Die Tochter des Staatsgründers

Am 16. November 2014 starb Jadwiga Piłsudska-Jaraczewska.

Die Kindheitserinnerungen der jüngeren Tochter Józef Piłsudskis waren vor allem geprägt vom mucksmäuschenstillen, beinahe allabendlichen zuschauen, wie der Vater, ein leidenschaftlicher Patience-Spieler, kartenlegend über die Staatsgeschäfte nachdachte. Ab und zu nahm er sie auf den Schoβ und sie legten die Karten gemeinsam. Ihre zwei Jahre ältere Schwester Wanda hatte nicht so viel Geduld.

Jadwiga Piłsudska wurde 1920 in Warschau geboren. Es war Februar. Dem nach 123 Jahren der Teilungen gerade wiederrichteten polnischen Staat stand die schwierigste Probe noch bevor. Im August 1920 gelang es die bolschewistische Offensive vor Warschau zu stoppen und die Sowjets weit in den Osten abzudrängen. Polen, über dessen Leiche, so Lenins Parole, die Fackel der roten Revolution nach Europa getragen werden sollte, war gerettet. Diese Rettung, ebenso wie seine Wiedergeburt 1918, verdankte Polen vor allem Józef Piłsudski.

Man könnte meinen, es sei nicht einfach gewesen, das Kind eines Mannes zu sein, der schon zu Lebzeiten in der allgemeinen Wahrnehmung und Darstellung ein Denkmal war. Doch dem war nicht so.

Beide Töchter kamen auf die Welt als uneheliche Kinder. Der Patriot und einstige Sozialist Piłsudski, der, im übertragenden Sinn, nach eigener Darstellung, „an der Haltestelle »Unabhängigkeit« aus der roten Straβenbahn ausgestiegen sei“, ging in Sachen Sitten, Moral und Religion seine eigenen Wege.

Im Jahre 1899, mit 31 Jahren, wurde Piłsudski evangelisch, um die geschiedene Protestantin und sozialistische Untergrundkämpferin gegen das russische Zarentum, Maria Juszkiewicz heiraten zu können. Ihre gemeinsame Tochter Wanda starb 1908 mit neun Jahren.

1917 wandte sich Piłsudski von Maria ab und einer anderen sozialistischen Kampfgefährtin, Aleksandra Szczerbińska zu. Sie war die Mutter der beiden 1918 und 1920 geborenen Töchter Wanda und Jadwiga. Geheiratet wurde erst im Oktober 1921, nach dem Tod von Piłsudskis erster Ehefrau Maria und nach seiner Rückkehr in den Schoβ der katholischen Kirche.

Józef Piłsudski mit seinen Töchtern Wanda (rechts) und Jadwiga
Józef Piłsudski mit seinen Töchtern Wanda (rechts) und Jadwiga

Verzogen waren Wanda und Jadwiga nicht. Piłsudski pflegte einen bescheidenen Lebensstil: zuerst als „Staatvorsteher“ bis 1923, dann bis Mai 1926, als er sich für drei Jahre demonstrativ von der Politik abwandte und nach Sulejówek bei Warschau ins Private zurückzog. Nicht anders war es nach dem Mai 1926, als er an der Spitze ihm ergebener Truppen putschte und in Polen ein halbautoritäres Regime errichtete, in dem die Opposition zwar zugelassen war, jedoch behindert wurde. Józef Piłsudski starb im Mai 1935.

Seine beiden Töchter erlebten eine ungezwungene, fröhliche, von materieller Bescheidenheit geprägte Kindheit, weil der Vater fast alles Geld stiftete und Mutter Aleksandra die beiden in ihre Wohltätigkeitsarbeit einspannte. Normale Schulen, viel Umgang mit Gleichaltrigen aus normalen Verhältnissen, auch wenn stets ein Kriminalbeamter in der Nähe war. Piłsudski und seine Frau wagten sich immer wieder unbewacht in die Öffentlichkeit, bei den Kindern war ihnen das Risiko zu groβ.

Jadwiga entdeckte mit zwölf Jahren ihre Begeisterung für die Fliegerei. 1937, mit 17 Jahren, machte sie ihren Segelflugschein. Bis 1939 erlangte sie alle Segelflugscheine, die es damals gab: von A bis D, und absolvierte im Sommer 1939 einen 270 km langen Streckensegelflug .

Geplant war ein Studium an der  Fakultät Maschinenbau der Warschauer Technischen Hochschule. Jadwiga wollte Flugzeugkonstrukteurin werden. Der deutsche Überfall auf Polen am 1. September 1939 mache diese Pläne zunichte. Mutter und beide Töchter pflegten Verwundete in einem Warschauer Lazarett, wurden aber am 10. September auf Anordnung der Behörden ins damals polnische Wilno/Wilna gebracht. Als am 17. September 1939 auch die Sowjets über Polen herfielen, flüchteten die drei ins lettische Riga, flogen von dort mit einer Linienmaschine nach Stockholm und dann weiter nach London. Den Sowjets in die Hände zu fallen, das belegen die Schicksale fast aller polnischen und baltischen Prominenten denen das widerfuhr, hätte  mit dem sicheren Tod in einem der sibirischen Arbeitslager geendet.

