Das heutige Deutschland und der Erste Weltkrieg

Polnische Beobachtungen und Meinungen.

Rechtzeitig zum einhundertsten Jahrestag des Attentates in Sarajevo am 28. Juni 1914, widmeten sich Polens führende Deutschland-Kommentatoren dem Verhältnis des heutigen Deutschlands zum Ersten Wettkrieg.

Piotr Semka, ein stets aufmerksamer Beobachter des Nachbarlandes auf dem konservativen Flügel der polnischen Publizistik, veröffentlichte seine Einschätzungen im Wochenmagazin „Do Rzeczy“ („Zur Sache“) vom 7. Juli 2014 unter dem Titel:

Keine Asche aufs Haupt

(…) Dieses Foto haben die meisten jungen Franzosen und Deutschen in ihren Schulbüchern gesehen. Aufgenommen wurde es am 22. September 1984 vor der Gedenkstätte in Verdun. Zum ersten Mal wurde damals, an diesem Ort, neben der „Marseillaise“, die westdeutsche Nationalhymne mit der Melodie „Deutschland, Deutschland über alles“ gespielt. Vor dem westdeutschen Bundeskanzler und dem französischen Präsidenten stand ein in die deutsche und die französische Fahne gehüllter Sarg. Helmut Kohl und Francois Mitterrand fassten sich minutenlag an den Händen, als Zeichen der Freundschaft beider Nationen. Damals verstand man diese Zeremonie als eine Weiterführung des von General Charles de Gaulle und Konrad Adenauer 1959 angestoβenen Versöhnungsprozesses zwischen den beiden Staaten, die im 20. Jahrhundert gleich zweimal. einen Kampf auf Leben und Tod ausgetragen haben.

Dreißig Jahre später trat die deutsche Botschafterin in Paris, Dr. Susanne Wasum-Rainer als Schirmherrin bei der Vorstellung des Buches von Christopher Clark „Die Schlafwandler. Wie Europa in den Ersten Weltkrieg zog“ in Frankreich auf. Clark ist ein australischer Historiker, der sich von der deutschen Geschichte begeistern lieβ, und 2006 auf dem deutschen Buchmarkt seinen Bestseller „Preußen. Aufstieg und Niedergang. 1600 – 1947“ platzierte. Das Buch, das viele Deutsche mit Begeisterung aufnahmen, sollte nachweisen, dass Preuβen keineswegs die Verkörperung des Bösen gewesen ist, und vieles, was dem preuβischen Staat an Schuld zugeschrieben wird, als bedingt anzusehen ist.

Zum einhundertsten Jahrestag des Groβen Krieges hat Clark nun ein Buch mit der These geschrieben, das Kaiserreich trage nicht die Hauptschuld am Kriegsausbruch und man solle die Verantwortung dafür auf alle europäischen Mächte verteilen. Zum wiederholten Male bestätigte sich damit die Regel, dass die Deutschen es lieben, gefällige Ausländer zu benutzen, um zu verkünden, was sie selbst insgeheim denken.

Kein Wunder also, dass es ein Australier war, der den Franzosen verkünden sollte, auch ihre Republik sei für den Ersten Weltkrieg mitverantwortlich. In Frankreich jedoch stieβ Clark auf streitbaren Widerstand. Der ehemalige Ministerpräsident Jan-Pierre Chevènement schleuderte den von Deutschland aus geworfenen Ball zurück und wiederholte: „Der Krieg von 1914 ist das Ergebnis des Wettlaufs zwischen London und Berlin um die Vorherrschaft auf den Meeren gewesen“. Etwas also hat sich doch verändert seit dem Händehalten Kohls und Mitterands. Die Versöhnung mit Deutschland ist das eine, etwas anderes ist es, wenn zur Kenntnis genommen werden soll, Frankreich sei genauso wie der Kaiserstaat vom nationalistischen Taumel erfasst gewesen.

