außen überrascht und ahnungslos. Kritik wird generell als „Neid“ abgetan und wenn sie aus Warschau kommt, ist das, wieder einmal, nur „nationalistische antideutsche Propaganda“.

Die Berliner Parole des Tages lautet: „Rette sich wer kann“. Solidarität als europäische Tugend ist dieses Mal nicht gefragt. In der Stunde der Not ist das deutsche Hemd viel näher als die üblicherweise so gern zur Schau getragene europäische Tracht. Ein gemeinsames Europa? Gerne, aber bitte nur à la carte.

RdP




Das Wichtigste aus Polen 10. Juli bis 2. Oktober 2022

Aleksandra Rybińska und Janusz Tycner diskutieren die wichtigsten Ereignisse der letzten Zeit in Polen ♦  Polens Unabhängigkeit von Russland macht Fortschritte. Der Durchstich durch die Frische Nehrung und die Baltic Pipe, die Polen mit den norwegischen Erdgasfeldern verbindet, haben ihren Betrieb aufgenommen  ♦ Erdöl, Erdgas, Kohle, Atom. Wie ist die Energieversorgungssituation Polens vor dem Winter? ♦ Wie geht es weiter im Streit zwischen der EU-Kommission und Polen?

 

 




20.09.2022. Frau von der Leyen und die polnischen Russlandversteher

Späte Reue ist besser als keine. In ihrer Rede „Zur Lage der Union“ am 14. September 2022 in Straßburg hat sich die EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen zu einer Selbstkritik durchgerungen, die einigen von uns in Polen Momente der Genugtuung beschert hat. Sie sagte:

„Wir hätten auf die Stimmen hören sollen, die innerhalb unserer Union erhoben wurden: in Polen, in den baltischen Staaten und in den Ländern Mittel- und Osteuropas. Diese Stimmen sagten uns schon seit Jahren, dass Putin nicht aufhören wird.“

Doch was Polen angeht, hat von der Leyen geflissentlich darauf verzichtet, auch nur mit einem Halbsatz zu erwähnen, welche Polen jahrelang beharrlich vor Putin gewarnt haben. Ihre politischen Freunde waren es nicht.

Es war nicht Donald Tusk, der scheidende Vorsitzende, den Frau von der Leyen am 1. Juni 2022 beim Kongress der Europäischen Volkspartei in Rotterdam mit dem klaren Brüsseler und Berliner Auftrag verabschiedete: „Donald, vergiss nicht, wenn wir uns wiedersehen, wollen wir Dich als den (neuen polnischen – Anm. RdP) Ministerpräsidenten begrüßen“. Im Herbst 2023 finden in Polen Parlamentswahlen statt.

Als polnischer Ministerpräsident (2007 bis 2014) hat Donald Tusk, der politische Ziehsohn Angela Merkels, deren Russlandpolitik auf internationalem Parkett nach Kräften unterstützt und in Polen selbst mit beispiellosem Eifer nachgeahmt. Knapp drei Monate im Amt, ignorierte er demonstrativ Kiew und flog im Februar 2008 als Erstes zu Putin nach Moskau. Die polnische Wende hin zu Russland nahm ihren Lauf.

Einer Einladung nach Warschau folgend, belehrte Russlands Außenminister Lawrow am 2. September 2010, beim alljährlichen Treffen, die polnischen Botschafter aus aller Welt in Sachen Russlandpolitik. Ein Erdgaslieferabkommen sollte Polen bis 2037 zu horrend hohen Preisen an Russland fesseln. Nur durch eine Intervention Brüssels konnte die Laufzeit im letzten Augenblick auf 2022 verkürzt werden.

