Solidarność-Legende

Am 30. Dezember 2014 starb Marian Jurczyk.

Er war kein Volkstribun, eher ein Macher mit Kanten, an denen sich viele gestoβen haben, und einer der ganz Groβen in der Gründergeneration der „Solidarność“. Jurczyk, der Mann der ersten Stunde, wurde gefeiert, geachtet, gefürchtet. Er war aber auch ein Getriebener, von Ereignissen über die er die Kontrolle verloren hatte und von Herausforderungen, die ihn als einen Politiker der nachkommunistischen Zeit manchmal überfordert haben.

Mann der ersten Stunde

Marian Jurczyk wurde 1935 im Dorf Karczewice bei Częstochowa/Tschenstochau geboren. In dieser waldreichen Gegend gab es im Zweiten Weltkrieg eine rege Partisanentätigkeit. Am 8. September 1944 gelang es in der Nähe des Dorfes einer Kampfeinheit der Heimatarmee (Armia Krajowa) eine knapp 20 Mann zählende Patrouille der deutschen Gendarmerie zu beseitigen, die auf dem Weg zu einer Strafaktion war.

Auf der Suche nach Partisanen drangen kurz darauf deutsche Gendarmen in das Haus der Jurczyks ein. Marian sollte einen Strick holen, damit sie seinen Vater hängen konnten. Dazu kam es nicht, aber die tiefe Abneigung gegen Deutsche und Deutschland konnte er sein Leben lang nicht überwinden.

Wie Zehntausende andere Bauernsöhne suchte Jurczyk in der Zeit der forcierten, oft brutalen, kommunistischen Nachkriegsindustrialisierung sein Glück in der Groβstadt. Er kam 1954 ins ferne Szczecin/Stettin und ging zur Werft, war Kranführer, Schweiβer, Lagerverwalter.

Der miserable Lebensstandard, die kargen Löhne und die kurz vor Weihnachten, am 12. Dezember 1970, eingeführte beträchtliche Lebensmittelpreiserhöhung lösten in den polnischen Küstenstädten eine Arbeiterrevolte aus. An den Generalstreik in Szczecin schlossen sich mehrtägige schwere Unruhen an, bei denen das Parteigebäude in Flammen aufging. Es gab 16 Tote und knapp 180 Verletzte. In Gdańsk/Danzig starben 6 Menschen, in Gdynia/Gdingen 18, in Elbląg/Elbing kam 1 Person ums Leben. 5000 Polizisten und 27.000 Soldaten waren an der Küste im Einsatz. An diesem 20. Dezember 1970 musste Parteichef Władysław Gomułka zurücktreten, an seine Stelle trat Edward Gierek.

Jurczyk war damals Mitglied des Streikkomitees der Werft und blieb der Belegschaft als guter Redner und Mann der Tat in Erinnerung.

Zehn Jahre später, im Sommer 1980, waren die meisten Streikführer vom Dezember 1970 tot. Bogdan Gołaszewski hatte man bald nach dem Streik in seiner Wohnung tot aufgefunden. Todesursache: Gasvergiftung. Adam Ulfik wurde von zwei Unbekannten in seiner Wohnung überfallen. Sie betäubten ihn mit Chloroform und drehten die Gashähne auf. Ulfik wachte noch rechtzeitig auf und konnte das Fenster öffnen. 1976 kam er unter mysteriösen Umständen ums Leben. Die Todesliste umfasst noch weitere Namen. Der Chef des Streikkomitees von 1970, Edmund Bałuka, überlebte wahrscheinlich nur deswegen, weil er nach Skandinavien flüchten konnte.

Als Chef des Überbetrieblichen Streik-Koordinationskomitees (Międzyzakładowy Komitet Strajkowy – MKS), in dem 340 streikende Betriebe aus Szczecin und Umgebung vertreten waren, hegte Jurczyk im Sommer 1980 ein grundsätzliches Misstrauen, sowohl gegen oppositionelle Warschauer Intellektuelle, die sich als Berater anboten, als auch gegen westliche Journalisten. Beide Gruppen wurden im August 1980 in die Szczeciner Werft, wo sich der Sitz des MKS befand, nicht hinein gelassen, während sie in Gdańsk, wo Lech Wałęsa das Sagen hatte, hochwillkommen waren.

