Der zartrote Verführer

Am 9. Oktober 2016 starb Andrzej Wajda.

In ihren Nachrufen auf den Regisseur haben deutsche Medien mit Zuckerguss nicht gegeizt. Doch Übertreibung schadet der Wahrheit. Ein „Unbeugsamer“ soll Andrzej Wajda gewesen sein, „eine moralische Instanz und ein Romantiker“. Der Berliner „Tagesspiegel“ sah ihn gar in Polen so „verehrt wie zuletzt allenfalls (!!! – Anm. RdP) der unerschrocken parteikritische Kardinal Karol Wojtyła.“

Oder war der Papst-Vergleich vielleicht doch gar nicht so falsch? Zweifelsohne sah sich Andrzej Wajda in den letzten Jahren seines Lebens als Verkünder unumstöβlicher politischer Dogmen. Wie Perun, der Donnergott in der slawischen Mythologie, schleuderte er, von Groll und Zorn gepackt, Verwünschungen jenen entgegen, die er nicht ausstehen konnte: „Kaczyński ist ein Trottel. Dagegen gibt es Pillen. Er soll sich behandeln lassen!“

Gut sechzig Jahre lang dauerte die künstlerische Laufbahn des „Unbeugsamen“. Sie war gesäumt von Kehrtwenden, Brüchen, Zugeständnissen, die nicht selten Geständnissen glichen

Auf die polnische Art

Sein Werk ist gewaltig: sechzig Spielfilme, zumeist Sozialdramen. Egal wo und wann sie spielen, stets haben sie einen deutlichen Bezug zum Hier und Jetzt. Davor verschonte Wajda nicht einmal die Passionsgeschichte, die er 1971 in seinem theatralisch geschwollenen, experimentellen Film „Pilatus und andere“ ins damalige Westdeutschland verlegte, und Jesus über den Dutzendteich auf dem ehemaligen Nürnberger Reichsparteitagsgelände wandeln lieβ.

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Wajdas „Pilatus und andere“. Jesus wandelt über den Dutzendteich auf dem ehemaligen Nürnberger Reichsparteitagsgelände.

Mit seinem Schaffen reiht er sich zweifelsohne in die Galerie der groβen Filmemacher des 20. Jahrhunderts ein: Michelangelo Antonioni, Ingmar Bergman, Luis Buñuel, Federico Fellini, Akira Kurosawa, Luchino Visconti…

Gemeinsam war ihnen nicht nur die Überzeugung, dass das Kino die Welt verändern kann. Sie alle waren zudem stark verwurzelt in ihrer nationalen Identität und verstanden es dennoch, auf ihre polnische, japanische, italienische Art, Zuschauer in den entlegendsten Gegenden der Welt anzusprechen, zu fesseln, gar zu bezaubern.

Kurosawa wäre undenkbar ohne die japanische Samurai-Tradition, Fellini ohne sein geliebtes Rom, Bergmann ohne die distanzierte Kühle Schwedens. Wajda war ein ganz und gar polnischer Regisseur. Polnische Geschichte und polnische Literatur lieferten ihm die meisten Vorlagen für seine Filme. „In Hollywood müsste ich fremde Ideen umsetzen“, pflegte Wajda auf die Frage zu antworten, warum er nicht ausgewandert sei.

Ein Junge am Abgrund

„Offiziersfamilie, eine vom Patriotismus durchdrungene Schule und die Kirche“, das waren die tragenden Säulen der Welt seiner Kindheit. Geboren 1926 im nordostpolnischen Suwałki, erlebte er mit dreizehn Jahren, im September 1939, den Kriegsbeginn. Polen wähnte sich damals sicher. Die knapp eine Million Soldaten zählende Armee, wenn auch nicht sehr modern ausgerüstet, so doch gut ausgebildet und hochmotiviert, sollte zwei, drei Wochen lang Widerstand leisten, bis die Verbündeten, England und Frankreich, Deutschland im Westen angreifen würden. So war es vereinbart. Da konnte nichts schiefgehen. „Hitler wäre ein Idiot, sollte er uns angreifen. Der riskiert nie einen Zweifrontenkrieg“, das war die gängige Meinung.