Blicken wir aber zurück auf einen weiteren runden Jahrestag des Ausbruchs des Ersten Weltkrieges, auf das Jahr 1974. Damals erschien das Buch von Stefan Lorant „Eine deutsche Bildgeschichte von Bismarck zu Hitler“. Auf dem Umschlag wurde Hitler beileibe nicht im braunen SA-Hemd dargestellt, sondern in der kaiserlichen Uniform Wilhelm II. Das ganze Album ist eine einzige Verbildlichung der Behauptung, und damals wurde sie noch als selbstverständlich angesehen, dass es zwischen dem preuβischen Militarismus und dem Nationalsozialismus eine direkte Verbindung gibt, und dass der Zweite Weltkrieg eine natürliche Fortsetzung des Strebens nach Zielen gewesen sei, die die Deutschen im Ersten Weltkrieg nicht zu erreichen vermocht hatten. Mehr noch, wir haben inzwischen auch schon polnische Historiker, die die neuen Prinzipien der politischen Korrektheit bei der Darstellung der deutschen Geschichte gut heiβen und sich über angebliche „Vereinfachungen“, wie sie z. B. Lorant veröffentlichte, entrüsten.

Das soll nicht heiβen, in Deutschland gäbe es keine Historiker, die daran erinnern, wie eroberungslustig und hemmungslos die Pläne für Besitzergreifungen gewesen sind, die die Fachleute vom kaiserlichen Auswärtigen Amt oder vom Generalstab schufen. Stark ist weiterhin auch die allgemeinpazifistische Strömung, die der Kriegsschulddiskussion ausweicht und an dieser Stelle nur verkündet, dass alle im damaligen Europa „versagt“ haben.

Man kommt nicht um die Feststellung herum, dass die Beliebtheit des Buches von Christopher Clark ein Ergebnis wesentlicher Veränderungen in der deutschen historischen Politik ist. Ähnlich wie die von der deutschen Linken gebilligten und geteilten Behauptungen, dass es der Versailler Vertrag und seine strengen Bestimmungen gewesen sind, die Deutschland in den Zweiten Weltkrieg getrieben haben sollen. Zwar hat die Bonner Republik von 1949 bis 1989 schweigend die Schuld der Deutschen am Krieg von 1914 hingenommen, doch junge bundesdeutsche Historiker verspüren immer weniger Lust sich Asche aufs Haupt zu streuen.

Wie immer, wenn es um die deutsche soft power, die weiche Macht geht (politische Machtausübung, Einflussnahme und Erlangung der Deutungshoheit auf der Grundlage kultureller und wissenschaftlicher Aktivitäten – Anm. RdP), wird auch in diesem Fall nicht allzu eindringlich und herausfordernd gehandelt. Es wird stets darauf hingewiesen, dass es sich um einen wissenschaftlichen Gedankenaustausch handelt, dass alle das Recht auf ihre Meinung haben, und es wird höflich angemerkt, dass es in der Bundesrepublik selbst unterschiedliche Ansichten darüber gibt.

Es fällt jedoch nicht schwer zu erkennen, dass die deutsche Diplomatie auch auf dem Feld der Geschichte aktiv zu sein pflegt. Im August 2013 lieβ ein Teil der britischen Presse durchsickern, deutsche Diplomaten versuchten es den Briten ans Herz zu legen, sie mögen die Feierlichkeiten zum hundertsten Jahrestag des Groβen Krieges in deren Wichtigkeit nicht zu hoch ansiedeln. Das deutsche Auswärtige Amt stellte schnell in Abrede, dass es solche Andeutungen gegeben habe, doch vermuteten viele britische Publizisten damals, das Foreign Office wollte mittels einer solchen Indiskretion den allzu selbstbewussten deutschen Diplomaten einen Nasenstüber versetzen.

Irgendetwas jedenfalls muss dran gewesen sein. Einem Land, das Europa führt, ihm Fiskalpakte aufzwingt und bestimmt, wer der nächste Vorsitzende der Europäischen Kommission sein soll, fällt es immer schwerer, die Rolle des auβergewöhnlichen Bösewichts des 20. Jh. zu ertragen. Das gilt ganz besonders für die Auseinandersetzung um die Schuld am Kriegsausbruch 1914.

