20.09.2022. Frau von der Leyen und die polnischen Russlandversteher

Späte Reue ist besser als keine. In ihrer Rede „Zur Lage der Union“ am 14. September 2022 in Straßburg hat sich die EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen zu einer Selbstkritik durchgerungen, die einigen von uns in Polen Momente der Genugtuung beschert hat. Sie sagte:

„Wir hätten auf die Stimmen hören sollen, die innerhalb unserer Union erhoben wurden: in Polen, in den baltischen Staaten und in den Ländern Mittel- und Osteuropas. Diese Stimmen sagten uns schon seit Jahren, dass Putin nicht aufhören wird.“

Doch was Polen angeht, hat von der Leyen geflissentlich darauf verzichtet, auch nur mit einem Halbsatz zu erwähnen, welche Polen jahrelang beharrlich vor Putin gewarnt haben. Ihre politischen Freunde waren es nicht.

Es war nicht Donald Tusk, der scheidende Vorsitzende, den Frau von der Leyen am 1. Juni 2022 beim Kongress der Europäischen Volkspartei in Rotterdam mit dem klaren Brüsseler und Berliner Auftrag verabschiedete: „Donald, vergiss nicht, wenn wir uns wiedersehen, wollen wir Dich als den (neuen polnischen – Anm. RdP) Ministerpräsidenten begrüßen“. Im Herbst 2023 finden in Polen Parlamentswahlen statt.

Als polnischer Ministerpräsident (2007 bis 2014) hat Donald Tusk, der politische Ziehsohn Angela Merkels, deren Russlandpolitik auf internationalem Parkett nach Kräften unterstützt und in Polen selbst mit beispiellosem Eifer nachgeahmt. Knapp drei Monate im Amt, ignorierte er demonstrativ Kiew und flog im Februar 2008 als Erstes zu Putin nach Moskau. Die polnische Wende hin zu Russland nahm ihren Lauf.

Einer Einladung nach Warschau folgend, belehrte Russlands Außenminister Lawrow am 2. September 2010, beim alljährlichen Treffen, die polnischen Botschafter aus aller Welt in Sachen Russlandpolitik. Ein Erdgaslieferabkommen sollte Polen bis 2037 zu horrend hohen Preisen an Russland fesseln. Nur durch eine Intervention Brüssels konnte die Laufzeit im letzten Augenblick auf 2022 verkürzt werden.

Tusks Polen ernannte sich durch seinen Außenminister Sikorski gar zum Wegbereiter der russischen Nato-Mitgliedschaft. Die Zentralen Wahlausschüsse, die Nationalen Sicherheitsräte, sogar die Auslandsspionagedienste u. v. a. polnische und russische Institutionen mehr pflegten, auf Tusks Geheiß, einen intensiven „freundschaftlichen“ Austausch. Nach dem russischen Einfall in Georgien im August 2008, genauso wie nach der russischen Besetzung der Krim im Februar 2014, lag Tusks Polen ganz auf der deutschen „Business as usual“-Linie und er selbst wurde nicht müde zu bekunden, dass eine „normale Zusammenarbeit mit Russland gerade jetzt“ notwendiger sei denn je. Im April 2010 legte Tusk, der einen herzlichen Umgang mit Putin und Medwedew pflegte, vertrauensvoll die Untersuchung der Smolensk-Flugzeugkatastrophe vollends in die Hände der Russen.

Für all das, und noch vieles mehr, belohnte ihn Frau Merkel mit dem Posten des EU-Ratsvorsitzenden (2014-2019) und dem Vorsitz der Europäischen Volkspartei (2019-2022).

Bis zu seinem tragischen Tod durch die Smolensk-Flugzeugkatastrophe am 10. April 2010 begleitete Staatspräsident Lech Kaczyński drei Jahre lang das Tun des Regierungschefs Tusk und sparte nicht mit Kritik.

Es war Lech Kaczyński, der im August 2008 die Staatschefs der drei baltischen Staaten und der Ukraine bat, mit ihm nach Tiflis zu fliegen, in die georgische Hauptstadt, auf die russische Panzerkolonnen vorrückten. Er hielt dort, vor Zehntausenden von Menschen, eine denkwürdige Rede über den Willen Russlands zu imperialer Ausdehnung. „Heute Georgien, morgen die Ukraine, übermorgen die baltischen Staaten, und dann ist vielleicht auch mein Land, Polen, an der Reihe.“ Damals kehrten die russischen Panzer um. Diese Worte muten 14 Jahre später fast prophetisch an. Tusk und seine Leute hatten für sie nur beißenden Spott übrig.