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September 1939. Über der Leiche Polens  werden Feinde zu Freunden. Hitler: „Der Abschaum der Menschheit, nehme ich an?“ Stalin: „Und habe ich nicht die Ehre mit dem blutigen Mörder der Arbeiter?“ Britische zeitgenössische Karrikatur.

Stattdessen überfielen Deutschland (am 1. September 1939) und die Sowjets (am 17. September 1939) gemeinsam Polen und teilten es, wieder einmal, auf. Und die Verbündeten? Sie erklärten zwar am 3. September 1939 Hitler den Krieg, schrieben jedoch Polen gleichzeitig insgeheim ab. Während das kämpfende Warschau sich im deutschen Bombenhagel in eine Ruinenlandschaft verwandelte, beschränkten sich die französischen Kampfhandlungen im Westen damals auf das Flugblätterabwerfen über einigen deutschen Städten unmittelbar hinter der Grenze.

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Mit dreizehn Jahren erlebte Wajda im September 1939 den Zusammenbruch Polens. Es war ein Trauma, von dem er sich, und mit ihm groβe Teile der Nation, seelisch nie erholt haben.

Mit ansehen zu müssen wie sein Land, auf das er uneingeschränkt stolz war, nach gerade einmal zwanzig Jahren Unabhängigkeit, innerhalb von nur vier Wochen zusammenbrach, war für Wajda ein Trauma, von dem er sich, und mit ihm groβe Teile der Nation, seelisch nie erholt haben.

Für Krzysztof Kłopotowski, einen der führenden Filmkenner- und Kritiker Polens, steht fest: „Nach dieser Erfahrung war Wajda überzeugt, dass es ein eigenständiges Polen, wie vor dem Zweiten Weltkrieg, nicht geben kann“ („Gazeta Polska“ –„Polnische Zeitung“, 12. Oktober 2016).

Anfänge in rot

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Wajda ließ sich von der Woge des kommunistischen Propagandapathos der ersten Nachkriegsjahre mitreiβen.

So gesehen hatte der Kommunismus im Nachkriegspolen in Wajdas Augen schon seine Richtigkeit. Das Land war wieder einmal an Russland, diesmal ein kommunistisches, angekettet. Der junge Mann ließ sich von der Woge des kommunistischen Propagandapathos der ersten Nachkriegsjahre mitreiβen.

Er trat 1946 in die kommunistische Partei wajda-plakat-1ein, lieβ aber nach einigen Jahren die Mitgliedschaft wieder einschlafen, verschwieg sie nach einem Wohnortwechsel. Der Sohn eines „bürgerlichen Vorkriegsoffiziers“ wollte sich auf diese Weise den aufkommenden stalinistischen Säuberungs- und Wachsamkeitskampagnen entziehen, die die Parteireihen immer wieder lichteten. Jahrzehnte später, in seiner Autobiographie, überging Wajda, der „Unbeugsame“, diese Episode mit einem Satz: „Ich war nie Parteigenosse“. Er hoffte, das Geschehnis sei längst vergessen. War es aber nicht.

Im Jahr 1948 wechselte der angehende Maler Wajda von der Kunsthochschule in Kraków zur Filmhochschule in Łódź. „In den 50er Jahren handelte es sich hierbei um eine ideologische Einrichtung. Die Filmhochschule war neu, hatte keine Tradition und sie sollte die neue sozialistische Filmelite erziehen. Eine ideologische Vorausabteilung, die die politischen und gesellschaftlichen Veränderungen entscheidend mitprägen sollte“, schrieb Wajda.

Ein Gaukler macht sich an die Arbeit

Sein Debütfilm „Eine Generation“ von 1955 war noch ein Werk aus der Agitprop-Kiste der damaligen, dumpfen kommunistischen Indoktrination. Junge, heldenmutige kommunistische Widerständler kämpfen und sterben im besetzten Warschau, während die bürgerliche, verkommene Untergrund-Heimatarmee (AK), obwohl sie mehr Waffen und viel Geld hat, sich feige dem Kampf entzieht und im Grunde gemeinsame Sache mit den Nazis macht.

