„Es lebe die EU souveräner Staaten!“ Morawiecki-Rede in Strassburg

Im Wortlaut.

Die Rede, die Polens Ministerpräsident Mateusz Morawiecki am 19. Oktober 2021 im Europäischen Parlament in Straßburg hielt, beleuchtet sehr einprägsam die polnischen Argumente im Streit mit der EU. In der anschließenden Debatte gingen die meisten Abgeordneten des EP auf Morawieckis Erläuterungen nicht ein. Dafür hagelte es wieder einmal Beschimpfungen, Drohungen und überzogene Vorwürfe.

Auch die deutschsprachigen Medien hatten, erwartungsgemäß, für Morawieckis Auftritt nur harsche Kritik übrig. Seine Rede war die eines „Scharfmachers“, „konfrontativ“, „unversöhnlich“, „spalterisch“, „eine Kampfansage“, „kein Dialogsignal“, „Beschimpfung der EU“, sie „säte Spaltung und Streit“, sie entstammte dem „Werkzeugkasten eines Rechtspopulisten“ .

Was ist wahr daran? Bilden Sie sich Ihr Urteil selbst. Nachfolgend bringen wir den unwesentlich gekürzten Wortlaut dieser Ansprache, eines zweifelsohne wichtigen Beitrags im Konflikt Polens mit der EU. Titel und Zwischentitel stammen von RdP.

Herr Vorsitzender, Frau Präsidentin, meine Damen und Herren,

ich stehe heute vor Ihnen im Europäischen Parlament, um unsere Standpunkte zu einigen grundlegenden Fragen darzulegen, die ich als ausschlaggebend für die Zukunft der Europäischen Union halte. (…)

Ich sage „wir“

Lassen Sie mich mit den Herausforderungen beginnen, die für unsere gemeinsame Zukunft entscheidend sind. Soziale Ungleichheiten, Inflation und steigende Lebenshaltungskosten, die alle Bürger Europas betreffen, dazu wachsende Staatsschulden, die illegale Einwanderung oder die Energiekrise, die die Herausforderungen für die Klimapolitik erhöht, das alles führt zu sozialen Unruhen und erweitert den Katalog mächtiger Probleme, vor denen wir heute stehen.

Polen und die EU. Briefmarke von 1994.

Die Schuldenkrise stellte zum ersten Mal nach dem Krieg die Frage, ob wir in der Lage sind, nachfolgenden Generationen ein besseres Leben zu ermöglichen.

An unseren Grenzen wird es immer unruhiger. Im Süden verwandelte der Ansturm von Millionen von Menschen den Mittelmeerraum in einen tragischen Ort. Im Osten messen wir uns mit der aggressiven Politik Russlands, das sogar Kriege entfesselt, um Ländern in unserer Nachbarschaft den Weg nach Europa zu versperren.

Heute stehen wir am Rande einer großen Gas- und Energiekrise. Absichtsvolles Handeln russischer Unternehmen verursacht rasant steigende Preise. Sie stellen viele Unternehmen in Europa vor die Wahl, die Produktion einzuschränken oder die Kosten an die Verbraucher weiterzugeben. Das Ausmaß dieser Krise kann Europa schon in den nächsten Wochen erschüttern.

Die Gaskrise kann durch unkontrollierte Kostensteigerungen viele Unternehmen in den Ruin treiben, Millionen Haushalte, Zigmillionen Menschen in ganz Europa in Armut und Not stürzen. Man muss auch mit dem Risiko des Dominoeffektes rechnen. Diese Krise kann eine Kaskade von Zusammenbrüchen nach sich ziehen.

Jedes Mal sage ich „wir“, weil wir keines dieser Probleme allein lösen können. Nicht alle diese Herausforderungen haben mein Land so dramatisch getroffen, wie manche anderen Staaten der Europäischen Union. Das ändert nichts daran, dass ich all diese Probleme als „unsere Probleme“ betrachte.

Hier sind wir, hier ist unser Platz

Für uns ist die europäische Integration eine zivilisatorische und strategische Entscheidung. Hier sind wir, hier ist unser Platz und von hier aus gehen wir nirgendwohin. Wir wollen Europa wieder stark, ehrgeizig und mutig machen. Daher schauen wir nicht nur auf unseren kurzfristigen Nutzen, sondern auch darauf, was wir Europa geben können.

Beendigung der polnischen EU-Beitrittsverhandlungen 1998-2002. Briefmarke von 2003.

