Archäologie des Terrors

Die Rückkehr der verstossenen Soldaten.

In keinem anderen Land des ehemaligen Ostblocks werden heute so viele Opfer kommunistischer Fememorde ausfindig gemacht, exhumiert, identifiziert und feierlich zu Grabe getragen, wie in Polen. Die umfangreichsten Arbeiten finden zurzeit auf dem Warschauer Powązki-Friedhof und auf dem Gelände des Untersuchungsgefängnisses in Białystok statt.

Müll drüber

Der 25. Mai 1948 war der letzte Tag im heroischen und ereignisreichen Leben des Rittmeisters Witold Pilecki. Gegen 21 Uhr rief man ihn aus der Zelle im Pavillon 10 des Gefängnisses in der Warschauer Rakowieckastrasse auf den Gang hinaus. Zwei Wachmänner stellten sich links und rechts neben ihn. Ein Unteroffizier hielt einen Zettel in der Hand, vor ihm stand ein Eimer mit feingemahlenen Holzspänen. Name? Vorname? Vornamen der Eltern? Geburtsdatum?

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Rittmeister Witold Pilecki vor dem Krieg.

Die beiden Wachmänner fesselten Pilecki die Arme auf dem Rücken, der Unteroffizier bückte sich zum Eimer, stopfte dem Gefangenen eine, dann eine zweite Hand voller Holzspäne in den Mund und wickelte ihm blitzschnell einen Lappen fest ums Gesicht. Fast im Laufschritt ging es dann den Gang entlang, die Treppe runter in den Keller, wieder ein langer Gang, am Ende, rechts, eine offene Stahltür und drei weitere Uniformierte. Sie stellten den Gefangenen in den Türrahmen, hinter dem eine steile Treppe nach unten ihren Anfang nahm. Einer der Männer zog die Pistole aus dem Holster und schoss Pilecki in den Hinterkopf. Die Leiche stürzte die Treppe hinab.

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Auschwitz-Häftling Witold Pilecki.

Bald darauf, mitten in der Nacht, fuhr ein klappriger Lkw durch das Gefängnistor. Unter der fest verschnürten Plane lagen Leichen, darunter auch die von Pilecki. Man entsorgte sie wie Tierkadaver, meistens in entlegenen Friedhofsecken. Wenn sich die ausgehobene Grube als zu klein erwies, wurde auf den toten Körpern so lange herumgetrampelt, bis sie hinein passten. Am Untersuchungsgefängnis in Białystok fanden Archäologen in einem 2 m langen und 1,5 m breiten Erdloch Gebeine von 31 Menschen. Friedhofsmüll wurde später auf die Todesparzellen gekippt, Sträucher und Unkraut wuchsen von alleine. Niemand sollte ihre Leichen je finden, ihr Schicksal sollte für immer vergessen werden.

So endete das Leben des Rittmeisters Witold Pilecki. Eines Soldaten, der 1920 dabei half Polen vor den Bolschewisten zu bewahren und es 1939, als Kavallerist, gegen die Deutschen verteidigte. Eines Untergrundkämpfers der polnischen Heimatarmee (Armia Krajowa), der sich im September 1940 freiwillig bei einer deutschen Razzia in Warschau festnehmen lieβ, um nach Auschwitz zu gelangen. Fast eintausend Tage verbrachte er dort als Häftling Nummer 4859, um zu erfahren, was im Lager vor sich ging. Er organisierte den Widerstand, schickte Berichte nach drauβen, bis er im August 1943 fliehen konnte.

Pilecki kämpfte im Warschauer Aufstand (1.08 – 3.10.1944), ging in deutsche Gefangenschaft und wurde im April 1945 im bayerischen Murnau von den Amerikanern befreit. Bald darauf meldete er sich in Ancona, bei General Władysław Anders, dem Oberkommandierenden der polnischen Streitkräfte in Italien (2. Polnisches Korps), mit er Bitte, nach Polen gehen zu dürfen, um den Untergrund gegen die Sowjets und ihre polnischen Helfer unterstützen zu können.

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Erst geschlagen, dann erkennungsdienstlich erfaβt. Witold Pilecki als kommunistischer Häftling.

Im Mai 1947 geriet Pilecki in die Fänge der politischen Polizei UB und ihrer sowjetischen Berater. Wochenlang dauerten die Verhöre, bei denen ihm das Schlüsselbein und ein Arm gebrochen, sowie sämtliche Zähne ausgeschlagen wurden. „Auschwitz war dagegen ein Kinderspiel“, flüsterte er bei dem einzigen Besuchstermin, den seine Frau zugestanden bekam. Ein Schauprozess folgte, das Urteil: Todesstrafe.

