Hirte der Triebe
Am 15. November 2019 starb Erzbischof Juliusz Paetz.
Scham hindert Schande, doch Scham ist eine Tugend, die ihm offensichtlich nicht eigen war. Als wäre nichts gewesen, hat Erzbischof Juliusz Paetz seine Kirche und die katholische Öffentlichkeit in Polen lange Jahre hindurch in einen Zustand peinlicher Berührtheit versetzt. Er beherrschte hervorragend die Kunst der Verdrängung, seine zügellosen homosexuellen Triebe vermochte er jedoch nicht zu bändigen.
Im Schatten alter, wiet ausladender Baumkronen erstreckt sich auf der Dominsel von Poznań die Wiege des christlichen Polens. Hier stand die Fürstenpfalz Mieszko I., der 966 sich, und damit ganz Polen, taufen lieβ. Hier befand sich seine Kapelle, das erste christliche Gotteshaus auf polnischem Boden. Hier soll er beigesetzt worden sein. Pietät, Würde und Anstand sind an diesem historischen Ort keineswegs fehl am Platze.
Kaum einen Steinwurf von der Kathedrale entfernt, erhebt sich heute auf der Dominsel der Bischofspalast. An ihn angeschlossen ist das Gebäude der Diözesankurie. Unweit davon befindet sich die Kirche der Allerheiligsten Jungfrau Maria, das älteste gotische Gotteshaus der Stadt. Daneben das Diözesanmuseum in der einstigen Lubranski-Akademie, der ersten Hochschule Poznańs vom Anfang des 16. Jahrhunderts. Zum etwa zweihundert Meter entfernten Erzbischöflichen Priesterseminar gelangt man durch eine Unterführung, die die benachbarte Schnellstraβe unterquert.
„Roma“ rückwärts lesen
Erzbischof Paetz schaute hier des Öfteren unangemeldet vorbei und nahm stets am liebsten die Schlafsäle der Priesteranwärter in Augenschein. Nach mehreren peinlichen Vorfällen verbot der Rektor Dr. Tadeusz Karkosz (er starb 2015) dem Erzbischof, das Seminar ohne Vorankündigung zu betreten. Normalerweise wären danach die Tage eines Priesters im Amt des Rektors gezählt. Doch nichts geschah. Hat das schlechte Gewissen Gutes bewirkt oder lieβ der Hierarch nur Vorsicht walten?
Wie auch immer es gewesen sein mag, wahr ist, dass er, je älter er wurde, sich umso weniger im Griff hatte. Pädophilie konnte man ihm nicht vorwerfen, denn nicht Kinder, sondern junge Männer trafen seinen Geschmack. Kein Priesteranwärter war sicher vor seinen Avancen, Umarmungen, Zudringlichkeiten, vieldeutigen Anspielungen, Anzüglichkeiten. Angeboten, sich mal abends zu treffen. „Lustigen“ Geschenken, wie rote Schlüpfer mit der Aufschrift „Roma“ und dem Hinweis, das Wort rückwärts zu lesen.
Es ist die Norm, dass etwa ein Drittel der Priesteranwärter das Seminar vorzeitig verlässt. Die Anforderungen sind für sie zu hoch, der Glaube nicht ausreichend gefestigt, weltliche Verlockungen zu groβ. Wie viele sind nur seinetwegen gegangen, wie viele haben sich missbrauchen lassen?
Vielen graute es vor den Vieraugengesprächen mit dem Erzbischof. Jeder Seminarist muss ein solches Gespräch, Scrutinum genannt, dreimal während seiner Ausbildung absolvieren. Verhaltensregeln wurden unter der Hand weitergegeben. Bei der Begrüβung, die Hand so steif wie möglich geben und sie sofort zurückziehen. Blickkontakt meiden. Sich bei zweideutigen Bemerkungen, Anspielungen dumm stellen usw.
Auch wenn manches Detail von kirchenfeindlichen Medien erfunden oder aufgebauscht sein könnte, das meiste, leider, sind verbriefte Tatsachen.
All das spielte sich im letzten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts ab. Als Juliusz Paetz im April 1996 das prestigeträchtige Amt des Metropoliten von Poznań übernahm, blickte er bereits, mit 61 Jahren, auf einen ereignis- und erfolgreichen Werdegang im Dienste der Kirche zurück.