Polen profitiert im Rahmen der Integration hauptsächlich vom Handel auf dem gemeinsamen Markt. Auch Technologie- und Kapitaltransfers sind sehr wichtig. Aber Polen ist nicht mit leeren Händen in die EU eingetreten. Die wirtschaftliche Integration hat die Möglichkeiten für Unternehmen aus meinem Land erweitert, zugleich jedoch große Chancen für deutsche, französische und niederländische Unternehmen eröffnet. Unternehmer aus diesen Ländern ziehen enormen Nutzen aus der Osterweiterung der Union.

Es reicht aus, allein den enormen Abfluss von Dividenden, Zinserträgen und anderen finanziellen Gewinnen aus dem weniger wohlhabenden Mitteleuropa in das viel reichere Westeuropa zu erwähnen. Wir möchten jedoch, dass es in dieser Zusammenarbeit keine Verlierer, sondern nur Gewinner gibt.

Meine Regierung gehört zur proeuropäischen Mehrheit in Polen

Polen hat die Einrichtung des sehr ehrgeizigen Wiederaufbaufonds tatkräftig unterstützt, damit den Herausforderungen der Klima-, Energie- und coronaepidemischen Transformation bedarfsgerecht die Stirn geboten werden kann. Es geht um ein starkes Wirtschaftswachstum und darum, Millionen von Kindern, Frauen und Männern Hoffnung einzuflößen, sie nicht wehrlos der Globalisierung auszuliefern. In diesen Fragen haben wir, gemeinsam mit dem Europäischen Parlament mit einer Stimme gesprochen.

Polen unterstützt nachdrücklich den europäischen Binnenmarkt. Wir sind für eine strategische Autonomie der EU, die die 27 Staaten stärkt.

Deshalb setzt sich Polen, genauso wie Deutschland, die Tschechische Republik und andere mitteleuropäische Länder für Lösungen ein, die die Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Wirtschaft stärken. Dabei geht es vor allem um eine noch bessere Durchsetzung der vier Grundfreiheiten: des freien Waren-, Dienstleistungs-, Kapital- und Personenverkehrs.

Gleichzeitig lehnt Polen die Duldung von Steueroasen ab (z,B. in  Luxemburg und Holland – Anm. RdP), was leider immer noch einige westeuropäische Länder tun, und dadurch die Steuereinnahmen ihrer Nachbarn schröpfen Ja, die Steueroasen, die wir innerhalb der Europäischen Union tolerieren, dienen der Aneignung von Geld durch die Reichsten. Ist das fair? Hilft das, das Los der Mittelschicht oder der Ärmsten zu verbessern? Passt das in den Katalog europäischer Werte? Das bezweifle ich  sehr.

Der Weg der neun Beitrittsländer: Estlands, Lettlands, Litauens, Maltas, Polens, der Slowakei, Sloweniens, Tschechiens und Zyperns ins vereinte Europa. Briefmarke von 2004.

Polen und Mitteleuropa befürworten auch eine ehrgeizige Erweiterungspolitik, die Europa in der Westbalkanregion stärken wird. Sie wird die europäische Integration geografisch, historisch und strategisch vervollständigen. Wir wollen, dass die EU global agiert, und stehen für eine starke europäische Verteidigungspolitik, deren Strukturen jedoch voll und ganz in die NATO eingebunden sind!

Heute ist die Ostgrenze der EU Ziel eines organisierten Angriffs, der zynisch die Migration aus dem Nahen Osten für eine Destabilisierung nutzt. Polen gibt Europa Sicherheit und schafft zusammen mit Litauen und Lettland eine Barriere, die diese Grenze schützt. Und da wir zudem unser Verteidigungspotential stärken, stärken wir die Sicherheit der Union im traditionellsten Sinne.

Ich möchte an dieser Stelle allen südeuropäischen sowie den polnischen, litauischen und lettischen Grenzschutzbeamten für ihren Einsatz und ihre Professionalität beim Schutz der Außengrenze der Union danken.

Sicherheit hat viele Dimensionen. Heute, wenn wir alle die steigenden Gaspreise zu spüren bekommen, ist es völlig klar, welche Folgen die Kurzsichtigkeit in Sachen Energiesicherheit haben kann. Schon jetzt schlagen sich die Politik von Gazprom und die Zustimmung zu Nord Stream 2 in Rekordgaspreisen nieder.