Doch bereits hier kam Wajdas handwerkliches Können zur Geltung. Er verpackte das Ganze in ein neorealistisches Kostüm, wie es die italienischen Meister des Genres, Visconti oder Rossellini („Rom, offene Stadt“), nicht besser hätten machen können. Zwar ergeht sich eine kommunistische Agitatorin immer wieder in ihren endlosen Tiraden, doch wenn sie schweigt, dann wirken die jungen Schauspieler auf der Leinwand, für die damaligen Begriffe, erfrischend natürlich, sehr untheatralisch. Eine stellenweise überaus dynamische, präzise und, für damalige Zeiten, einfallsreiche Kameraführung schuf einige Szenen, die unter die Haut gehen und längst Kultstatus haben. Ein schwer verdaulicher Propagandakloβ geriet so zu einem künstlerischen „Ereignis“.

Fragment aus „Eine Generation“. Die jungen Kommunisten helfen einem Trupp jüdischer Kämpfer, der sich während des Aufstandes im Warschauer Ghetto im April-Mai 1943 durch die Kanalisation auf die „arische“ Seite rettet. Für Jasio endet die Aktion tragisch. 

Was sich in „Eine Generation“ abzeichnete, sollte schon bald sein Markenzeichen werden. „Wajda ist ein Gaukler der Leinwand, ein Meister der Ablenkung, der es mit seinem hervorragenden handwerklichen Können versteht, eine Aneinanderreihung filmischer Zaubertricks in Filmkunst zu verwandeln. Die Zuschauer staunen über die weiβen Tauben, die der Illusionist aus dem Ärmel hervorzaubert, lassen sich von Wajdas Erzählstil verführen, die Botschaft bleibt unaufdringlich im Hintergrund, verliert jedoch dadurch keineswegs ihre Wirkung“, schreibt der Historiker und Filmkenner Tomasz Łysiak („Gazeta Polska“, 8. August 2012).

Therapie gegen die Freiheit

„Finis les rêveries, messieurs – „Genug der Träumereien, meine Herren“, das waren die Worte des Zaren Alexander II., als er im Mai 1856 Warschau besuchte. Dabei galt der junge Monarch, im Gegensatz zu seinem tyrannenhaften Vater Nikolaus I., als Reformer. Eine Abordnung polnischer Honoratioren bat ihn, Polen innerhalb des Zarenreiches etwas mehr Autonomie zuzugestehen. Vergeblich.

„Genug der Träumereien”, das war auch jahrzehntelang Wajdas Botschaft an seine Landsleute.

„Ich habe versucht den Zuschauer davon zu überzeugen, dass man nicht kämpfen sollte, wenn man nicht im Recht ist. Man soll nicht zum Schlag ausholen, bevor man nicht überlegt hat, ob ein solches Ausholen Sinn macht. Wir haben den Menschen die Überzeugung von der Richtigkeit einer solchen Haltung eingebläut. (…) Wir nehmen unsere Arbeit ernst. Sie ist eine Art Therapie“, so Wajda 1962.

Zu therapieren galt es die polnische Gesellschaft, sie zu befreien von dem angeblichen „polskie szaleństwo“, dem „polnischen Wahnsinn“ des ständigen Strebens nach Freiheit und Unabhängigkeit, koste es was es wolle. Eine Gesellschaft, deren Zustand nach 1945 der Historiker und Literaturkritiker Jan Józef Lipski so beschrieb: „Der Schock nach dem Ende des Krieges war für Polen schrecklich. Polen, das erste Land, das sich Hitler entgegengestellt hatte. Die Polen, ein Volk das an vielen Fronten des Krieges gekämpft hat. Polen, ein Land, das einen mächtigen Staat und eine Armee im Untergrund aufbaute. Es wurde von den eigenen Verbündeten, Groβbritannien und den USA, an den sowjetischen Angreifer ausgeliefert. Es war ein schreckliches Erlebnis und eine Demütigung, mit einer Schlinge um den Hals, an den Sattel des Siegers geknüpft, in sein eurasisches Imperium gezerrt zu werden.“

Den polnischen Kommunisten gelang es, nur dank der militärischen Unterstützung des Sowjets, bis Ende der 40er Jahre den bewaffneten Widerstand gegen ihre Tyrannei im Land zu brechen. Jetzt galt es das geistige Rückgrat des Widerstands zu brechen.

