Meister befremdlicher Klänge

Am 29. März 2020 starb Krzysztof Penderecki.

Ob Fan oder Verächter zeitgenössischer Musik, den Namen Penderecki kennt jeder. Gut sechzig Jahre lang begeisterte und verstörte der Komponist die Musikwelt. Einmal eingeschlagene Wege änderte er erneut, widersprach sich in seiner Musik und ließ sich durch Moden und Ismen nicht beeindrucken. Musikalisch machte er stets „sein Ding“, politisch drehte er sein Fähnlein nach dem Wind.

Am Ende seines Schaffensweges stand Krzysztof Penderecki da, als der traditionellste Avantgardist zeitgenössischer Musik. Er betrat diesen Weg mit dem Schlachtruf „Ich will den Klang von jeglicher Tradition befreien!“ Bei den Donaueschinger Musiktagen präsentierte er 1961 sein Orchesterwerk „Fluorescences“, „in dem“, so die Kritiker, „selbst die Noten grafische Purzelbäume schlugen“.

Ein Jahr zuvor hatte das „Klagelied – Den Opfern von Hiroshima“ Premiere. Zweiundfünfzig Streicher spielten knapp acht Minuten lang höchstmögliche Töne mit unregelmäßigen Bogen-Bewegungen. Sie zupften und schlugen die Saiten ihrer Geigen, Bratschen und Kontrabässe mit der Hand oder klopften mit der Rückseite des Streichbogens auf den Resonanzkörper.

Auf diese Weise schuf Penderecki seine Tonballungen („Cluster“ mit sehr eng beieinander liegenden Intervallen). Diese schichtete er zu „Klangflächen“, die er wiederum miteinander vermischte oder ineinanderfließen ließ. Eine seiner bekanntesten Tonballungen findet sich am Ende des Hiroshima-Klageliedes. Dort hat er die Streicherstimmen so dicht aufeinander gestapelt, dass das menschliche Ohr sie nur noch als lärmende „Geräuschmasse“ wahrnehmen kann. Sein Bestreben, auf ungewöhnliche Weise mit gewöhnlichen Instrumenten ungewöhnliche Klänge zu erzeugen, kam so vollends zur Geltung. Sonorismus wurde diese Stilrichtung in der Neuen Musik genannt.

„Klagelied – Den Opfern von Hiroshima“ . Partitur.

Als Penderecki 1960 ein dickes Konvolut mit der Partitur des „Klageliedes“ an den westdeutschen Musik-Verleger Hermann Moeck nach Celle schickte, verschwand die Sendung spurlos. Der Komponist musste die Partitur aus dem Gedächtnis neu niederschreiben.

Nach Monaten kam heraus, der Zoll, und in Wirklichkeit die polnische Staatssicherheit, hatte das Musikwerk aus dem Verkehr gezogen. Man nahm an, bei den seltsamen Aufzeichnungen könne es sich um einen Geheimcode handeln, mit dem Spionagenachrichten an westliche Geheimdienste überbracht werden sollten. Seit diesem Ereignis wird kolportiert, Penderecki habe später beide Partituren miteinander verglichen. Es heißt, sie sollen identisch gewesen sein.

Penderecki experimentierte bis Mitte der Siebzigerjahre des zwanzigsten Jahrhunderts mit immer exotischeren Klängen, Instrumenten, Orchesteraufstellungen und Formen. Seine zeitgenössische Hardcore-Musik galt schon bald als ebenbürtig dem Schaffen der damaligen „Klangpäpste“ der musikalischen Avantgarde: Pierre Boulez, Luigi Nono, Karlheinz Stockhausen.

Kindheitserlebnisse

Der Komponist, der aus dem kommunistischen Osten kam, den Eisernen Vorhang durchbrach und zu einem weltweiten künstlerischen Höhenflug ansetzte, erblickte das Licht der Welt 1933 in Dębica, einer Kleinstadt an der Straße von Kraków/ Krakau Richtung Osten, nach Rzeszów.

Der Markt in Dębica vor dem Ersten Weltkrieg.