Während heute in den Gründungsländern der Gemeinschaften das Vertrauen in die Union auf einen historisch niedrigen Tiefpunkt gesunken ist, etwa 36 Prozent in Frankreich, bleibt das Vertrauen in Europa in Polen auf dem höchsten Niveau. Über 85 Prozent der polnischen Bürger sagen klar: Polen ist und bleibt Mitglied der Union. Meine Regierung und die dahinterstehende parlamentarische Mehrheit gehören zu dieser proeuropäischen Mehrheit in Polen.

Ein Europa doppelter Bewertungsmaßstäbe

Das jedoch bedeutet nicht, dass die Polen heute keine Zweifel und Ängste angesichts der Ausrichtung der Veränderungen in Europa empfinden. Diese Angst ist sichtbar und leider berechtigt.

Ich habe darüber gesprochen, wie viel Polen zur EU beigetragen hat. Aber leider hören wir immer noch von der Einteilung in Besser- und Schlechtergestellte, und allzu oft haben wir es mit einem Europa doppelter Bewertungsmaßstäbe zu tun. Das muss sich ändern.

Alle Europäer erwarten heute, dass wir uns gemeinsam den Herausforderungen mehrerer Krisen gleichzeitig stellen und nicht im Streit, auf Teufel komm raus, nach Schuldigen suchen, oder, besser gesagt, nach denen, die eigentlich nicht schuldig sind, denen man aber bequemerweise die Schuld zuschieben kann.

Fünfzig Jahre Römische Verträge. Briefmarke von 2007.

Angesichts einiger Praktiken der Institutionen der Union, stellen sich heute leider viele Bürger unseres Kontinents die Frage: Ist es nicht so, dass die extrem unterschiedlichen Entscheidungen und Urteile, die in Brüssel und Luxemburg, in sehr ähnlichen Fällen, in Bezug auf einzelne Mitgliedstaaten gefällt werden, de facto die Aufteilung in alte und neue, starke und schwächere, reiche und weniger wohlhabende Mitgliedsstaaten verfestigen? Ist es wirklich Gleichheit?

So zu tun, als ob es diese Probleme nicht gibt, hat sehr schlechte Folgen. Die Bürger sind nicht blind und sie sind nicht taub. Wenn selbstzufriedene Politiker und Beamte das nicht einsehen, werden sie nach und nach das Vertrauen verlieren. Und mit ihnen werden Institutionen Vertrauen einbüßen. Das geschieht bereits, verehrte Abgeordnete.

Politik muss auf Regeln basieren. Das Leitprinzip, zu dem wir uns in Polen bekennen und das ist auch die Grundlage der Europäischen Union, ist das Demokratieprinzip. Deshalb können wir nicht schweigen, wenn unser Land, auch in diesem Plenarsaal, unfair und parteiisch angegriffen wird.

Die Spielregeln müssen für alle gleich sein. Sie einzuhalten ist die Pflicht aller, auch der entsprechend den EU-Verträgen errichteten Institutionen. Das ist die Rechtsstaatlichkeit.

Sie ist inakzeptabel und ich lehne die Sprache der Drohungen und Erpressungen ab

Es ist inakzeptabel, Kompetenzen zu erweitern, indem man nach der Methode vollendeter Tatsachen handelt. Es ist nicht annehmbar, ohne eine entsprechende Rechtsgrundlage dafür zu haben, anderen Entscheidungen aufzuzwingen. Noch weniger tragbar ist es, sich zu diesem Zweck der Sprache der Finanzerpressung zu bedienen, über Strafen zu sprechen oder noch weitergehende Formulierungen gegenüber bestimmten Mitgliedstaaten zu verwenden.

Ich lehne die Sprache der Drohungen und Erpressungen ab. Ich bin nicht einverstanden damit, dass Politiker Polen erpressen und einschüchtern. Ich lehne es ab, dass Erpressung zur Methode der Politikausübung gegenüber einem der Mitgliedstaaten erhoben wird. Demokratien gehen so nicht miteinander um.

Wir sind ein stolzes Land. Polen ist eines der Länder mit der längsten Geschichte der Staatlichkeit und der Entwicklung der Demokratie. Im 20. Jahrhundert haben wir unter großen Opfern dreimal für die Freiheit Europas und der Welt gekämpft.

1920, indem wir Berlin und Paris vor dem bolschewistischen Ansturm gerettet haben. 1939, als wir als Erste in den mörderischen Kampf gegen Deutschland, das Dritte Reich, gezogen sind. Schließlich 1980, als Solidarność die Hoffnung auf den Sturz des anderen Totalitarismus, des grausamen kommunistischen Systems wachrief. Der Wiederaufbau Europas nach dem Krieg war dank der Opfer vieler Nationen möglich, aber nicht alle konnten ihn uneingeschränkt für sich nutzen.