Tusks Polen ernannte sich durch seinen Außenminister Sikorski gar zum Wegbereiter der russischen Nato-Mitgliedschaft. Die Zentralen Wahlausschüsse, die Nationalen Sicherheitsräte, sogar die Auslandsspionagedienste u. v. a. polnische und russische Institutionen mehr pflegten, auf Tusks Geheiß, einen intensiven „freundschaftlichen“ Austausch. Nach dem russischen Einfall in Georgien im August 2008, genauso wie nach der russischen Besetzung der Krim im Februar 2014, lag Tusks Polen ganz auf der deutschen „Business as usual“-Linie und er selbst wurde nicht müde zu bekunden, dass eine „normale Zusammenarbeit mit Russland gerade jetzt“ notwendiger sei denn je. Im April 2010 legte Tusk, der einen herzlichen Umgang mit Putin und Medwedew pflegte, vertrauensvoll die Untersuchung der Smolensk-Flugzeugkatastrophe vollends in die Hände der Russen.

Für all das, und noch vieles mehr, belohnte ihn Frau Merkel mit dem Posten des EU-Ratsvorsitzenden (2014-2019) und dem Vorsitz der Europäischen Volkspartei (2019-2022).

Bis zu seinem tragischen Tod durch die Smolensk-Flugzeugkatastrophe am 10. April 2010 begleitete Staatspräsident Lech Kaczyński drei Jahre lang das Tun des Regierungschefs Tusk und sparte nicht mit Kritik.

Es war Lech Kaczyński, der im August 2008 die Staatschefs der drei baltischen Staaten und der Ukraine bat, mit ihm nach Tiflis zu fliegen, in die georgische Hauptstadt, auf die russische Panzerkolonnen vorrückten. Er hielt dort, vor Zehntausenden von Menschen, eine denkwürdige Rede über den Willen Russlands zu imperialer Ausdehnung. „Heute Georgien, morgen die Ukraine, übermorgen die baltischen Staaten, und dann ist vielleicht auch mein Land, Polen, an der Reihe.“ Damals kehrten die russischen Panzer um. Diese Worte muten 14 Jahre später fast prophetisch an. Tusk und seine Leute hatten für sie nur beißenden Spott übrig.

Erstarrt und missmutig lauschten Tusk, Putin und Frau Merkel, als derselbe Staatspräsident am 1. September 2009, auf der Westerplatte, bei den Feierlichkeiten zum 70. Jahrestag des Kriegsausbruchs, vom Sowjetimperialismus und seinem Anteil (Hitler-Stalin Pakt) am Entfachen des Krieges sprach.

Im September 2010 veröffentlichte sein Bruder, Jarosław Kaczyński, damals Oppositionsführer, einen viel beachteten Artikel, in dem er dringend vor der „neoimperialistischen“ Politik Russlands warnte. Tusks Außenminister Sikorski, heute EVP-Europaabgeordneter und, wie Frau von der Leyen, EVP-Mitglied, fragte daraufhin höhnisch, welche Drogen der Autor des Artikels denn wohl genommen haben muss. Tusks Sprecher Nowak forderte Jarosław Kaczyński auf, den Artikel „sofort zurückzuziehen, denn er widerspricht der polnischen Staatsräson“.

All die jahrelangen Warnungen vor Russlands aggressiver Politik, alle Appelle und Vorschläge, die Energieabhängigkeit von Russland zu beenden, die Nato-Ostflanke zu stärken, die aus dem polnischen nationalkonservativen Lager kamen, wurden in den Wind geschlagen. Sie ernteten bei Tusk und seinen deutschen Förderern Hohn und Spott, wurden als „russophob“ gebrandmarkt.

Hätte es 2015 keinen Regierungswechsel von Tusk zu den Nationalkonservativen gegeben, wäre das heutige Polen, wie Ungarn, wie Deutschland, energiepolitisch extrem abhängig von Russland. Die polnische Regierung würde bei weitem nicht so effektiv wie jetzt mithelfen, Putin zu zähmen, sondern gemeinsam mit Deutschland die Hilfe für die Ukraine auf Sparflamme halten und, wie ihre deutschen Gönner, auf Telefondiplomatie mit dem Kreml setzen.