Damals schon waren die Pendereckis vermögende Leute. Krzysztofs Urgroßvater Johann Berger, ein deutscher Protestant und Gärtner, zog gegen Mitte des 19. Jahrhunderts von Breslau nach Dębica. Das Städtchen befand sich zu jener Zeit in Galizien, dem österreichischen Teilungsgebiet Polens. Es lockte der Posten des Oberförsters auf den riesigen Gütern des polnischen Grafen Raczyński.

Großvater Robert Berger war Zeichen- und Geometrielehrer, später Direktor der Grundschule. Noch vor dem Ersten Weltkrieg gründete Robert Berger mit einigen Bekannten eine Kreditgesellschaft. Aus ihr ging 1925, zur Zeit der Zweiten Polnischen Republik, die Genossenschaftsbank Dębica hervor. Ihr Direktor war bis zum Kriegsausbruch 1939 Robert Berger, ein zudem talentierter Hobbymaler und ein passionierter Geiger.

Robert Bergers Tochter, Zofia Berger heiratete den Dębicer Rechtsanwalt Tadeusz Penderecki, dessen Großeltern aus Armenien nach Dębica gekommen waren und dort eine neue Heimat gefunden hatten. Im November 1933 wurde der Sohn Krzysztof geboren.

Penderecki gestand in seinen letzten Interviews, er habe lange die Kindheit verdrängt. Zu aufregend und anstrengend war jahrelang das Hier und Jetzt des Weltbürgers gewesen. Erst im hohen Alter gab er seine Kindheitserinnerungen preis und öffnete damit eine Fundgrube an Fakten und Erlebnissen, die ihn für sein Leben geprägt hatten.

Da lag, gegenüber der Bank, die sein Vater gebaut hatte, die Kaserne des 5. Kavallerie-Schützen-Regiments der polnischen Armee. Der kleine Krzysztof zerrte sein Kindermädchen immer wieder an den Eisengitterzaun, um sich am Spiel der Militärkapelle sattzuhören. Die Musiker probten dort für die Konzerte, die sie jeden Sonntag, nach dem Hochamt, vor der Pfarrkirche gaben.

Pendereckis große Schwäche für Blechblasinstrumente war geboren und sollte ein auffälliges Merkmal seiner Musik werden. Man warf ihm vor, vieles in seinem Schaffen gerate zu pompös und feierlich. Er aber blieb dem „Glanz des Blechs“ verfallen. Vier Werke für Blasorchester waren das Ergebnis, aber auch die 7. Sinfonie „Die sieben Tore Jerusalems“ aus dem Jahr 1996 verrät seine große Vorliebe für das „Blech“.

Familienfoto der Pendereckis. Ganz hinten Mutter Zofia und Vater Tadeusz. Vor ihnen die Großmutter und Großvater Robert Berger. In der Mitte der kleine Krzysztof, rechts von ihm der ältere Bruder.

Da war Großvater Robert Berger, der dem Enkelsohn Goethe, Rilke, Eichendorff auf Deutsch vorlas oder aus dem Gedächtnis aufsagte. „Ich hatte einen älteren Bruder und eine jüngere Schwester. Der Großvater aber hat mich ausgewählt, sich mir gewidmet. Er hat mir systematisches Lernen beigebracht, hat mir bei den Hausaufgaben geholfen, für mich Aufgaben in Mathematik, Physik und Chemie gelöst, Fächern, die ich nicht ausstehen konnte.“

Ein Meisterwerk der Gartenkunst

Der Großvater, Sohn eines Gärtners und Oberförsters, weckte in dem Kleinen zudem die Begeisterung für die Botanik. „Wir sind gewandert und ich musste Bäume und Sträucher anhand ihrer Blätter erkennen“, erinnerte sich Penderecki Jahrzehnte später.

Auch diese Kindheitserlebnisse holten ihn ein. Im Musikgeschäft bestens etabliert und damals schon vielfacher Dollarmillionär, kaufte Penderecki 1973 das durch die kommunistische Kollektivierung bereits Ende der Vierzigerjahre des zwanzigsten Jahrhunderts ruinierte Gut Lusławice in der Gemeinde Zakliczyn. Es liegt eine Autostunde östlich von Kraków.