Warschau, die Hauptstadt eines EU-Landes. Briefmarke von 2009.

Hohes Haus! Ich möchte jetzt ein paar Worte zum Thema Rechtsstaatlichkeit sagen. Ich denke, die meisten von uns würden zustimmen, dass es ohne ein paar Bedingungen keinen Rechtsstaat geben kann. Ohne das Prinzip der Gewaltenteilung, ohne unabhängige Gerichte, ohne das Prinzip der begrenzten Befugnisse jeder Behörde und ohne die Befolgung der Rangordnung von Rechtsquellen.

In den der Europäischen Union zugewiesenen Zuständigkeitsbereichen ist das EU-Recht dem nationalen Recht übergeordnet, und zwar bis auf die Ebene einzelner Gesetze. Dieses Prinzip gilt in allen EU-Ländern, aber die jeweilige Verfassung bleibt das oberste Gesetz.

Wenn die in den EU-Verträgen geschaffenen Institutionen ihre Zuständigkeiten überschreiten, müssen die Mitgliedstaaten über entsprechende Instrumente verfügen, um darauf zu reagieren.

Die Europäische Union ist kein Staat

Die Union ist eine große Errungenschaft der europäischen Länder. Sie ist ein starkes wirtschaftliches, politisches und soziales Bündnis. Sie ist die stärkste und am weitesten entwickelte internationale Organisation der Geschichte. Aber die Europäische Union ist kein Staat. Staaten sind die 27 Mitgliedsländer der Union! Sie sind der europäische Souverän, sie sind die „Herren der Verträge“. Die Staaten legen den Umfang der Zuständigkeiten fest, die der Europäischen Union anvertraut werden.

Wir haben der Union in den Verträgen einen sehr großen Kompetenzbereich anvertraut. Aber wir haben ihr nicht alles anvertraut. Viele Rechtsgebiete bleiben in der Zuständigkeit der Nationalstaaten.

Wir hegen keinen Zweifel am Vorrang des europäischen Rechts vor nationalem Recht in allen Bereichen, in denen die Mitgliedstaaten der Union Zuständigkeiten übertragen haben.

Aber wie die Tribunale vieler anderer Länder, wirft auch das polnische Verfassungsgericht die Frage auf, ob es die richtige Lösung ist, dass der Gerichtshof der Europäischen Union das Monopol besitzt, die tatsächlichen Grenzen der Übertragung dieser Kompetenzen zu bestimmen. Die Festlegungen des Europäischen Gerichtshofes in dieser Angelegenheit berühren die Verfassungen der Mitgliedsstaaten. Deswegen muss zur Verfassungsmäßigkeit solcher neuen Kompetenzen Stellung genommen werden, insbesondere weil der Europäische Gerichtshof immer mehr neue Zuständigkeiten aus den Verträgen für die EU-Institutionen ableitet.

Was hätte es andernfalls für einen Sinn gemacht, Artikel 4 in den Unionsvertrag aufzunehmen, der von der Achtung der politischen und verfassungsmäßigen Strukturen der Mitgliedsstaaten durch die Union spricht. Es wäre auch nicht sinnvoll gewesen, Artikel 5 in den Vertrag aufzunehmen. Er besagt, dass die Union nur im Rahmen der ihr übertragenen Kompetenzen handeln kann. Beide Artikel wären inhaltsleer und bedeutungslos, wenn, außer dem Europäischen Gerichtshof, keines der verfassungsrechtlichen Bestimmungsorgane der Mitgliedsstaaten zu dieser ständigen Ausweitung der EU-Kompetenzen Stellung nehmen dürfte.

Polnisches Verfassungsgericht, französischer Verfassungsrat, dänischer Oberster Gerichtshof, das deutsche BVG und einige mehr

Das jüngste Urteil des polnischen Verfassungsgerichtshofs ist Gegenstand eines grundlegenden Missverständnisses geworden. Wenn ich hören würde, dass der Verfassungsgerichtshof in einem anderen Land die EU-Verträge für nichtig erklärt hat, wäre ich wahrscheinlich auch überrascht. Vor allem jedoch würde ich versuchen herauszufinden, was der polnische Gerichtshof wirklich gesagt hat.

Polnische EU-Ratspräsidentschaft. Briefmarke von 2011.