Am 30. August 1980, einen Tag früher als Wałęsa in Gdańsk, unterschrieb Jurczyk im Namen des MKS Szczecin Vereinbarungen mit Vertretern der kommunistischen Regierung. In dem Szczeciner Dokument, das u.a. die Gründung der „Solidarność“ zulieβ, war keine Rede von der „führenden Rolle der Partei“, die die freie Gewerkschaft respektieren werde. In den Danziger Vereinbarungen hingegen war das der Fall.

Hierin lag der Grund für die erste Missstimmung zwischen Jurczyk und Wałęsa.

Der Szczeciner galt als der Hardliner, scheute, wenigstens in Worten, die Konfrontation mit den Kommunisten nicht. Den Kult um Wałęsa betrachtete er als einer demokratischen Gewerkschaft unwürdig. Die Intellektuellen Berater Wałęsas: Jacek Kuroń, Adam Michnik, Bronisław Geremek, Tadeusz Mazowiecki u.e.m. waren, seiner Meinung nach, politische Intriganten, die die „Solidarność“ den Arbeitern entreiβen und sie für sich benutzen wollten.

Jurczyk fühlte sich Wałęsa ebenbürtig und war sein wichtigster Gegenspieler. Während des I. Landesweiten Delegiertenkongresses der „Solidarność“ im Herbst 1981 verzeichnete er bei der Vorsitzenden-Wahl das zweitbeste Ergebnis (201 Stimmen = 24,01%) nach Wałęsa (462 Stimmen = 55,2%).

Haft und Schicksalsschlag

Nach Verhängung des Kriegsrechts am 13. Dezember 1981 wurde Jurczyk zunächst interniert und anschlieβend, im Dezember 1982, vorläufig festgenommen. Zusammen mit einigen anderen „Solidarność“-Aktivisten sollte ihm, einem „Extremisten“, der angeblich die kommunistische Staatsordnung „gewaltsam beseitigen“ wollte, der Prozess gemacht werden. Dazu kam es nicht, Jurczyk fiel im Juli 1984 unter eine Amnestie und kam frei.

Während der Haftzeit, am 5. August 1982, begingen sein 23jähriger Sohn Adam und die Schwiegertochter Dorota Selbstmord. Die Vater-Sohn-Beziehung soll von gegenseitiger Kälte geprägt gewesen sein. Als Jurczyk sich von seiner ersten Frau scheiden ließ, war sein Sohn noch ein Kleinkind. Nicht einmal zur Hochzeit Adams soll der Vater erschienen sein.

Adam sei eine labile Persönlichkeit gewesen, alkoholabhängig verkehrte er in der Drogenszene. Dorota lernte er während einer Entziehungskur in der Psychiatrie kennen, wo sie als suizidgefährdet in Behandlung war. Die beiden stritten pausenlos miteinander, trennten sich, um sich dann wenig später ewige Liebe zu schwören.

Während eines Streits sprang Dorota um ca. 1.30 Uhr in der Nacht aus dem Fenster der gemeinsamen Wohnung und starb einige Stunden später im Krankenhaus. Adam sprang am Abend des selben Tages aus der Wohnung seines Freundes, der sich gerade in der Küche aufhielt, um Tee zu machen. Er nahm sich das Leben, weil er sich den Tod seiner geliebten Frau nicht verzeihen konnte.

Zu diesem Ergebnis kam eine staatsanwaltschaftliche Untersuchung aus dem Jahr 2007. Beweise oder Indizien für einen, womöglich politisch motivierten Mord der Staatssicherheit, fand man nicht.

1982 jedoch lag dieser Verdacht sehr nahe. Jurczyk wurde zur Beerdigung in Handschellen gebracht. Mit Mühe und Not gelang es der Polizei ihn wieder vom Friedhof abzutransportieren. Schwere Ausschreitungen erschütterten Szczecin bis spät in die Nacht.