Der Maestro schrieb seine Werke nur in Auftrag. Rundfunkanstalten, Städte wie Jerusalem, die ihre Jubiläen mit seiner Musik schmücken wollten, internationale Organisationen wie die UNO oder das Internationale Olympische Komitee, reiche Musikvereine, wie die Gesellschaft der Musikfreunde in Wien standen bei ihm Schlange. Die Preise für seine Kompositionen waren stets ein streng gehütetes Geheimnis. Es hieß, die Honorare für kleinere Formate würden bei sechsstelligen Dollar- oder Eurobeträgen beginnen.

Enorme Tantiemen, gut dotierte Künstlerpreise, Dirigenten-Sonderhonorare kamen hinzu. Von Filmregisseuren umgarnt, schrieb Penderecki zudem die Filmmusik zu William Friedkins „Der Exorzist“,  Stanley Kubricks „Shining“, Peter Weirs „Fearless – Jenseits der Angst“ oder Martin Scorseses „Shutter Island“. Die dröhnende, schillernde, verstörende musikalische Untermalung von Horrorbildern aus Pendereckis Hand brachte dem Meister Millionen. Lusławice konnte getrost Unsummen verschlingen.

Penderecki vor dem wiederaufgebauten Gutshaus in Lusławice.

Das prächtig wiederaufgebaute Gutshaus wird mittlerweile von einem Park umgeben, den Penderecki, durch ständigen Zukauf von Land, von fünf auf dreißig Hektar erweitert und durch gewaltige Erd- und Drainagearbeiten neu geformt hat. Es ist ein Meisterwerk der Gartenkunst, bepflanzt mit gut 1.700 Baum- und Straucharten, deren Setzlinge der Maestro aus allen Kontinenten mitbrachte und die sich zu den kläglichen Resten des einstigen Prachtgartens mit seinen Eichen, Kastanien und Eschen gesellten.

Stanisław Dudek, Pendereckis Landschaftsgärtner und mehrere Gartenarbeiter, hatten stets das ganze Jahr über alle Hände voll zu tun. Anfang April und Ende September/ Anfang Oktober nahm sich der Meister selbst immer eine Auszeit, um seinen Leuten beim Einpflanzen neuer Bäume und Gewächse auf die Finger zu schauen.

Der Garten von Lusławice. Ansichten.

Gut achtzig Ahorn– und mehr als vierzig Buchenarten sind in diesem Park vertreten, aber auch Amur-Korkbäume, japanische Lärchen, chinesische Birken-Pappeln, Korea-Tannen. An eine Allee nordamerikanischer Tulpenbäume schließen sich kanadische Riesenmammutbäume an. Ganz in der Nähe wächst ein Dickicht aus chinesischen Gewürzsträuchern.

Ein japanischer Garten und ein Labyrinth aus fünfzehntausend Hainbuchen gehören ebenso zu diesem Ensemble. „Labyrinth das ist Suche, das ist Irren, auf Umwegen zum Ziel gelangen, das ist das Wesen der künstlerischen Schöpfung“, sagte Penderecki auf seinen Buchen-Irrgarten angesprochen.

Philharmonie im Garten

Europäisches Krzysztof Penderecki Musikzentrum. Ansichten.

Im Jahr 2013 konnte der Maestro in Lusławice einen weiteren Traum verwirklicht sehen. Anne-Sophie Mutter spielte zur Eröffnung des Europäischen Krzysztof Penderecki Musikzentrums. Auf dem Parkgelände, für umgerechnet gut 15 Millionen Euro errichtet, beherbergt der Bau einen Konzertsaal für 650 Zuhörer mit einer zweihundert Quadratmeter großen Bühne. Probesäle für Orchester und Ballett sowie Tonnen modernster Ton- und Beleuchtungstechnik stehen Nachwuchskünstlern aus der ganzen Welt zur Verfügung. Zum Vergleich: die Krakauer Philharmonie hat nur 49 Plätze mehr.

