Istanbul-Konvention. Warum Polen austreten sollte

Argumente die unterschlagen werden.

Warum plant die polnische Regierung den Austritt aus der Istanbul-Konvention zur Bekämpfung der Gewalt gegen Frauen? Die Antwort in der Berichterstattung über Polen fällt eindeutig aus: Frauenrechte sollen beschnitten, Gewalt gegen Frauen womöglich legalisiert werden.

Die Sichtweise der Befürworter des Austritts kommt in den deutschsprachigen medialen Darlegungen überhaupt nicht oder hochgradig entstellt zur Geltung. Böser Wille und niedrige Beweggründe, die ihren Ursprung im „katholischen Aberglauben“ haben, so der hartnäckig von den Autoren vermittelte Eindruck, seien die Motive.

Initiative „Nein für die Gender-Konvention“.

Dabei handelt es sich um eine Debatte, in der die Gegner der Konvention gewichtige Argumente, nicht gegen den Schutz von Frauen vor Gewalt, sondern die Art wie ihn die Konvention durchsetzen will, ins Gespräch bringen. Einen Appell, aus der Istanbul-Konvention auszutreten, haben in Polen bis Anfang August 2020 knapp zweihunderttausend Bürger unterschrieben.

Initiative „Frauen gegen die Antifamilien-Konvention“.

Deswegen, dem Grundsatz audiatur et altera pars („Man höre auch die andere Seite“) verpflichtet, sehen wir die Notwendigkeit, die Argumente der Befürworter des polnischen Austritts aus dem „Übereinkommen des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt“ darzulegen, und die Umstände, auf die sie verweisen.

1. Gewalt gegen Frauen. Die rechtliche Lage in Polen

Die regierenden Nationalkonservativen sagen, sie nehmen das Problem sehr ernst. Als Beleg dafür, verweisen sie darauf, dass ihre Regierung und ihre parlamentarische Mehrheit, die den Austritt aus der Istanbul-Konvention betreiben, ein Gesetz ausgearbeitet und am 30. April 2020 verabschiedet haben, das sehr radikal gegen häusliche Gewalt, die sich überwiegend gegen Frauen richtet, vorgeht.

Weder die postkommunistische Linke, die Polen zweimal regierte (1993 bis 1997 und 2001 bis 2005), noch die linksliberale Bürgerplattform von Donald Tusk (2007 bis 2015) haben sich zu einem solchen Schritt durchringen können.

Auf der Stelle Hausverbot

Aufgrund des neuen Gesetzes kann die herbeigerufene Polizei den Täter mit sofortiger Wirkung der Wohnung verweisen und ein Rückkehrverbot von bis zu vierzehn Tagen aussprechen. Die verwiesene Person darf die notwendigsten Sachen mitnehmen, muss die Wohnung verlassen und die Wohnungsschlüssel abgeben. Hat der Täter keine andere Unterkunftsmöglichkeit, wird er an das nächstgelegene Obdachlosenheim verwiesen.

Das Betreten der Wohnung, um weitere notwendige Gegenstände zu holen, ist nur in Polizeibegleitung möglich. Innerhalb von 14 Tagen muss ein Gericht entscheiden, ob der Wohnungsverweis aufgehoben oder verlängert wird.

Polizeieinsatz. Gewaltopfer.

Hält sich der Täter nicht an den Verweis, kann eine Geld- oder Haftstrafe gegen ihn verhängt werden. Er kann bei Gericht Beschwerde gegen die polizeiliche Maßnahme einlegen, die dann innerhalb von drei Tagen entschieden werden muss.

Damit ist eine wesentliche Lücke in der Bekämpfung häuslicher Gewalt in Polen von den Nationalkonservativen geschlossen worden. Die Opfer müssen nicht länger die Anwesenheit des Täters ertragen, während sie tagelang auf den Gerichtsbeschluss über ein Hausverbot warten.

Ein Argument gegen die Entfernung aus der Wohnung war oft, dass der Täter keine andere Bleibe habe. Gerichte beließen daraufhin die Täter in den Wohnungen und verhängten Auflagen, an die sich die Betroffenen, vor allem in betrunkenem Zustand, nicht hielten.