Das alles bewirkte, dass Groβbritannien und Frankreich ihre Feierlichkeiten deutlich „nationaler“ gestaltet haben. Gewiss, britische und französische Historiker werden weiterhin Einladungen zu Tagungen an deutschen Universitäten annehmen, doch die wichtigsten Feierlichkeiten werden im Kreise der alten Entente stattfinden.

Auch die betagtesten Veteranen des Ersten Weltkrieges leben inzwischen nicht mehr. 2008 verstarb im Alter von 107 Jahren Erich Kästner, der älteste deutsche Kriegsteilnehmer. Ein Jahr später starb, mit 111 Jahren, der britische Soldat Harry Patch. Bezeichnend, dass die „Spiegel“-Journalistin Frederike Heine, die im August 2013 über die Einstellung beider Nationen zum Ersten Weltkrieg schrieb, nicht umhinkam zu beanstanden, dass Kästners Tod in Deutschland unbemerkt blieb, während Harry Patch mit einem feierlichen Gottesdienst in der Kathedrale von Wells verbschiedet wurde, und die Berichte von seiner Beerdigung die Fernsehnachrichten an der Themse eröffneten. Heine jedoch stellte sich nicht die Frage, welche Rolle der Militarismus in der deutschen und welche in der britischen Geschichte gespielt hat. Es ist sehr bezeichnend, dass die Deutschen, ins Pazifistenkostüm gekleidet, beginnen andere zur Rede zu stellen, weil diese in ihre Kriegstradition allzu sehr verliebt seien. (…)

Dasselbe Thema beschäftigte auch Piotr Jendroszczyk, den deutschlandpolitischen Kommentator der Tagezeitung „Rzeczpospolita“ („Die Republik“) am 5. Juli 2014.

Die These des Artikels lautet: „Berlin vom Gedächtnisschwund befallen. Die Regierung tut so, als wäre vor einhundert Jahren nichts Bemerkenswertes passiert.“

Der Autor schreibt unter der Überschrift:

Kein Platz mehr für Reue

u. a.: (…) Tausende von themenbezogenen Treffen, öffentliche Diskussionen, fünfzig neue Bücher, Dutzende von Dokumentarfilmen… Das alles steht in einem krassen Gegensatz zu dem fehlenden Interesse der offiziellen Vertreter des Staates an einem Ereignis, ohne das es wahrscheinlich weder Stalin noch Hitler gegeben hätte. Die britische Presse schlägt Alarm: „Deutschland will sich nicht mehr an die Geschichte erinnern“ und gibt zu bedenken, dass die Regierung von Angela Merkel nur 4,7 Mio. Euro für staatliche Feierlichkeiten aus Anlass des hundertjährigen Jubiläums zum Ausbruch der groβen Katastrophe veranschlagt hat, etwa genauso viel, wie für Festveranstaltungen zum zwanzigsten Jahrestag des Mauerfalls vor fünf Jahren.

– Eigentlich gibt es da nichts zu gedenken. Für Deutschland war es eine Zeit der Wirren, des Todes und der Nachkriegsarmut. Eine Zeit der Erniedrigung durch den Versailler Vertrag, in dem eindeutig festgehalten wurde, dass Deutschland allein am Kriegsausbruch schuld sei. Es waren die strengen Bestimmungen, die dem Verlierer aufgezwungen worden waren, vor allem durch Frankreich. Daher die Zurückhaltung der Offiziellen gegenüber diesem Jahrestag – sagt Christian Hartmann vom Institut für Zeitgeschichte in München. – Auβerdem gibt es in Deutschland keine groβen Schlachtfelder und Ehrenfriedhöfe aus dieser Zeit, wie in Frankreich oder Belgien.