Für die etwa zehntausend Quadratmeter erlesen moderner Architektur kam gröβtenteils der polnische Staat auf. EU-Gelder wurden hinzugezogen. Penderecki steuerte das Grundstück und einen kleinen Teil der Baukosten bei, und schuf sich so ein bleibendes Denkmal. Als eine „Nationale Kultureinrichtung“ eingestuft, wird das Musikzentrum bisher überwiegend vom polnischen Staat, mit einer kleinen Beteiligung der Krzysztof-Penderecki-Akademie, finanziert.

Frau Penderecka

Elżbieta Penderecka.

Mittlerweile ist zu hören, dass die Familie des Verstorbenen mit dem Gedanken spielt, Lusławice dem Staat zu verkaufen, der das Anwesen in ein Krzysztof-Penderecki-Museum umwandeln soll. Eine diesbezügliche Absichtserklärung  haben noch Penderecki  selbst und Kulturminister Prof. Piotr Gliński Mitte Mai 2019 unterschrieben. Der Minister kam deswegen nach Lusławice. Noch ist nichts entschieden, aber klar ist auch, dass die erste Kustodin des Museums Elżbieta Penderecka, die zweite Ehefrau des Komponisten wäre.

Kulturminister Prof. Piotr Gliński  (zweiter von rechts) Mitte Mai 2019 zu Besuch in Lusławice.

Bevor sie 1965 geheiratet haben, kannten sie sich zehn Jahre lang. Penderecki war mit ihrem Vater Leon Solecki, dem Konzertmeister der Krakauer Philharmonie befreundet. So eng, dass beide Familien seit 1957 immer wieder gemeinsam Urlaub machten. Solecki brachte seine Ehefrau und die zehnjährige Tochter Elżbieta mit. Penderecki kam mit seiner ersten Frau, der Pianistin Barbara Graca und Beata, der Tochter aus dieser Ehe.

Beim dritten Urlaub, 1963, an der Ostsee soll es zwischen der 17-Jährigen und dem 30-jährigen Musiker „gefunkt“ haben. Ihre Ehe hielt mehr als ein halbes Jahrhundert, bis zu seinem Tod. Elżbieta wurde Mutter ihrer beiden Kinder, seine Sekretärin, seine Lebensberaterin, seine Managerin und schließlich eine einflussreiche Kulturunternehmerin.

Sie organisierte etliche Konzerte und Festivals, unter anderem seit 1997 in jedem Jahr das Beethoven Oster-Festival, das zunächst in Krakau und seit 2004 in Warschau stattfindet, und zwar stets in prominenter Besetzung: Yehudi Menuhin, Mstislaw Rostropowitsch, Jessye Norman, Simon Estes u. v. a.

Anders als ihr Mann, der sich auf diesem Gebiet eher in Zurückhaltung übte, machte Elżbieta Penderecka aus ihrem Herzen politisch nie eine Mördergrube. Im Jahr 2005 unterstützte sie im Wahlkampf offen Lech Kaczyński, der damals die Präsidentenwahl gewann.

Fünf Jahre später, nach seinem Tod beim Flugzeugunglück von Smolensk, trat sie in das Lager der radikalen Gegner seines Bruders Jarosław Kaczyński über. Den Doppelsieg der Nationalkonservativen (Präsidentschafts- und Parlamentswahlen) im Jahr 2015 empfand sie als eine Katastrophe und konnte sich damit erklärterweise nicht abfinden.

Ausgerechnet den regierenden Nationalkonservativen einen guten Kaufpreis und die enorme dauerhafte staatliche Finanzierung des künftigen Penderecki-Museums abzutrotzen, scheint ihr hingegen keine Probleme zu bereiten.

Musik und Botanik

Die Liebe zu Bäumen hielt ganz selbstverständlich Einzug in Pendereckis Schaffen. Im Jahr 2005 wurde die 8. Symphonie „Lieder der Vergänglichkeit“, ein Auftragswerk des Luxemburgischen Kultusministeriums, uraufgeführt. Großväterliche Gedichtsstunden und gemeinsame botanische Wanderungen fanden so eine späte musikalische Fortsetzung.