Die Polen sollten sich in ihrem Käfig endlich einrichten, Ruhe geben, „Träumereien“ abschwören, sonst konnte es für sie noch viel schlimmer kommen. Da war es wichtig, Symbole und Ereignisse, die den polnischen Selbstbehauptungswillen verkörperten zu zerstören, sie als längst überholt und grotesk darzustellen, sie lächerlich und letztendlich vergessen zu machen. Die gesamte kommunistische Propaganda, die Literatur, die Erziehungs- und Schulprogramme waren darauf ausgerichtet.

Mit Säbeln auf deutsche Panzer

Wajda war mit Herzblut dabei. Im Film „Lotna“ (1959), dem ersten polnischen Farbfilm, der vom Verteidigungskrieg 1939 handelt, reiten polnische Kavalleristen (Fragment hier zu sehen) eine Attacke gegen deutsche Panzer und versuchen sie mit ihren Säbeln zu zerschlagen. Zwar hatte es nachweislich während des ganzen „Polenfeldzuges” nie einen solchen Vorfall gegeben. Wajda griff dennoch das von Goebbels oft genutzte Propagandabild auf, um die angeblich „typisch polnischen” Eigenschaften: Selbstüberschätzung und Fanatismus noch krasser darzustellen und zu geiβeln. Den kommunistischen Propagandisten war es nur recht.

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Laut Wajda „typisch polnisch“: mit dem Säbel gegen Panzer. Szene aus „Lotna“.

Im Film „Kanal“ (1957) irrt im September 1944 ein Trupp Warschauer Aufständischer durch die unterirdischen Abwasserkanäle und kommt elend um im flieβenden Unrat. Es wird ein Inferno dargestellt, in Bildern von unvergesslicher Prägung. Die Kamera guckt genau hin, als in dem flieβenden, ekelhaften Auswurf die rogatywka treibt, die traditionelle Eckenmütze des polnischen Militärs. Sie gehört einem schwerverwundeten, aufständischen Obristen, den der Trupp unterwegs findet. Mit dem Abzeichen des gekrönten Adlers versehen, von den Kommunisten ohnehin als „nationalsitsich“ abgeschafft, geht das hochgeschätzte Nationalsymbol nun endgültig in der Jauche unter.

„Man hat mir Nihilismus, übertriebene Schwarzseherei, Verachtung für den Heldenmut vorgeworfen. Diese Anschuldigungen trugen Reaktionäre in meinem Land vor, die aus dem Aufstand ein Heiligtum gemacht haben. (…) Der Warschauer Aufstand von 1944 war ein politischer Fehler und, militärisch gesehen, ein Wahnsinn. Was konnte anderes dabei herauskommen. Wahnsinn und Torheit töten die handelnden Personen meines Films in den Abwasserkanälen, am Abgrund der Verzweiflung, ohne Sinn und Notwendigkeit“, klagte Wajda 1958 ausgerechnet in einem Interview für die sowjetische Zeitschrift „Literaturnaja Gazeta“.

Man beachte: schuld sind nicht die Deutschen, die den Polen die Freiheit raubten und ihren Aufstand mit unvorstellbarer Brutalität niederwarfen. Schuld sind auch nicht die Sowjets, die auf dem anderen Weichselufer abwarteten, bis die Deutschen ihr Werk vollbracht hatten. Schuld sind in Wajdas Augen die Opfer selbst.

Schön im Joch bleiben

In „Asche und Diamant“ (1958) stirbt der schwer verwundete, antikommunistische Kämpfer Maciek Chełmicki elend auf der Müllhalde (der Geschichte?). „Die kommunistische Propaganda benutzte jahrzehntelang Wajdas groβes Talent, um die Polen daran zu erinnern, dass es aus dem Moskauer Joch kein Entkommen gibt“, schreibt Piotr Semka („Do Rzeczy“- „Zur Sache“, 17. Oktober 2016).

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„Asche und Diamant“ (1958). Antikommunisten krepieren elend auf der Müllhalde (der Geschichte?).