Kein „Bürgerkrieg“, ein Aufstand

„Eines Tages, wenn das Land frei sein wird, wird sich Polen an uns erinnern“, sagte Oberst Łukasz Ciepliński zu seinen Zellengenossen. Er legte sich sein kleines Mutter-Gottes-Medaillon in den Mund, bevor er am 1. März 1951 mit einem Schuss in den Hinterkopf umgebracht wurde. Durch das Medaillon hoffte er besser identifizierbar zu sein. Bisher hat man seine Gebeine nicht gefunden.

Verstoßene Soldaten (żołnierze wyklęci) werden polnische Widerstandskämpfer der antikommunistischen Untergrundorganisationen genannt, die nach dem Krieg im kommunistischen Polen gegen die Sowjets und das von ihnen errichtete Regime gekämpft haben.

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Der spätere Oberst Łukasz Ciepliński vor dem Krieg.

Ciepliński war ein tapferer Soldat, der im September 1939 mit seiner Panzerabwehrkanone sechs deutsche Panzer und zwei Befehlswagen abschoss, im Untergrund zu einem der wichtigsten Befehlshaber der Heimatarmee (AK) im Raum Rzeszów aufstieg und bis zu seiner Verhaftung im November 1947 den Sowjets und den Kommunisten schwer zusetzte.

Ehe Ciepliński sein Todesurteil hörte, widerrief er vor Gericht alle seine Aussagen aus der Untersuchungshaft: „Jedes Verhör endete so, dass ich bewusstlos in einer Blutlache lag. Ich wusste nicht, was ins Protokoll geschrieben wurde und was ich, fast ohnmächtig vor Schmerzen, unterschrieben habe.“

Ciepliński sollte Recht behalten. Spät zwar, erst 20 Jahre nach dem Ende des Kommunismus und aufgrund des wachsenden öffentlichen Drucks, hat sich Polen an ihn und die anderen erinnert. Der Widerstand war groβ. In der Justiz, aus deren Apparat im Zuge der „nationalen Versöhnung am runden Tisch“ nach 1989 kein einziger kommunistischer Richter entfernt wurde. Seitens der postkommunistischen Linken, die Polen acht Jahre lang (1993-1997 und 2001-2005) regierte und ihrer Wahlklientel. Strikt dagegen war, die lange Zeit vorherrschend meinungsbildende „Gazeta Wyborcza“. Schlieβlich gehörte auch der Stiefbruder des Chefredakteurs Adam Michnik, Stefan, zu den stalinistischen Blutrichtern. Bei der Ermordung eines seiner Opfer, des Majors Andrzej Czaykowski, am 10. Oktober 1953, war er sogar persönlich zugegen. Desinteressiert zeigte sich ebenfalls Donald Tusks Bürgerplattform, die Polen zwischen 2007 und 2015 regierte.

Die kommunistische Propaganda sprach jahrzehntelang nach dem Krieg von „reaktionären und verbrecherischen Banden“, die es nach 1945 mit aller Härte zu bekämpfen galt. Widerspruch war gefährlich. Doch ab Mitte der 80er Jahre lieβen sich solche Behauptungen nicht mehr aufrechterhalten. Der Kommunismus in Polen schwächelte zunehmend, das staatliche Meinungsmonopol wurde von einem schnell wachsenden Umlauf an illegal gedruckten Bulletins, Periodika, Broschüren und Büchern untergraben, die u.a. auch von der verzweifelten Auflehnung der Kämpfer des antideutschen Widerstandes gegen die nachfolgende, sowjetische Okkupation berichteten.

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Juni 1947. Tote Männer des Widerstandes.

Die kommunistische Propaganda begann daraufhin, ab Mitte der 80er Jahre, von einem „tragischen Bürgerkrieg“ nach 1945 zu sprechen, in dem beide Seiten für ihre Überzeugungen kämpften, die es zu akzeptieren galt. So sahen es auch, nach dem Ende des Kommunismus, die bereits erwähnten Gegner der Aufarbeitung.