Krzysztof Penderecki. Liebe zu Bäumen .

Von einem Symphonieorchester betont modern, aber nicht avantgardistisch begleitet, singen Solisten und Chor Gedichte von Eichendorff, Brecht („Der brennende Baum“), Rilke, Kraus, Hesse, Goethe („Sag‘ ich’s euch, geliebte Bäume?“), und von von Arnim („O grüner Baum des Lebens“). Hermann Hesses berühmte Verse von der „Vergänglichkeit“ geben wohl am treffendsten die Idee des Werkes wieder. Es ist den „leidenden und verängstigten“ Bäumen gewidmet. In Wirklichkeit gibt es vor allem die Gedanken und Empfindungen eines Menschen wieder, den die eigene Vergänglichkeit beschäftigt:

„Vom Baum des Lebens fällt
Mir Blatt um Blatt,
O taumelbunte Welt,
Wie machst du satt,
Wie machst du satt und müd,
Wie machst du trunken!
Was heut noch glüht
Ist bald versunken.“

„Die deutsche Literatur war ein Teil meiner Kindheit“, gestand Penderecki immer wieder, gefragt nach den Quellen seines künstlerischen Wirkens. Derjenige jedoch, der ihm diesen Zugang verschaffte, Großvater und Bankdirektor Robert Berger, das schob der Komponist stets nach, „war ein inständiger polnischer Patriot.“

Die grausame Zeit

„Alle seine Söhne und meine Onkel“, so Penderecki weiter, „kämpften seit 1914 in Józef Piłsudskis Legionen. Einer von ihnen ist damals gefallen. Im Zweiten Weltkrieg wurde Sohn Stefan in Warschau, im Gestapo-Gefängnis in der Pawia-Straße, in einer der regelmäßig dort stattfindenden Massenerschießungen hingerichtet. Sohn Mieczysław geriet als polnischer Offizier 1939 in sowjetische Gefangenschaft. Die Sowjets haben ihn 1940 zusammen mit Tausenden anderer polnischer Offiziere in Katyn ermordet. Der älteste Sohn kämpfte im Warschauer Aufstand“ (01.08. bis 03.10.1944 – Anm. RdP).

Anfang September 1939, als deutsche Truppen im Anmarsch waren, ergriff die Familie die Flucht. Dębica wurde seit dem 1. September 1939 um elf Uhr fast pausenlos von der deutschen Luftwaffe bombardiert. Hauptziel war der Bahnhof, ein wichtiger Knotenpunkt auf der Eisenbahnstrecke Kraków-Lwów/Lemberg. Drei Wochen später, nach dem Ende der Kampfhandlungen in Polen, kamen die Pendereckis zurück und fanden eine ausgeplünderte Wohnung vor. Dębicer Schurken hatten sich über das herrenlose Eigentum der vielen Geflohenen, die verwaisten Ämter und Läden hergemacht.

Am 8. September 1939 nahmen deutsche Truppen Dębica ein. Die Stadt hieß fortan Dembitz und teilte das Schicksal des übrigen besetzten Polens. Die ersten Repressalien richteten sich, wie überall, gegen die polnische Intelligenz. Lehrer, Ärzte, Priester, Unternehmer, Beamte, Richter wurden verhaftet und in den umliegenden Wäldern ermordet. Bald darauf kamen die knapp dreitausend Dębicer Juden an die Reihe. Das örtliche Ghetto wurde im April 1943 endgültig „aufgelöst“.

Penderecki, bei Kriegsbeginn sechs Jahre alt, sprach als Erwachsener von einer „grausamen Zeit“, die man „wie durch ein Wunder“ überlebt habe, ohne auf die Einzelheiten einzugehen. Auch die Befreiung war nicht so, wie man sie sich erhofft hatte. Ein paar Sowjets, die bei den Pendereckis in Dębica Quartier bezogen hatten, verbannten die Familie in die obere Etage. Sie heizten mit ihren Büchern oder benutzten die Seiten um sich Machorka-Zigaretten zu drehen, sie verkauften die Wohnungseinrichtung auf dem Trödel, aber immerhin teilten sie mit der Familie ihre kargen Essensrationen.