Der Filmkritiker der „Neuen Züricher Zeitung“ sah das schon vor einem halben Jahrhundert, im Oktober 1959, ähnlich. Er schrieb nach der Vorführung von „Asche und Diamant“: „Künstler wie Andrzej Wajda, und er ist zweifelsohne ein Begabter, sind, egal ob sie sich dessen bewusst sind oder nicht, Boten des geschickt wirkenden Sowjetsystems. Sie werden als Verführer in den Westen geschickt. Die Partei führt sie an der Leine. Sie gewährt ihnen etwas Narrenfreiheit und pfeift sie zurück, wenn sie allzu übermütig werden. Diese jungen Leute (Wajda war damals 33 Jahre alt – Anm. RdP) sind, gerade wegen ihrer Biegsamkeit und vermeintlichen freien künstlerischen Aussage, viel gefährlicher als die langweiligen, behäbigen Barden des sozialistischen Realismus. Es genügt nur, sich Wajdas Filme anzuschauen, um sich davon zu überzeugen“.

Eindreschen macht müde

Je mehr Preise und Anerkennung der Regisseur bekam, umso hartnäckiger pochte er auf den Status des nationalen Wegweisers. „Wajda fühlte sich von Anfang an als die Stimme der aufgeklärten Elite der polnischen Gesellschaft und trat in ihrem Namen auf“, stellt Janusz Wróblewski in der Zeitschrift „Polityka“ (19. Oktober 2016) fest. „Wajda strebte die Position eines nationalen Propheten an, der am besten weiβ, was für die unvernünftigen, kindischen Polen gut ist“, ergänzt Krzysztof Kłopotowski in „Do Rzeczy“ (17. Oktober 2016).

Wajda konnte es nicht lassen. Nach der Premiere seiner Verfilmung (1973) eines der wichtigsten Dramen der polnischen Literatur, der „Hochzeit“ (1901) von Stanislaw Wyspiański, schrieb der Dichter und antikommunistische Dissident Antoni Słonimski resigniert: „Wyspiański träumte von einem freien Polen. Wyspiańskis Groll gegen die Polen der damaligen Zeit, den Schmerz, den er ihretwegen empfand, seinen beiβenden Spott, seine dichterische Abrechnung mit der eigenen Generation übertrug Wajda in die Sprache des Films. Oder besser gesagt, er übertrug es in Geschrei und Gestammel. Die Intellektuellen jener Zeit stellte er dar als eine Bande handlungsunfähiger Possenreiβer, denen in der dumpfen Verwirrung des Besäufnisses irgendwas in den Schädeln vorschwebte.“

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„Hochzeit“ (1973). Das weiβe Pferd, bei Wajda das Sinnbild für Polen, es verendet zu Tode geritten im Dreck…

Bei Wajda reitet Jasiek, der Bruder der Braut, im Auftrag des Hausherren, auf einem weiβen Pferd hinaus. Er soll die Bauern zum Aufstand gegen die Fremdherrschaft aufrufen, sich Gehör verschaffen mit einem goldenen Zauberhorn, das der legendäre Wanderprophet und Drehleierspieler Wernyhora gebracht hat. Jasiek jedoch verliert das Horn. Das weiβe Pferd, bei Wajda das Sinnbild für Polen, es verendet, von Jasiek zu Tode geritten im Dreck…

Wajda lebte seine nationalen Minderwertigkeitskomplexe bis zum Exzess aus. Das polnische Freiheitsstreben war bei ihm nur sinnlos, chaotisch, vergeblich, destruktiv, falsch geplant, absurd, anmaβend. Doch wie er es darzustellen verstand! Die besten Schauspieler mit Leib und Seele dabei. Die Schicksale beeindruckend, herzzerreiβend, tragisch. Die Bilder bewegend und einprägsam.

Doch das Eindreschen macht müde, und so gönnte sich Wajda immer wieder mal eine Auszeit, lieβ ab vom „polnischen Wahnsinn“. Dann drehte er schöne Streifen, wie „Die Schattenlinie“ (1976) nach dem gleichnamigen Roman von Joseph Conrad, „Die Mädchen von Wilko“ (1979) nach einer Erzählung von Jarosław Iwaszkiewicz oder „Der Dirigent“ (1980), in dem er die Hauptrolle John Gielgud, einem der herausragendsten englischen Theaterdarsteller des 20. Jahrhunderts anvertraute. Mit „Das gelobte Land“ (1975), einer Verfilmung des Romans von Władysław Reymont, schuf er sein mit Abstand bestes Filmwerk.