Doch eine „Ebenbürtigkeit der Ideale“ im Kampf für ein freies, demokratisches Polen oder ein Polen unter kommunistischer Diktatur, kann es nicht geben. Es war kein „Bürgerkrieg“ sondern ein groβer antikommunistischer Aufstand für ein freies Polen. Diesen Standpunkt vertreten inzwischen immer mehr Historiker, er hält zunehmend Einzug in den offiziellen Sprachgebrauch.

Es war ein Aufstand gegen das Vorgehen der Sowjets in Polen. Ende 1945 waren im Land, neben vielen regulären Armeeinheiten, drei NKWD-Divisionen in einer Stärke von etwa 40.000 Mann stationiert, die nur damit beschäftigt waren ihre polnischen Helfer auszubilden und Soldaten, Politiker, Intellektuelle, die ein demokratisches Polen errichten wollten, zu eliminieren. Die Sowjets übernahmen von Deutschen geräumte Gefängnisse, Lager und „betrieben“ die meisten von ihnen weiter als Folter- und Hinrichtungsstätten. Allein zwischen Oktober und Dezember 1944 nahmen sie in den von ihnen „befreiten“ Gebieten zwischen den Flüssen Bug und Weichsel knapp 19.000 Polen fest. Der westlich der Weichsel gelegene Teil Polens befand sich noch bis Mitte Januar 1945 in deutscher Hand.

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Sechzehn führende bürgerliche Politiker und Militärs der Heimatarmee (AK) wurden von den Sowjets im März 1945 zu „Gesprächen“ b. Warschau eingeladen, nach Moskau entführt und abgeurteilt.

Etwa 600 Polen wurden im Juli 1944 bei Augustów von den Sowjets in einer groβangelegten Razzia festgenommen und bald darauf ermordet. Trotz intensiver Suche hat man ihre Gebeine bis heute nicht gefunden.

Am 27. März 1945 luden die Sowjets 16 führende Vertreter der demokratischen Parteien, der Heimatarmee und der polnischen Regierung im Exil in Pruszków bei Warschau zu „Gesprächen“ ein. Alle wurden verhaftet und nach Russland verschleppt.

Sowjetische „Berater“ leiteten 1946 und 1947 umfangreiche Fälschungsaktionen während eines von den Kommunisten organisierten „Referendums“ und der ersten „Parlamentswahlen“ nach dem Krieg, die, wie inzwischen anhand einst geheimer Archive festgestellt, die antikommunistische Opposition gewonnen hatte. Offiziell jedoch, bekam sie nur 10% der Stimmen.

Die von den Sowjets ausgebildeten polnischen „Sicherheitsorgane“ und deren bewaffneter Verband (das sog. Korps der Inneren Sicherheit – KBW) wurden überwiegend von sowjetischen Offizieren in polnischen Uniformen befehligt.

Nein, es war kein „Bürgerkrieg“. Nicht der von den Sowjets völlig abhängige, allein auf sich gestellt nicht überlebensfähige, polnische kommunistische Staats- und Terrorapparat war der eigentliche Gegner, sondern die Sowjets, die das Land besetzten und es gegen den Willen der absoluten Mehrheit seiner Bewohner in ihre Kolonie verwandelten.

Tausende Schicksale gilt es aufzuklären

Erst 2011 konnte das Institut für Nationales Gedenken (IPN) mit der aufwendigen Suche nach den Opfern des Regimes, deren Leichen nach der Hinrichtung verschwunden waren, beginnen. IPN verwahrt vor allem die Akten der ehemaligen polnischen Stasi, hat jedoch auch Befugnisse bei „Verbrechen gegen das polnische Volk“ (deutsche Besatzungszeit, kommunistischer Nachkriegsterror) Untersuchungsverfahren einzuleiten und Anklage vor Gericht zu erheben.

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Ausgrabungsarbeiten auf dem Warschauer Powązki-Friedhof.

Es gilt Tausende Schicksale aufzuklären. IPN-Historiker durchforsten Archive, IPN-Staatsanwälte befragen Zeugen. Alte und neue Luftaufnahmen von Gegenden, in denen man anonyme Gräber von Ermordeten vermutet, werden ausgewertet.