Heute zollt Frau von der Leyen den polnischen Warnern, ohne sie beim Namen zu nennen, ihre Anerkennung. Gleichzeitig tut sie alles in ihrer Macht Stehende, um deren politischen Sturz herbeizuführen. Sie behauptet im Namen der EU, die Ukraine mit aller Kraft unterstützen zu wollen, und bekämpft eine polnische Regierung, die wie kaum eine andere der Ukraine beisteht. Sie verurteilt Putin und wünscht sich die alten Russlandversteher in Warschau zurück an die Macht. So gesehen war ihr Lob schlicht unaufrichtig.

RdP




12.09.2022. EU-Reform. Mehrheitsentscheidungen. Scholzes falsche Lehren

Der deutsche Bundeskanzler wünscht sich noch mehr Mehrheitsentscheidungen in der EU und beschwört damit Geister herauf, die eines Tages deren Untergang besiegeln könnten.

Als eine der Lehren, die aus dem Ukrainekrieg zu ziehen seien, so Scholz in einer Grundsatzrede in Prag am 29. August 2022, gelte es, die Einstimmigkeit in der EU, allen voran in der Außenpolitik, abzuschaffen. Die EU erweist sich nicht nur in seinen Augen umso stärker, je mehr Macht die nationalen Regierungen an die Brüsseler Institutionen abgeben. Dass dort vor allem Berlin in allererster Reihe die Register zieht, wird von den selbstlosen deutschen EU-Enthusiasten dabei gerne unterschlagen.

Im EU-Ministerrat, um den es hier geht, werden schon seit Jahren in vielen Politikfeldern Entscheidungen mit Stimmenmehrheiten getroffen, vor allem wenn es um den Außenhandel oder die Agrarpolitik handelt, wo die meisten Zuständigkeiten ohnehin in Brüssel liegen. Das geschieht entweder mit einfacher (14 Mitgliedsstaaten stimmen mit Ja) oder mit qualifizierter Mehrheit (55 Prozent der EU-Länder, die mindestens 65 Prozent der EU-Bevölkerung vertreten, geben ihre Zustimmung).

In der viel beschworenen „Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik“, wie sie amtlich heißt, hat Brüssel hingegen nicht viel zu vermelden. Die wichtigsten Instrumente halten weiterhin die Mitgliedsstaaten. Es gibt zwar einen Auswärtigen Dienst der EU, aber der kann nicht einmal Visa ausstellen. Und eine europäische Armee existiert schon gar nicht.

Anders als Scholz es darstellt, ist das kein überkommenes Festhalten an nationalem Eigensinn, sondern eine vernünftige Regelung. Auf keinem Politikfeld ist der Einsatz so hoch wie in der Außenpolitik. Letztendlich geht es um Krieg und Frieden, wie gerade wieder in der Ukraine zu beobachten ist. Die Vorstellung, man könne die Regierung eines oder mehrerer Mitgliedsländer bei Fragen von solcher Tragweite einfach überstimmen, ist befremdlich. Die Folgen eines solchen EU-Beschlusses müssen alle tragen.

Das gilt auch für die Sanktionspolitik, die Scholz im ersten Schritt in eine Mehrheitsentscheidung überführen möchte. Wenn die EU zum Beispiel mehrheitlich für die Einstellung des Handels mit einem Drittstaat stimmen sollte, dann müssten auch die Mitgliedsstaaten ihre Geschäftstätigkeit beenden, die dagegen waren. Eine Vergeltung träfe wiederum alle 27 EU-Länder. In einem gar nicht mehr so undenkbaren Szenario ist es vorstellbar, dass ein Land wie Russland auf europäische Sanktionen militärisch reagiert. Kann die EU solche Risiken wirklich eingehen, ohne dass alle Regierungen zugestimmt haben? Und wo soll das enden? Sollen eines Tages auch Militäreinsätze per Mehrheit beschlossen werden? In der NATO gibt es das aus gutem Grund nicht.