Das Verfahren der Blauen Karte

Zur Bekämpfung häuslicher Gewalt sind in Polen gesetzlich die Polizei, die Staatsanwaltschaften, Gerichte, Gemeinden, Sozialhilfestellen, die Schulen, das Gesundheitswesen und Nichtregierungsorganisationen verpflichtet.

Um ihre Zusammenarbeit zu koordinieren, hat man 1998 das sogenannte Verfahren der Blauen Karte eingeführt. Auch das geschah in einer Zeit, als Polen zwischen 1997 und 2001 von einem Bündnis aus der Gewerkschaft Solidarność und etlichen kleineren christlichen und nationalkonservativen Parteien regiert wurde.

Die Bezeichnung rührt daher, dass ursprünglich die zur Dokumentation verwendeten Formulare eine blaue Farbe hatten. Das Verfahren wurde 2005 auf seinen heutigen Stand gebracht.

Blaue-Karte-Koordinierungsteam Gemeinde Zbąszynek/Neu Bentschen, Woiwodschaft Lebus.

Wenn eine der erwähnten Behörden oder Einrichtungen von häuslicher Gewalt erfährt, ist sie verpflichtet, Anzeige bei der Polizei zu erstatten, die wiederum sofort tätig werden muss. Beamte, die so, oder bei einem Einsatz, häusliche Gewalt feststellen, legen eine Blaue Karte an, in der sie die Vorgänge in Anwesenheit des Täters dokumentieren. Die geschädigten Personen können später ihre am Tatort gemachten Aussagen nicht mehr zurückziehen, wozu die Täter sie oftmals im Nachhinein bewegen wollen.

Blaue-Karte-Koordinierungsteam Gemeinde Wińsko/Winzig, Woiwodschaft Niederschlesien. Oberes Schild.

Die beim Prozess der Blauen Karte vernetzten Behörden und Einrichtungen werden alle über jeden der Fälle in Kenntnis gesetzt und können tätig werden. Ihre Arbeit wird in jeder polnischen Gemeinde durch ein vom Bürgermeister berufenes Team (zespół interdyscyplinarny) koordiniert. Es sind zumeist Familien von Suchtabhängigen, mit denen das Team sich beschäftigen muss.

Blaue-Karte-Koordinierungsteam Gemeinde Dzwola, Woiwodschaft Lublin.

Das Verfahren der Blauen Karte garantiert vor allem, dass häusliche Gewalt in Polen schnell ausfindig gemacht und unterbunden werden kann. Hauptursache sind Alkoholprobleme der Täter, die es unter Kontrolle zu bekommen gilt, was sich oft als äußerst schwierig erweist.

Dass sich die Vorgehensweise der Blauen Karte bewährt, zeigt der stete Rückgang der häuslichen Gewalt.

Hilfsstellen für Verbrechensopfer

Die Nationalkonservativen verweisen auch darauf, dass in ihrer Regierungszeit, im September 2017, das Justizministerium den Gerechtigkeitsfonds (Fundusz Sprawiedliwości) ins Leben rief.

Gespeist aus Bußgeldern und Geldstrafen, finanziert der Fonds die Errichtung und die Arbeit von Hilfsstellen für Verbrechensopfer, unter anderem Frauen, denen Gewalt widerfahren ist. Im Jahr 2019 standen dafür 50 Millionen Zloty (aktuell ca. 11,5 Millionen Euro) zur Verfügung.

Landesweiter Notruf für Opfer häuslicher Gewalt.

Mittlerweile gibt es sechzig solche Hilfsstellen im ganzen Land. Sie unterhalten knapp einhundert Filialen in kleineren Gemeinden. Alle werden von Nichtregierungsorganisationen (Stiftungen, Vereinen) im Auftrag des Gerechtigkeitsfonds betrieben.

Opfer und Zeugen aller Verbrechen, sowie entlassene Strafgefangene finden hier kostenlose juristische, medizinische, psychologische und materielle Unterstützung. Es muss ein Termin vereinbart werden. Dann gilt der Grundsatz, dass das erste Gespräch zur Bestandsaufnahme innerhalb von vierzehn Tagen nach der Anmeldung stattfinden muss. Im Jahr 2019 waren etwa fünfzehn Prozent der bearbeiteten Fälle Gewaltverbrechen gegen Frauen.