Es ist schon erstaunlich, wie gut man aus der Luft erkennen kann, wo die gewachsene Oberflächenstruktur angetastet wurde, auch wenn es vor Jahrzehnten geschah und vor Ort mit bloβem Auge nicht sichtbar ist. Der Vergleich zwischen deutschen Luftaufnahmen aus dem Jahr 1943 und polnischen des Jahres 1951 hat ergeben, dass in einer weitgehend ungenutzten Ecke des 45 Hektar groβen Warschauer Powązki-Friedhofs (phonetisch: Powonski) 1951 Grubenumrisse zu erkennen sind, die es dort 1943 nicht gab. Anschlieβende Geo-Radaruntersuchungen haben zusätzlich die jahrzehntelang anhaltenden Gerüchte bestätigt, dass auf der sogenannten „Łączka“ (phonetisch.: Uontschka), zu Deutsch „kleine Wiese“, zwischen 1948 und 1956 namenlose Tote verscharrt wurden.

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Auf dem Rücken gekreuzte Arme deuten darauf hin, dass die Opfer gefesselt waren. Stricke haben sich längst spurlos aufgelöst, manchmal findet man Draht oder Elektrokabel.

Bis zum Sommer 2015 wurden auf der „kleinen Wiese“ Gebeine von etwa 200 Personen ausgegraben. Vierzig von ihnen konnten identifiziert werden. Die Archäologin Natalia Szymczak (phonetisch: Schimtschak) sagt, dass man an den Knochen das Leiden der Opfer ablesen kann. Spuren der Verletzungen, die ihnen beigefügt wurden, sind deutlich erkennbar. Auf dem Rücken gekreuzte Arme deuten darauf hin, dass die Opfer gefesselt waren. Stricke haben sich längst spurlos aufgelöst, manchmal findet man aber Draht oder Elektrokabel. Persönliche Gegenstände sind rar. Vereinzelt ein Kamm, ein Brillengestell, Stofffetzen.

 Mit Stroop in einer Zelle

Die Stoffreste entstammen nicht selten deutschen Uniformen. Um sie zu demütigen, nahm man den Kämpfern des antideutschen Widerstandes oft ihre Kleidung weg und warf ihnen abgetragene deutsche Uniformen vor die Füβe. Polnische Widerstandskämpfer wurden bevorzugt mit deutschen Kriegsverbrechern in eine Zelle gesperrt.

„Liebe Wisia!“, schrieb Oberst Łukasz Ciepliński in seinem letzten Kassiber aus dem Gefängnis. „Ich lebe noch, aber es sind meine letzten Tage. Sitze mit einem Gestapo-Offizier in einer Zelle. Er bekommt Post, ich nicht. Wie gerne würde ich wenigstens ein paar Worte aus Deiner Feder bekommen. (…) Meinen Schmerz lege ich Gott und Polen zu Füβen. (…) Ich danke Gott dafür, dass ich für den heiligen Glauben, für mein Vaterland kämpfen durfte und dafür, dass er mir eine solche Frau und das groβe Familienglück geschenkt hat“.

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Kazimierz Moczarski

Auch der in der Hierarchie der Heimatarmee hoch angesiedelte Journalist Kazimierz Moczarski, der während seines elfjährigen (1945-56) Gefängnisaufenthaltes 49 Foltermethoden, die er später beschrieben hat, erleiden musste, wurde für acht Monate in eine Zelle mit Jürgen Stroop eingesperrt. Stroop war der Chef der deutschen Einsatzkräfte gewesen, die den Aufstand im Warschauer Ghetto (19.04-16.05.1943) niederschlugen. Moczarski überlebte und legte später (1972) Zeugnis ab von der Zeit mit Stroop in seinem Buch „Gespräche mit dem Henker“.

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Jürgen Stroop

Der Standardvorwurf, den man Leuten wie Ciepliński oder Moczarski in den Anklageschriften machte, lautete „Kollaboration mit den Deutschen“. Gestapobeamte, derer man habhaft geworden war, mussten nicht selten, auf erbeuteten deutschen Blankoformularen, Verhörprotokolle und Akteneinträge neu schreiben, damit man solche Anklagepunkte mit entsprechenden „Beweisen“ untermauern konnte.

„Werden Sie meinen Vater finden?“

Jeden Tag kommen Familienmitglieder und schauen bei den Ausgrabungen zu. Alte Menschen, die seit sechzig Jahren auf Nachrichten von ihren Eltern oder Geschwistern warten, die man als „Banditen“ diffamiert hat. Sie bringen Fotos mit. Auf den Bildern sieht man stattlich gebaute Männer, aber in den Gruben liegen geschrumpfte Skelette, die gerademal einem Kindersarg füllen. Eines Tages kam ein alter Mann und fragte: „»Werden Sie meinen Vater finden?« Ich musste weinen. Er auch“, berichtet Natalia Szymczak.