Jadwiga Piłsudska als RAF-Pilotin 1941
Jadwiga Piłsudska als RAF-Pilotin 1941

Im Mai 1940 meldete sich Jadwiga mit zwei weiteren Polinnen zum Dienst bei der Air Transport Auxiliary (ATA), einer Hilfstruppe der britischen Luftstreitkräfte. Knapp 170 Frauen (1/8 aller Piloten) verrichteten dort freiwilligen Dienst. Ihre Aufgabe war es, neue und ausgebesserte Flugzeuge aus Fabriken und Reparaturwerken zu den Militärflugplätzen in ganz Groβbritannien zu überführen. Jadwigas Leidenschaft waren die 600 km/h schnellen Spitfire Jagdflugzeuge. Knapp eintausend Flugstunden absolvierte sie damals an den Steuerknüppeln verschiedenster Flugzeuge, wurde zum Leutnant befördert.

Mit Eheman Andrzej Jaraczewski
Mit Ehemann Andrzej Jaraczewski

Ende 1944, als sich die Kampfhandlungen mittlerweile weiter weg von Groβbritannien abspielten, quittierte sie den Dienst. Die Pilotin heiratete einen Seemann, den Schnellbootkapitän Andrzej Jaraczewski. Insgesamt kämpften 200 Tausend polnische Soldaten als Flieger, Seeleute und Infanteristen der polnischen Exilregierung in London unterstellt, zwischen 1940 und 1945 an der Seite der Briten: bei der Luftschlacht um England, in Norwegen (Narvik), Nordafrika (Tobruk), in Italien (Monte Cassino, Bolognia), Frankreich (Falaise), Holland (Arnheim) und Norddeutschland (Wilhelmshaven).

Viele von ihnen konnten und wollten nach 1945 nicht in das von den Sowjets eroberte, kommunistische Polen zurückkehren, weil ihnen dort Verhaftungen, bestialische Verhöre in den Folterkellern der politischen Polizei, langjährige Gefängnisaufenthalte, Hinrichtungen drohten. Es sei denn, man leistete Spitzel-Dienste, lieβ sich das moralische Rückgrat brechen, in dem man sich von seinen Idealen lossagte, war bereit, als „politisch unzuverlässig“ auf Karriere zu verzichten, unter Beobachtung zu stehen.

Die Briten erlaubten ihnen zu bleiben, aber die einstigen Verbündeten blieben sich selbst überlassen. Nun galt es, ohne viel Pathos, Haltung zu bewahren. Polnische Generäle und Offiziere hielten sich als Nachtportiers, Lagerverwalter, Gärtner, Barkeeper über Wasser, und pflegten, so gut es ging, das vielfältige polnische Emigrantenleben mit seinen unzähligen Einrichtungen und Institutionen.  Dazu gehört bis heute das Londoner Józef-Piłsudski-Institut mit seinen Forschungsarbeiten und Sammlungen. Piłsudskis Witwe Aleksandra (sie starb 1963 in London) und beide Töchter haben es mitaufgebaut, genauso wie das gleichnamige Institut in New York.

Die Tochter Wanda (sie starb 2001 in Warschau) war eine erfolgreiche Psychiatrie-Ärztin. Ihre Schwester Jadwiga verdiente sich das Emigranten-Brot zuerst als Architektin. Anfang der 50er Jahre gründete sie mit ihrem Mann eine Firma, die zuerst Lampen, dann auch Möbel erfolgreich entwarf und verkaufte. Haltung bewahren, hieβ auch: knapp ein halbes Jahrhundert lang mit einem Flüchtlings-Pass zu leben ohne die britische Staatsbürgerschaft anzunehmen.

Im Herbst 1990 kamen alle drei: Wanda, Jadwiga und ihr Mann Andrzej Jaraczewski (er starb 1994) zurück nach Polen. Der damalige Ministerpräsident Tadeusz Mazowiecki wartete mit einem Blumenstrauβ am Flughafen. Ein groβer Bahnhof, auf den ein bescheidenes und unauffälliges Leben in Warschau folgte.

Alles in diesem Leben der Drei drehte sich nun um den Rückkauf, die Renovierung und die Einrichtung eines Józef-Piłsudski-Museums in dem kleinen Herrenhaus „Milusin“ in Sulejówek bei Warschau, das der Marschall 1923 von seinen Soldaten geschenkt bekommen hatte. Es soll am 5. Dezember 2017, zum 150. Geburtstag des Marschalls eröffnet werden. Jadwiga Piłsudska wurde mit militärischen Ehren, im Beisein von Staatspräsident Komorowski, neben ihrer Schwester Wanda und ihrem Ehemann auf dem Warschauer Powązki-Friedhof beigesetzt.

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