Solidarność mon amour

Im August 1980 erlebten Wajda, und mit ihm ein Teil der selbsternannten „aufgeklärten Elite“, die bisher für den „robol“ (eine verächtliche Ableitung von „robotnik“ – der Arbeiter) nur Geringschätzung übrig hatten, eine Art Erleuchtung, Verzauberung, gar Entzückung. Unter dem Eindruck der Massenstreiks an der polnischen Küste, und vor allem in der Danziger Werft, entbrannte Wajdas Liebe zu Solidarność. Der zum friedlichen Protest erwachten Arbeiterklasse empfahl sich der Regisseur mit seinem Film „Der Mann aus Marmor“ (1977), einer Abrechnung mit dem polnischen Stalinismus, die ihm das damalige Regime, in einem Augenblick der Unschlüssigkeit der Filmaufseher, zu drehen erlaubte.

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„Der Mann aus Hoffnung“ (2013). Wajda versucht die Figur Wałęsa wieder auf ihren einstigen Sockel zu hieven. Hier mit Wałęsa-Darsteller Robert Więckiewicz.

Im Jahr 1980 steckte sich Wajda kurzerhand das Solidarność-Abzeichen an sein Revers und verkündete, für Lech Wałęsa könne er ebenso Filme machen, wie auch dessen Chauffeur sein. Das meinte er ernst. Gut dreiβig Jahre später unternahm Wajda den filmischen Versuch, die durch beharrliche Selbsentblöβung zur Witzgestalt verkommene Figur Wałęsa wieder auf seinen einstigen Sockel zu hieven.

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Nicht einmal Wajda konnte auf Dauer das Renommee Lech Wałesas retten, einer inzwischen nur traurigen Figur, die keiner Peinlichkeit aus dem Weg geht.

Auf der Leinwand bekamen die Polen „Den Mann aus Hoffnung“ (2013) zu sehen, eine überzuckerte Geschichte vom einfachen Werftarbeiter, der im Alleingang den Kommunismus zu Fall brachte. In ihrer Erinnerung hatten sie zu diesem Zeitpunkt aber bereits Wałęsas katastrophale Präsidentschaft (1990 bis 1995) und seine, fast täglich in den Medien erscheinenden, grotesken, prahlerischen Darbietungen, die Berichte über seine Mitarbeit bei der Stasi und über eine Geldgier, die ihn vor den peinlichsten Auftritten nicht Halt machen ließ.

Nicht einmal ein Andrzej Wajda konnte auf Dauer das Renommee eines Lech Wałesa retten, der sich im Mai 2009 für fünfzigtausend Euro als Redner beim Römischen Kongress der EU-feindlichen Partei Libertas „einkaufen“ ließ und gleichzeitig den polnischen Nationalkonservativen ihre angebliche EU-Feindschaft zum Vorwurf machte.

In der bewegten Zeit der ersten Solidarność (August 1980 – Dezember 1981) drehte Wajda den „Mann aus Eisen“ eine Spielfilm-Hommage an die unabhängige Gewerkschaft. Premiere war im Juli 1981, gut vier Monate vor der Verhängung des Kriegsrechts und dem Verbot der Solidarność am 13. Dezember 1981 durch General Jaruzelski.

Comeback nach Zitterpartie

„Wenige Tage später erschien Andrzej Wajda im Arbeitszimmer des damaligen Kulturministers Józef Tejchma“, berichtete Jahre danach der Abteilungsleiter im Ministerium, Jerzy Bednarz, der bei dem Gespräch zugegen war. Etwa zehntausend Solidarność-Aktivisten waren interniert, das Ausnahmerecht mit Polizeistunde, Verhaftungswellen, Hausdurchsuchungen, Panzern und Militärposten auf den Straβen, der Schlieβung der Grenzen, das alles lag wie Blei auf dem Land.