Erzrivale, Senator, Bürgermeister

Seinem Hardliner-Image treu, lehnte Jurczyk die Verhandlungen des Runden Tisches die von Februar bis April 1989 stattfanden, ab. Ebenso die damals ausgehandelte Neuzulassung der „Solidarność“. Der damit verbundene „Neuanfang“ beseitigte die 1981 existierenden Gremien und machte Wałęsa, bis zu einem Kongress (der jedoch erst im April 1990 stattfinden sollte), zu einem Quasi-„Alleinherrscher“, der über die Zusammensetzung der provisorischen Gremien entschied. Für den Erzrivalen Jurczyk war da natürlich kein Platz.

Jurczyk gründete mit Gleichgesinnten ein „Übereinkommen für Demokratische Wahlen in der »Solidarność«“ und später eine neue Gewerkschaft, die „Solidarność 80“, deren Chef er bis 1994 war. Trotz mehrerer Abspaltungen, hat sie heute noch etwa 100.000 Mitglieder.

Jurczyk wurde 1997 für die Woiwodschaft Westpommern in den Senat (eine der beiden Kammern des polnischen Parlaments) gewählt. Der damaligen Wahllosung auf seinen Plakaten („Nur er hat sich nicht verkauft“) vermochte er jedoch nicht treu zu bleiben, als er ausgerechnet eine Allianz mit den Postkommunisten einging, um sich im November 1998 vom Szczeciner Stadtrat zum Oberbürgermeister wählen zu lassen. Dieses Amt bekleidete er zweimal: von November 1998 bis Januar 2000 (das Verfassungsgericht entschied damals, dass ein Parlamentsmandat und ein kommunales Mandat gleichzeitig von ein und derselben Person nicht ausgeübt werden dürfen; Jurczyk verlieβ daraufhin das Rathaus) und von November 2002 bis Dezember 2006 (seit 2002 werden die Oberbürgermeister in Polen direkt gewählt).

In seine erste Amtsperiode als Oberbürgermeister fiel seine umstrittene Entscheidung, den von seinem Vorgänger unterzeichneten Vertrag mit der deutschen Firma „Euroinvest Saller“ über den Bau eines Handelszentrums, mit sofortiger Wirkung aufzulösen. Die Firma ging vor Gericht und bekam ihre erbrachten Vorleistungen samt Zinsen zurück. Die Staatsanwaltschaft erhob daraufhin gegen Jurczyk und seine Mitarbeiter Anklage wegen Nachlässigkeit im Amt und Verursachung eines Schadens in großer Höhe. Das Urteil für Jurczyk (zwei Jahre Haft auf Bewährung) wurde 2009, in letzter Instanz, in einen Freispruch umgewandelt.

Nichtspitzel-Spitzel

Wie alle polnischen Politiker musste auch Jurczyk unter Eid versichern, dass er kein Zuträger der Staatssicherheit gewesen ist. Das tat er 1997, als er in den Senat gewählt wurde. Die Stasi-Erklärungen der Politiker wurden damals auf ihren Wahrheitsgehalt von einem sog. Anwalt des Öffentlichen Anliegens und seiner Behörde überprüft. Einen allgemeinen Zugang zu den Stasi-Akten gab es damals noch nicht.

Später, bei der Überprüfung der Archive, kamen Akten zutage, die zeigten, dass Jurczyk im Juni 1977 eine Verpflichtungserklärung unterschrieben hatte. Er fungierte als IM „Święty“ („Der Heilige“), quittierte Geldbeträge, u.a. wie folgt: „Ich bestätige den Erhalt von 1000 Zloty von einem Mitarbeiter der Staatssicherheit, als Entgelt für die Zusammenarbeit und die Weitergabe von Informationen über Józef Szymański“. Szymański war Mitglied des Streikkomitees im Dezember 1970.

Die Stasi benutzte Jurczyk auch, um zu erfahren auf welchen Wegen die antikommunistische Zeitschrift „Szerszeń“ (“Die Hornisse“) nach Polen gelangte. Herausgeber war Edmund Bałuka, der nach Schweden geflüchtete Streikchef der Werft im Dezember 1970, 1979 brach Jurczyk seine Kontakte zur Stasi ab und wurde bald darauf selbst Objekt der Bespitzelung.