Strafandrohung

Die Befürworter des Austritts aus der Istanbul-Konvention weisen darauf hin, dass die juristischen Voraussetzungen für die Verfolgung von Gewalt gegen Frauen in Polen nicht im Geringsten von den Standards abweichen, die in Deutschland, Schweden oder Dänemark gelten.

● Art. 207 des polnischen Strafgesetzbuches sieht für die Misshandlung nahestehender Personen Freiheitsstrafen zwischen drei Monaten und zwölf Jahren vor.

● Im Mai 2019 wurde auf Antrag der nationalkonservativen Regierung der Art. 197 des polnischen Strafgesetzbuches umformuliert. Auf Vergewaltigung stehen jetzt maximal 15 statt 8 Jahre, auf einen mit besonderer Grausamkeit begangenen Missbrauch maximal 20 statt 15 Jahre.

● Opfer von Vergewaltigungen müssen keine Anzeige mehr erstatten. Diese Straftaten werden ab Mai 2019 von Amts wegen verfolgt.

● Opfer häuslicher Gewalt sind in Polen grundsätzlich von allen Prozesskosten befreit.

● Die Prozessschriftsätze werden dem Täter, wenn er die Annahme der Post verweigert, von der Polizei zugestellt.

2. Gewalt gegen Frauen in Polen konkret. Statistik

Die Zahl der Opfer häuslicher Gewalt ist in Polen, laut Polizeiangaben,

von 105.332 (davon 72.786 Frauen) im Jahr 2014
auf
88.133 Fälle (davon 65.057 Frauen) im Jahr 2018 zurückgegangen.

Gewalt gegen Frauen. Wie steht Polen im EU-Vergleich da?

Die Befürworter des Austritts verweisen auf Antworten, die man in den Ergebnissen der EU-weiten Erhebung „Gewalt gegen Frauen“ finden kann. Sie wurde durchgeführt von der Agentur der Europäischen Union für Grundrechte (FRA).

Die Autoren schreiben: „In jedem EU-Mitgliedsstaat nahmen mindestens 1.500 Frauen an der Erhebung teil. Zielgruppe war die Gesamtbevölkerung der Frauen zwischen 18 und 74 Jahren, die in der EU leben und mindestens eine der Amtssprachen ihres Wohnsitzlandes sprechen. Alle Befragten wurden nach dem Zufallsprinzip ausgewählt und die Ergebnisse der Erhebung sind sowohl auf EU- als auch auf nationaler Ebene repräsentativ.“

Die umfangreiche Studie kann man in deutscher Sprache hier nachlesen.

Wir bringen als Beispiel drei Fragen und die Antworten darauf in ausgewählten Ländern. Sie sind repräsentativ für die Gesamtergebnisse.

1.  Frauen, die seit dem 15. Lebensjahr körperliche und/ oder sexuelle Gewalt in der Partnerschaft oder durch eine andere Person erfahren haben: EU-33 Prozent

Schweden – 46, Niederlande – 45, Frankreich – 44,  Großbritannien – 44, Deutschland – 35, Slowakei – 34, Ungarn – 28, Spanien – 22, Polen – 19.

2. Erfahrung von Gewalt in der Kindheit (vor dem 15. Lebensjahr) durch erwachsene TäterInnen: EU – 35 Prozent

Frankreich – 47, Schweden – 44, Deutschland – 44, Großbritannien – 40, Slowakei – 36, Niederlande – 35, Spanien – 30, Ungarn – 27, Polen – 18.

3.  Häufigkeit von Gewalt gegen Frauen in der Wahrnehmung von Frauen, „Die Gewalt gegen Frauen ist in meinem Land sehr verbreitet“: EU- 27 Prozent

Großbritannien – 35, Frankreich – 31, Spanien – 31, Niederlande – 25, Schweden – 24, Deutschland – 19, Ungarn – 18, Polen – 16, Slowakei – 15.

Obwohl es eine repräsentative EU-Umfrage ist, die von externen Wissenschaftlern, in strenger Anonymität durchgeführt wurde, wird sie von linken Aktivisten in Polen, auf die sich deutsche Medien berufen, in Frage gestellt.

Die ansonsten sehr resoluten und selbstbewussten Polinnen, so die Behauptung linker und feministischer Gruppen, haben ausgerechnet in diesem Fall massenhaft Angst, anonym die Wahrheit zu sagen. Handfeste Beweise für diese angeblich flächendeckende Furcht bleiben die EU-Umfrage-Anfechter jedoch seit Jahren schuldig.