Der Bamberger
Er kam 1935 in Poznań zur Welt, in einer Familie der sogenannten Posener Bamberger. Zu Beginn des 18. Jahrhunderts hatten der Groβe Nordische Krieg und nachfolgende Seuchen die ländliche Bevölkerung in der Umgebung von Poznań dezimiert. Felder lagen brach. Ratsherren beschlossen, katholische Siedler aus der Umgebung von Bamberg in Oberfranken zu holen und ihnen den Ackerbau anzuvertrauen. Zwischen 1719 und 1753 wurden insgesamt etwa einhundert Familien mit fünfhundert Mitgliedern angesiedelt.
Die Bamberger pflegten zwar weiterhin ihren eigenen Lebensstil und behielten bis heute ihre Festtrachten, polonisierten sich jedoch vollends und waren loyale Staatsbürger seit der Wiedergründung des polnischen Staates 1918, nach 123 Jahren der Teilungen. Unter der deutschen Besatzung im Zweiten Weltkrieg weigerten sie sich zumeist, die Deutsche Volksliste zu unterschreiben. Viele wurden deswegen enteignet, brutal schikaniert, oft in Konzentrationslager verschleppt.
Nicht anders erging es Juliusz‘ Vater, einem Metzger, der am Rande der Stadt einen kleinen Schlachthof und eine Fleischerei betrieb. Der Junge war neun, als im Februar 1945 der Krieg mit schweren Kämpfen der Sowjets um die Stadt und enormen Zerstörungen in Poznań zu Ende ging.
Die vier Söhne des Metzgermeisters Paetz haben es im Leben zu was gebracht. Juliusz zum Erzbischof, die anderen sind heute gut situiert und bestens eingebunden in die städtische Elite. Einer als Arzt, der zweite als Notar und der dritte als Rechtsanwalt. Dieser Umstand hat sich für Erzbischof Paetz als sehr nützlich erwiesen, als es eng für ihn wurde. Die Elite der Stadt hielt ihm die Treue.
Mit vierzehn kam Juliusz auf das vierjährige Kleine Seminar in Poznań. Es gab damals in Polen fast fünfzig solcher katholischen Schulen mit Internat für Knaben, die später Priester werden wollten. Viele mit langer Tradition. Im Nachkriegspolen waren sie den Kommunisten ein Dorn im Auge. Sie entzogen Jugendliche der kommunistischen Staatserziehung, beeinflussten sie „feindlich“. Zwischen 1952 und 1962 schlossen die Behörden alle Kleinen Seminare. In Poznań geschah das 1960.
Poznań, Lublin, Rom
Zu der Zeit war Juliusz Paetz bereits seit einem Jahr Priester. Dem vorausgegangen war ein fünfjähriges Lernen am Erzbischöflichen Priesterseminar auf der Posener Dominsel. Nur zwei Jahre lang war er anschließend als Vikar an zwei Posener Gemeinden tätig. Dann schickte ihn der damalige Erzbischof von Poznań zum Theologiestudium an die Katholische Universität Lublin, bis 1990 die einzige katholische Universität im ganzen kommunistischen Machtbereich zwischen Elbe und Pjöngjang in Nordkorea. Von Polens Kommunisten schwer drangsaliert, stand sie oft kurz vor der Schlieβung, aber sie überdauerte.
Weitere zwei Jahre vergingen und Pfarrer Juliusz Paetz konnte ab 1962 das Studium in Rom an den Päpstlichen Universitäten Gregoriana und Heiliger Thomas von Aquin fortsetzen. Er durfte sich deswegen ausgesprochen glücklich schätzen.
Denn auch der einst als liberal und reformfreudig geltende Parteichef Władysław Gomułka, den bei seinem Machtantritt 1956 ganz Polen bejubelt hatte, begann nämlich ab Ende der 50er-Jahre, die Kirche, die einzige noch verbliebene unabhängige Institution in Polen, heftig zu bekämpfen. Die kurze „Verschnaufpause“ zwischen 1956 und 1958 war vorbei. Die Schlieβung der noch verbliebenen Kleinen Seminare, die Verbannung des Religionsunterrichts aus den Schulen, das massenweise Abhängen von Kreuzen in öffentlichen Gebäuden, die strikte Nichterteilung von Baugenehmigungen für Kirchen, während die Städte sprunghaft wuchsen, das waren nur einige der vielen Symptome des neuen Kirchenkampfes der Kommunisten.