Dr. Krzysztof Szwagrzyk (phonetisch: Schwagschik) leitet und koordiniert die Ausgrabungen in ganz Polen. Ihm obliegt es Angehörige zu benachrichtigen, wenn ihre Nächsten identifiziert wurden. Die Reaktion ist immer dieselbe: das lange Schweigen, der stockende Atem, dann das Weinen im Telefonhörer. Dies alles geht ihm sehr nahe.

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Dr. Krzysztof Szwagrzyk (links im Bild) bei Ausgrabungsarbeiten auf dem Powązki-Freidhof in Warschau.

Einem solchen Anruf gehen Monate akribischer Arbeit voran. Sobald die Archäologen die Gebeine freigelegt haben, sind forensische Anthropologen an der Reihe. Iwona Teul ist eine von ihnen. Sie liest aus den Knochen Behinderungen, Verletzungen, Krankheiten, Schusswunden ab. Nicht selten kann Frau Teul erste Hinweise auf die Identität geben.

Entscheidend ist jedoch die DNA-Analyse. Das IPN gründete zusammen mit der Medizinischen Universität in Szczecin/Stettin eine genetische Datenbank für die Opfer. Angehörige geben DNA-Proben ab. Dennoch gestaltet sich die Identifizierung nicht selten sehr schwierig. Wenn z. B. ätzender Löschkalk auf die Leichen gestreut wurde, ist das entnommene DNA-Material kaum zu gebrauchen.

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Gefunden und identifizieert. „Verstoβene Soldaten“ werden gleich ins Pantheon gebracht.

Auf dem Powązki-Friedhof wird die Suche dadurch erschwert, dass Mitte der 60er Jahre auf die anonymen Massengräber eine meterdicke Schicht aus Erde, Schutt und Kompost aufgetragen wurde. Zwanzig Jahre später, Mitte der 80er Jahre, begann die Friedhofsverwaltung auf Anweisung der polnischen Stasi, auf dem so präparierten Totenfeld neue Grabstätten anzulegen.

Unter den Neubestatteten befinden sich viele verdiente Militärs und andere kommunistische Würdenträger. Einige von ihnen haben die unter ihnen verscharrten Opfer eigenhändig gequält, wie Stasi-Oberst Julia Brystygierowa, oder zum Tode verurteilt, wie die Richter Roman Kryże (phonetisch Krische) und Ilia Rubinow, deren Urteile heute als eindeutige Gerichtsmorde gelten.

Eine Änderung des Friedhofs- und Bestattungsgesetztes war notwendig, damit die zuoberst bestatteten Personen ausgebettet werden können (falls erforderlich, von Amts wegen, sollten die Familien es verweigern), und dadurch die darunter liegenden Toten endlich ein Grab bekommen können. Das Vorhaben, dem Gespräche mit den Familien der Neubestatteten vorausgehen sollen, wird voraussichtlich im Frühjahr 2016 beginnen.

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Identifizierte Tote wurden im September 2015, im Rahmen eines feierlichen Staatsaktes zu Grabe getragen in dem eigens auf der „kleinen Wiese“ erbauten Pantheon. Weitere Beisetzungen sollen folgen, das Bauwerk wird sukzessiv erweitert.

Dr. Szwagrzyk glaubt auf dem freigegebenen Totenfeld anschließend Gebeine von bis zu einhundert weiteren Opfern zu finden. Er hofft, dass auch Oberst Ciepliński dabei sein wird. Die bereits identifizierten Toten wurden im September 2015, im Rahmen eines feierlichen Staatsaktes, in kleinen Holzsärgen zu Grabe getragen. Es entstand das eigens auf der „kleinen Wiese“ erbaute Pantheon. Weitere Beisetzungen sollen folgen, das Bauwerk wird sukzessiv erweitert.

An insgesamt 16 Stellen in ganz Polen sind derzeit Exhumierungen im Gange. Die umfangreichsten Arbeiten finden in Białystok, im und um das Untersuchungsgefängnis in der Kopernikstrasse, statt. Das Gebäude war umgeben von einem groβen Garten. Zuerst haben die Sowjets, die nach dem gemeinsamen Überfall mit Hitler auf Polen, Białystok zwischen September 1939 und Juni 1941 besetzt hielten, dort die Opfer ihrer Morde verscharrt. Dann waren es zwischen 1941 und 1944 die Deutschen. Anschlieβend wieder die Sowjets und ihre polnischen Helfer.