3. Istanbul-Konvention. Polens Beitritt,…

Die Regierung Donald Tusk unterzeichnete die Konvention im Dezember 2012. Im Februar 2015 verabschiedete die Regierungsmehrheit im Sejm, bestehend aus Tusks Bürgerplattform und der Bauernpartei, das Ratifizierungsgesetz. Der damalige Staatspräsident Bronisław Komorowski unterzeichnete es im April 2015.

Staatspräsident Bronisław Komorowski nach der Unterzeichnung der Istanbul-Konvention am 13. April 2015.

Sechs Wochen später verlor Komorowski die zweite Runde der Präsidentschaftswahlen gegen den nationalkonservativen Herausforderer Andrzej Duda. Im Oktober 2015 erlangten die Nationalkonservativen bei den Parlamentswahlen die absolute Mehrheit im Sejm. Die Wende war vollzogen.

Unterzeichnete Istanbul-Konvention. Kameraleute, Pressefotografen.

Sie sollte auch den Austritt aus der Istanbul-Konvention mit sich bringen.

…Polens Austritt und die Politik

So lautete jedenfalls schon damals ein Wahlversprechen der Nationalkonservativen. Vorher hatte Recht und Gerechtigkeit im Parlament gegen die Konvention gestimmt und sich an die Spitze der großen gesellschaftlichen Ablehnungsfront gestellt, die das Abkommen von Istanbul als gefährlich und schädlich betrachtet.

Nach der Wahl jedoch konzentrierte sich die siegreiche Partei Jarosław Kaczyńskis, mit großem Erfolg, auf die Wirtschafts- und Sozialpolitik, nahm ebenfalls die Justizreform in Angriff. Dabei „vergaß“ sie sehr schnell ihre weltanschaulichen Zusagen.

Dass ein ungeborenes Kind als krank diagnostiziert wurde, sollte demnach in Polen kein Grund mehr dafür sein, es dem Tod durch Abtreibung preiszugeben. Recht und Gerechtigkeit hatte das zwar in diversen Wahlkämpfen immer wieder feierlich versprochen, brachte jedoch in all den Jahren seit 2015, keinen eigenen diesbezüglichen Gesetzentwurf ein. Mehr noch, Jarosław Kaczyńskis Partei torpedierte nacheinander drei entsprechende Gesetzentwürfe, die, mit Hunderttausenden von Unterschriften versehen, Pro-Life-Bürgerinitiativen im Parlament einbrachten.

Die heiße Kartoffel Abtreibungsrecht fasst Jarosław Kaczyński nur in Wahlkämpfen an. Dort macht er der sehr vielfältigen, rechnet man die Sympathisanten mit, in die Hunderttausende gehenden, öffentlichkeitswirksam auftretenden polnischen Pro-Life-Bewegung immer wieder Hoffnungen, die er dann anschließend enttäuscht. Die politischen Kosten im In- und Ausland erweisen sich, für den stets scharf kalkulierenden Machtmenschen Jarosław Kaczyński, jedes Mal als zu hoch.

Und so bleibt alles beim Alten. Doch wenigstens gibt es in Polen keine Tötung ungeborener Kinder auf Wunsch, und das ist in den Augen der Pro-Life-Bewegung schon sehr viel. Kaczyńskis Gegner würden sie sofort einführen. Also bekommt Kaczyński am Ende jedes Mal die Pro-Life-Stimmen, versehen mit der Hoffnung, dass es dieses Mal mit der Ausweitung des Lebensschutzes Ungeborener vielleicht doch klappen wird.

Nicht anders ist es mit der Istanbul-Konvention. Jarosław Kaczyński will sie nicht aufkündigen. Das wirbelt viel zu viel politischen Staub auf. Für ihn ist das ein unwichtiger Nebenkriegsschauplatz, auf dem er sich politisch keinesfalls verausgaben will.

Justizminister Zbigniew Ziobro. Antrag auf Austritt aus der Istanbul-Konvention.