Ich habe auch deshalb in der heutigen Aussprache um das Wort gebeten, weil ich Ihnen den eigentlichen Streitgegenstand darstellen möchte. Das ist weder das Märchen vom „Polexit“, noch ist es die Lüge von der angeblichen Verletzung der Rechtsstaatlichkeit. Deshalb möchte ich Ihnen dazu ein paar Zitate präsentieren:

„In der nationalen Rechtsordnung gilt der Vorrang des Unionsrechts nicht für die Bestimmungen der Verfassung. Die Verfassung steht an der Spitze der innerstaatlichen Rechtsordnung.“

„Der Grundsatz des Vorrangs des Gemeinschaftsrechts (…) darf in der innerstaatlichen Rechtsordnung die oberste Gewalt der Verfassung nicht untergraben.“

„Der Verfassungsgerichtshof kann die Ultra-vires-Prämisse prüfen (…), das heißt, er darf feststellen, ob EU-Institutionen Entscheidungen außerhalb ihres Kompetenzbereiches treffen. Aufgrund einer solchen Feststellung gelten die Ultra-vires-Entscheidungen, die also jenseits der Befugnisse zustande gekommen sind, nicht im Hoheitsgebiet des Mitgliedstaates.“

„Die Verfassung verbietet die Übertragung von Befugnissen, wenn der Staat danach nicht mehr als souveräner und demokratischer Staat angesehen werden kann.“

Ich überspringe die nächsten Zitate, um nicht zu viel Zeit in Anspruch zu nehmen. Ich komme zu den letzten beiden.

„Die Verfassung ist das höchste Gesetz Polens in Bezug auf alle für das Land verbindlichen internationalen Vereinbarungen, einschließlich Vereinbarungen über die Übertragung von Zuständigkeiten in bestimmten Angelegenheiten. Die Verfassung genießt den Vorrang der Gültigkeit und Anwendung auf dem Territorium Polens.“

Und das letzte Zitat:

„Die Übertragung von Zuständigkeiten an die Europäische Union darf nicht gegen den Vorranggrundsatz der Verfassung und gegen jedwede Bestimmungen der Verfassung verstoßen.“

Ich kann eine gewisse Erregung in Ihren Gesichtern erkennen. Soweit ich weiß, sind Sie in diesem Saal, zumindest teilweise, mit diesen Feststellungen nicht einverstanden. Nur, ich verstehe nicht weshalb. Das sind doch Zitate aus Entscheidungen des französischen Verfassungsrates, des dänischen Obersten Gerichtshofs, des deutschen Bundesverfassungsgerichts. Zitate aus Urteilen der italienischen und spanischen Gerichte habe ich weggelassen.

Die polnischen Urteile, aus denen ich zitiert habe, stammen aus den Jahren 2005 und 2010, also aus der Zeit nach dem EU-Beitritt Polens. Die Doktrin, die wir heute verteidigen, ist also seit Jahren etabliert.

Es lohnt sich auch, Prof. Marek Safjan, den ehemaligen Präsidenten des polnischen Verfassungsgerichtshofs, zu zitieren. Heute ist er Richter am Europäischen Gerichtshof:

„Auf der Grundlage der geltenden Verfassung gibt es keinen Grund für die Behauptung, dass das EU-Gemeinschaftsrecht der gesamten nationalen Rechtsordnung übergeordnet ist, also auch den verfassungsrechtlichen Normen. Es gibt keine Gründe dafür! Nach dem Wortlaut der Verfassung selbst ist sie das oberste Gesetz der Republik Polen (Artikel 8, Absatz 1). Die oben erörterte Regelung in Absatz 2, Artikel 91 sieht ausdrücklich den Vorrang einer gemeinschaftlichen Regelung im Konfliktfall mit einer Rechtsnorm, nicht aber mit einer Verfassungsnorm vor.“

Solche Positionen nationaler Verfassungsgerichte sind nichts Neues. Ich könnte Dutzende von Urteilen aus Italien, Spanien, Tschechien, Rumänien, Litauen und anderen Ländern zitieren.

Ich höre auch Stimmen, dass einige dieser Urteile andersgeartete Fälle von geringerer Tragweite betrafen. Das ist wahr. Jedes Urteil dreht sich um etwas anderes. Aber,um Gottes willen!, sie haben eines gemeinsam: Sie bekräftigen, dass die nationalen Verfassungsgerichte ein Überprüfungsrecht haben. Ein Recht auf Kontrolle, ob das EU-Recht in dem Rahmen angewandt wird, der der Union zugestanden wurde. Nur das und so viel zugleich!