Dazu gehörte aber auch die drastische Einschränkung der, ohnehin nie üppigen, Ausgabe von Auslandspässen an Priester. Sogar dem Primas von Polen, Kardinal Stefan Wyszyński, verweigerten die Behörden einige Male die Reise nach Rom. Wem oder welchen Umständen verdankte ausgerechnet Pfarrer Paetz in dieser schweren Zeit die Gunst der Kommunisten? Wir wissen es nicht.
Nach dem Studium blieb Paetz in Rom. Zuerst arbeitete er neun Jahre lang im Generalsekretariat der Bischofssynode. Ab 1976 stand Paetz als einziger polnischer Prälat im päpstlichen Vorzimmer unmittelbar im Dienst der Päpste Paul VI., Johannes Paul I. und Johannes Paul II.
Er begrüβte Gäste und leistete denen Gesellschaft, die auf die Audienz beim Papst warteten. Es waren fast ausnahmslos Spitzenpolitiker aus der ganzen Welt, namhafte Künstler, Wissenschaftler, Sportler. Er begleitete Johannes Paul II. bei seinen ersten Auslandsreisen, auch als er zum ersten Mal als Papst im Juni 1979 Polen besuchte.
In jener Zeit nahm nachweislich die polnische Staatssicherheit Kontakt zu Paetz auf. Die wenigen Unterlagen hierzu, die die massenhafte Vernichtung der polnischen Stasi-Dokumente zwischen 1989 und 1990 überdauert haben, belegen, dass er 1978 als Quelle „Fermo“ registriert und bis 1980 abgeschöpft wurde. Knapp neunzig Prozent der Informationen, die „Fermo“ weitergab, stufte die Stasi damals als wichtig ein.
Paetz beteuerte später, er habe nie bewusst mit der Stasi zusammengearbeitet. Die Einstufung als Quelle und nicht als IM könnte dafür sprechen. Die polnischen Stasi-Leute agierten in Rom gut getarnt als Diplomaten, Mitarbeiter des Römischen Büros der Fluggesellschaft LOT, polnische Wissenschaftler-Stipendiaten an italienischen Universitäten usw. Es gab viele Kontakte zu polnischen Geistlichen im Vatikan. Einige von ihnen waren Stasi-Agenten, andere wiederum wurden abgeschöpft, ohne es zu wissen. War das so bei Paetz? Auch hier gibt es keine gesicherte Antwort.
Ins Abseits befördert?
Seine vatikanische Karriere endete 1983. Der polnische Papst Johannes Paul II. erteilte ihm die Bischofsweihe und machte Paetz zum Bischof in Łomża (fonetisch Lomscha), einer Provinzstadt mit sechzigtausend Einwohnern im Nordosten Polens. War das eine echte Beförderung oder nur eine Beförderung ins Abseits?
Völlig unerwartet, am 29. November 2019, knapp zehn Tage nach Erzbischof Paetz‘ Tod, äuβerte sich dazu Marcin Przeciszewski (fonetisch Pschetsischewski), der Leiter der polnischen Katholischen Nachrichtenagentur. Dies geschah während einer Podiumsdiskussion, bei einer öffentlichen katholischen Tagung in Wrocław.
„Erzbischof Paetz hatte eine wahrlich hohe Stellung im Vatikan inne und ging nach Łomża in die Verbannung. Das war ein grundlegender Fehler, weil seine (homosexuellen – Anm. RdP) Neigungen im Vatikan erkannt worden waren. Der Vatikan wollte ihn loswerden. Das war einer der Gründe für die Ernennung“, sagte Przeciszewski.
Mit auf dem Podium saβ Wojciech Polak, Erzbischof von Gniezno und Primas von Polen. Er reagierte nicht darauf, was als sehr vielsagend ausgelegt wurde.
Das Sich-Herantasten an die unangenehme Wahrheit dauerte damals, aus heutiger Sicht, lange. Für viele viel zu lange. Warum?
„Sünde verteidigen heiβt selber sündigen“ (Sprichwort)
Juliusz Paetz konnte ein umgänglicher, zuvorkommender Mensch und ein engagierter Seelenhirte sein. Ein Pfarrer aus Łomża berichtete der Zeitung „Rzeczpospolita“ („Republik“), die den Skandal 2002 öffentlich machte anonym:
„Er hat schnell die meisten Priester und Gläubigen für sich gewonnen. Er war höflich, freundlich, einfühlsam. Er besuchte unermüdlich Klöster und soziale Einrichtungen der Kirche. Er kam schon mal zu einem runden Pfarrergeburtstag, auch wenn er weitab von seinem Bischofspalast gefeiert wurde. Er fuhr zu Beerdigungen, wenn die Mutter oder der Vater eines Pfarrers gestorben war, führte Trauerzüge an. Übernahm ein Kaplan eine Pfarrei, führte Paetz ihn persönlich ein.“
Dieser gute Ruf eilte ihm voraus, als er 1996 das Bistum in Łomża verlieβ, um in Poznań Metropolit zu werden.