Knapp 400 sterbliche Überreste hat das Team des IPN-Archäologen Adam Falis dort bis zum Herbst 2015 ausfindig gemacht. Der Garten wurde nach und nach bebaut. Es galt den alten Schweinestall abzureiβen, Betonsilos für Schweinefutter, kaputte Laternenmasten zu entfernen, ebenso wie groβ gewachsene Bäume, die manche Gebeine mit ihren Wurzeln eng umschlungen hielten. Im Gefängnis selbst haben Falis‘ Leute meterdicke Keller-Betonfuβböden aufgebrochen. Überlieferte Zeugenberichte erwiesen sich als richtig: tief vergraben man fand Dutzende von Gebeinen.

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Am Untersuchungsgefängnis in Białystok. Bäume haben Gebeine mit Wurzeln umschlungen.

Die Opfer der Deutschen liegen so, wie sie in die Grube gestürzt sind, niedergestreckt von MP-Garben. Die Opfer der Sowjets weisen alle einen Kopfschuss auf. Dazwischen ruhen oft, ordentlich aufgereiht, tote polnische „Banditen“ mit unterschiedlichen Schussverletzungen, die die Überfallkommandos nach Zusammenstöβen aufgelesen und zu den Gruben gebracht haben. Aber es gibt auch Gruben mit den Gebeinen von Frauen und Kindern. Handelt es sich dabei um Polen? Juden? Andere? Man weiβ es nicht und wird es kaum mehr feststellen können. Offensichtlich sind sie im Gefängnis an Krankheiten oder Hunger gestorben.

Anhand von DNA-Abgleichen konnten bis jetzt nur zwei Personen identifiziert werden. Das DNA-Material von weiteren 30 Personen, die der Meinung sind, ihre Nächsten seien in dem Untersuchungsgefängnis umgekommen, liegt vor.

„Sagt bitte meiner Oma“

„Wir können nicht trauern, solange es keinen Leichnam und kein Grab gibt“, sagen die Hinterbliebenen. Manche konnten inzwischen von ihren Qualen befreit werden. Großes Aufsehen erregte die Auffindung von Danuta Siedzikówna, genannt „Inka“, geb. 1928.

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Von Partisanen aus einem Gefangenenkonvoi befreit, trat Dauta Siedzikówna ihrer Abteilung der Heimatarmee als Sanitäterin bei.

Ihren Vater, einen Förster, hatten die Sowjets 1939 aus Ostpolen deportiert. Er starb 1943. Die Mutter wurde im September 1943 bei Białystok von der Gestapo ermordet. Mit 15 Jahren trat „Inka“ der Heimatarmee (AK) bei, bekam eine medizinische Schulung. Im Juni 1945 wurde sie von einer sowjetisch-polnischen Einsatzgruppe, zusammen mit allen Mitarbeitern der Försterei Hajnówka, verhaftet. Von Partisanen aus einem Gefangenenkonvoi befreit, trat sie ihrer Abteilung der Heimatarmee als Sanitäterin bei.

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Unter schwerster Folter gab „Inka“ ihre Kontaktpersonen zum Untergrund und vereinbarte Treffpunkte nicht Preis. Szene aus dem Fensehspiel „Inka“ (2006).

Im Juli 1946 schickte sie der Kommandeur nach Gdańsk/Danzig um Verbandsmaterial zu holen. Dort wurde sie verhaftet. Im Gefängnis weigerte sich die 17jährige unter schwerster Folter ihre Kontaktpersonen zum Untergrund und vereinbarte Treffpunkte preiszugeben. Obwohl minderjährig, wurde sie zum Tode verurteilt. Ein Gnadengesuch ihres Pflichtverteidigers wollte sie nicht unterschreiben, da er ihre Abteilung als eine „Bande“ bezeichnet hatte. In einem letzten Kassiber vor der Hinrichtung bat sie eine Freundin: „Sagt bitte meiner Oma, dass ich mich wie es sich gehört benommen habe .“

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„Inkas“ Gebeine (links) in einer entlegenen Ecke des Garnisonfriedhofs in Gdańsk gefunden.

Da alle vier Soldaten des Hinrichtungskommandos, das Inka in einem Gefängniskeller erschieβen sollte, daneben zielten, wurde sie mit einem Kopfschuss ermordet.

Im Sommer 2015 fand Dr. Szwagrzyk ihre Gebeine in einer entlegenen Ecke des Garnisonfriedhofs in Gdańsk.

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