Was in solch zugespitzten Lagen passieren kann, kennt man aus der Innen- und Justizpolitik der EU. Dort gibt es keine Einstimmigkeit mehr. Im Jahr 2015 beschloss der Ministerrat mit Mehrheit, Flüchtlinge in der gesamten EU zu verteilen. Obwohl es sich um einen rechtskräftigen Beschluss handelte, weigerten sich mehrere osteuropäische Staaten erfolgreich, ihn umzusetzen, weil er bei ihnen innenpolitisch nicht durchsetzbar war. Auch in der Außenpolitik wäre das, bei starken Auffassungsunterschieden im Rat, eine wahrscheinliche Folge. Und der Schaden wäre sicherlich größer als der bei den manchmal unbefriedigenden Kompromissen, die heute in Brüssel eingegangen werden müssen.

Da die Einwohnerzahl berücksichtigt wird, begünstigen die Mehrheitsregeln im Rat die Großen. Scholz (und Macron) geht es letztlich darum, kleineren EU-Ländern das Vetorecht zu nehmen. Der deutsche Kanzler begründet seinen Vorschlag ausdrücklich mit künftigen Erweiterungen in Richtung Süden und Osten (Balkan sowie Ukraine), auch wenn niemand weiß, ob diese in absehbarer Zeit stattfinden werden.

Das ist genau die falsche Lehre, die aus den vielen politischen Fehlentscheidungen, die in Europa vor dem Krieg gefallen sind, gezogen wird. Es lag nicht an den Abstimmungsregeln, dass die Brüsseler Institutionen Putins Überfälle (Georgien, Krim, Donbass) immer wieder hingenommen haben und dass vor allem Westeuropa in eine verhängnisvolle Abhängigkeit von russischem Gas geraten ist. Es lag daran, dass Deutschland seine vermeintlichen Wirtschaftsinteressen mit harter Hand, gegen den Willen vor allem der östlichen EU-Mitglieder durchgesetzt hat.

Der Rückschluss daraus darf nicht sein, dass Deutschland, unterstützt von seinen treuen Satelliten (Frankreich, die Benelux-Länder, Österreich u. e. a. m.) diese Staaten künftig nach Lust und Laune überstimmen kann, sondern dass man deren Argumente ernst nimmt und ihre Belange berücksichtigt, so schwer das oft fallen mag.

Ein Konsens, der auf dem kleinsten gemeinsamen Nenner beruht, bringt die EU allemal weiter als der große Dissens in Folge von Kampfabstimmungen, nach denen die Überstimmten rebellieren. Deutschland muss nicht nur so tun als ob, sondern tatsächlich einvernehmlicher werden im Umgang mit Osteuropa. Es ist ernüchternd zu sehen, dass das nach siebzig Jahren „europäischer Einigung“ immer noch keine Selbstverständlichkeit ist.

RdP




1.08.2022. Führungsmacht Deutschland sollte sich schonen

Jahrzehntelang haben sich Frankreich und Deutschland als die natürlichen Führer der europäischen Integration betrachtet. Um diese Stellung zu behaupten, haben sie sich oft einer Politik bedient, die die Mitsprache und Mitwirkung der Vereinigten Staaten in europäischen Belangen in Frage stellte, und es wurden enge wirtschaftliche Allianzen mit Russland und China geschmiedet.

Nach dem Überfall Russlands auf die Ukraine ist der Glaubwürdigkeitsverlust der beiden Staaten zu einem wichtigen Bestandteil der europäischen Politik geworden. Sie haben, unbekümmert um die russsische Gefahr, nach 2008, also seit dem russischen Angriff auf Georgien, die EU-Sicherheits- und Energiepolitik geprägt. Die Folgen sind, wie wir es gerade erleben, katastrophal: für Europa und für die beiden Staaten selbst.

Wie wird das heute in Berlin wahrgenommen? Von echter Demut ist kaum eine Spur erkennbar. Man übt sich in Selbstmitleid, behauptet stets das Beste gewollt zu haben, gibt sich bemitleidenswert ahnungslos und hintergangen und flüchtet sich in liebgewonnene, aufgewärmte Wunschträume, will das Ruder nicht aus der Hand geben.