Dort muss es genügen, den Gegner, sprich: die Konvention, durch Nichtbeachtung auszuschalten. Die polnische Regierung verfasst keine Jahresberichte, die die Konvention fordert. Sie setzt auch keine Maßnahmen um, die der Vertrag vorsieht. Die Losung heißt: „Unser nationales Recht schützt die Frauen vor Gewalt gut genug. Auch ohne Gender“. Wozu noch austreten?

Dieses Mal jedoch hat es Jarosław Kaczyński nicht nur mit starken Anti-Istanbul-Pro-Life-Bürgerinitiativen, sondern auch mit gewichtigen Anti-Istanbul Kräften im eigenen politischen Lager zu tun. Sie sind es leid, die treuesten der treuen Wähler an der Nase herumzuführen und wollen endlich zur Tat schreiten. Ihr Anführer ist Justizminister Zbigniew Ziobro. Er hat den Austritts-Antrag verfasst und ist damit am 27. Juli 2020 an die Öffentlichkeit getreten.

Um die Wogen zu glätten, verwies Ministerpräsident Mateusz Morawiecki, ganz bestimmt nicht ohne zuvor Rücksprache mit Jarosław Kaczyński zu halten, die Istanbul-Konvention am 30. Juli 2020 an das Verfassungsgericht. Dort wird sie lange verweilen, ehe ein Spruch zustande kommt.

So war es auch mit der Anfrage von gut einhundert Sejm-Abgeordneten, ob die Tötung ungeborener, kranker Kinder mittels Abtreibung verfassungskonform sei. Die Anfrage wartete zwei Jahre lang auf eine Entscheidung. Dann ging die Legislaturperiode des Sejm zu Ende und damit verfiel der Antrag.

Warum Polen austreten sollte

Die Kritiker der Istanbul-Konvention beanstanden vor allem den Grundtenor dieses Regelwerkes, in dem sie vorrangig ein ideologisches Manifest sehen.

Sie beanstanden, dass die ganz konkreten Ursachen häuslicher Gewalt, wie Alkohol- oder Drogenmissbrauch, Arbeits-oder Spielsucht, Verwahrlosung durch Arbeitslosigkeit und Armut, Persönlichkeitsstörungen, ein verkommenes, kriminelles Umfeld, in der Istanbul-Konvention keine Erwähnung finden.

Wo wirksame polizeiliche, juristische und Therapiemaßnahmen notwendig sind, sagen die Kritiker, holt die Istanbul-Konvention zu einem linksradikalen weltanschaulichen Rundumschlag aus. Quellen der Gewalt gegen Frauen sind dort: „Kultur“, „Vorurteile“, „Bräuche“, „Religion“, „Traditionen“, „Rollenzuweisungen“, die es zu beseitigen gilt.

Das hehre Ziel und Vorhaben, häusliche Gewalt zu verhindern, gerät in diesem Dokument zum Fahrplan eines ideologischen Umerziehungs-Feldzugs, an dessen Ende ein radikaler Umbau der Gesellschaft stehen soll.

Gerade eine Gesellschaft wie die polnische, die den Kommunismus mit seinem Vorsatz einen „neuen Menschen zu schaffen“ schmerzhaft erfahren hat, ist da ein gebranntes Kind. Die damaligen Versuche, angeblich um der Gleichheit Willen, mit aller Gewalt „Bräuche“, „Religion“, „Traditionen“, „Rollenzuweisungen“ auszumerzen, haben tiefe Narben hinterlassen. Jetzt tauchen diese Begriffe wieder auf.

Zugleich wird schon wieder ein ganzheitlicher Anspruch erhoben, die Gesellschaft neu zu formen. Und so verpflichten sich „die Vertragsparteien die erforderlichen Maßnahmen zu treffen, um Veränderungen von sozialen und kulturellen Verhaltensmustern von Frauen und Männern (…) zu bewirken.“

● Sie sollen „regelmäßig Kampagnen oder Programme zur Bewusstseinsbildung auf allen Ebenen“ fördern.

● Sie sollen „gegebenenfalls die erforderlichen Maßnahmen (…) auf allen Ebenen des Bildungssystems“ treffen.

● Sie sollen „die erforderlichen Maßnahmen (…) in informellen Bildungsstätten sowie in Sport-, Kultur- und Freizeiteinrichtungen und in den Medien“ veranlassen.