Erstarrt und missmutig lauschten Tusk, Putin und Frau Merkel, als derselbe Staatspräsident am 1. September 2009, auf der Westerplatte, bei den Feierlichkeiten zum 70. Jahrestag des Kriegsausbruchs, vom Sowjetimperialismus und seinem Anteil (Hitler-Stalin Pakt) am Entfachen des Krieges sprach.

Im September 2010 veröffentlichte sein Bruder, Jarosław Kaczyński, damals Oppositionsführer, einen viel beachteten Artikel, in dem er dringend vor der „neoimperialistischen“ Politik Russlands warnte. Tusks Außenminister Sikorski, heute EVP-Europaabgeordneter und, wie Frau von der Leyen, EVP-Mitglied, fragte daraufhin höhnisch, welche Drogen der Autor des Artikels denn wohl genommen haben muss. Tusks Sprecher Nowak forderte Jarosław Kaczyński auf, den Artikel „sofort zurückzuziehen, denn er widerspricht der polnischen Staatsräson“.

All die jahrelangen Warnungen vor Russlands aggressiver Politik, alle Appelle und Vorschläge, die Energieabhängigkeit von Russland zu beenden, die Nato-Ostflanke zu stärken, die aus dem polnischen nationalkonservativen Lager kamen, wurden in den Wind geschlagen. Sie ernteten bei Tusk und seinen deutschen Förderern Hohn und Spott, wurden als „russophob“ gebrandmarkt.

Hätte es 2015 keinen Regierungswechsel von Tusk zu den Nationalkonservativen gegeben, wäre das heutige Polen, wie Ungarn, wie Deutschland, energiepolitisch extrem abhängig von Russland. Die polnische Regierung würde bei weitem nicht so effektiv wie jetzt mithelfen, Putin zu zähmen, sondern gemeinsam mit Deutschland die Hilfe für die Ukraine auf Sparflamme halten und, wie ihre deutschen Gönner, auf Telefondiplomatie mit dem Kreml setzen.

Heute zollt Frau von der Leyen den polnischen Warnern, ohne sie beim Namen zu nennen, ihre Anerkennung. Gleichzeitig tut sie alles in ihrer Macht Stehende, um deren politischen Sturz herbeizuführen. Sie behauptet im Namen der EU, die Ukraine mit aller Kraft unterstützen zu wollen, und bekämpft eine polnische Regierung, die wie kaum eine andere der Ukraine beisteht. Sie verurteilt Putin und wünscht sich die alten Russlandversteher in Warschau zurück an die Macht. So gesehen war ihr Lob schlicht unaufrichtig.

RdP




4.06.2022. Der Günstling geht von Bord. Donald Tusk verlässt Europa

Die farblose Amtszeit von Donald Tusk als Chef der Europäischen Volkspartei geht zu Ende. Zwei Jahre vor dem Ablauf seiner Wahlperiode übergab Tusk auf dem EVP-Kongress in Rotterdam das Steuer an den CSU-Mann Manfred Weber. Ein deutscher Politiker beerbt einen deutschen Politiker ohne deutschen Pass.

Donald Tusk verdankte seine EU-Ratspräsidentschaft (2014-2019) und den anschließenden dreijährigen EVP-Vorsitz Angela Merkel. Ihre Gunst erwirkte er in seiner Zeit als polnischer Ministerpräsident zwischen 2007 und 2014 durch seine bis an die Selbstverleugnung gehende Deutschlandergebenheit.

Putin hofieren und die Ukraine ignorieren, Polen in die Energieabhängigkeit von Russland treiben, Nord Stream 2 gutheißen, die Amerikaner mit ihren Raketenschutzschild-Plänen aus Polen fortscheuchen. Für Angela Merkel, Frank-Walter Steinmeier, Sigmar Gabriel und andere treue deutsche Russland-Partner war Tusk, „der Pflegeleichte“, wie ihn Der Spiegel seinerzeit beschrieb, ein nicht zu unterschätzender Handlanger, der im Gegenzug in der EU hoch hinaus wollte.