Ein Koffer voller „Frühwerke“

Schon bei Kriegsausbruch 1939 gingen die großen Notensammlungen des Großvaters und des Vaters verloren. Zwei Jahre zuvor bekam Krzysztof vom Vater eine Geige und regelmäßig privaten Geigenunterricht. „Ich kannte die Noten ehe ich richtig lesen und schreiben konnte“, so Pendereckis Kindheitserinnerung. In Kriegszeiten und auch danach musste er sich, mangels gedruckter Exemplare, seine Etüden selbst notieren. Auf diese Weise begann Pendereckis Komponieren.

Der junge Penderecki.

Professor Skołyszewski, bei dem er in Kraków als Jugendlicher privaten Kompositionsunterricht nehmen sollte, brachte er einen Koffer voller Etüden und „Frühwerke“ mit. „Der Professor nahm sich einige Tage, um sich alles anzuschauen und sagte beim nächsten Treffen, ich sei »musikalisch geziert«. Er hatte recht und verordnete mir einen soliden Kurs in der Kontrapunktlehre. Das setzte sich beim Studium an der Krakauer Musikhochschule fort. Es war mühsam aber sehr nützlich“, erinnerte sich der Komponist später.

Als Penderecki 1958 sein Studium abschloss und die Hochschule ihm, einem 25-Jährigen, aufgrund seiner enormen Fähigkeiten eine Professur für Komposition anbot, war der Stalinismus mit seinem marxistisch-dogmatischen Kunstverständnis gerade vorüber. Die Zensur der Kunst wurde deutlich gelockert. Lieder für die Volksmassen und Märsche waren kaum mehr gefragt. In das vom politischen Tauwetter erfasste Polen drang tröpfchenweise die Kunde von den modernen Musikströmungen im Westen ein.

Penderecki gehörte zu denen, die besonders aufmerksam aufhorchten. Er wollte unbedingt experimentieren und er wollte unbedingt in den Westen, um sich ein Bild von dem Neuen zu machen, stellte Anträge auf einen Pass und bekam immer wieder Absagen. So erging es damals, in den Fünfziger- und Sechzigerjahren, den meisten Polen im Kommunismus.

Schlag auf Schlag zum Ritterschlag

Um endlich herauszukommen bediente sich Penderecki schließlich einer List, die jedoch nur mit seinem Talent gelingen konnte. Beim Warschauer Wettbewerb junger polnischer Komponisten reichte er 1959 anonym drei Werke ein: „Strophen“, „Emanationen“ und „Aus den Psalmen Davids“. Zur Tarnung schrieb er eine Partitur mit der linken, die zweite mit der rechten Hand, die dritte ließ er von einem Fremden abschreiben und gewann so den ersten, zweiten und dritten Preis. Der erste Preis war ein einjähriges Stipendium in Darmstadt.

Aus dem kommunistischen Osten angereist und nicht selten wie ein Ankömmling vom Planeten Mars in Musikkreisen herumgereicht, knüpfte er Bekanntschaften, Beziehungen und beeindruckte mit seinen Partituren, die man ihm bei den Donaueschinger Musiktagen, dem Mekka der musikalischen Avantgarde, förmlich aus den Händen riss.

Seine Werke waren ein wichtiger Bestandteil der polnischen Avantgarde. Zu ihr zählten Anfang der Sechzigerjahre auch der polnische Film, das Theater, die Plakatkunst, Fotografie, Grafik. Kenner im Westen waren begeistert. Auf dieser Welle ritt Penderecki.

Nun ging es für ihn Schlag auf Schlag. Den Ritterschlag erteilte ihm Herbert von Karajan, als er mit den Berliner Philharmonikern Ende der Sechziger Pendereckis „Polymorphia für 48 Streichinstrumente“ und „De natura sonoris“ spielte. Es waren die modernsten Stücke, die Karajan je in Angriff nahm. Mit etwa 35 Jahren war Penderecki international etabliert.