Der Anwalt des Öffentlichen Anliegens erhob gegen Jurczyk Anklage wegen so genannter Lustrationslüge. Die Höchststrafe bei diesem Vergehen: das Verbot zehn Jahre lang öffentliche Ämter zu bekleiden. Im November 1999 und März 2000 wurde Jurczyk in zwei Instanzen schuldig gesprochen. Das Oberste Gericht ordnete jedoch eine Wiederaufnahme des Verfahrens an. Ergebnis: wieder zwei Schuldsprüche im März und Juni 2001.

Jurczyks Verteidiger beantragten daraufhin die Kassation des Urteils in allen Punkten. Das Oberste Gericht folgte im Oktober 2002 diesem Antrag: Jurczyk sei zur IM-Tätigkeit gezwungen worden, seine Berichte seien „unbrauchbar“ gewesen und deswegen könne man ihn nicht als einen Stasi-IM betrachten.

Dieses in Polen sehr umstrittene Urteil war ein Freispruch zweiter, wenn nicht gar dritter Klasse. Zwar gewann Jurczyk einen Monat später, im November 2002, in Szczecin die Oberbürgermeisterwahlen, aber der Makel des Stasi-Spitzels lastete schwer auf ihm.

Beim Versuch 2006 wiedergewählt zu werden, bekam er nur noch knapp 5% der Stimmen. Verbittert und vereinsamt zog er sich daraufhin in seinen Schrebergarten zurück, wo er in einer winterfesten Laube sein Leben fristete.

Marian Jurczyk starb am 30. Dezember 2014 in Szczecin. Staatspräsident Komorowski verlieh ihm posthum das Komturkreuz des Ordens der Wiedergeburt Polens (Polonia Restituta).

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Dichter-Koryphäe

Am 26. Dezember 2014 starb Stanisław Barańczak.

Er hat sich einen groβen Namen in vierlei Hinsicht gemacht: als Dichter, als Dissident, als Literaturkritiker und als Übersetzter. Er war ohne Zweifel eine Koryphäe der modernen polnischen Literatur.

Bürgerrechtler

1946 in Poznań/Posen, in einer gutbürgerlichen Arztfamilie geboren, war er ein Kind der Volksrepublik Polen, gegen die er seit seinen Jugendjahren stets rebellierte. Begabt und belesen studierte Barańczak Polonistik an der Poznaner Adam-Mickiewicz-Universität. Die geistige Enge des Kommunismus war ihm zutiefst zuwider. Die letzten Illusionen in Bezug auf das System raubten ihm die Ereignisse des Frühjahrs 1968, als in allen polnischen Universitätsstädten Studentenunruhen ausbrachen. Beim Auseinandertreiben der Studentendemonstration in Poznań kassierte er einige schmerzhafte Schlagstockhiebe. Kurz darauf, als er als Mitglied einer Studentendelegation die Forderungen der Protestierenden nach mehr Freiheit in Forschung und Lehre im Uni-Rektorat vorbringen wollte, wurde er Zeuge äußerster Arroganz und Verachtung der Apparatschiks.

Barańczak setzte viel aufs Spiel, denn mit seinen unkonventionellen Gedichten hatte er bereits auf sich aufmerksam gemacht, bekam erste Auszeichnungen. Es war gewiss: ihm stand eine groβe literarische Karriere bevor. Schon als Student war er Chefdramaturg des Poznaner experimentellen „Theaters des Achten Tages“. Noch wurde er geduldet. Sein erstes Gedichtband „Przyczyny zgonu“ („Todesursachen“) durfte 1968 erscheinen. 1971 erhielt er den Doktortitel und bekam eine Stelle an der Poznaner Universität, obwohl er bereits 1969, nach wenigen Jahren der Mitgliedschaft, aus der herrschenden Polnischen Vereinigten Arbeiterpartei ausgetreten war.