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Wajdas Liebe zu Solidarność kühlte nach Verhängung des Kriegsrechts im Dezember 1981 deutlich ab. Die Gefängnisse waren voll, der Meister schwieg in Paris als Dank, dass ihn das Regime ausreisen lieβ.

Doch Solidarność-Fan Wajda kam nicht um zu protestieren. Der Unbeugsame „zitterte am ganzen Körper, verrenkte sich gleichzeitig zu immer neuen Verbeugungen, sah dem Minister tief in die Augen und bat inständig, der Ressortchef möge für ihn ein gutes Wort bei Innenminister Kiszczak einlegen.“ Nur Kiszczak konnte in den ersten Tagen des Kriegsrechts  verfügen, dass man Wajda einen Reisepass aushändigt. Der Meister wollte nach Paris, um an dem Film „Danton“ zu arbeiten.

Er bekam das kostbare Dokument. Als Gegenleistung schwieg Wajda einige Jahre lang eisern zur innenpolitischen Situation und der Menschenrechtslage in seinem Land, drehte wenig. Die Zeit zwischen 1982 und 1990 war zweifelsohne die unfruchtbarste in seiner Karriere.

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Mai 1989. Solidarność-Senatskandidat Wajda. Wahlplakat mit Chef.

Mitte 1989 wurde Solidarność wieder zugelassen und der begeisterte Andrzej Wajda engagierte sich für sie, als wäre nichts gewesen. Er kandidierte für die um Solidarność vereinigte Opposition für den Senat, die obere Kammer des Parlaments. Am wichtigsten jedoch war Wajdas Annäherung an Adam Michnik, seit 1989 der Guru und oberster Autoritätsverleiher in der selbsternannten polnischen „aufgeklärten Elite“.

Im Kampf gegen Dunkelpolen

Wajda widerfuhr das Schicksal der Antigone. Er hat seinen Vater nicht bestatten können. Hauptmann Jakub Wajda war 1939 in Ostpolen in sowjetische Gefangenschaft geraten. Im Frühjahr 1940 hatten ihn die Sowjets, nicht in Katyń bei Smolensk, sondern (im Rahmen derselben Massenmordaktion – insgesamt gut 24.000 getötete polnische Offiziere) in Charkow mit einem Genickschuss umgebracht.

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Andrzej Wajda (rechts, als Junge) mit Eltern. Hauptmann Jakub Wajda haben Sowjets im Frühjahr 1940 ermordet.

Wie Hamlet wusste Wajda wer die Mörder waren, doch rächen konnte er seinen Vater nicht. Mehr noch, nur durch den permanenten Kotau vor dem kommunistischen System, das seinen Vater in den Tod geschickt hatte, konnte er seine künstlerischen Fähigkeiten entfalten. Wajda tat es. Er wollte nicht so enden wie Maciek Chełmicki aus „Asche und Diamant“.

Das Russland-Fürchten und das Russland-Lieben-Wollen verknüpften sich bei ihm zu einer Obsession. In der Wajda-Verfilmung des Nationalepos „Pan Tadeusz“ von Adam Mickiewicz (1999) ziehen die Polen an der Seite Napoleons schneidig in den Krieg gegen Russland und der weise Jude Jankiel schüttelt nur traurig den Kopf.

In „Zwischen Feuer und Asche“ (1965), einem Monumentalfilm, der auf dem gleichnamigen Roman von Stefan Żeromski basiert, stellen sich die Polen massenhaft auf die Seite Napoleons, in der Hoffnung er werde ihrem dreigeteilten Vaterland die Unabhängigkeit schenken. Doch sie werden in Spanien und auf Santo Domingo in Mittelamerika verheizt oder kehren, wie Rafał Olbromski, erblindet und in Stroh eingewickelt aus der eisigen Kälte Russlands zurück. „Genug der Träumereien”.

Die zwanzig Jahre (1918-1939) polnischer Unabhängigkeit endeten in einem Desaster, das Wajda psychisch nie überwunden hat. Am Ende seines von Vorsicht, vom Lavieren, Abwägen und Abwarten geprägten Lebens musste der Regisseur 2005-2010 erleben wie zwei polnische Politiker, die Brüder Lech und Jarosław Kaczyński, begannen, Marschall Piłsudski gleich, mit den Partnern Polens auf gleicher Augenhöhe zu sprechen. Er war überzeugt, das endet wieder mit einer Katastrophe und er reagierte wie eine Furie.