Dort schlug ihm damals eine allgemeine Begeisterung entgegen. Paetz war gebürtiger Posener, dazu noch ein Nachkomme der Posener Bamberger, durch seine Verwandten bestens vernetzt in der örtlichen Elite.
Diese Elite, angeführt von dem (2015 verstorbenen) Oligarchen und reichsten Mann Polens, Jan Kulczyk, hielt eisern zu ihm. Sie veröffentlichte einen offenen Brief, wenige Tage nachdem die Tageszeitung „Rzeczpospolita“ („Republik“) am 23. Februar 2002, in einem Bericht mit dem Titel „Sünde im erzbischöflichen Palais“, das Doppelleben des Erzbischofs öffentlich gemacht hatte.
„Angeklagt wurde ein Mensch, der allgemeine Hochachtung genieβt, dessen Verdienste um die Wissenschaft und Kultur in Poznań unbestritten sind. Er spielt eine wichtige Rolle im Leben unserer Stadt und Region. Er regt an und vereinigt viele Milieus im gestalterischen und fruchtbaren Handeln zum Allgemeinwohl der Menschen in Poznań und Groβpolen. Derweil erwecken Ton und Inhalte verschiedener Presse-, Rundfunk- und Fernsehberichte den Eindruck, als wären die Bezichtigungen zweifelsfrei bewiesen. Das muss unseren entschiedenen Widerspruch wecken“, hieβ es in dem Schreiben.
Unterschrieben hatten, neben Kulczyk, u. a. die Rektoren aller staatlichen Hochschulen in Poznań: der Universität, der Technischen Hochschule, der Wirtschaftsuniversität, der Musikhochschule, der Medizinischen Universität, der Hochschule für Landwirtschaft, der Kunsthochschule, dazu noch der Direktor der Oper u. e. m.
„Sumpfland-Midas“. Nachruf auf Jan Kulczyk ist hier zu lesen.
Da sind auch viele Gläubige, die es einfach nicht fassen konnten, dass ihr Hirte auf Irrwege geraten sein sollte. Bis heute weigern sie sich, die schwierige Wahrheit zur Kenntnis zu nehmen.
Da sind schlieβlich einige wichtige Kirchenhierarchen. Sie duckten sich, mieden den Zusammenstoβ mit ihrem – aufgrund seiner Popularität und seiner bewährten Kontakte im Vatikan – einflussreichen Amtsbruder. Trotz aller Beschwerden, Hinweise und Indizien. Hierzu gehören die drei Stellvertreter von Paetz (Weihbischöfe) und der damalige apostolische Nuntius (Vatikan-Botschafter) in Warschau, Bischof Józef Kowalczyk, der alle Versuche, die Sache nach Rom weiterzuleiten, blockiert hat.
Die Gerechten geben nicht auf
Den Blockierern gegenüber stand jedoch eine zunehmend gröβere Schar von Kirchenleuten, die den unzüchtigen Erzbischof endlich gebändigt sehen wollte. Zum einen aus moralischen Gründen, zum anderen, um die Kirche zu schützen, weil es nur eine Frage der Zeit war, bis seine Ausschweifungen öffentlich würden. Die Sache zog ja im innerkirchlichen Bereich schließlich immer weitere Kreise.
Einige hochrangige geistliche Posener Wissenschaftler sprachen Paetz unter vier Augen auf seine Neigungen an. Er war beherrscht, so hörte man hinterher, verhielt sich wie ein Diplomat. Zwar spülte er die Fakten weich, leugnete sie jedoch nicht. Auch der in den Posener Kirchenkreisen angesehene Ultrakonservative, Prof. Maciej Giertych, sprach bei Paetz vor. Alles vergebens. Die Klagen der Priesteranwärter wurden nicht weniger.