Tusk hatte sich die Verwirklichung seines Wunschtraums redlich erdient, ehe er 2014 nach Brüssel aufbrechen durfte. Das ohnehin schmale Fundament seiner europäischen Karriere begann 2021, nach dem Abgang der deutschen Gönnerin, sofort zu bröckeln. Deutschlandergebenheit ist seine größte politische Stärke, aber bei aller Anstrengung konnte er darin den macht- und postenhungrigen Manfred Weber aus dem bayerischen Niederhatzkofen fürwahr nicht überbieten.

Ohne Angela Merkel war es ein Leichtes, Tusk loszuwerden. Als EU-Ratsvorsitzender und als Chef der Europäischen Volkspartei hat er sich in der internationalen Politik keinen Namen gemacht. Stets erweckte er den Eindruck, am Nebentisch zu sitzen, ein Anhängsel des realen politischen Weltgeschehens zu sein. Er wurde wenig beachtet und kaum ernst genommen, genoss dafür im Stillen das Luxusleben eines Spitzenpolitikers mit etwa 25.000 Euro Monatsgehalt, saftigen Zulagen, drei Butlern, vier Fahrern und einem 30-köpfigen Sekretariat. Knapp zwei Millionen Euro soll Donald Tusk steuerfrei in Brüssel verdient haben.

Leer sind dagegen die Schubladen, die er als EU-Ratspräsident und EVP-Vorsitzender hinterlässt. Wie soll die heutige EU der 27 in der Zukunft funktionieren? Die EU-Erweiterung und ihr Tempo? Die EU-Einwanderungs- und Asylpolitik? Energiepolitik, Klimapolitik, Ostpolitik, usw.? Rien, wie Edith Piaf sang, mit anderen Worten: Nichts. Für das Vordenken und Machen war Angela Merkel zuständig. Ihr politischer Ziehsohn war in Brüssel in beiden Positionen schmerzlich vorhersehbar: Er tat nichts. So sollte es wohl auch sein.

Dafür war er geradezu hektisch aktiv auf Twitter, wo der eigentlich zur Neutralität verpflichtete oberste EU-Beamte durch seine bitterbösen Kommentare den innenpolitischen Konflikt in Polen kräftig aufmischte. Ab und zu tat er es auch vor Ort. Dafür war er seiner Patronin gut. Als ihm die polnische Regierung deswegen beim Antritt für die zweite Halbzeit als EU-Ratschef ihre Unterstützung verweigerte, warf sich Deutschland energisch ins Zeug und stellte eine breite Mehrheit für seine Wiederwahl auf die Beine.

Inzwischen hat Tusk seine Schuldigkeit getan. Er ist gut versorgt und soll gehen. Eine Verwendung auf EU-Spitzenposten-Niveau gibt es für ihn nicht mehr. Andere wollen schließlich auch mal.

Doch der durchtrainierte 65-Jährige hat keine Lust aufs Rentnerdasein. Nach etlichen verlorenen Wahlen seiner Partei seit 2015 will er es nun seinem Erzfeind Jarosław Kaczyński so richtig zeigen. Mit diesem Auftrag verlässt er auch den Brüsseler Olymp. Ursula von der Leyen gab ihn in diesen Tagen, per Twitter, Tusk noch einmal mit auf den Heimweg: „Lieber Donald, Du verkörperst unsere Werte. Nun kehrst Du in Dein Land zurück, um sie zu verteidigen.“

Seit knapp einem Jahr steht Tusk wieder an der Spitze seiner Partei, der Bürgerplattform. Der innenpolitische Blitzsieg nach der Rückkehr, den er sich erhofft hatte, blieb ihm versagt. Mühsam versucht er nun die Opposition in einem Block unter seiner Führung zu bündeln und den regierenden Nationalkonservativen ihren hohen Umfragevorsprung streitig zu machen. Beides bisher vergeblich.

Tusks radikale „Kaczyński muss weg“-Rhetorik, ohne auch nur den Ansatz eines überzeugenden, positiven politischen Programms, zieht nicht so recht. Die Pannen, Fehler und Unterlassungen aus seiner Regierungszeit werden hervorgeholt und untergraben seine Glaubwürdigkeit, ebenso wie seine Wutausbrüche auf Twitter.

Angela Merkel genießt, so gut es geht, ihren Ruhestand. Ihr einstiger Protegé, jetzt ganz auf sich gestellt, versucht sein Comeback und scheint dabei manchmal ziemlich überfordert zu sein. Der Ausgang der Parlamentswahlen im Herbst 2023 wird sein politisches Schicksal besiegeln. Ein schmerzhafter Absturz ist nicht ausgeschlossen.

RdP