Im Jahr 1977 trat Barańczak dem Komitee zur Verteidigung der Arbeiter (KOR) bei. KOR war eine Gruppe der polnischen Bürgerrechtsbewegung. Mitglieder waren namhafte Intellektuelle. Sie entstand als Reaktion auf zahllose Drangsalierungen, Schikanen und brutale Übergriffe (Verhaftungen, bestialische Misshandlungen auf Polizeistationen, Entlassungen, Verhängung hoher Haftstrafen in fingierten Strafprozessen usw.) auf Teilnehmer an Arbeiterprotesten gegen die Lebensmittelpreiserhöhungen im Juni 1976 in der Stadt Radom. Das Hauptziel war die finanzielle Unterstützung und die Bereitstellung eines Rechtsbeistands für verfolgte Arbeiter. KOR war eine der Keimzellen der späteren Gewerkschaftsbewegung „Solidarność“.

Barańczak wurde daraufhin entlassen und im Februar 1977, aufgrund eines von der Staatssicherheit konstruierten Vorwurfs der Korruption, zu einem Jahr Gefängnis auf Bewährung verurteilt. Er bekam Schreib- und Veröffentlichungsverbot. Nicht der geringste Hinweis auf ihn, keine Gedichte oder andere Texte von ihm durften erscheinen.

Der Dichter lehrte ab diesem Zeitpunkt an der sog. Fliegenden Universität, deren Vorlesungen in Privatwohnungen stattfanden, nahm im Mai 1977 am Hungerstreik in der Warschauer Hl. Martin-Kirche zugunsten politischer Häftlinge teil, unterschrieb Protestaufrufe an die Behörden, war Redaktionsmitglied der illegal gedruckten Literaturzeitschrift „Zapis“ („Niederschrift“). In Poznań, wo die demokratische Opposition sehr schwach war, war Barańczak lange Zeit ihr wichtigster Brückenkopf.

Nach Gründung der „Solidarność“ im September 1980 engagierte er sich für die Arbeit der Bewegung und bekam seine Stelle an der Universität wieder. Im Januar 1981 erreichte ihn ein Angebot, so verlockend, dass er es nicht ausschlagen konnte. Er sollte die Leitung des (in Amerika einzigen) Instituts der Polnischen Literatur an der Harvard-Universität übernehmen. Aus den geplanten drei Jahren Aufenthalt wurde „lebenslänglich“, vor allem da am 13. Dezember 1981 in Polen das Kriegsrecht ausgerufen wurde.

Barańczak und sein Schaffen wurden nun zu einem Teil der polnischen Exilkultur. Sie ist seit dem Ende des 18. Jh., aufgrund der stets wiederkehrenden Massenauswanderungen auf der Suche nach Freiheit und Brot, der „zweiter Lungenflügel“ der polnischen Nationalkultur geworden. Barańczaks Gedichte und Essays erschienen in Exilverlagen und gelangten bis 1989 auf illegalen Wegen nach Polen.

Nicht zu unterschätzen sind seine Verdienste darum, der polnischen Literatur den Weg in die Verlage, die Bibliotheken Amerikas und die Köpfe der Amerikaner gebahnt zu haben.

Dichter, Literaturkritiker, Essayist

Ein Teil seines Widerstandes bestand aus seinen scharfsinnigen Analysen der sozialistischen Massenkultur. In Essays und wissenschaftlichen Texten nahm er Krimis, Abenteuerromane und andere im Parteiauftrag entstandene Arten der Populärliteratur, ihre Feind- und Leitbilder unter die Lupe. Barańczak beschrieb die Funktionsweise der Manipulation, Menschen, die kritiklos Propagandainhalte übernahmen, gab seiner Angst Ausdruck vor der stumpfsinnigen, manipulierten Masse.

Sein moralischer Standpunkt hinsichtlich der Dichtung war klar umschrieben: „Misstrauen. Kritizismus. Bloβtellung. Das alles sollte sie sein, so lange bis die letzte Lüge, der letzte Rest der Demagogie, die letzte Gewalttat von dieser Welt verschwinden“. Sein moralisch-dichterisches Manifest legte Barańczak 1971 in einem Essay mit dem bezeichnenden Titel „Nieufni i zadufani“ („Misstrauisch und eingebildet“) dar.