Anfang September 2001 schrieben einige hochrangige Geistliche einen Brief an die polnischen Bischöfe, die damals als Delegierte der Polnischen Bischofskonferenz zur Bischofssynode nach Rom reisen sollten. Zu den Unterzeichnern gehörten der Dekan der Theologischen Fakultät der Universität Poznań; Pfarrer Prof. Tomasz Więcławski, Pfarrer Dr. Jacek Stępczak, Chefredakteur des sehr populären örtlichen Diözesan-Wochenmagazins „Przewodnik Katolicki“ („Katholischer Leitfaden“); der Rektor des Erzbischöflichen Priesterseminars, Dr. Tadeusz Karkosz, und der führende, sehr angesehene örtliche Aktivist der Anti- Abtreibungsbewegung Paweł Wosicki. Ihr Fazit: „Der Diözesanbischof stelle durch sein Benehmen eine ernsthafte Gefahr für die Diözese dar.“
Daraufhin rief Erzbischof Paetz Anfang Oktober 2001 die vierzig Dekane der Diözese Poznań zu einer dringenden Sitzung ein. (Ein Dekan beaufsichtigt im Auftrag des Bischofs jeweils zehn Gemeinden). Er verlieβ die Versammlung nach einigen Minuten. Die drei Weihbischöfe baten die Anwesenden, eine Erklärung zugunsten des Erzbischofs zu unterzeichnen.
Sie sollte am nächsten Sonntag in allen Kirchen der Diözese verlesen werden. Zwei Tage später jedoch lieβ man die Unterzeichner wissen, die Erklärung werde nicht verlesen. Sie wurde in den Vatikan geschickt, sozusagen als eine Gegendarstellung zu dem Brief an die Delegierten zur Synode in Rom. Die Dekane fühlten sich hintergangen. Vier von ihnen legten ihr Amt nieder.
Als sich Chefredakteur Stępczak weigerte, die Erklärung im „Przewodnik Katolicki“ abzudrucken, feuerte ihn der Erzbischof kurzerhand und verbat ihm jegliche seelsorgerische Tätigkeit in der Diözese. Pfarrer Stępczak ging als Missionar nach Zambia.
Im Verlauf des Oktober sowie November 2001 schrieben weitere besorgte Kirchenleute und katholische Intellektuelle Briefe an Nuntius Stanisław Kowalczyk in Warschau mit der Bitte, die Angelegenheit an den Papst weiterzuleiten. Als weiterhin nichts geschah, beschloss Theologiedekan Prof. Tomasz Więcławski, Dr. Wanda Półtawska in Kraków in die Sache einzuweihen.
Die namhafte Psychiaterin, eine ehemalige KZ-Inhaftierte, an der deutsche Ärzte grausame medizinische Experimente durchgeführt hatten, kannte Karol Wojtyła seit fünfzig Jahren und war seine engste Vertraute. Sie brachte den Brief Prof. Więcławskis unmittelbar zum Papst nach Rom und las ihn beim Abendessen, dem damals gesundheitlich schon schwer angeschlagenen, Kirchenoberhaupt vor. Johannes Paul II. zeigte sich tief erschüttert über Paetzs Verhalten und darüber, dass man den Skandal vor ihm verheimlicht hatte.
Der Erzbischof geht, der Erzbischof bleibt
Nur eine Woche später, am 29. November 2001, kam ein zweiköpfiger Untersuchungsausschuss aus dem Vatikan nach Poznań. Ein Woche lang verhörten die beiden Kontrolleure von früh bis spät in die Nacht die Priesteranwärter. Haarsträubendes soll ans Tageslicht gekommen sein. Was genau? Verhörprotokolle und Abschlussbericht wurden bis heute nicht veröffentlicht.
Die Gerüchteküche kochte derweil immer heftiger, bis am 23. Februar 2002 der „Rzeczpospolita“-Bericht den Skandal zur Explosion brachte. Am Karfreitag, dem 28. März 2002, nahm Johannes Paul II. den Rücktritt des Erzbischofs an.
Paetz verabschiedete sich mit einem Brief an die Gläubigen, in dem er behauptete, die gegen ihn erhobenen Vorwürfe, Priesteranwärter sexuell belästigt zu haben, stellten „eine Fehlinterpretation meiner Güte und Spontaneität dar“.
Seitdem war Juliusz Paetz Erzbischof-Senior der Diözese Poznań. Der Vatikan hatte schriftlich festgehalten, dass er keine Predigten halten, keine Firmungen, Priester-, Kirch- und Altarweihen vornehmen dürfe. Dieses Verbot galt nicht auβerhalb der Diözese Poznań.