Für Adam Michnik, dessen „Gazeta Wyborcza“ unermüdlich den Kampf gegen „Dunkelpolen“ organisiert und anheizt, war Wajda ein politisch äuβerst wertvoller Verbündeter. Seine Stimme hatte Gewicht, und das warf der Regisseur nun uneingeschränkt in Adam Michniks Waagschale.

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Im Jahr 2000 bekam Wajda den Oscar für sein Lebenswerk. Briefmarke der Polnischen Post aus diesem Anlass.

Keine Spur mehr von der einstigen Zurückhaltung. „Wajda“, so Janusz Wróblewski in der „Polityka“ (19. Oktober 2016) „unterschrieb nun pausenlos Proteste und Appelle gegen: die Rückkehr des Religionsunterrichts in die Schulen und gegen die „braune Gefahr“, die Polen in die Fänge der Inkompetenz, des Antisemitismus, der Fremdenfeindlichkeit, der Homophobie treibt“. An diese Apokalypse glaubte Wajda wirklich.

Ministerpräsident Jarosław Kaczyńskis Partei Recht und Gerechtigkeit verlor bereits 2007 die Wahlen. Sein Nachfolger Donald Tusk war Wajdas Liebling. 2010 kam Staatpräsident Lech Kaczyński ausgerechnet bei Smolensk, auf dem Weg zu den Katyń-Feierlichkeiten, durch einen Flugzeugabsturz ums Leben.

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Satt um Staatspräsident Lech Kaczyński und die anderen 95 Opfer der Smolensk-Flugzeugkatastrophe, lieber um die gefallenen Sowjets trauern. Gesagt getan: April 2010, Wajda auf einem Rotarmistenfriedhof.

Der verblendete Wajda fegte alle Hemmungen beiseite. Schon am dritten Tag nach der Tragödie, die die Nation in eine Schockstarre versetzt hatte, protestierten er und seine Ehefrau öffentlich gegen die Bestattung des Präsidentenpaares auf dem Wawel in Kraków. Anstatt um die 96 Opfer des Flugzeugabsturzes zu trauern, so ihr Aufruf, sollten sich die Polen lieber auf die sowjetrussischen Soldatenfriedhöfe begeben, ihrer „Befreier“ gedenken und so die polnisch-russische Freundschaft pflegen.

Der Tod eines gekränkten

Der alte Herr verwandelte sich in einen ruhelosen Polit-Aktivisten, teilte unbarmherzig aus, doch, wie so oft, war das Einstecken nicht seine Stärke. Zugleich verlor Wajda zunehmend den Bezug zur polnischen Realität. Seine Hysterie steigerte sich ins Unermessliche. Nach dem Tod Lech Kaczyńskis, während des vorgezogenen Präsidentschaftswahlkampfes (Bronisław Komorowski gegen Jarosław Kaczyński) im Juni 2010, verkündete er allen Ernstes im Fernsehen, Polen befinde sich bereits in einem Bürgerkrieg. Fünf Jahre später, im Mai 2015, bei der Bekanntgabe des Wahlsieges von Andrzej Duda erfasste ihn und seine Frau blankes Entsetzten, was auf einem Foto festgehalten wurde.

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Blankes Entsetzten. Wajda mit Ehefrau am 24. Mai 2015 bei der Verkündung des Wahlsieges des nationalkonservativen Präsidentschaftskandidaten Andrzej Duda.

Andrzej Wajda starb als ein Gekränkter. Er, die Verkörperung der an grenzenloser Überheblichkeit krankenden „aufgeklärten Elite“, hatte es nicht geschafft seinen albernen und törichten Polen Vernunft beizubringen, wo er doch am besten wusste, was für sie gut ist. Ein fähiger Regisseur hat sich übernommen. Seine Belehrungen und Unkenrufe sind verstummt, seine Filme sind geblieben. Die meisten möchte man nicht missen.

Andrzej Wajda fand seine letzte Ruhestätte im Familiengrab auf dem Salwator-Friedhof in Kraków.

© RdP