Paradoxerweise hatte sich der Neutöner zu jener Zeit bereits von der kakofonen Avantgarde mit einem Paukenschlag verabschiedet. Mit der 1966 im Dom zu Münster uraufgeführten „Lukas-Passion“. Penderecki hatte erkannt, dass er sich in einer Sackgasse befand. Die Dissonanz stieß an ihre Grenzen. Mit noch mehr Klang-Radikalismus konnte er nur noch ins Abseits des weltweiten Musikbetriebs geraten. Das wäre geschäftsschädigend gewesen. So direkt konnte er das natürlich nicht sagen, also formulierte Penderecki es folgendermaßen:

„Die musikalische Welt von Stockhausen, Nono, Boulez und Cage war für uns Junge – von der Ästhetik des sozialistischen Realismus als offiziellem Kanon in unserem Land Umgebenen – eine grandiose Befreiung. Ich erkannte jedoch schnell, dass diese Neuheit, dieses Experimentieren und formale Spekulieren eher zerstörerisch als schöpferisch ist. Meine Rückkehr zur Tradition hat mich vor der versteinernden Avantgarde gerettet.“

So wie er einst die Neue Musik verkörperte, personifizierte Penderecki nun die Abkehr von ihr. Für seine einstigen Fans und Weggenossen war das schlichtweg Verrat. Als „Penderadetzky“ wurde er verspottet.

Die „normale“ Musikwelt dagegen empfing ihn mit Fanfaren. Mit seinem berühmten Namen, der nun für eine gemäßigte Klangmoderne stand, konnte man das gesetztere Publikum an die Philharmonie-Kassen locken. Es gab eine enorme Nachfrage nach einer musikalischen Synthese aus neoromantischer Tradition und Innovation. Der nicht mehr so radikale Penderecki kam diesem Bedarf mit seiner handwerklichen Brillanz und Bravour bestens entgegen.

Johannes Paul II und Krzysztof Penderecki.

Von jetzt an spielte sich sein Komponistendasein zumeist auf der Himmelsleiter ab. Hingebungsvoll widmete er sich dem Kanon aus biblisch-liturgischen Themen: Grablegung Christi, Wiederauferstehung, das Apostolische Glaubensbekenntnis, Stabat Mater, Agnus Dei u. v. m.

Penderecki-Briefmarke von 2013 zum 80. Geburtstag.

Das Agnus Dei wurde Bestandteil seines „Polnischen Requiems“, in dem er wichtige Persönlichkeiten der polnischen Geschichte verewigte: u. a. Kardinal Stefan Wyszyński, Pater Maximilian Kolbe, Papst Johannes Paul II., aber auch die Opfer des Warschauer Aufstandes, die in Katyń ermordeten polnischen Offiziere. Die Uraufführung fand 1984 in Stuttgart statt.

Gesinnungsakrobat

Das Ende 1980 entstandene „Lacrimosa“, das ebenfalls im Polnischen Requiem seinen Platz fand, widmete er Lech Wałęsa. Dennoch brachte Penderecki es im April 1982 fertig, sich mit General Wojciech Jaruzelski zu treffen, um sein Verständnis für die Verhängung des Kriegsrechts am 13. Dezember 1981 und das Verbot der Gewerkschaft Solidarność kundzutun. Wałęsa war zu dieser Zeit interniert. Rufschädigend war dieses Verhalten schon.

Krzysztof Penderecki und General Jaruzelski im Dezember 1983. Penderecki nimmt den staatlichen Kulturpreis entgegen.

Dennoch pflegte der Komponist fortan den Umgang mit dem kommunistischen Diktator. Zum 50. Geburtstag, 1983, nahm er den Kultur-Staatspreis aus dessen Händen entgegen. Jaruzelski und Ehefrau beehrten Penderecki bei der Warschauer Premiere der polnischen Fassung seiner Oper „Die schwarze Maske“ im September 1988.

