Migranten attackieren Polens katholische Gewissen

Nicht jeder ist ein Gast.

Wie sollen Katholiken mit den Geschehnissen an der polnischen Ostgrenze umgehen? Steht die Empfindsamkeit des Herzens der Vernunft des Handelns im Wege? Soll man jenen helfen, die sich den Eintritt in unser Haus mit Gewalt verschaffen? Wie kann man helfen, ohne die Gesetze zu brechen?

Auf diese und viele andere Fragen geht ein hoher katholischer Geistlicher ein, der sein seelsorgerisches Amt unmittelbar am Ort des Geschehens versieht.

Erzbischof Józef Jan Guzdek.

Erzbischof Józef Jan Guzdek,

ist Jahrgang 1956 und Doktor der theologischen Wissenschaften. Er wurde 1981 zum Priester geweiht und empfing 2004 das bischöfliche Sakrament. Guzdek war Weihbischof der Erzdiözese Krakau und ist seit 2010 Militärbischof der polnischen Armee. In dieser Eigenschaft wurde er 2015 zum Brigadegeneral befördert. Im Juli 2021 ernannte ihn Papst Franziskus zum Erzbischof von Białystok.

Erzbischof Józef Jan Guzdek in seiner Eigenschaft als Militärbischof der polnischen Armee.

Die östliche Grenze der Diözese Białystok stimmt auf einer Länge von etwa 200 Kilometern mit dem Verlauf der polnisch-weißrussischen Grenze überein. Guzdek soll nach dem Willen des Papstes das Amt als Militärbischof bis zur Ernennung eines Nachfolgers weiterbekleiden.

Kürzlich haben Sie in einer Ihrer Predigten gesagt, dass Migranten, die versuchen, unsere Ostgrenze zu überqueren, auf verantwortungsvolle Weise geholfen werden sollte. Welche Art von Hilfe haben Sie gemeint?

Diözese Białystok

Ein Christ, der einen Menschen in Not sieht, sollte nicht nach dessen Herkunft, Wohnort oder Zugehörigkeit zu einer Religionsgemeinschaft fragen. Gemäß dem Geist des Evangeliums ist er verpflichtet, ihn als Nächsten zu sehen, an dem man nicht einfach vorbeigehen darf und der versorgt werden muss.

Allerdings muss jeder karitativen Hilfe eine Abwägung vorausgehen, was der in Not geratene Mensch braucht: Eine einmalige, vorübergehende Unterstützung oder eine langfristig angelegte Hilfe? Außerdem ist es wichtig, solche Menschen, wo immer möglich, dazu anspornen, selbst zurechtzukommen.

In jüngster Zeit sehen wir, wie notwendig es ist, Flüchtlingen und Migranten zu helfen, die nach dem Überqueren der polnisch-weißrussischen Grenze in Wäldern kampieren und dort vor allem durch Erschöpfung, Unterernährung, niedrige Temperaturen und manchmal durch Krankheiten dem Tod ausgesetzt sind. Die Botschaft des Gleichnisses vom barmherzigen Samariter besteht darin, die Empfindsamkeit des Herzens mit der Vernunft des Handelns, mit Sachverstand und einer gewissen Ordnung zu verbinden.

Deswegen ist es wichtig, an dieser Stelle den Rat des Apostels Paulus anzuführen: „Wer aber für seine Verwandten, besonders für die eigenen Hausgenossen, nicht sorgt, der verleugnet damit den Glauben und ist schlimmer als ein Ungläubiger“ (1. Timotheus 5,8). Einen ähnlichen Hinweis gab seinerzeit der Primas von Polen Stefan Kardinal Wyszyński (1901-1981 – Anm. RdP), der seit dem 12. September 2021 zum Kreis der Seligen gehört. Man solle zuerst an die „Pflichten gegenüber den Kindern der eigenen Nation“ denken und erst dann anderen Völkern helfen.

Viele Katholiken fragen sich, was sie in der gegenwärtigen Situation tun sollen. Die Grenze für Migranten öffnen oder sie schließen und niemanden hineinlassen? Und wenn doch jemand durchkommt, sollen wir ihm helfen oder die staatlichen Stellen informieren?

Migranten, die die Grenze illegal überquert haben, müssen unbedingt die notwendige Unterstützung erhalten: Lebensmittel, warme Kleidung, Gelegenheit zum Aufwärmen. Das darf jedoch nicht zu Rechtsverstößen führen, zum Beispiel zur Beförderung von Migranten ins Landesinnere oder in ein anderes Land. Migranten, die in unserem Land Schutz und Betreuung benötigen, müssen die für solche Fälle vorgesehene Rechtsordnung respektieren und entsprechende Verfahren durchlaufen. Es gibt Möglichkeiten, einen ordnungsgemäßen Asylantrag zu stellen.