Ein Merkmal seiner Gedichte war die Gestaltung des sprachlichen Ausdrucks: Satzfetzen, scheinbar chaotisch aneinandergereiht, dieselben Worte, die in immer neuen Verbindungen wiederkehren. Es ging ihm darum, feste Wortverbindungen, eingeprägte Redewendungen und mit ihnen Denkschemata zu zerschlagen.

Bezeichnend in dieser Hinsicht ist das Gedicht „Blicken wir der Wahrheit ins Auge“ von 1970, in dem er, von der Redewendung ausgehend, die Überzeugung äuβert, dass die Wahrheit zu sagen, eine moralische Pflicht des Dichters sei, gegenüber den anonymen Beobachtern, der Öffentlichkeit:

„…zeigen wir uns auf der Höhe/ des Auges, wie die Kreideschrift an der Mauer, wagen wir es/ der Wahrheit ins Auge zu sehen, das nicht abläβt von uns/ das überall ist, festgetreten im Pflaster unter den Füβen/ festgeklebt im Plakat, versunken in Wolken…“

(übersetzt von Karl Dedecius).

Die Dichtung war für Barańczak vor allem ein Instrument der Verteidigung gegen die alles überflutende Propagandasprache, eine Sprache der Lüge, die es zu entlarven, zu hinterfragen, bloβzustellen galt, um Menschen zum Nachdenken zu bringen, zu zwingen sich selbst Fragen zu stellen. Eine schwere Aufgabe, wie er es in seinem Gedicht „N.N. fängt an sich Fragen zu stellen“ formulierte, in einer Zeit, in der man:

„…beim Wort „Sicherheit“/ Gänsehaut bekommt, in der das Wort „Wahrheit“1)/ ein Zeitungstitel ist, in der Wörter „Freiheit“/ und „Demokratie“ in den Dienstbereich/ eines Polizeigenerals2) fallen…“

(übersetzt von Peter Lachmann).

Die politische Komponente in seiner Dichtung verlor mit der Zeit an Bedeutung, anderes: Liebe, menschliches Verhalten in Zeiten des Überflusses, das Verhältnis zur Natur rückten in den Vordergrund.

Übersetzter

Stanisław Barańczak wird auch als ein begnadeter Übersetzter englischsprachiger Literatur in die Geschichte der polnischen Kultur eingehen. In den 90er Jahren hat er zwanzig Shakespeare-Dramen neu ins Polnische übertragen. Diesen Übersetzungen wird allerhöchste Qualität bescheinigt.

Nicht anders beurteilt werden seine Übersetzungen der Gedichte von Emily Dickinson, Elizabeth Bishop, Edgar Allan Poe, Seamus Heaney, Joseph Brodsky, Thomas Campion, John Donne, Robert Herrick, George Herbert, Henry Vaughan, John Keats, Thomas Hardy, aber auch der Liedertexte der Beatles. Barańczak wurde in den letzten zwei Jahrzehnten seines Lebens zu einem unermüdlichen Mittler vor allem zwischen der amerikanischen Dichtung und der polnischen Sprache.

1999 hat man bei ihm die Parkinson-Krankheit festgestellt. Seit dem zog sich Barańczak immer mehr in die Privatsphäre zurück. Er starb in den USA im Alter von 68 Jahren und wurde auf dem Mount-Auburn-Friedhof in Cambridge bei Boston begraben.

Anmerkungen:

1) Gemeint ist „Prawda“, das poln. und russ. Wort für Freiheit. „Prawda“ hieβ das Zentralorgan der sowjetischen KP.

2) Gemeint ist Mieczysław Moczar (1913-1986), kommunistischer Partisan, General der Staatssicherheit und hoher Parteifunktionär, bekannt für sein autoritäres Auftreten. „Freiheit“ und „Demokratie“ waren Bestandteile der offiziellen Bezeichnung des einzigen zugelassenen Veteranenverbandes: „Verband der Kämpfer für Freiheit und Demokratie“, dem Moczar vorstand und der ein wichtiger Bestandteil seiner Machtgrundlage war.

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