Die sporadischen Kontakte waren stets freundlich. Zwar war Penderecki nie ein kommunistischer Vorzeige-Staatskünstler, aber er verhielt sich loyal, hat sich nie dazu hinreißen lassen, gegen die Niederträchtigkeiten und Verbrechen des Kommunismus aufzuschreien. Im Weltmaßstab inszenierte er sich als der große katholische Komponist, fand aber öffentlich kein kritisches Wort zu der Kirchenverfolgung im eigenen Land, sei es nur zu dem politischen Mord an Pfarrer Jerzy Popiełuszko und anderen katholischen Priestern in Jaruzelski-Zeiten.

Pendereckis Stasi-Akte.

Nur ein einziges Mal, im Dezember 1979, setzte er, als Rektor der Musikakademie, seine Unterschrift unter einen Appell der Krakauer Studenten an die Behörden, eine nichtkommunistische Studentenorganisation gründen zu dürfen. Eine Delegation drang in sein Arbeitszimmer vor und der so überraschte Penderecki willigte ein. Das war‘s dann aber auch.

Pendereckis Stasi-Akte. „Wurde operativ genutzt wegen oft unternommener Auslandsreisen. Unterlagen deponiert im Archiv der Abteilung C (Staatssicherheit – Anm, RdP) der Hauptkommandantur der Bürgermiliz in Kraków.“

Im März 2017, als der Sonderfonds der geheimsten der geheimen Unterlagen der polnischen Staatssicherheit endlich freigegeben wurde, tauchte auch Pendereckis Stasi-Akte auf, oder besser gesagt, das was von ihr nach der Massenvernichtung der Stasi-Archive 1989 und 1990 durch die Beamten übriggeblieben ist.

Die Stasi war im November 1962 auf ihn zugekommen, mit dem Angebot, bei seiner Reise nach Schweden den einen oder anderen Auftrag zu erledigen. Es ging um das Aushorchen prominenter antikommunistischer Auslandspolen. Der Stasi-Hauptmann Stanisław Żak (fonetisch Schack) notierte nach dem Gespräch, Penderecki sei „positiv eingestellt zu der jetzigen Wirklichkeit“ und erkläre sich bereit „uns, entsprechend seinen Möglichkeiten, zu helfen.“

Daraus wurde nichts. Der stets vorsichtige Penderecki fand in Schweden „keine Zeit“. Als er sie später auch in Westdeutschland, Italien und Frankreich nicht fand, schloss die Stasi im März 1972 seine Akte und schickte sie ins Archiv. Keine Verpflichtungserklärung und kein Bericht von ihm, wenn es sie überhaupt gegeben hatte, was Penderecki immer heftig bestritt, ist erhalten geblieben.

Michael-und- Stanislausbasilika. Pendereckis künftige Grablege in Kraków.

Viele haben nach der Verhängung des Kriegsrechts am 13.Dezember 1981 und dem Verbot der Solidarność, aus Protest, Orden, die ihnen die kommunistische Volksrepublik Polen verliehen hatte, zurückgegeben. Penderecki behielt sie alle. Ob sie ihm auf roten Samtkissen bei seiner Beerdigung hinterhergetragen werden? Wir wissen es nicht.

Michael-und- Stanislausbasilika. Innenraum.

Die Urne mit seiner Asche wurde einstweilig in der Krakauer St. Florianskirche untergebracht. Dort wartet sie auf eine feierliche Beisetzung, sobald die Corona-Epidemie vorbei sein wird. Sie soll in dem um 1880 entstandenen Nationalen Pantheon verdienter Polen, in der Krypta der Michael-und- Stanislausbasilika, erfolgen.

Michael-und- Stanislausbasilika. Krypta der Verdienten.

Viele prominente Polen sind dort bestattet, unter anderem die Dichter Adam Asnyk und zuletzt Czesław Miłosz (2004), die Schriftsteller Józef Ignacy Kraszewski und Stanisław Wyspiański, die Maler Henryk Siemiradzki und Jacek Malczewski, der Komponist Karol Szymanowski.

Krzysztof Penderecki, auch er nur ein Mensch, ist auf jeden Fall mehr als künstlerisch verdient und prominent genug, um dort die letzte Ruhestätte zu finden.

© RdP