So Bundeskanzler Olaf Scholz in seinem kürzlich erschienenen Artikel in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“. Nach der bewährten deutschen „kohl-merkelschen“ Methode: Einsicht vortäuschen, im Kern hart bleiben, aussitzen und möglichst weitermachen wie bisher, tut Scholz so, als wäre nichts gewesen.

Er will die EU „festigen, effizienter machen“. Doch die Gedanken an eine strategische Souveränität der EU, an Sicherheitsgarantien aus Paris und Berlin oder der Vorschlag, die Einstimmigkeit in der europäischen Sicherheitspolitik durch Mehrheitsentscheidungen zu ersetzen und so das französisch-deutsche Entscheidungsmonopol zu stählen, klingen heute aus dem Munde eines deutschen Politikers wie ein schlechter Scherz. Niemand in Polen und in ganz Mittel- und Osteuropa sollte sich davon täuschen lassen.

Ohne Glaubwürdigkeit gibt es keine echte Führung. Und es dauert Jahre, bis die verlorene Glaubwürdigkeit wiederhergestellt ist.

Deutschland steht diesbezüglich heute ein langer Weg bevor. Mindestens drei Dinge sind dafür notwendig: Erstens eine ehrliche Analyse der eigenen Fehler, allen voran des Nord Stream-Projektes. Zweitens der Wiederaufbau der eigenen militärischen Fähigkeiten. Eine schlagfertige Bundeswehr muss ein fester Bestandteil der Verteidigung der Ostflanke der NATO sein und den Verdacht ausräumen, im Ernstfall den Russen lieber eine gemeinsame Therapie in „Konfliktmanagement und Deeskalation“ anzubieten. Drittens, eine echte Wende in der Energieabhängigkeit der deutschen Wirtschaft von Russland. Ohne diese Voraussetzungen kann man nicht von der Glaubwürdigkeit der deutschen Politik in Europa sprechen.

Ein vierter Punkt kommt inzwischen hinzu. Die Schwankungen der deutschen Politik im Ukraine-Krieg zwischen bombastischen Versprechungen („Zeitenwende“) und einer Wirklichkeit, die von mehr als schleppenden Waffenlieferungen, geplatzten „Ringtauschen“, Scholz-Putin Telefonaten und mit aller Konsequenz durchgesetzten Sanktionsaufweichungen zu Gunsten Russlands (Beispiel: Transit nach Kaliningrad) geprägt wird, untergraben diese Glaubwürdigkeit noch weiter.

Und leider kann man mit jedem weiteren, raren, Medienauftritt von Altkanzlerin Angela Merkel sehen, wie die Chancen deutscher Politiker, die Fehler in den Beziehungen zu Russland ehrlich aufzuarbeiten, schwinden.

Wir in Polen können das nur zur Kenntnis nehmen und versuchen daraus unsere Schlüsse zu ziehen. Der wichtigste ist: Es ist an der Zeit, das paternalistische Modell der EU, die französisch-deutsche Bevormundung, auch „Führung“ genannt, die, europäisch verpackt, vor allem der Pflege eigener Interessen dient, abzulegen. Sein Fortbestehen wäre fatal.

Der Niedergang dieser Art von Führung, den wir gerade erleben, wird unweigerlich zu einem neuen Kräftemessen zwischen den Mitgliedstaaten der EU führen. Eine demokratischere EU der Nationalstaaten sollte das Resultat sein.

RdP




Das Wichtigste aus Polen 17. April bis 21. Mai 2022

Aleksandra Rybińska und Janusz Tycner diskutieren die wichtigsten Ereignisse der letzten Zeit in Polen ♦ Putinflation oder hausgemacht? Hoher Preisanstieg und heftige innenpolitische Debatte über die Inflation ♦ Keine Konflikte. Gut 2 Millionen Ukraineflüchtlinge haben sich eingelebt, wenn es nur mehr Wohnungen gäbe ♦ Frontstaat Polen: Risiken und Chancen ♦ Ringen um den EU-Wiederaufbaufonds.