Eine Zustimmung für die Erteilung von Anweisungen und Befehlen kann es nicht geben

Hohes Haus! Es gibt Länder unter uns, in denen es keine Verfassungsgerichte gibt, und andere, die sie haben. Es gibt Staaten, in denen EU-Mitgliedschaft in den Verfassungen verankert ist, und solche, wo es nicht so ist. Es gibt Länder, in denen Richter von demokratisch gewählten Politikern gewählt werden, und andere, in denen Richter Richter wählen.

Verfassungspluralismus bedeutet, dass es Raum für den Dialog zwischen uns, unseren Rechtssystemen gibt. Dieser Dialog findet auch über Richterurteile statt. Wie sollen die Gerichte sonst kommunizieren, wenn nicht durch ihre Entscheidungen? Eine Zustimmung für die Erteilung von Anweisungen und Befehlen an Staaten kann es jedoch nicht geben. Dazu ist die Europäischen Union nicht da.

Zehn Jahre polnische EU-Mitgliedschaft. Briefmarke von 2014.

Wir haben vieles gemeinsam und wir wollen noch mehr gemeinsam haben, aber es gibt Unterschiede zwischen uns. Wenn wir miteinander zusammenarbeiten wollen, müssen wir diese Unterschiede achten. Wir müssen uns gegenseitig respektieren.

Die EU wird nicht auseinanderbrechen, weil sich unsere Rechtssysteme voneinander unterscheiden. Wir funktionieren so seit sieben Jahrzehnten. Vielleicht werden wir eines Tages Änderungen vornehmen, die unsere Gesetzgebungen noch enger zusammenbringen. Dazu jedoch ist eine Entscheidung souveräner Mitgliedsstaaten notwendig.

Ein nicht-nationaler Superstaat? Holt Euch zuerst die Zustimmung aller europäischen Länder!

Heute können wir zwei Haltungen einnehmen. Wir können allen außergesetzlichen, außervertraglichen Versuchen zustimmen, die darauf abzielen, die Souveränität europäischer Staaten, einschließlich Polens, zu beschränken. Wir können uns mit der schleichenden Ausweitung der Zuständigkeiten von Institutionen wie die des Europäschen Gerichtshofes abfinden. Wir können tatenlos zusehen, wie eine „stille Revolution“, die nicht auf demokratischen Entscheidungen basiert, sondern mit Hilfe von Gerichtsentscheidungen bewerkstelligt wird stattfindet.

Wir können aber auch sagen: „Nein, unsere Lieben!“ Wenn Ihr in Europa einen nicht-nationalen Superstaat schaffen wollt, dann holt Euch zuerst die Zustimmung aller europäischen Länder und Gesellschaften ein.

Lassen Sie es mich noch einmal wiederholen: Die Verfassung ist das höchste Gesetz der Republik Polen. Sie ist anderen Rechtsquellen übergeordnet. Kein polnisches Gericht, kein polnisches Parlament und keine polnische Regierung darf von diesem Grundsatz abweichen.

Was hat der polnische Verfassungsgerichtshof tatsächlich festgestellt

Hervorzuheben ist jedoch auch, dass der polnische Verfassungsgerichtshof niemals, auch nicht in seinem letzten Urteil, festgestellt hat, dass die Bestimmungen des Vertrags über die Europäische Union in ihrer Gesamtheit im Widerspruch zur polnischen Verfassung stehen. Im Gegenteil! Polen respektiert die Verträge ohne Ausnahme.

Aus diesem Grund hat das polnische Gericht festgestellt, dass nur eine sehr spezifische Auslegung einiger Bestimmungen des Vertrags, die das Ergebnis der jüngsten Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs ist, nicht mit der Verfassung vereinbar ist.

Nach der Auslegung des Luxemburger Tribunals wären Richter polnischer Gerichte verpflichtet, den Grundsatz des Vorrangs des europäischen Rechts nicht nur auf nationale Gesetze anzuwenden, was keine Zweifel aufwirft. Sie müssten den Vorrang des EU-Rechts auch dann anwenden, wenn es sich um Verletzungen der Verfassung und Urteile ihres eigenen Verfassungsgerichts handelt!

Die Annahme einer solchen Auslegung des Europäischen Gerichtshofes kann folglich zu dem Schluss führen, dass Millionen von in den letzten Jahren ergangenen Urteilen polnischer Gerichte willkürlich angefochten und Tausende von Richtern ihres Amtes enthoben werden können. Richter dürften den Stauts und die Rechtmäßigkeit der Berufung anderer Richter in Frage stellen. So will es der Europäische Gerichtshof.

Fünfzehn Jahre polnische EU-Mitgliedschaft. Briefmarke von 2019.