Es ist nicht die Aufgabe eines barmherzigen Menschen, die Motive eines illegalen Migranten zu beurteilen. Ob es sich um einen Menschen handelt, der ein besseres Leben sucht, oder um jemanden, der Verbrechen begangen hat und vor der Justiz flieht. Jemand der hilft ist auch nicht in der Lage zu erkennen, ob der Ankömmling in mafiöse oder terroristische Aktivitäten verwickelt ist. Dafür sind entsprechende staatliche Stellen da. Sie müssen jeden überprüfen, der über die grüne Grenze gekommen ist.

Polen ist für seine Gastfreundschaft bekannt. Aber bezeichnen wir jemanden, der im Schutze der Dunkelheit oft unter Anwendung von brutaler Gewalt in unser Haus einbricht, als einen Gast? Jeder, der bei klarem Verstand ist, denkt darüber nach, wie er sein Haus sichern kann, damit ein Einbruch oder Überfall nicht vorkommt.

Allein in den letzten Jahren haben Hunderttausende von Ukrainern in Polen Zuflucht und Arbeit gefunden. Im letzten und in diesem Jahr kamen mehr als 30.000 Menschen aus Weißrussland. Sie sind mit offenem Herzen aufgenommen worden.

Doch verdienen diejenigen, die illegal und sogar gewaltsam in unser Land eindringen, dazu unsere Soldaten, Grenzschutzbeamten und Polizisten angreifen, einen gastfreundlichen Empfang? Emotionale Erpressung ist besonders unehrlich. Vor allem die Verwendung von Zitaten aus dem Evangelium durch radikale Aktivisten, die oft selbst Gewalt anwenden und nichts mit dem Dekalog, mit den Leitlinien des Evangeliums zu tun haben wollen.

Einige Migranten schaffen es über die Grenze und verstecken sich in den Wäldern. Sie haben oft nichts zu essen. Humanitäre Organisationen versuchen, ihnen zu helfen. Andererseits gibt es die Meinung, dass wir auf diese Weise andere dazu ermutigen, die Grenze zu überwinden. Wie stehen Sie zu dieser Frage?

Bei Treffen mit der Leitung der Caritas Polska und der Caritas der Erzdiözese Białystok haben wir betont, dass Hilfe nicht unter Verletzung der Gesetze geleistet werden darf.

Als Metropolit der Erzdiözese Białystok, die an der polnisch-weißrussischen Grenze liegt, kann ich reinen Herzens bezeugen, dass die Pfarrgemeinden, mit denen ich in ständigem Kontakt stehe, die Prüfung der christlichen Empfindsamkeit bestehen und den bedürftigen Migranten, wo sie nur können, helfen.

Meine Diözese sieht Migranten als Mitmenschen und eilt ihnen zu Hilfe. In den „Zelten der Hoffnung“ gibt es das Nötigste für erschöpfte, frierende und schwache Ankömmlinge. Jeder, der glaubt, eine solche Person treffen zu können, kann hier ein Hilfspaket bekommen. Es ist jedoch kaum anzunehmen, dass die Migranten von sich aus an solche Orte kommen werden. Sie versuchen, die Grenzdörfer und -städte zu meiden und unbemerkt ihr Ziel zu erreichen, das in der Regel Deutschland ist.

Es liegt in seiner eigenen Verantwortung, wie sich der Bewohner eines Grenzgebiets verhält, wenn er auf Migranten trifft, und ob er die staatlichen Stellen informiert oder nicht. Es ist richtig, dass wir auch für die Sicherheit der Europäischen Union verantwortlich sind, der wir angehören. Ich bin überrascht über Aussagen wie: „Gib ihnen zu essen, gib ihnen zu trinken und lass sie dann ihren Weg gehen… nach Deutschland“. Sollen wir etwa die Sicherheit eines Nachbarlandes außer Acht lassen?

Sie haben sich mit Priestern von Kirchengemeinden im Grenzgebiet getroffen. Wie beurteilen sie die Situation? Wie ist die Stimmung unter den Menschen, die in der Nähe der Grenze leben?

Ich war in der Grenzregion und habe mehrere Berichte von Geistlichen erhalten, und ich möchte noch einmal betonen, dass mich die Haltung der Pfarrer und Gemeindemitglieder der Grenzdörfer ermutigt. Seit August dieses Jahres teilen sie das, was sie haben, mit Migranten in Not. Die Caritas Polska und die Erzdiözese Bialystok haben außerdem weitere Lebensmittel- und Kleidungslieferungen bereitgestellt, als dies notwendig war, um einer größeren Gruppe, die den Weg nach Polen gefunden hat, zu helfen. Darüber hinaus sollen die ständig vor Ort anwesenden Caritas-Vertreter den aktuellen Bedarf ermitteln.

Die Gemeindepfarrer erwähnten auch eine gewisse Angst unter Menschen, die abgeschieden leben. Sie berichteten davon, dass Lebensmittel aus Wohnungen entwendet und Autos aufgebrochen wurden. Sie betonten auch, dass sich die Einwohner inzwischen, dank der Anwesenheit von Soldaten und Beamten, sicher fühlen.