Das Wichtigste aus Polen 8. August bis 18. September 2021

Aleksandra Rybińska und Janusz Tycner diskutieren die wichtigsten Ereignisse der letzten Zeit in Polen ♦ Ausnahmezustand, Stacheldrahtzaun, Armeeverstärkung. Migranteninvasion an der weißrussisch-polnischen Grenze –  Lukaschenkas Kampfansage an Polen und seine polnischen Verbündeten ♦ Justizreform stoppen, Mediengesetz nicht verabschieden, Homo-Ehen einführen, Anfrage des Ministerpräsidenten an das Verfassungsgericht zurücknehmen – die EU fordert und droht ♦ Was brachten die 16 Angela-Merkel-Bundeskanzlerjahre Polen? Eine kritische Bilanz.




Das Wichtigste aus Polen 14.Februar bis 27.März 2021

Aleksandra Rybińska und Janusz Tycner diskutieren die wichtigsten Ereignisse der letzten Zeit in Polen ♦ Das Corona-Hoch. Gesundheitswesen am Limit, die Regierung tut ihr Bestes. Die traurigen Auftritte der Opposition. Was hat die EU in Sachen Impfstoffe falsch gemacht?  ♦ Warum wollen manche Polen die 750 Millionen Euro aus dem Corona-Aufbauprogramm nicht haben? Der Kampf um seine Ratifizierung stellt die Regierungskoalition vor eine harte Probe. ♦ Ministerpräsident Morawiecki in Paris. Neues in der französischen (Anti)Polenpolitik?




Das Wichtigste aus Polen 22.November bis 26.Dezember 2020

Kommentator Prof. Waldemar Czachur und Janusz Tycner streiten lebhaft über die wichtigsten Ereignisse der letzten Zeit in Polen ♦  Die Corona-Epidemie macht dem Land zu schaffen, aber das Blatt wendet sich zum Besseren.  ♦  Recht auf Leben versus Recht auf Entscheidung gegen das Leben. Proteste gegen das Urteil des Verfassungsgerichts zum besseren Schutz des ungeborenen Lebens werden immer kleiner und immer extremer.  ♦ Nach dem EU-Gipfel ohne polnisch-ungarisches Veto.  Polnisches Befinden auf dem Weg vom  Minderwertigkeitskomplex zu neuem Selbstwertgefühl.




Das Wichtigste aus Polen 25.Oktober bis 21.November 2020

Aleksandra Rybińska und Janusz Tycner diskutieren die wichtigsten Ereignisse der letzten Zeit in Polen ♦ Radikal. Brutal. Vulgär.  Massenproteste gegen das Verfassungsgerichtsurteil zum besseren Schutz des ungeborenen Lebens scheiterten an ihren Maßlosigkeiten und verkamen zu machtlosen Wutausbrüchen  immer kleinerer Aktivisitengruppen. ♦  Wie der Unabhängigkeitsmarsch am Nationalfeiertag, dem 11. November, außer Kontrolle geriet. ♦  Polens Veto gegen den sog. EU-Rechtsstaatsmechanismus.  Vorgeschlagene Androhung des Geldentzugs erlaubt uneingeschränkte Fremdeinmischung in alle Bereiche der Innenpolitik.




Das Wichtigste aus Polen 27.September bis 24.Oktober 2020

Aleksandra Rybińska und Janusz Tycner diskutieren die wichtigsten Ereignisse der letzten Zeit in Polen ♦ Die Corona-Situation in Polen: Kritisch aber beherrschbar ♦ Jarosław Kaczyńskis Tierliebe entzieht ihm und seiner Partei die Liebe der Bauern ♦ Joe Bidens eventueller Sieg und seine ernsthaft negativen Auswirkungen auf Polen ♦ Polens Veto bei der EU-Haushaltsabstimmung: Ein Mittel gegen Brüssels ständige Gängelungen.