Das Wunder von Wrocław

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Geboren 55 Tage nach dem Tod der Mutter.

Die Frau war einunddreiβig, als die Ärzte bei ihr einen Gehirntumor feststellten. Operieren lassen wollte sie sich nicht. Die möglichen Folgen des Eingriffs erschienen ihr zu riskant und so lebte sie zehn Jahre lang mit dem Tumor im Kopf weiter. Der Zusammenbruch kam in der 17. Schwangerschaftswoche. Ein Rettungswagen brachte sie ins Krankenhaus, doch die Neurochirurgen konnten der Patientin nicht mehr helfen.

Nachfolgend dokumentieren wir groβe Auszüge eines Berichts des Wochenmagazins „wSieci“ („Im Netzwerk“) vom 02. – 08. Mai 2016.

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Prof. Andrzej Kübler

„Als sie zu uns kam, lag sie bereits im tiefen Koma und wurde künstlich beatmet. Alles deutete auf den Gehirntod hin“, berichtet Prof. Dr. hab. med. Andrzej Kübler, Leiter der Klinik für Anästhesie und Intensivmedizin der Universitätsklinik in Wrocław/Breslau.

Die Frau war tot, doch ihr ungeborenes Kind lebte. „Als Neonatologin wurde ich gefragt, ob das Kind im Schoβ der Mutter eine Überlebenschance habe“, erinnert sich Prof. Barbara Królak-Olejnik, Leiterin der Klinik für Neugeborenenmedizin des Uniklinikums in Wrocław. „Meine Antwort war, dass höchstens fünf Prozent aller Frühchen, die bis zur 23. Woche auf die Welt kommen, eine solche Chance haben. Bei einer Frühgeburt zwischen der 24. und der 26. Woche dagegen überleben schon bis zu siebzig Prozent von ihnen. Deswegen sollte man versuchen die Schwangerschaft bis zur 25. oder, noch besser, bis zur 30. Woche aufrecht zu erhalten.“

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Prof. Barbara Królak-Olejnik

Die Ärzte stellten sich dieser Herausforderung.

„Eine Kommission zur offiziellen Feststellung des Hirntodes wurde nicht einberufen, denn einige damit verbundene Untersuchungen (Apnoetest, Angiografie der Hirngefäβe) hätten das ungeborene Kind schädigen können. So blieb die Patientin, juristisch gesehen, eine lebende Person. Um das Kind zu retten hielten wir, mit den Möglichkeiten, die die heutige Intensivmedizin bietet, die Funktionen der inneren Organe der Mutter aufrecht, ohne jedoch die Hoffnung zu haben, die werdende Mutter am Leben erhalten zu können“, schildert Prof. Kübler.

Kampf gegen die Zeit

Dass der Vater sein Kind unbedingt retten wollte, war für die Mediziner zusätzlicher Ansporn, aber wie der Kampf ausgehen würde, stand in den Sternen.

Zwar kennt die Medizin einige Dutzend ähnlicher Fälle, aber die meisten betrafen fortgeschrittenere Schwangerschaften, bei denen die lebenserhaltende Therapie für einen kürzeren Zeitraum durchgeführt werden musste.

„Wir hatten keinerlei Erfahrung mit der langfristigen Aufrechterhaltung von lebensnotwendigen Funktionen bei gehrintoten Patienten. Im Normalfall, d.h. im Rahmen der Transplantationsmedizin, dauert es ein, höchstens zwei Tage, bis die Organe für eine Organverpflanzung entnommen werden. Dann werden die Maβnahmen beendet“, sagt Prof. Kübler.

Die schwangere Frau war an ein Beatmungsgerät angeschlossen, bekam blutdruckstabilisierende Medikamente und wurde durch eine in die Bauchwand gelegte Öffnung über eine Magensonde ernährt. Den Ärzten war klar, dass sich ihr Zustand jeden Augenblick verschlechtern konnte, denn beim Ausfall des Gehirns laufen die Funktionen aller inneren Organe sehr leicht aus dem Ruder.