Das verstößt gegen die Grundsätze der Unabhängigkeit, Unabsetzbarkeit sowie der Stabilität und Sicherheit des Rechts auf ein faires Verfahren, die sich direkt aus der polnischen Verfassung ergeben. Ist Ihnen nicht bewusst, wozu solche Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofes führen können? Will jemand von Ihnen wirklich Anarchie, Verwirrung und Gesetzlosigkeit in Polen einführen?

Dem hat der polnische Verfassungsgerichtshof durch sein Urteil in seinem Urteil einen Riegel vorgeschoben. Hätte es dies nicht getan, wären die Folgen eine grundlegende Absenkung des Verfassugsstandars des des gerichtlichen Schutzes der polnischen Bürger und ein unvorstellbares Rechtschaos.

Kein souveräner Staat kann einer solchen Auslegung zustimmen. Sie zu akzeptieren würde bedeuten, dass die Union aufhört, eine Union freier, gleichberechtigter und souveräner Länder zu sein. Dass sie sich selbst, nach der Methode des Schaffens von vollendeten Tatsachen, in einen zentral verwalteten, halbstaatlichen Organismus verwandeln würde. Seine Institutionen könnten direkt in ihren „Provinzen“ alles erzwingen, was sie für richtig befinden.

Dazu gab es nie eine Zustimmung. Das ist nicht das, was wir in den Verträgen vereinbart haben.

Das schlägt Polen vor

Es ist sicherlich einer Diskussion wert, ob sich die Union ändern sollte. Sollte sie nicht einen größeren Haushalt schaffen? Sollten wir nicht mehr für die gemeinsame Sicherheit einzahlen? Sollten Verteidigungsausgaben nicht aus dem Haushaltsdefizitverfahren herausgenommen werden? Das schlägt Polen vor!

Sollten wir nicht unsere Widerstandsfähigkeit gegenüber hybriden Gefahren und Cyber-Bedrohungen stärken? Sollten wir Investitionen in strategische Wirtschaftssektoren nicht besser kontrollieren? Wie finanziert man fair und effektiv die Energie- und Klimawende? Wie können wir unsere Entscheidungsprozesse effektiver gestalten? Was ist zu tun, um zu verhindern, dass sich unsere Bürger in der EU zunehmend entfremdet fühlen?

Ich stelle diese Fragen, weil ich glaube, dass die Antworten darauf die Zukunft der Union bestimmen werden.

All das sollten wir besprechen.

JA und NEIN 

Die Zuständigkeiten der Europäischen Union haben ihre Grenzen. Deshalb werde ich jetzt einige Worte der Frage der Grenzen der Zuständigkeiten der Union und ihrer Institutionen widmen. Wichtige Entscheidungen sollten nicht durch eine Änderung der Rechtsauslegung getroffen werden.

Der Erfolg der europäischen Integration beruhte auf der Tatsache, dass das Gesetz eine Ableitung von Mechanismen war, die unsere Länder in anderen Bereichen miteinander verbanden.

Der Versuch, dieses Modell um 180 Grad zu drehen und die Integration mit Hilfe von rechtlichen Mechanismen durchzusetzen, ist eine Abkehr von Grundsätzen, die dem Erfolg der Europäischen Gemeinschaften zugrunde lagen.

Das Phänomen eines Demokratiedefizits wird seit Jahren diskutiert. Und dieses Defizit wird immer schlimmer. Das war noch nie so sichtbar, wie in den letzten Jahren. Durch juristischen Aktivismus werden Entscheidungen zunehmend hinter verschlossenen Türen getroffen und es entsteht daraus eine Bedrohung für die Mitgliedsstaaten. Immer öfter werden Entscheidungen getroffen ohne eine klare Grundlage in den Verträgen, sondern durch kreative Neuinterpretationen, ohne jegliche Kontrolle. Dieses Phänomen wächst seit Jahren.

Heute ist dieser Prozess so weit fortgeschritten, dass gesagt werden muss: Halt! Die Zuständigkeiten der Europäischen Union haben ihre Grenzen. Wir dürfen nicht länger schweigen, wenn sie überschritten werden.

Deshalb sagen wir JA zum europäischen Universalismus und NEIN zum europäischen Zentralismus.

Wie Sie alle in diesem Saal, unterwerfe auch ich mich der demokratischen Kontrolle. Auf diese Weise werden wir alle für alle unsere Handlungen zur Rechenschaft gezogen. Ich vertrete eine Regierung, die 2015 zum ersten Mal in der Geschichte Polens die absolute Mehrheit erlangt hat. Deshalb hat sie ein ehrgeiziges Programm sozialer Reformen in Angriff genommen.