Das gröβte Hindernis für das Gedenken in Deutschland ist der Zweite Weltkrieg. – Auch in meiner Familie war der Zweite Weltkrieg allgegenwärtig – sagte Kanzlerin Angela Merkel bei der Eröffnung der Ausstellung zum Ersten Weltkrieg im Deutschen Historischen Museum in Berlin. Sie will des Jahrestages gedenken indem sie nach Ypern fährt. Das ist bis jetzt die einzige internationale Verpflichtung der Kanzlerin aus diesem Anlass.

Bundespräsident Joachim Gauck wird am 3. August im Elsass, auf einer Anhöhe, bei der 25 Tausend Franzosen und Deutsche fielen, Francois Hollande begegnen, und er will nach Brüssel fahren, zum feierlichen Treffen der Vertreter der Kriegsteilnehmerländer. Das ist alles. Derweil geht aus einer Befragung der Illustrierten „Stern“ hervor, dass zwei Drittel der Deutschen sich für die Kriegskatastrophe von vor einem Jahrhundert interessieren.

Die niederschmetternde Niederlage und der demütigende Artikel 231 des Versailler Vertrages, der von der Alleinschuld Deutschlands an der Entfesselung des Ersten Weltkrieges handelt, sind zweifelsohne ein starker psychologischer Impuls für den offiziellen deutschen Gedächtnisschwund. Ein noch wichtigerer Grund ist der Holocaust. Die Deutschen wurden nicht nur schuldig befunden für den Kriegsausbruch und die Naziverbrechen. Sie haben sich zu ihrer Schuld bekannt, sie haben sich Asche aufs Haupt gestreut und tun das weiterhin. Sie entschuldigen sich, sie leisten Abbitte und erinnern sich. Da ist kein Platz mehr dafür, sich auch noch für den Ersten Weltkrieg an die Brust zu schlagen. (…)

Ich erinnere mich an eine Diskussion von vor Jahren zwischen Bundeskanzler Gerhard Schröder und Martin Walser, in der die beiden sich geradezu darin überboten zu beweisen, dass das ganze Übel in Versailles begonnen habe, wo die Deutschen einen für sie erniedrigenden Vertrag unterschreiben mussten.
-Das ist eine zu groβe Vereinfachung, aber sie enthält ein Körnchen Wahrheit – sagt Hartmann. Nach dem Ersten Weltkrieg waren die Deutschen von dem ihnen angetanen Unrecht überzeugt. Nach dem Zweiten Weltkrieg galt schon die politische Korrektheit, und entsprechend den Thesen des Hamburger Historikers Fritz Fischer in seinem Buch „Griff nach der Weltmacht. Die Kriegszielpolitik des kaiserlichen Deutschlands 1914-1918“, wurde Deutschland zu recht für die Entfesselung des Ersten Weltkrieges verantwortlich gemacht. Die Strafe für die Schuld an den beiden Kriegen war die Teilung Deutschlands. Und so sollte es sein. Nicht alle waren damit einverstanden. Fischers Buch entfesselte eine heftige Diskussion, aber im Prinzip galt das Anzweifeln der deutschen Schuld als geschichtlicher Revisionismus und wurde verurteilt. (…)

Die Verantwortung für den Ausbruch des Ersten Weltkrieges ist nicht so einfach zu erklären, wie die für den Zweiten Weltkrieg. Daran erinnert der in Cambridge lehrende Christopher Clark in seinem neusten Buch „Die Schlafwandler. Wie Europa in den Ersten Weltkrieg zog“. Er beweist, dass man mit der Schuld für diesen Krieg auch andere Teilnehmer belasten kann: Österreich-Ungarn, das Serbien ein Ultimatum nach dem Attentat auf Erzherzog Ferdinand und seine Frau stellte. Russland, das sich schützend vor die Slawen auf dem Balkan stellen wollte. Frankreich, den gröβten Feind Deutschlands und ein Verbündeter Russlands, und auch Groβbritannien, das sein Imperium verteidigte. Das alles gefällt in Deutschland sehr. (…).

RdP