„Das ungeborene Kind wurde kontinuierlich überwacht. Ein Ärzteteam stand stets „Gewehr bei Fuβ“, um im Notfall einen Kaiserschnitt vornehmen zu können, ebenso wir, die Neugeborenenmediziner, um uns des Frühchens anzunehmen“, berichtet Prof. Królak-Olejnik.

Sehr schnell tauchten Probleme auf. Die Patientin erkrankte an einer Lungenentzündung, die mit einem für das ungeborene Kind unbedenklichen Antibiotikum ausgeheilt wurde. Immer wieder fiel der Blutdruck ab, es kam zu Störungen im Hormon- und Elektrolytehaushalt, Insulin musste gespritzt werden.

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Dr. Agnieszka Jalowska

Das Kind entwickelte sich normal, doch die Ärzte können nicht sagen, ob und gegebenenfalls welchen Einfluss, die langfristige Aufrechterhaltung von lebensnotwendigen Funktionen bei der Mutter auf den Jungen haben würde. „Viele schwangere Frauen erkranken an Infektionen und nehmen Medikamente“, erläutert Dr. Agnieszka Jalowska von der Klinik für Neugeborenenmedizin des Uniklinikums in Wrocław. „Diese Mutter jedoch bekam weit mehr Medikamente, und es gab viele bedrohliche Situationen.“

Sehr wichtig war die Arbeit der Krankenschwestern. Sie haben die Patientin gewaschen, eingerieben, ständig die Körperlage verändert, Medikamente verabreicht. Ihr Ehemann war ständig bei ihr, hörte mit ihr gemeinsam Musik, sprach mit ihr, las ihr vor.

Sie waren gut vorbereitet

Fünfundfünfzig lange Tage rangen die Ärzte mit dem Tod. Die Schwangerschaft konnte bis zum Ende der 26. Woche aufrechterhalten werden. Dann kam es zum Kaiserschnitt. Es war höchste Zeit, denn bei dem Eingriff stellte sich heraus, dass der Mutterkuchen nur noch ungenügend durchblutet wurde. Ein Junge mit einem Gewicht von 1.000 Gramm kam auf die Welt.

„Wir waren gut vorbereitet. Der Operationssaal befand sich gleich neben der Intensivstation, in dem die Mutter bis dahin gelegen hatte. Ein Arbeitsplatz für die Neugeborenenmediziner war eingerichtet, ein transportabler Brutkasten mit einem Beatmungsgerät stand bereit. In ihm wurde der Junge auf die Neugeborenen-Intensivstation gebracht. Dort wurde ihm als erstes ein Medikament zur Förderung des Lungenwachstums verabreicht. Das Kind war jedoch so schwach, dass es nicht selbständig atmen konnte. So wurde es vierzig Tage lang künstlich beatmet. In dieser Zeit bekam es schmerzstillende- und die Muskeln entspannende Mittel, um eine schmerzfreie Beatmung und Ernährung zu gewährleisten.

Nach der Geburt trat die Ärztekommission zusammen und stellte den Tod der Mutter fest.

„Dennoch, es ist eine wunderbare Geschichte. Die neuesten Errungenschaften der Medizin wurden angewandt, um ein junges Leben zu retten. Sie sollte immer wieder erzählt werden, da, in demselben Alter, in dem der ungeborene Junge sich beim Hirntod seiner Mutter befand viele Föten, bei denen z. B. das Down-Syndrom diagnostiziert wurde, durch Abtreibung getötet werden“, sagt Dr. Agnieszka Jalowska.

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Universitätsklinik in Wrocław

„Dieser Fall zeigt, dass Unmögliches möglich wurde. Ich kann mir nicht vorstellen, dass ein Arzt nicht Leben retten könnte. Das Leben war da, es existierte im Schoβ der Mutter. Wer, und warum sollte jemand entscheiden dürfen, dass es beendet werden soll?“, fügt Prof. Królak-Olejnik hinzu.

Drei Monate nach der Geburt verlieβ der kleine Wojciech das Krankernhaus. Er wog bereits drei Kilogramm, konnte selbständig aus dem Fläschchen trinken und sein Entwicklungsstand entsprach dem von Säuglingen im selben Alter. Es heiβt, Spazierfahrten an der frischen Luft bekommen ihm gut.

RdP