Paetz derweil tat nach seinem Rücktritt von Anfang an so, als wäre nichts geschehen. Er lebte keinesfalls zurückgezogen, sondern wohnte weiterhin auf der Dominsel und scheute keineswegs die Öffentlichkeit. Im Gegenteil, er suchte sie. So war er weiterhin Gast bei den Premiere-Aufführungen in der Posener Oper, saβ oft in der Loge zwischen dem Oligarchen Kulczyk und dem von der Regierung Tusk ernannten Regierungspräsidenten.
Das hörte erst 2015 auf, als Kulczyk unerwartet starb und die Tusk-Partei Bürgerplattform die Parlamentswahlen verlor. Der von der neuen Regierung ernannte Regierungspräsident mied den Skandal-Geistlichen demonstrativ. Bis zuletzt jedoch sah man Paetz bei Empfängen, Vernissagen, Einweihungen. Die Reichen, Schicken und Schönen von Poznań blieben ihm treu.
Man sah auf Anhieb, dass Paetz besessen davon war rehabilitiert zu werden, die Liturgie wieder zelebrieren zu dürfen. Siebzehn Jahre lang war er emeritiert, und so lange dauerte der kalte Kleinkrieg zwischen ihm und seinem Nachfolger, Erzbischof Stanisław Gądecki (fonetisch Gondetzki), der nicht bereit war, über das skandalträchtige Verhalten von Paetz hinwegzusehen.
Immer wieder musste Gądecki, der bis heute von den Posener Eliten abgelehnt und nirgendwo eingeladen wird, Paetz ausrichten lassen, er möge sich an die ihm auferlegten Einschränkungen halten. Manchmal blieb Gądecki keine andere Wahl, als seinem umtriebigen Vorgänger das Erscheinen zu wichtigen Kirchenanlässen ausdrücklich zu verbieten.
Paetz wurde nicht müde, seine Beziehungen im Vatikan für eine Rücknahme der Verbote zu nutzen, und 2010 sah es so aus, als hätte er sein Ziel erreicht. Damals reiste Bischof Gądecki nach Rom und teilte Papst Benedikt XVI. mit, er werde im Falle einer Rehabilitierung von Paetz zurücktreten. Der Papst, der in die Angelegenheit nicht eingeweiht zu sein schien, gab ihm sofort recht.
Danach musste die Kirche den umtriebigen Emeritus noch zweimal öffentlich ermahnen. Im Jahr 2013 sah sich der damals sehr einflussreiche vatikanische Kardinalstaatssekretär Tercisio Bertone gezwungen, Paetz zu bitten, sein Leben „in Klausur, Einkehr und mit Gebeten zu fristen“. Drei Jahre später, unmittelbar vor den groβen Feierlichkeiten zum 1050. Jahrestag der Taufe Polens in Poznań, verkündete das Pressebüro der Polnischen Bischofskonferenz, Paetz solle von der Teilnahme Abstand nehmen.
Statt in der Gruft an der frischen Luft
Nach Paetz‘ Tod begann ein drei Tage lang andauerndes heftiges Ringen hinter den Kulissen darum, wo er bestattet werden sollte. Als dem emeritierten Diözesanbischof stand ihm eine letzte Ruhestätte im Dom zu. Darauf drängte die Familie, und auch die Kurienmitarbeiter neigten, unter Berufung auf kirchliche Vorschriften, erst einmal dazu. Das war die Situation am Freitag, dem 15. November 2019.
Am Samstagabend, dem 16. November, machte ein Brief, veranlasst von namhaften Posener Priestern und Laien aus dem nationalkonservativen Lager, die Runde, in dem vor den katastrophalen Folgen für das Ansehen der Kirche bei einer Bestattung im Dom gewarnt wurde. Bischof Gądecki, der schon vorher Bedenken hatte, schloss sich dem Appell an.
Am Montag, dem 18. November, gab es eine Totenmesse im Dom, die Bischof Gądecki zelebrierte und an der nur die Familie teilnehmen durfte. Außenstehende wurden von eigens bestellten Wachleuten an den Eingängen abgewiesen. Anschlieβend wurde der Sarg zum städtischen Friedhof gebracht und im Familiengrab beigesetzt.
„Alte Sünde macht oft neue Schande“, sagt das Sprichwort. Oft, aber zum Glück nicht immer.
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