Unter dem ehrwürdigen Vorsatz Gewalt bekämpfen zu wollen, greifen alle diese Maßnahmen sehr tief und von oben herab in die Privatsphäre ein. Die betroffenen Rechte der Eltern werden nicht einmal erwähnt. Dabei garantiert Art. 48 der polnischen Verfassung:

„Die Eltern haben das Recht, ihre Kinder gemäß den eigenen Anschauungen zu erziehen. Die Erziehung soll die Reife des Kindes, seine Gewissens- und Bekenntnisfreiheit sowie seine Anschauungen berücksichtigen“.

Allein um dem im Art. 12 der Konvention erhobenen Anspruch „(…) Bräuche und Traditionen, (…) die auf Rollenzuweisungen (…) für Frauen und Männer beruhen, zu beseitigen“ gerecht zu werden, müsste man große Teile der polnischen Literatur, Malerei, des Opernschaffens, vor allem des 19. Jahrhunderts, „auslöschen“. Man kann zwar aus den dort geschilderten „Rollenzuweisungen“ keine Ursachen der Gewalt gegen Frauen ableiten, aber in den heutigen Zeiten, wo sogar schon die Mathematik als rassistisch befunden wird, ist alles möglich.

In ihrer Auslegung der Istanbul-Konvention zielen die Befürworter des Austritts darauf ab, zu beweisen, dass das Abkommen äußerst dehnbare Begriffe verwendet, mit denen sich notfalls alles belegen und rechtfertigen lässt.

Es gilt • „Frauen vor allen Formen von Gewalt zu schützen“, •  „einen Beitrag zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau zu leisten“, • „einen umfassenden Rahmen sowie umfassende politische und sonstige Maßnahmen zum Schutz und zur Unterstützung aller Opfer von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt zu entwerfen“.

„Alle Formen“, „jede Form“, „umfassender Rahmen“, „umfassende politische und sonstige Maßnahmen“. Wer soll diese „Formen“, „Rahmen“, „Maßnahmen“ festlegen? Wie weit reicht die in der Präambel festgeschriebene „tatsächliche Gleichstellung von Frauen und Männern“?

Anti-Istanbul-Konvention-Initiative. Logo.

Eigentlich gilt die Istanbul-Konvention der Abwendung von Gewalt gegen Frauen. Doch in ihrem Text ist die Rede, nicht nur vom biologischen, sondern auch vom „sozialen Geschlecht“, von „sexueller Ausrichtung“ und von der „Geschlechtsidentität“. Wer ist letztendlich, fragen die Kritiker, der Schutzbefohlene der Istanbul-Konvention?

Zudem vermittelt sie ein Bild der europäischen Frau, als lebte sie in den hintersten Winkeln Anatoliens, in den Bergdörfern Afghanistans, Pakistans oder in China. Es ist die Rede von Zwangsabtreibungen, Zwangssterilisierungen, Zwangsehen, von der Verstümmelung weiblicher Genitalien und von „Ehrenmorden“.

Diese makabren „Traditionen“ werden in einen Topf geworfen mit einem angeblich überkommenen Verständnis von Ehe als einer Verbindung zwischen Mann und Frau, wie sie die polnische Verfassung beschreibt. Von Familie, Vaterschaft und Mutterschaft, wie sie Millionen von Polinnen und Polen seit Generationen leben und als natürlich betrachten, ohne sich etwas Böses dabei zu denken.

Die Gender-Ideologie, so die Kritiker, die auch der Istanbul-Konvention zugrunde liegt, stellt das alles unter einen Generalverdacht.

Polen ist nicht allein

Die Ausstiegs-Befürworter in Polen fühlen sich bestärkt durch die Bedenken und den Widerstand in anderen Ländern. Das ungarische und das slowakische Parlament haben es abgelehnt die Konvention zu ratifizieren. Das bulgarische Verfassungsgericht hat sie für nicht verfassungskonform befunden. Selbst Staaten, die an ihr mitgearbeitet haben: die USA, Kanada, Japan, Mexico, der Vatikan haben sie nicht einmal unterschrieben.

Auch dort werden dieselben Bedenken und Argumente erhoben. Man muss diese nicht teilen, aber man sollte sie, der Redlichkeit halber, wenigstens erwähnen. Das gilt natürlich nicht für die stets „gut gemeinte“, „engagierte“ deutschsprachige Berichterstattung aus Polen.

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