Sie sagten, Herr Erzbischof, dass viele Bewohner der Grenzgebiete Fragen zu den Motiven und dem Verhalten der Migranten , die an der polnisch-weißrussischen Grenze auftauchen, stellen.

Die jüngsten Ereignisse an der Grenze, bei denen sich nicht wenige Migranten aggressiv gegenüber Beamten und Soldaten verhielten, haben zur Polarisierung der Einstellung gegenüber diesen Menschen beigetragen. Viele fragen sich, ob es wirklich so ist, dass sie in die Europäische Union kommen wollen, um unter Wahrung der europäischen Kultur und Sitten zu leben und zu arbeiten.

Die Gläubigen wollen den Bedürftigen helfen. Gleichzeitig wird das Bild des armen, hilfsbedürftigen Migranten oft mit teuren Handys und Designerkleidung sowie aggressiven, wütenden Verhaltensweisen, die sie an den Tag legen, in Verbindung gebracht. Das dämpft den Eifer.

Auch die Absichten mancher Politiker, Promis und Aktivisten, die ihre Hilfsbereitschaft kundtun, wirken zweifelhaft. Es stellt sich die Frage, ob sie wirklich diejenigen unterstützen wollen, die Hilfe brauchen. Oder vielleicht benutzen diese Menschen sie nur dazu, um sich in den Medien darzustellen?

Sie trafen sich mit Soldaten, den Beamten des Grenzschutzes und der Polizei, die die Grenze bewachen und Angriffe von Migranten abwehren. Wie beurteilen Sie die Haltung, den Zustand und die Moral dieser Menschen?

Ich beobachte das Engagement und eine bewundernswerte Gelassenheit der Beamten und Soldaten. Sie müssen auf Gewalt mit Gewalt reagieren, aber sie tun es stets angemessen zur Bedrohung. In anderen Ländern hätten die Ordnungskräfte auf solche gewalttätigen Angriffe mit mehr Nachdruck reagiert.

Wir dürfen jedoch nicht vergessen, dass die Beamten, die die Grenze verteidigen, nicht aus Stahl sind. Die andauernde Anspannung erschöpft sie körperlich und geistig. Für manche sind die bösartigen Unterstellungen, die verächtlichen Äußerungen einiger Prominenter und Politiker, die abschätzigen Kommentare von Journalisten eine zusätzliche psychologische Belastung. Sie zielen darauf ab, die Moral der Soldaten und Offiziere zu schwächen.

Aktivisten, Promis und Oppositionspolitiker haben sie öffentlich mit SS-Bewachern von KZs, mit Wachleuten an der Berliner Mauer verglichen. Sie wurden von ihnen als „Abschaum“, „Müll“, „Hunderudel“, als „herz- und gehirnlose Maschinen“ bezeichnet.

Deshalb ist es so wichtig, den Menschen in Uniform Wohlwollen und Herzlichkeit entgegenzubringen.

Werden Soldaten, die an der Grenze zu Weißrussland Dienst tun, von Seelsorgern unterstützt?

Die Soldaten wurden von verschiedenen Einheiten aus dem Landesinneren, in denen Seelsorger Dienst tun, an die Grenze geschickt. Ihre Pfarrer besuchen sie vor Ort,  sprechen mit ihnen und feiern, bei günstigen Umständen, mit ihnen die Heilige Messe. Da die Geistlichen die Soldaten und Beamten kennen und diese ihnen vertrauen, können sie deren Moral heben und sie psychisch aufbauen. Unter den Grenzschutzbeamten befindet sich auch ein Kaplan der Grenzschutzabteilung Podlachien, der in meiner Diözese dient. Mehrere Seelsorger bleiben über längere Zeit bei den Soldaten und Beamten an verschiedenen Orten, um sie geistig und psychologisch zu begleiten

Wie können wir den Soldaten und Beamten helfen, die unsere Grenze verteidigen?

Sie brauchen unser Wohlwollen, unsere moralische Unterstützung und vor allem unser Gebet. In den Garnisonkirchen werden beim gemeinsamen Gebet zwei Anrufungen hinzugefügt: eine für die Migranten und eine für die Soldaten und Beamten, die an der Ostgrenze Dienst tun.

Die Bewohner der Grenzregion bringen ihnen viel Dankbarkeit entgegen. Obwohl Soldaten und Beamte gut verpflegt werden, fällt es schwer, nicht gerührt zu sein, wenn ältere Menschen mit heißem Tee, Kaffee, Butterbroten und einem Stück Kuchen, aus den umliegenden Häusern zu ihnen zur Grenze kommen.

Ich hoffe, dass nicht nur die bevorstehenden Weihnachtsfeiertage eine gute Gelegenheit sein werden, all jenen zu danken, die die Grenzen unseres Landes verteidigen.

Das Gespräch erschien im katholischen Wochenmagazin „Gość Niedzielny“ („Der Sonntagsgast“) vom 28.11.2021.

RdP