Und die Polen haben an ihrer Entscheidung festgehalten: Bei den nachfolgenden Wahlen 2018, 2019 und 2020 haben sie unsere Regierung demokratisch bewertet. Dank der höchsten Wahlbeteiligung in der Geschichte haben wir das stärkste demokratische Mandat in der Geschichte erhalten. Seit 30 Jahren erzielte keine Partei ein solches Wahlergebnis, wie Recht und Gerechtigkeit. Und das, ohne die Unterstützung des Auslands, ohne die Unterstützung des Großkapitals und mit nicht einmal einem Viertel des Einflusses auf die Medien, wie sie ihn unsere Konkurrenten besitzen, die Polen nach 1989 eingerichtet haben.

Polen lässt sich nicht einschüchtern

Die paternalistischen Belehrungen über Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, wie wir unsere Heimat gestalten sollen, dass wir schlechte Entscheidungen treffen, dass wir zu unreif sind, dass unsere Demokratie angeblich „jung“ ist, sind die fatale Richtung einer Erzählung, die einige von Ihnen vorschlagen.

Polen hat eine lange demokratische Tradition. Es ist in der Tat eine Tradition der Solidarität.

Strafen, Repressionen wirtschaftlich stärkerer Länder gegen diejenigen, die noch immer mit dem Erbe kämpfen, auf der falschen Seite des Eisernen Vorhangs gelebt zu haben, das ist nicht der richtige Weg. Wir alle müssen an seine Folgen denken.

Polen hält sich an die Regeln der Union, lässt sich aber nicht einschüchtern. Polen wartet auf einen Dialog in dieser Angelegenheit.

Um diesen Dialog zu erleichtern, lohnt es sich, institutionelle Veränderungen vorzuschlagen. Für einen dauerhaften Dialog, geführt nach dem Grundsatz der Kontrolle und des Gleichgewichts (checks and balances) könnte eine Kammer des Europäischen Gerichtshofs eingerichtet werden, die sich aus Richtern zusammensetzt, die von den Verfassungsgerichten der Mitgliedstaaten ernannt werden.

Heute präsentiere ich Ihnen einen solchen Vorschlag. Die endgültige Entscheidung muss dem Demos und den Staaten überlassen werden, aber die Gerichte sollten eine solche Plattform haben, um nach einem gemeinsamen Nenner zu suchen.

Vielfalt macht stark

Abschließend, meine Damen und Herren Abgeordneten, müssen wir auch die Frage beantworten, woraus Europa im Laufe der Jahrhunderte seine Vorzüge entwicklet. Was hat die europäische Zivilisation so stark gemacht?

Die Geschichte beantwortet diese Frage so: Wir sind mächtig geworden, weil wir der vielfältigste Kontinent der Erde waren.

Fünfzig Jahre seit Gründung des Europarates. Briefmarke von 1999.

Niall Ferguson schreibt: „Die monolithischen Reiche des Orients haben die Innovation gedämpft, während im bergigen, von Flüssen durchzogenen West-Eurasien zahlreiche Monarchien und Stadtstaaten miteinander einfallsreich konkurriert und kommuniziert haben.“

Europa hat gewonnen, indem es zu einer Balance zwischen kreativem Wettbewerb und Kommunikation gefunden hat. Zwischen Wettbewerb und Zusammenarbeit. Heute brauchen wir wieder beides.

Hohes Haus! Ich wünsche mir ein starkes und großes Europa, das für Gerechtigkeit, Solidarität und Chancengleichheit kämpft. Ein Europa, das in der Lage ist, autoritären Regimen ein Ende zu setzen. Ein Europa, das auf die neuesten Wirtschaftskonzepte setzt. Ein Europa, das Kultur und Traditionen respektiert, aus denen es hervorgegangen ist. Ein Europa, das die Herausforderungen der Zukunft erkennt und an den besten Lösungen für die ganze Welt arbeitet.

Das ist eine große Aufgabe für uns. Für uns alle, liebe Freunde. Nur so finden die Bürger Europas Hoffnung auf eine bessere Zukunft. Sie werden den Willen zum Handeln und den Willen zum Kampf finden. Es ist eine schwierige Aufgabe. Machen wir uns gemeinsam die Mühe. Es lebe Polen! Es lebe die Europäische Union souveräner Staaten! Es lebe Europa, der schönste Ort der Welt!

Vielen Dank.

RdP